MEGA - Jake Bible - E-Book

MEGA E-Book

Jake Bible

0,0

Beschreibung

Da ist etwas in der Tiefe - groß, hungrig, uralt … Das Team von Grendel soll es finden, es bekämpfen, es töten! Kinsey Thorne, die erste weibliche Navy Seal, ist am Ende. Nachdem sie die Navy verlassen hatte, wendete sie sich jeder Flasche und jeder Droge zu, die sie in die Finger bekommen konnte; bis zu jenem Tag, an dem ihr Vater und ihre Cousins ihr eine neue Perspektive boten: als Mitglied einer privaten Elite-Kampftruppe, die den Auftrag hat, ein unbekanntes Monster im Indischen Ozean aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Eine zweite Chance für Kinsey - doch wird sie diese überleben? ---------------------------------------------------------------------- "Saugeil. So viel Action und "dreckiger Humor" in einem Buch" [Lesermeinung] "Rasant und spannend vom Anfang bis zum Ende. Ich habs verschlungen." [Lesermeinung] "Für alle, die wie ich auf Unterwasserhorror und good ol' Monster-Terror stehen hat der Luzifer Verlag einen netten Happen für zwischendurch auf Lager." [Lesermeinung]

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 431

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MEGA

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: MEGA. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2014. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

Zweite überarbeitete Ausgabe Originaltitel: MEGA Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-524-8

Du liest gern spannende Bücher? Dann folge dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf deinem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn du uns dies per Mail an [email protected] meldest und das Problem kurz schilderst. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um dein Anliegen und senden dir kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

MEGA
Impressum
Vorwort
Piraten
Ein Angebot
Ein Team entsteht
Die Beowulf II
Die Operation
Eine heikle Wendung
Entdeckungen
Schwere Geschütze
Abflug
Hölle auf hoher See
Die Sache läuft
Über den Autor

Vorwort

Als Schriftsteller muss man sich seine Inspiration bisweilen suchen, manchmal fliegt sie einem aber auch einfach so zu. Bei diesem Buch ging es mir teils so, teils so. Als ich hörte, mein Verlag suche nach einer Story über Meeresungeheuer, schlug ich die Gelegenheit zunächst aus und konzentrierte mich auf ein anders Thema, aber da meine Ideenmühlen stetig mahlen, hatte ich schon bald eine ziemlich klare Geschichte umrissen. Über Piraten, Spezialeinheiten der Navy und Riesenhaie.

Ich wollte mehr als eine Handvoll Personen auf einer Jacht, die gefressen werden; die Handlung sollte gehaltvoll sein und Elemente eines Abenteuerthrillers in der Tradition von Clive Cussler aufgreifen. So entstand MEGA.

Am liebsten würde ich den Faden in Folgeromanen weiterspinnen, weil mir Team Grendel und der Rest der Besatzung der Beowulf ans Herz gewachsen sind. Sie kommen mir vor wie alte Freunde, mit denen man durch die Kneipen zieht.

Hoffentlich gefällt euch der Wahnsinn, den ich zu Papier gebracht habe. Ich zumindest hatte einen Heidenspaß beim Schreiben.

Cheers,

Piraten

Das Skiff raste über die bewegte See des Indischen Ozeans. Salzwasser spritzte Abshir ins Gesicht, aber er nahm dieses Ärgernis gar nicht richtig wahr. Vielmehr sorgte er sich darum, was das Wasser mit dem AK-47 in seinen Händen anstellen mochte. Erst wenige Stunden zuvor hatte sein Vater ihm das Gewehr gegeben und alles Gute für seine erste ernsthafte Mission gewünscht.

»Heute wirst du deine Sippe stolz machen«, sagte Daacad Khalid Shimbir beim Überreichen der Waffe. »Halte immer die Augen offen. Du weißt, welche Fragen du stellen musst?«

»Wo ist der Kontrollraum? Wie viele Männer sind an Bord? Haben Sie Waffen? Wo sind diese Waffen?«, zählte Abshir auf.

»Gut, das ist wirklich gut!«, lachte Daacad und klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Du brichst als Knabe auf und kehrst als Mann zurück. Worauf achtest du, ohne dich jemals abzuwenden?«

»Den Horizont«, antwortete Abshir. »Ich suche nach einem Schiff und melde, wenn ich eins sehe.«

»Und dann hörst du auf Kaafi«, ergänzte der Alte. »Du tust, was er dir sagt.«

»Ja«, bestätigte Abshir. »Ich werde dich in Ehren halten, Vater.«

»Ich weiß«, erwiderte Daacad nickend. »Das wirst du.«

Der Wind drehte, sodass die Wellen das Skiff von der anderen Seite bedrängten. Kaafi, mit neunzehn der Älteste und Erfahrenste unter ihnen, drehte sich nach Najib um, der an der Pinne saß. Obwohl er nur ein Jahr älter war als Abshir, hatte Najib schon sieben Fahrten hinter sich und konnte bei weitem am besten mit dem Motor umgehen. Er hatte ein Händchen dafür, die Wasseroberfläche zu deuten, und sein Lächeln sagte Kaafi, dass alles in Ordnung war, wenngleich sich das Boot nun gefährlich weit zur Seite neigte.

»Ruhig halten!«, rief Tarabi, das vierte und letzte Mitglied der Piraten. »Weißt du nicht, wie man steuert?«

Najib ging nicht auf ihn ein, was kaum jemand tat, sondern blickte weiter nach vorn auf den freien Horizont. Trotz seiner siebzehn Jahre war Tarabi ein Riese und wuchs noch weiter. Sein Hals war so dick wie Abshirs Oberschenkel, die Arme und Beine wie die Stämme kleiner Bäume. Seine sehr dunkle Haut glänzte in der Mittagssonne. Da er einem Volksstamm angehörte, der sich eher durch einen schlanken Wuchs hervortat, wirkte Tarabi wie eine Anomalie – ein Sonderling, den zu rekrutieren Daacad keine Zeit verloren hatte, denn andernfalls wäre irgendeine andere Stammesbande an ihn herangetreten. Der Alte hatte vorausgesehen, wie einschüchternd ein junger Mann von Tarabis Statur mit einem RPG-7 bewaffnet in einem Motorboot anmuten musste, wenn es neben einem Schiff beidrehte, das für einen Überfall auserkoren war.

»Da!«, rief Abshir. »Seht ihr das?«

Kaafi sah durch sein Fernglas, während er die Zähne zeigte – sein tödliches Grinsen, wie sie es nannten. Die Fähigkeit, aufrichtig zu lächeln, war ihm schon vor langer Zeit abhandengekommen. »Gute Augen. Das ist ein Frachter.«

»Unter welcher Flagge?«, fragte Tarabi. »Amerikanisch? Kommt es aus den Staaten?«

Ein US-Schiff zu kapern, mit US-Besatzung, galt als ultimativer Geniestreich. Mit einer solchen Crew ließ sich das Drei- bis Vierfache an Lösegeld herausschlagen. Obwohl eine amerikanische Besatzung möglicherweise die Navy auf den Plan rief, nahmen sie dieses Wagnis gern in Kauf. Aus welchem anderen Grund wären sie sonst so weit hinaus auf den Indischen Ozean gefahren, statt im Norden in den Golf von Aden, der wesentlich dichter befahren war?

Dort hatten die Raubzüge überhandgenommen, und nun patrouillierte das internationale Aufgebot der Operation Atalanta in diesem Gebiet. Zu viele Banden hatten den Mund zu voll genommen und damit Gelegenheiten zunichtegemacht, von denen sie alle hätten profitieren können. Aus diesem Grund kaperte Daacad lieber vor Hilweyne an der Küste von Mudug, einer anderen Gegend von Somalia. Diese lag mehrere hundert Meilen südlich des Golfs und war noch immer ein sehr ertragreiches Gebiet, auch wenn der Angriff auf die Mærsk Alabama 2009, als Spezialeinheiten der Marine die Piraten umgebracht hatten, medial ausgeschlachtet worden war. Dieses Gewässer brachte seine ganz eigenen Schwierigkeiten mit sich, zum Beispiel wechselhaftes Wetter und turbulenten Seegang, doch im Großen und Ganzen konnte man als Freibeuter nur von solchen Gefilden träumen. Zudem lag es Daacad fern, auch nur einen Bruchteil seines Machteinflusses abgeben zu wollen.

Abshir dachte an seinen Vater und dessen Stolz, falls sie beim ersten Auftrag seines Sohnes gleich einen Volltreffer landen sollten. Die Angehörigen der Sippe und andere Seeräuber würden ihn auf Händen tragen. Jeder würde wissen, dass er das Erbe des Alten würdevoll antreten konnte, wenn die Zeit reif war.

Sein Lächeln erheiterte Kaafi, da er es schon oft auf den Lippen junger, unerfahrener Piraten gesehen hatte. Er ahnte, dass es ihm spätestens dann vergehen würde, wenn sie das Schiff erreichten, denn dessen Größe musste ihm unweigerlich Angst machen, und das, wozu sie vielleicht gezwungen wurden, nachdem sie an Bord gegangen waren, würde ihm den Frohsinn ein für alle Mal austreiben. Sein eigener jedenfalls war seither nicht zurückgekehrt.

»Ihr lasst euch keine Aufregung anmerken«, bläute Kaafi den jungen Männern ein, »sondern seht zu, dass sie sich in die Hosen scheißen. Sie sollen vor Angst in die Knie gehen, wenn wir den Kahn entern. Der Erste, der sich widersetzt, kriegt eins auf die Fresse.« Kaafi beschrieb eine entsprechende Geste mit seinem AK-47. »Der zweite fängt sich eine Kugel ein, genauso wie jeder, der mit einer Waffe aufkreuzt. Zögert nicht, sondern schießt direkt. Zielt auf den Bauch, denn das bringt sie nicht um, und ihre Schreie werden die übrigen einschüchtern. Habt ihr das verstanden?«

Alle nickten. Ihre Körper fingen an, Adrenalin auszuschütten. Die wenigen Minuten, die es dauerte, bis sie neben dem Schiff vorfuhren, zählten zu den längsten, die Abshir je erlebt hatte. Der Pott wurde zusehends größer, und als sie nur noch wenige hundert Meter zurückzulegen hatten, fingen die Sirenen an Bord an zu plärren, um die Crew vor dem Angriff zu warnen.

Ab jetzt tickte die Uhr.

Es war davon auszugehen, dass jemand auf dem Schiff ein Notsignal an die nächste Sondereinheit senden wird, doch Daacad hatte nachgeforscht und wusste, dass diese über vierhundert Meilen entfernt ihre Kreise zog. Sie brauchte also selbst bei Höchstgeschwindigkeit mindestens acht Stunden, um herzukommen, und in dieser Zeit würde es ihnen ein Leichtes sein, die Kontrolle an sich zu reißen. Ihr Plan sah vor, das Schiff zu kapern, die Besatzung gefangenzunehmen und gegen ihre eigenen Männer auszutauschen. Den Frachter manövrierte man dann flugs an der somalischen Küste gen Süden in einen Hafen, den Daacad in seiner Gewalt hielt, während die Crew zu seinem Stützpunkt in Hilweyne verschleppt wurde. Die Güter an Bord sollten verkauft, die Geiseln gegen Bares freigelassen werden.

Während Abshir über die Pläne seines Vaters nachdachte, zuckte sein Finger am Abzug des Maschinengewehrs. Das Containerschiff war riesig und Millionen wert, selbst wenn es nur Getreide beförderte. Dann fiel ihm die deutsche Flagge auf, die an einem Mast flatterte, der über der Brücke befestigt war. Sie konnten wohl keinen so hohen Betrag wie für Amerikaner herausschlagen, aber immerhin würde es genug sein.

Najib fuhr seitlich heran und achtete darauf, nicht in die Heckwelle des imposanten Kahns zu geraten. Kaafi nahm ein Megafon zur Hand und rief: »Anhalten, alle Maschinen stopp! Wir werden an Bord kommen; wer sich widersetzt, stirbt, und falls ihr eure Waffen anrührt, geht ihr alle drauf!«

Als hoch oben Köpfe auftauchten, winkte Tarabi mit seinem Granatwerfer, um ihnen zu zeigen, dass er imstande war, ein Loch in den Rumpf zu schießen. Viele verschwanden gleich wieder, doch einige starrten weiter, also richtete Tarabi die Waffe auf sie und schaute durchs Visier. Erst dann zogen sie sich hastig von der Reling zurück.

»Lasst die Leitern herunter«, verlangte Kaafi. »Und lasst mich das nicht noch einmal wiederholen!« Er blickte über seine Schulter zu Tarabi. »Ansonsten wird mein Freund euch versenken!«

Gerade als Kaafi ungeduldig wurde, warf man drei Strickleitern herab. Er bedeutete Abshir, zuerst hochzuklettern. Der Junge schulterte sein Gewehr und kletterte die Sprossen hinauf, wobei er aufpassen musste, nicht mit den Füßen abzurutschen und ins schäumende Wasser zu stürzen – dann wäre er für immer verloren gewesen, niedergezogen vom Sog des Schiffs und sehr wahrscheinlich zerfetzt von der gigantischen Heckschraube. Abshir beeilte sich nach Kräften, um endlich ans obere Ende der Wand zu gelangen. Nachdem er sich hinübergeschwungen hatte, wartete Kaafi auf sein Zeichen, nahm Tarabi den Granatwerfer ab und nickte, damit er ihm folgte. Der kräftige junge Mann brauchte im Vergleich zu Abshir mit seinen dürren Armen nur einen Bruchteil der Zeit, um hochzuklettern.

»Du kommst nach, sobald ich oben bin«, sagte Kaafi zu Najib. »Lass das Boot einfach treiben; es wird unter dem Schiff zerschellen, sodass keine Spuren von uns zurückbleiben.«

Najib bestätigte, aber im Grunde genommen musste ihm sein Komplize nichts erzählen; dies war nicht seine erste Mission, also wusste er sehr genau, wie es ablief.

Er passte den perfekten Moment zum Sprung ab, nachdem er das Skiff genau auf Höhe der Leiter gebracht hatte. Unter großer Anstrengung zog sich Najib an der Leiter hoch, während das Schiff geflutet wurde und unterging. Er schenkte ihm keinen zweiten Blick, rückte sein AK-47 zurecht und kletterte weiter nach oben, um sich seinen Mitstreitern anzuschließen.

Diese trieben den Plan bereits weiter voran, als Najib über die Reling stieg und sich aufs Deck fallenließ. Unter dem Gebrüll von Kaafi und Tarabi wurden die Männer mit erhobenen Händen zur Brücke getrieben. Kaafi war bereits auf der Brücke, um Kurs auf den anberaumten Treffpunkt zu nehmen. In weniger als einer Stunde würden sie die Crew austauschen und sich auf den Weg zu einem sicheren Hafen machen.

»Wir sollten nach hinten und dann unter Deck gehen«, rief Abshir, »den Maschinenraum ausfindig machen und sicherstellen, dass sich dort niemand mehr herumtreibt, der die Motoren lahmlegen könnte.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Najib und versuchte dabei, nicht genervt zu klingen. Es hieß, er werde das Schiff fahren, sobald man Daacad die Besatzung überstellte, und deshalb ärgerte er sich darüber, dass der Sohn des Anführers ihn herumkommandierte, als sei er und nicht Abshir der Grünschnabel.

»Gut«, sprach der Junge. »Dann lass uns gehen.«

Najib hielt inne und lachte. »Das Heck liegt in dieser Richtung.« Er sah ein, dass sein Verdruss unnötig war; Abshir stellte keine Bedrohung für ihn dar. »Folge mir.«

Der Junge sah im Vorbeigehen über die zahllosen großen Container, die reihenweise gestapelt an Deck standen, bevor er sich beeilte, um zu Najib aufzuschließen. Im Heckbereich gab es eine breite Luke, die unter Deck führte. Sie brauchten einen Moment, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.

»Die haben den Hauptstrom abgestellt.« Najib grinste wieder und zog eine kleine Taschenlampe von seinem Gürtel. »Es muss aber ein Notstromaggregat geben, damit die Navigations- und Kommunikationssysteme weiter funktionieren. Nicht zu vergessen die Lüftung. Keine Sorge, das bekomme ich schnell wieder hin, und dann heißt es: Volle Kraft voraus.«

Der Maschinenraum befand sich noch einige Ebenen tiefer. Als sie ihn erreichten, war Abshir schweißgebadet und außer Atem. Sie fanden einen engen, heißen Raum vor, in dem es nach Schmierfett und konzentriertem Ozon stank, das dem Jungspund in der Nase kitzelte. Er versuchte es zu verdrängen, konnte das Niesen aber nicht zurückhalten, wobei sein Kopf nach vorn schnellte und er so laut prustete, dass er den Gewehrschuss fast überhörte. Funken stoben von der Wand, an der er kurz zuvor noch mit dem Kopf gelehnt hatte.

Er rannte seitwärts und feuerte willkürlich mit seinem MG in den Maschinenraum.

»Hör auf!«, schrie Najib. »Du bringst uns noch beide um!«

Ein weiterer Schuss fiel, doch woher er kam, ließ sich nicht feststellen, da er ohrenbetäubend laut von allen Wänden widerhallte. Najib fuchtelte mit einer Hand herum, damit sich Abshir duckte. Im Schatten auf der anderen Seite des Raumes machte er knapp am Rande des Lichtkegels der Taschenlampe ein Paar Stiefel aus.

Abshir lächelte wieder. Er legte das AK-47 flach auf den Boden und drückte ab. Ein Mann schrie auf und fiel bäuchlings hin, sodass der Junge ihm direkt in die Augen sehen konnte.

»Mach ihn kalt«, verlangte Najib. »Die Leiche nehmen wir zur Abschreckung mit nach oben.«

»Nein, wartet!«, ächzte der Mann, doch Abshir zögerte nicht länger. Alles, woran er denken konnte, war die Wertschätzung vonseiten des Vaters. Der Schädel des Mannes platzte, sein Inhalt spritzte gegen Eisen und Stahl in der Umgebung.

»Ich brauche nicht lange«, versprach Najib. »Kannst du ihn allein nach oben schleifen?«

»Ich versuche es«, entgegnete Abshir. Er hängte sich sein Gewehr um und ging um die Maschine herum auf die andere Seite, wo die entstellte Leiche lag.

Der Mann hielt eine 9mm-Pistole in seiner rechten Hand und irgendetwas anderes in der linken. Im Dunkeln konnte Abshir es nicht erkennen, also packte er ihn unter den Achselhöhlen und zog ihn hoch. Es bedurfte einiger Kraft, die Leiche aus dem Maschinenraum zu bugsieren, und Abshir seufzte beschwerlich beim Gedanken, dass er den Toten ganz nach oben an Deck bringen musste. Aufzugeben bedeutete jedoch Schmach, also biss er die Zähne zusammen.

Als er ans Tageslicht kam, war er nahezu am Ende seiner Kräfte. Er zog die Leiche halb durch die Luke, bevor er sich auf den heißen Stahl des Deckbodens fallenließ. Seine Brust hob und senkte sich heftig. Er schloss die Augen und drehte sein Gesicht der Sonne zu. So verharrte er einen Moment, um auszuruhen. Er liebte die Sonne und den Duft der See; sie gaben ihm Kraft.

Nach einer Weile schlug Abshir die Augen wieder auf und betrachtete den Toten. Er streckte einen Arm aus und bog die Finger des Mannes auseinander, um zu sehen, was er festhielt. Minuten vergingen, während er das Papier mit gemischten Gefühlen betrachtete. Letztlich verzog er das Gesicht und warf es weg, auf dass der Wind sich seiner annahm. Als er sich wieder an der Leiche zu schaffen machte und sie in Richtung Brücke zog, flatterte es – das Foto des Mannes mit einer Frau und zwei kleinen Kindern – durch die Luft hinaus aufs offene Meer.

»Da bist du ja«, rief Kaafi, als der Teenager im Steuerraum erschien und vor Ermattung beinahe zusammenbrach. »Was soll denn das werden?«

»Ein abschreckendes Beispiel«, erwiderte Abshir und wuchtete den Leichnam über die Schwelle der Luke. »Für die übrigen Besatzungsmitglieder.«

Tarabi lachte laut auf, bevor er der Gruppe drohte, die vor ihm auf dem Deck saß. »Seht ihr das? Ja? So ergeht es euch auch, wenn ihr nicht spurt. Jetzt redet! Wie viele seid ihr an Bord, und wo liegen eure Waffen?«

Ein Mann, der vor allen anderen hockte, sagte etwas in seiner Muttersprache. »Was ist das?«, fragte Abshir. »Deutsch?«

Der Kerl nickte eifrig.

»Parlez-vous français?«, wollte Kaafi wissen. Der Mann, offensichtlich Kapitän des Schiffs, nickte betreten. »Nein?«

»Nein.«

»Vielleicht verstehst du das«, rief Tarabi und schlug dem Mann, der direkt hinter dem Kapitän saß, mit der Faust ins Gesicht. Die anderen wichen erschrocken zurück. »Na?«

»Tarabi«, mahnte Kaafi. »Du wirst erst handgreiflich, wenn ich dich auffordere.«

»Okay«, antwortete Tarabi. »Ich weiß.«

»Dann mach’s nochmal.« Kaafi bemühte sein unverkennbares Grinsen, und ein zweiter Mann wurde geschlagen. Dann packte er den Kapitän beim Kragen und zerrte ihn über die Brücke in eine Ecke, um ihn von den anderen zu isolieren. »Du sprichst Englisch, das weiß ich genau. Ich musste es lernen, und du bestimmt auch, denn alle Schiffskapitäne sprechen Englisch.«

»Nein, nein«, versicherte der Mann. »Ich …«

Kaafi versetzte ihm eine Ohrfeige mit der flachen Hand, wie er es auch mit einem Mädchen getan hätte. Wieder und wieder schlug er zu, bis sein Opfer die Arme hochhielt. Seine Lippen waren aufgeplatzt, und auch die Nase blutete.

»Okay, okay, schon gut. Hören Sie bitte auf«, sagte er endlich. »Bitte nicht mehr zuschlagen.«

Da lachte Kaafi – nur kurz, ein dunkles Glucksen – und trat von dem Kapitän zurück. »Gut, das ist schon mal ein Anfang.« Er sah sich nach den anderen Männern bei Tarabi um. »Jetzt kannst du dir aussuchen, wen mein Freund zuerst aufschlitzen soll. Na, wer verreckt jetzt gleich?«

Tarabi zog ein langes Messer von seinem Gürtel.

»Nein!«, schrie der Mann und streckte eine Hand aus. »Nein, bitte nicht!«

»Dann machst du, was wir sagen, und keine Dummheiten oder Lügen, verstanden?«, blaffte Kaafi. »Ansonsten gehen sie drauf, klar?«

»Klar?«, bekräftigte der Kapitän. »Keine Dummheiten oder Lügen.«

»Und du nennst mich Captain, okay?«, fuhr Kaafi fort.

Der Mann bejahte nickend. »Captain.«

»Befiehl dem Maschinisten, den Strom wieder anzustellen!«

»Sie haben ihn umgebracht«, erwiderte der Kapitän und zeigte auf die Leiche zu Abshirs Füßen. »Kleimer war unser Maschinist.«

»Und einen zweiten gibt es nicht?«, wunderte sich Kaafi. »Auf so einem großen Schiff? Das glaube ich nicht.«

Der Kapitän blickte verängstigt auf seine Untergebenen, wobei ihn der Pirat genau beobachtete.

»Der da?«, fragte Kaafi schließlich und zeigte auf einen in der Mitte. »Du da, tritt vor.«

Der Angesprochene blickte von Kaafi zu seinem Vorgesetzten. Dieser nickte, woraufhin der Mann aufstand und vorsichtig an Tarabi vorbeiging, der ihn abfällig beäugte.

»Du bist zweiter Maschinist?«, fragte Kaafi. Der Mann bejahte. »Kannst du den Saft wieder aufdrehen?« Der Gefragte suchte erneut den Blick seines Kapitäns. »He!« Er schaute wieder zu Kaafi. »Gib Antwort.«

»Ja«, sprach der Mann, »ich kann den Strom wieder einschalten.«

»Prima«, befand Kaafi. »Dann beeile dich.«

In diesem Moment jedoch gingen die Lichter an Bord an.

Kaafi grinste.

»Dann brauchen wir dich ja gar nicht mehr«, sagte er und schoss dem Mann in den Bauch. Blut spritzte aus der Wunde auf den Kapitän, der Verletzte brüllte auf.

Kaafi lachte, während er sich unter den anderen Gefangenen umschaute. »Schön brav sitzen bleiben und tun, was wir euch sagen. Ihr werdet vielleicht noch gebraucht.« Er stieß den sterbenden Maschinisten mit einem Fuß an. »Was wir nicht brauchen, sind Fluchtversuche oder Personen, die Helden spielen wollen, kapiert?«

Alle nickten ängstlich.

»Abshir?«

»Ja, Kaafi?«

Der Junge trat vor.

»Hilf Tarabi dabei, die Typen einzusperren«, befahl der Ältere, »und sag Najib, er soll hier antanzen. Wir vergeuden Zeit.«

Abshir nahm es lächelnd zur Kenntnis und winkte die Männer mit dem AK-47 zur Luke. Das genügte, um sie zum Aufstehen zu bewegen, dann verließen sie die Brücke hintereinander mit beiden Händen hinterm Kopf, dicht gefolgt von Abshir und Tarabi.

»Und vergesst nicht, die Toten hier raus zu schaffen«, rief Kaafi ihnen hinterher. »Die stinken noch die ganze Brücke voll.«

»Und was sollen wir mit ihnen machen?«, fragte Abshir.

»Schmeißt sie über Bord«, antwortete der Anführer.

»Oh«, stöhnte Abshir.

»Wo liegt das Problem?«, hakte Kaafi nach.

»Nirgends, aber …«

»Was? Raus mit der Sprache, Kumpel.«

»Sollten wir sie nicht segnen?«, schlug der Junge vor. »Was wird aus ihren Seelen?«

»Das sind Christen«, gackerte Kaafi vor Lachen. »Die haben keine Seelen, also über die Reling mit ihnen.«

Abshir nickte. Draußen fesselten er und Tarabi die Geiseln mit Seilen an den Rohren, die entlang der Brücke verliefen. Die Sonne brannte so heiß, dass die Männer innerhalb weniger Stunden sterben würden, wenn man sie so dort ausharren ließ. Doch so lange würde es nicht dauern, bis sie zum Treffpunkt gelangten, und dann waren sie nur geschwächt, aber nicht tot. Das sollte verhindern, dass sie aufmuckten.

Als alle angekettet waren, kehrte Abshir zurück und schleppte zuerst eine, dann die zweite Leiche zur Reling. Dort legte er sein Gewehr nieder, ging in die Hocke und stemmte den Maschinisten aufs Geländer, wozu er sich gehörig anstrengen musste. Dann sah er zu, wie der Körper durch die Luft trudelte und von der Gischt hinter dem Schiff verschluckt wurde.

Als sein Atem wieder zur Ruhe gekommen war, griff er sich den zweiten Leichnam, und gerade als er ihn halb über die Reling geschoben hatte, fiel etwas aus der Hosentasche des Mannes. Abshir ließ ihn so hängen, bückte sich und hob ein nagelneues iPhone auf.

»Sieh mal, Tarabi«, rief er und winkte mit dem Telefon.

»Schön für dich«, erwiderte der andere. »Was ist das für eine Hülle?«

Abshir betrachtete den Schutz, in dem das Gerät steckte. Es handelte sich um hartes Plastik mit orangefarbener Schaumverkleidung. Diese drückte er ein paarmal ein, woraufhin sie stets ihre ursprüngliche Form annahm. »Schätze, das Ding kann schwimmen«, bemerkte er lächelnd, »für den Fall, dass es ins Wasser plumpst.«

»Klar, wohin auch sonst!«, rief Tarabi. »Jetzt sorge dafür, dass der Tote das Gleiche tut.«

Abshir packte beide Beine, und als sich der Mann ein wenig widersetzte – er war noch nicht tot – schrie der Junge vor Schreck.

»Bitte«, flüsterte der Sterbende.

Abshir ignorierte sein Flehen und legte sich umso kräftiger ins Zeug, bis er sich über die Reling lehnen und dabei zusehen konnte, wie der Körper gegen den Rumpf schlug, bevor er ins Wasser klatschte und wegtrieb. Der Mann wippte bäuchlings an der Oberfläche auf und ab. Abshir fragte sich, ob auch er ein Foto seiner Familie bei sich hatte. Er hätte seine Taschen durchsuchen sollen, war aber zu sehr erschrocken, weil der Kerl noch gelebt hatte.

Als er sich abwenden wollte, fiel ihm etwas ins Auge. Selbst vom beträchtlich hohen Deck aus konnte er riesenhafte Umrisse unter Wasser erkennen. Etwas wirklich Gewaltiges. Abshir schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Er glaubte, das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche spiele ihm einen Streich, doch der Schatten war wirklich da und bewegte sich auf die treibende Leiche zu.

»Tarabi?«, rief er, ohne den Blick abzuwenden. »Komm und schau dir das an.«

»Bist du verrückt?«, erwiderte der andere. »Ich pass auf die Crew auf.«

»Aber …«

»Halt die Fresse, Kleiner«, rief Tarabi, »und geh mir nicht auf den Sack.«

Bevor Abshir etwas erwidern konnte, nahm der Schatten Gestalt an. Ein Maul voller Zähne, dicht an dicht, stieg empor und verschlang die Leiche in einem Stück. Der Junge zuckte zusammen, riss die Augen weit auf und stieß einen spitzen Schrei aus. Dieses Ding war monströs, größer als alles, was er jemals gesehen hatte.

»Was ist nur los mit dir?«, fragte Tarabi. »Du hörst dich an wie ein Mädchen.«

»Da draußen!« Abshir zeigte über die Reling, während er davor zurückwich. »Da draußen ist was.«

»Im Meer? Sag bloß.« Der Größere lachte. »Da draußen ist so einiges.«

»Ein Hai«, beharrte der Junge mit ängstlicher Miene. »Ein sehr großer Hai.«

»Ganz wunderbar für ihn«, erwiderte Tarabi. »Hat gerade ordentlich was zu fressen bekommen.«

»Er war riesig!«

»So wie ich – ein Tarabi der Meere«, spöttelte er. »Bist du schief gewickelt?« Er bemerkte, dass der Jüngere zitterte. »Haie können nicht fliegen, also benimm dich nicht wie ein Weib. Solange du nicht über Bord springst, kann er dir nichts tun.«

Abshir nickte. »Ja, tut mir leid.«

Er lächelte gezwungen. Das Bild des riesigen Mauls bestimmte seine Gedanken. Er war nicht der Hellste und eine erwähnenswerte Schulausbildung hatte er auch nie genossen, kannte sich aber hinreichend mit Haien aus, um die Länge von diesem abzuschätzen. Falls er sich nicht irrte, hätte das Tier nicht fliegen müssen, um das Deck fünfzehn Meter über dem Wasser zu erreichen.

»Sag Najib Bescheid«, trug ihm Tarabi auf. »Er soll zur Brücke kommen, wie Kaafi befohlen hat.«

»Klar«, entgegnete Abshir geistesabwesend. »Ich hol ihn her.«

Auf dem Weg zur Heckluke und hinunter in den Maschinenraum ließ er sich Zeit. Im kühlen Dunkel, weit entfernt von der Bordwand und dem Wasser, fühlte er sich wohler. Najib kam ihm bereits entgegen. Er blieb stehen.

»Wie lang war der größte Hai, den du bisher gesehen hast?«, wollte der Junge wissen.

»Was soll die Frage?«, erwiderte Najib. »Warum beschäftigt dich das?«

»Weil ich gerade einen gesehen habe«, antwortete Abshir. »Er hat eine der Leichen gefressen.«

»Eine der Leichen?« Najib stutzte und sah zur Decke. »Wie viele Männer hat Tarabi umgebracht?«

»Keinen«, gab Abshir an. »Kaafi tötete den zweiten Maschinisten, als du den Strom wieder eingeschaltet hast … zur Abschreckung.«

»Ach so. Was ist denn mit dem Hai?«

»Der, den ich gesehen habe, war mindestens zwanzig Meter lang«, gab Abshir an. Najib hatte sichtliche Zweifel daran. »Nein, nein, im Ernst, Bruder! Es war ein Riese!«

»Es gibt keine Haie, die so groß sind.« Najib stieß den Jungen zur Seite und ging die Stufen hinauf. »Nicht einmal Weiße, vielleicht Walhaie, und selbst die werden keine zwanzig Meter lang. Außerdem fressen sie keine Toten. Du musst dich versehen haben; eine Lichtspieglung, die dir vorgegaukelt hat, dass er größer sei.«

»Kann sein«, räumte Abshir ein, während er nach oben folgte. »Du hast wohl recht.«

»Sag das bloß nicht deinem Alten«, riet Najib, »sonst wird er denken, du seist nicht zum Kapern geeignet. Wer seinen Augen nicht traut, ist selbst nicht vertrauenswürdig, also behalte für dich, was du gesagt hast, und ich tue es auch, einverstanden?«

»Einverstanden«, pflichtete Abshir bei. »Aber ich habe es schon Tarabi erzählt.«

»Er ist ein Trottel, und dein Vater wird ihm keinen Glauben schenken«, erwiderte Najib und tippte sich an die Stirn. »Da drin hat er nichts, was deinem Vater die Zeit wert wäre, sich mit ihm zu beschäftigen.«

»Ja, okay«, sagte Abshir. »Ich danke dir.«

»Geh und hilf Tarabi. Ich werde mit Kaafi sprechen. Und nichts mehr von Monsterhaien.«

»Kein Sterbenswort«, beteuerte Abshir lächelnd. Jetzt war ihm peinlich, was er behauptet hatte. Natürlich konnte es keine zwanzig Meter lang gewesen sein, so ein Unfug. Kleine Buben saßen solchen Vorstellungen auf, und sein Vater hatte keinen Dreikäsehoch mit einem Auftrag betraut, sondern einen jungen Erwachsenen.

Mit Najibs Hilfe änderten sie den Kurs und erreichten in weniger als einer Stunde den Treffpunkt. Abshir stand an der Reling und suchte den Horizont nach dem Schiff seines Vaters ab, wobei er es bewusst vermied, nach unten ins Wasser zu schauen.

»Da!«, rief er schließlich. »Ich sehe sie!«

Wie befohlen hatte Kaafi das Funkgerät nicht benutzt. Erst jetzt, als Abshir Sichtkontakt meldete, schaltete er es ein und suchte den Kanal, der ihm von Daacad gegeben worden war.

»Wir sehen euch«, sprach der Alte nach einer kurzen Begrüßung. »Stoppt die Maschinen und wartet. Ein Boot ist schon auf dem Weg zu euch.«

Das Boot wippte auf den Wellen, während es auf den Pott zuraste. Dessen Heckwelle blieb ungefährlich, solange die Schraube abgeschaltet war, obwohl es immer noch eine Herausforderung darstellte, die gefangene Besatzung hinunterzulassen. Danach sah Abshir zu, wie das Boot schnell wendete. Tarabi hockte hinter den Geiseln und hielt sie mit seinem MG in Schach. Es hatte zu wenige Plätze gegeben, um alle auf einmal zu befördern, also musste der Junge warten, bis das Boot mit einer Besatzung zurückkam, die Najib dabei helfen sollte, das Schiff in den sicheren Hafen zu geleiten.

Da sah er es wieder: ein dunkler Umriss im Wasser, gleich hinter dem Boot, das sich abermals näherte.

Er spielte mit dem Gedanken, jemanden darauf hinzuweisen, entsann sich aber Najibs Worten. Falls er noch jemandem etwas über den Monsterhai erzählte, erhielt er nie wieder die Erlaubnis, die Piraten zu begleiten. Er spürte, wie sein Puls beschleunigte, und sah zu, wie das Boot neben das Schiff fuhr, während sich der Schatten weiterbewegte und unter dem Rumpf verschwand.

»Fertig, junger Freund?«, fragte Kaafi. Abshir erschrak. »Entspann dich. Du hast deinen Vater stolz gemacht.«

»Ja, danke«, erwiderte der Junge.

Kaafi begrüßte die Männer, die an Bord kletterten, und zeigte ihnen den Weg zur Brücke, damit sie sich mit Najib kurzschließen konnten. Daraufhin schlug er Abshir auf den Rücken und zeigte auf die Leiter, die an der Schiffswand baumelte und fünfzehn Meter nach unten übers Deck des Bootes fiel.

Der Junge hängte sich sein Gewehr abermals auf den Rücken und schwang sich über die Reling. Als er auf die Sprossen trat, stellte er sich voller Grausen vor, was geschehen mochte, falls er ins Meer stürzte. Höchstwahrscheinlich würde er sich beim Fall das Genick brechen, doch das ängstigte ihn weniger als die Möglichkeit, dass sein Hals eben heil blieb. Was, wenn er von dem erwischt wurde, was in der Tiefe lauerte?

Er setzte sich auf eine Bank im Boot und beobachtete die sanft rollenden Wellen, während er darauf wartete, dass Kaafi herunterkam. Sobald dieser seinen Platz eingenommen hatte, fuhr man auf sein Kommando los und kehrte zum Mutterschiff zurück.

»Was starrst du so?«, fragte Kaafi irgendwann, da er sich darüber wunderte, wie gespannt der Junge aufs Wasser stierte. »Siehst du was?«

Zu seinem Leidwesen sah Abshir tatsächlich etwas. Er versuchte, nicht zu ängstlich zu erscheinen, doch vor Kaafi ließ es sich nicht verbergen. Der Mann beugte sich neben ihm über die Bootsseite und sah ins Wasser. Viele Meter unterhalb machte er einen Schemen aus.

»Was ist das?«

»Siehst du es auch?«, fragte Abshir hastig.

»Ja klar, wieso sollte ich es nicht sehen? Ist ja riesig – und schnell.«

»Stimmt.« Abshir nickte. »Ist es ein Hai?«

»Könnte sein«, erwog Kaafi und sah genauer hin. Zum ersten Mal seit Jahren wurde sein ausdrucksloses zu einem echten Grinsen. »Nein, nein, sieh mal!«

Der Schatten stieg ungefähr dreißig Meter vom Schiff entfernt auf.

»Was ist das?«, rief Abshir. »Kein Hai, oder?«

»Ein Wal«, lachte der Ältere. »Zieh dir das rein!«

Der Meeressäuger tauchte auf, stieß eine gut zehn Meter hohe Fontäne aus seinem Blasloch und verschwand wieder unter der Oberfläche. Die Männer an Bord johlten und zeigten darauf, begeistert von einem so seltenen Anblick.

»Was für einer war das?«, bohrte Abshir nach. »Hast du das Maul gesehen? Riesenzähne.«

Als das Tier den Schlund beim Auftauchen kurz aufgerissen hatte, war es dem Jungen schauderhaft vorgekommen, zwei stattliche Zahnreihen zu sehen – je eine an Ober- und Unterkiefer wie üblich – die durchaus zu mehr taugten, als zum Filtern von Plankton.

Kaafi bejahte ungläubig. »Ein so großer Wal mit solchen Zähnen ist mir noch nicht untergekommen. Ich weiß nicht, um welche Art es sich handelt.«

Abshir wünschte sich, sein Vater könnte das Tier sehen, denn der wusste viel über das Meer und seine Bewohner. Dann fiel ihm ein, dass er etwas dabei hatte, um den Augenblick festzuhalten. Er zog das iPhone heraus, schaltete die Kamera ein und hielt sie auf die Stelle, an der sie den Wal untertauchen sahen.

»Woher hast du das?«, fragte Kaafi.

»Vom zweiten Maschinisten«, gab Abshir an. »Tarabi wurde neidisch. Ich glaube, er hätte es gewollt, aber ich fand es zuerst.«

»Gut für dich«, erwiderte Kaafi, während er die Oberfläche nach Hinweisen auf den Wal absuchte. »Da!«

Der Junge streckte die Kamera in die Richtung aus, die Kaafi anzeigte. Wenige Augenblicke später tauchte er erneut auf, diesmal im Sprung, sodass man seinen Körper zur Hälfte erkannte, als er sich in der Luft drehte, bevor er wieder ins Wasser stürzte. Die Welle, die dabei entstand, raste auf das Boot zu, dessen Insassen zu spät erkannten, was sie anrichten würde.

Die Flut schlug gegen die Seitenwand der Nussschale, die ruckartig umkippte. Die Männer flogen im hohen Bogen ins Meer. Ihre Schreie wurden abgewürgt, als sie untertauchten. Abshir strampelte, bis sein Kopf die Wasseroberfläche wieder durchbrach, gleichzeitig betrübt und heilfroh – ersteres, weil er das AK-47 losgelassen hatte, letzteres wegen des Telefons, das er nach wie vor festhielt.

Abshir kraulte zum Boot, das kieloben dahintrieb, und kroch auf den Rumpf. Dort prüfte er das iPhone und die Hülle, in der es steckte. Die Kamera nahm weiter auf und fast hätte er sie abgeschaltet, da sah er den Schatten unmittelbar unter Kaafi, der nun ebenfalls zum Boot schwamm.

»Oh Shit!«, rief er ihm zu. »Der Wal ist unter dir! Schwimm schneller, los!«

Der Junge war sich nicht sicher, ob das Tier einen Menschen angreifen würde, doch dann drängte sich ihm das Bild des gewaltigen Schlundes auf, in dem die Leiche des zweiten Maschinisten verschwunden war, und dieser Eindruck bereitete ihm Sorgen: Es war nicht das Maul eines Wals gewesen. Klar, er war kein Experte in Sachen Meeresbewohner, aber auch nicht auf den Kopf gefallen.

»Kaafi!«, schrie er. »Beeile dich!«

Der Schatten stieg rasend schnell auf, und zwar direkt unter dem Mann.

»Der wird mich schon nicht fressen«, rief Kaafi zurück und spuckte aus. »Ich bin kein Walfutter!«

Und er behielt Recht, denn das Tier tauchte gut vierzig Meter entfernt auf. Nun wälzte es sich nicht und verursachte auch keine Stoßwellen, sondern verschwand wieder so schnell wie es hochgekommen war. Abshir hielt die Luft an, als er die Schwanzflosse in der Luft sah.

Sie war zur Hälfte abgefressen worden, daran bestand kein Zweifel, denn die Bissspuren waren genau zu erkennen. Was aber konnte einem derart großen Wal so etwas antun? Kaafi und Abshir wechselten verstörte Blicke, bevor sie nach unten auf den Schatten blickten, der eben kein Wal war und auf den Schwimmenden zukam.

Die übrigen Männer waren bereits zum Boot zurückgekehrt und krochen nun daran hoch, wobei sie einander anbrüllten, es bloß nicht kippen zu lassen. Auch sie sahen den Schatten und feuerten Kaafi an, sich zu sputen.

Ihre Schreie verstummten im selben Moment, da der Schatten durch die Oberfläche platzte. Die Männer kreischten, als Kaafi fast in einem Happen verschluckt wurde … aber eben nur fast. Als die kräftigen Kiefer zuschnappten, fiel der Kopf mitsamt Hals und Schultern ins Wasser, das sofort blutrot wurde.

»Kaafi!«, brüllte Abshir. »Kaafi!«

Das Monster stürzte zurück ins Nass. Die Männer klammerten sich aneinander und suchten die Wellen nach Anzeichen dafür ab, dass es zu einem neuerlichen Sprung ansetzte.

»Was war das?«, rief Daacad an Deck seines Schiffs. Die Männer hinter ihm starrten verblüfft hinaus aufs Meer. »Hat irgendwer von euch das auch gesehen?«

»Ich glaub es nicht«, brummte Tarabi. »Er hatte recht.«

»Wer hatte recht?«, fragte der Alte. »Tarabi, wer hatte recht? Wovon sprichst du?«

Tarabi antwortete nicht.

Daacad wurde wütend. »Fahrt vor, ich will zu diesem Boot!«

Doch es war zu spät: Entsetzt musste Daacad mit ansehen, wie die Kreatur abermals aufstieg und das Skiff in zwei Hälften biss. Die Männer brüllten. Der Alte glaubte, unter ihren Hilferufen die Stimme seines Sohnes zu vernehmen.

»Schneller!«, drängte er. »Schneller!«

Das Ding war wieder abgetaucht, und als sie das Wrack erreichten, fehlte jede Spur von ihm. Daacad brüllte Befehle, nicht ohne darauf zu achten, seine Panik in Zaum zu halten, um sein Gesicht vor den Männern zu wahren. Teile des Bootes hatten sich auf dem Wasser verteilt. Man warf ein Netz aus in der Hoffnung, jemanden herauszufischen, der noch lebte, weil er sich möglicherweise an eines der zersplitterten Bruchstücke klammern konnte.

Nach einer Weile hatten sie viele Bootsteile geborgen, aber kein einziges Besatzungsmitglied, jedenfalls nicht am Stück. Als man das Netz einholte und an Deck aufzog, rutschte ein Arm unter einer abgerissenen Planke hervor. Tarabi sah ihn zuerst – und was die Hand noch festhielt. Rasch hob er es auf und steckte es in seine Tasche, bevor er den anderen mit dem abgetrennten Glied winkte.

»Mehr ist nicht übrig!«, rief er. »Was war da los?«

Ein Schlag gegen den Hinterkopf zwang ihn in die Knie, was bei einem so kräftigen Burschen wie Tarabi etwas heißen mochte. Er stand schnell wieder auf und fuhr erbost herum, hielt aber sogleich inne, da er in die Augen seines Arbeitgebers blickte.

»Gib. Mir. Das«, grollte Daacad.

Tarabi reichte ihm den abgerissenen Arm, als handle es sich um ein heißes Eisen. Der Anführer der Piratenbande hielt den Arm fast zärtlich, während Tränen in seinen Augen aufwallten. An der Speiche kurz vorm Handgelenk zeichnete sich eine lange, gezackte Narbe ab. Er kannte sie; sein Sohn hatte sie sich als kleiner Junge zugezogen, als er von einem Baum gefallen und an einem abgeknickten Ast hängengeblieben war. Ein Schwächeanfall überwältigte ihn, er ging in die Knie. Niemand an Deck bewegte auch nur einen Muskel.

Als sich Daacad wieder erhob, richtete er sich an Tarabi. »Ich will wissen, was das war«, bemerkte er, »und werde nicht eher ruhen, bis ich es erfahren habe.«

Der junge Mann nickte, und der Alte drehte sich um und ging zur Brücke. Den Arm hielt er weiterhin fest. Tarabi fuhr die Umstehenden an, sich an die Arbeit zu machen. Alle begannen emsig, sich um irgendetwas zu kümmern. Sobald er sicher war, dass niemand mehr auf ihn achtete, schlich Tarabi unter Deck. Dort zog er das iPhone hervor. Es war nass und blutbefleckt.

Nachdem er sich noch einmal umgesehen hatte, damit ihn niemand beobachtete, schaltete er das Mobiltelefon ein. In der Video-App rief er die letzte Aufnahme ab. Er sah sie mehrmals an und lauschte den überraschten Stimmen von Kaafi und Abshir beim Auftauchen des Wals. Erst bei der achten oder neunten Wiederholung bemerkte er einen Fleck in unmittelbarer Nähe des Säugers. Anhand des Winkels, in welchem das Sonnenlicht einfiel, war ersichtlich, dass nicht der Wal diesen Schatten warf, sondern etwas ebenso Großes unter der Wasseroberfläche. Der Hai!

Kurz spielte er mit dem Gedanken, zu Daacad zu gehen und ihm das Video zu zeigen, entschied sich aber letztlich dagegen. Der Boss würde es ihm wegnehmen und selbst behalten. Der Gedanke, seine Beute zu verlieren, selbst an den Bandenführer, war ihm zuwider. Es handelte sich immerhin um ein iPhone! Nein, es sollte ihm gehören. Da er nur einmal ein Klapphandy besessen hatte, wusste er nicht so recht, wie dieses Teil funktionierte, doch er hatte einen Freund in Hilweyne, der sich damit auskannte.

Nachdem das Mutterschiff der Piraten eingelaufen war, herrschte rege Betriebsamkeit im Hafen. Tarabi half beim Abführen der Geiseln. Sie wurden ins Lager der Bande getrieben, das sich am anderen Ende von Hilweyne befand. Man stülpte ihnen Tücher über die Köpfe, bevor man sie einsperrte. Daacad ließ eine Videobotschaft aufzeichnen, in der er Lösegeld verlangte und darauf hinwies, dass die Besatzung des Frachters ansonsten exekutiert werde.

Als die Gefangenen abgefertigt waren, zog sich der Anführer zurück, um seiner Frau den Tod des Sohnes zu beichten. Tarabi nutzte die Gelegenheit und stahl sich aus dem Lager. Statt zu fahren, ging er zu Fuß, denn in einem Wagen der Bande wäre er aufgefallen und erkannt worden. Als er sein Ziel erreichte, eine kleine, herabgewirtschaftete Hütte, klopfte er behutsam an die Tür. Einige Augenblicke vergingen, dann öffnete ein Kind.

»Sag deinem Papa, Tarabi ist hier«, sagte er, aber das Kind starrte ihn nur an. »Geh schon, los!«

Es trippelte davon, und gleich darauf erschien ein verärgert dreinschauender Mann.

»Was ist los, Mann? Musstest du meinen Sohn erschrecken?« Er war hager und hatte eine schwarze, von Pockennarben und anderen Wundmalen übersäte Haut. »Wieso kreuzt du überhaupt so spät hier auf?«

»Deswegen«, erwiderte Tarabi und zog strahlend das iPhone heraus. »Hab ich heute gefunden.«

»Gib her!«, verlangte der Mann und riss ihm das Telefon aus der Hand. Sofort begann er, sich durch die Menüs zu tippen und die Anwendungsprogramme durchzugehen. »Du Trottel, das Ding kann verfolgt werden! Sei froh, dass ich weiß, wie man das abstellt.«

»Oh«, stöhnte Tarabi und wurde rot vor Scham. »Wusste ich nicht.«

»Lass es mir ein paar Tage hier, dann mache ich es dir fertig«, versprach der Mann. »Es wird wie neu sein.« Da bemerkte er die Blutflecke, die Tarabi nicht abgewischt hatte, verkniff sich aber, etwas zu fragen. Schließlich wusste er, mit wem er sprach.

»Ein paar Tage? So lange?« Der Seeräuber war hörbar enttäuscht.

»Ja, Mann. Ich habe viel zu tun«, behauptete sein Gegenüber und wimmelte ihn ab. »Ich werde eins meiner Kinder schicken, um dich herzubestellen, wenn ich soweit bin, aber jetzt hau ab, du hast mir den Abend schon genug versaut.«

Tarabi hätte nicht übel Lust gehabt, dem Kerl zu zeigen, was ein wirklich versauter Abend war, pfiff sich aber selbst zurück. Er wollte dieses iPhone unbedingt und konnte die erstaunten Gesichter seiner Kumpel kaum erwarten, sobald er es zum ersten Mal herausnahm. Zu diesem Anlass musste es brandneu aussehen.

»Prima«, knarrte er widerwillig. »Zwei Tage. Aber wenn ich bis dahin nichts von dir höre, komme ich wieder, und dann werde ich bestimmt nicht anklopfen.«

»Schon klar, verstehe«, erwiderte der Mann. »Gute Nacht.«

Die Tür ging zu, und Tarabi trottete mit hochgezogenen Schultern, als habe er eine empfindliche Niederlage erlitten, von dannen.

Der Mann wartete, bis sich der Pirat aus dem Staub gemacht hatte. Dann wandte er sich von der Tür ab und eilte zu einer Werkbank in der gegenüberliegenden Ecke des Verschlags. Seine Frau und die Kinder schauten zu, wie er eine Decke von der Bank zog, unter der sich mehrere Kisten mit unterschiedlichen Computerteilen verbargen. Er nahm eine Kiste unter der Bank hervor und kramte darin, bis er das richtige Kabel gefunden und das Smartphone mit einem PC-Tower verbunden hatte.

»Esst weiter«, wies er seine Familie an, woraufhin sie sich wieder den Tellern zuwandten, die sie vorübergehend vergessen hatten, allerdings nicht, ohne verstohlene Seitenblicke auf ihn zu werfen.

Er rief ein Programm auf, und wenige Minuten später hatte er alles vom Speicher des Telefons auf seine Festplatte kopiert und zog das Kabel wieder ab. Danach setzte er das Handy auf seinen Werkszustand zurück und legte es beiseite, um sich die übertragenen Dateien anzusehen. Beim Betrachten der Schnappschüsse eines weißen Mannes und seiner Familie, eines Schiffs, auf dem er gearbeitet hatte, und anderer Momente aus seinem Alltag, musste er den Kopf schütteln. Gerade als er alles löschen wollte, fiel ihm auf, dass es neben den Bildern auch ein Video gab.

Als er es abspielte, musste er die Lautstärke herunterregeln, da Abshirs Stimme durch die Hütte dröhnte. Er bemerkte überhaupt nicht, dass sich seine Familie hinter ihm versammelte, während er sich den Mitschnitt immer wieder ansah und nicht glauben konnte, was er da sah.

Ein Angebot

Der Mann betrachtete das Video auf dem Tablet. Er starrte wie gebannt darauf. Die Geräuschkulisse der Kneipe, in der er saß, nahm er gar nicht wahr, obwohl an diesem Freitagabend Hochbetrieb herrschte und scharenweise Stammgäste zugegen waren. Als die Aufzeichnung abbrach, ruhte sein Blick noch kurz auf dem Bildschirm, bevor er zu dem Mann aufsah, der ihm am Tisch gegenübersaß. Er legte das Gerät beiseite und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas in seiner Hand.

»Eine ganz schöne Schau, was?«, bemerkte er im gepflegten Akzent eines Südafrikaners. Die Ausdrucksweise der ringsum Sitzenden klang beileibe nicht so kultiviert. Er zuckte zusammen, als eine dicke Frau torkelnd vorbeikam und Bier aus ihrem Krug vergoss. Er war noch nie sonderlich scharf darauf gewesen, mit den niederen Elementen unter seinen Landsleuten anzubandeln. Nachdem er seine Krawatte zurechtgerückt, sich geräuspert und die Brust seines Anzugjacketts glattgestrichen hatte, spielte er es noch einmal ab. »Was ich damit sagen will: ein beeindruckendes Video, wirklich.«

»Beeindruckend?« Sein Gegenüber musste lachen. Ende zwanzig, dunkelblond und mit hellblauen Augen sah der Mann aus wie ein Model von Abercrombie & Fitch im Ruhestand, allerdings in erheblich besserer Form. Sein schwarzes T-Shirt betonte die ohnehin ausgeprägte Muskulatur an Armen und Oberkörper. Er beugte sich nach vorn. Seine strahlenden Augen blickten eisig kalt.

»Beeindruckend? Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen? Es ist verdammt nochmal unglaublich!« Der Mann streckte eine Hand aus und klopfte auf den Bildschirm, um jedes Wort zu betonen, das er sprach. »Eine solche Entdeckung hat seit zwei Jahrhunderten niemand gemacht, Mr. – äh, wie war ihr Name noch gleich?«

»Konig«, erwiderte der andere. »Muss ich Sie jedes Mal daran erinnern, Mr. Chambers?«

»Bitte nennen Sie mich Darren.« Chambers lächelte. »Ich bitte um Verzeihung, aber mit Namen tue ich mich schwer – schon immer. Eine Fremdsprache lerne ich in 48 Stunden, aber wie der Mann heißt, der meine Zukunft in den Händen hält, kann ich mir nicht merken. Ziemlich daneben, nicht wahr?«

Darren lachte, Mr. Konig nicht.

»Wie dem auch sei, jetzt wissen Sie, was es mit dem Filmchen auf sich hat«, fuhr Chambers fort. »Danach habe ich gesucht. Nach jahrelanger Forschung bin ich nun an diesem Punkt angelangt: Die Bestätigung in Form eines schnöden YouTube-Videos, das irgendein unbekannter afrikanischer Teenager hochgeladen hat. Davon gehe ich zumindest aus. Ich ließ eine Laufbahn beim Sondereinsatzkommando der US-Navy sausen, um dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und nun, da die Stanvelt-Bank von Kapstadt wegen meiner säumigen Zahlungen ungehalten ist, darf die Sache auch nicht scheitern.«

»Sechs Monate säumig, Mr. Chambers«, betonte Konig. »Das ist kein Pappenstiel, genauso wenig wie Ihre Schulden. Mit jedem weiteren Tag steigen Ihre Verzugsgebühren und Strafzinsen. Wissen Sie, wie viel es allein diese Woche ausmacht?«

»Will ich es wissen?«, erwiderte Darren lachend – und wieder blieb Konig unberührt.

»186.000 Rand, Mr. Chambers. Das sind ungefähr 18.000 US-Dollar. Und zwar, wie gesagt, in einer Woche. Insgesamt belaufen sich Ihre Schulden momentan auf annähernd 800.000.«

»Rand?«, hakte Darren hoffnungsfroh nach.

»US-Dollar«, versicherte Konig.

»Uah.« Darren strahlte ihn weiter fröhlich an. Das Handy klingelte – zum wiederholten Male. Sein Chief Officer versuchte ihn bereits seit zwanzig Minuten zu erreichen. Er ließ den Anrufbeantworter übernehmen … nach dreizehn Nachrichten in Abwesenheit. Teufel auch, eine Unglückszahl.

»Mit dieser Entdeckung werde ich in der Lage sein, meine Schulden innerhalb kürzester Zeit zu begleichen«, beteuerte Darren. »Buchverträge, Lesereisen, Exklusivberichte, ein Special in National Geographic – mindestens. Alles, was ich brauche, ist ein letzter Aufschub … und weitere fünfzig Riesen, mehr nicht.«

Jetzt musste auch Konig lachen. Es klang schrill, weshalb sich mehrere Bargäste umdrehten, um sich zu vergewissern, dass er keinen Anfall oder etwas in der Art erlitt. Wegen der ungewollten Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, wurde er rot. Noch einmal räusperte er sich, rückte seine Krawatte zurecht, die im Übrigen perfekt saß, und glättete die Anzugjacke.

»Mr. Chambers …«

»Darren.« Und wieder lächelte Chambers. Es wirkte charmant und hatte ihn in der Regel noch nie im Stich gelassen. »Wir kennen uns doch mittlerweile so gut, dass wir uns beim Vornamen ansprechen sollten, nicht wahr?«

»Sie können sich nicht einmal meinen Nachnamen merken, Mr. Chambers«, echauffierte sich Konig, dessen kalter Tonfall alles ausdrückte. »Eigentlich wollte ich darauf hinweisen, dass ein weiterer Aufschub nicht notwendig ist.« Er zog sein Handy heraus und lächelte, als er aufs Display blickte. »Vor genau fünf Minuten wurde Ihr Darlehenskonto geschlossen. Sie schulden uns nichts mehr.«

»Was? Moment mal, wovon reden Sie überhaupt?« Er hatte die Frage noch nicht zu Ende gestellt, da erhob sich Konig und knöpfte sein Jackett zu. »Geschlossen? Wie kann das sein?«

»Ein Investor hat die Summe beglichen«, erklärte der Bankangestellte und sah sich in der Kneipe nach dem besten Weg durch die Menge um. Keiner schien ihm zu gefallen, denn so oder so würde er sich an mehreren größeren Gruppen von Saffern – eine Bezeichnung, die Mr. Konig diskriminierend fand, die meisten seiner südafrikanischen Bekannten jedoch nicht – vorbeizwängen müssen.

»Investor? Was zum Henker soll das heißen? Es ist mein Schiff, hören Sie? Mein Schiff! Sie haben kein Recht, mir …«

»Wenn ich Sie hier unterbrechen darf, Mr. Chambers«, beschwichtigte Konig. »Ich habe damit nichts zu tun. Die Stanvelt-Bank von Kapstadt schickt Ihnen schon seit Wochen Schreiben, um Sie darüber zu informieren, dass Ihr Boot heute um genau 19 Uhr zwangsversteigert wird. Sie haben auf keinen dieser Briefe geantwortet.«

»Briefe? Zwangsversteigert?«, wiederholte Darren. »Ich hielt es für eine Drohung von Finanzgebern. Sie wissen schon … leeres Geschwätz, um mich unter Druck zu setzen.«

»Finanzgeber machen keine leeren Drohungen, Mr. Chambers«, unterstrich Konig. »Das haben Sie nicht nötig.«

»Und was zur Hölle sollte das dann alles?« Darren stand auf und zeigte auf sein Tablet. »Warum wollten Sie sich mit mir treffen, wenn es Ihnen fern lag, mein Darlehen zu verlängern? Und wieso baten Sie darum, sich dieses Video wieder und wieder … ach, drauf geschissen!«

»Wir haben Streichhölzer gezogen«, gestand Konig. »Seltsam, sicher, aber niemand wollte derjenige sein, der Sie ablenkt, solange die Auktion läuft. Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus … Ich bin froh, dass sich der Jähzorn, für den Sie bekannt sind, heute Abend in Grenzen hielt. Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich habe einen Termin mit einer jungen Dame wegen einer Immobilie, die ich nur ungern warten ließe.«

»Mich ablenken …«, sann Darren mit hochrotem Kopf. Seine Schläfen pochten. Er warf einen Blick auf sein Handy, das ihn darauf hinwies, dass die Zahl der Nachrichten auf 15 gestiegen war. Sein Chief Officer ließ nicht locker.

»Also gut dann.« Mr. Konig bot ihm seine Hand an. »Tut mir leid wegen der Umstände, aber das Video hat mir gefallen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diesen rätselhaften Wal fangen, Mr. Chambers. Mancher im Büro lachte darüber, aber mich sprach dieser abenteuerliche Zeitvertreib schon immer an. Wenn ich mich einmal zur Ruhe setze, möchte ich auch in See stechen.«

Der Schlipsträger wartete vergeblich darauf, dass Darren seine Hand schüttelte. So nickte er bloß und machte sich auf den Weg.

»He, Konig«, rief Darren hinter ihm. »Ihnen gefiel das Video? Hier, nehmen Sie es mit, Sie Wichser!«

Konig drehte sich um und machte große Augen, bevor ihn das Tablet genau an der Stirn traf. Er taumelte rückwärts und streckte eine Hand nach hinten aus, um Halt zu finden. Zu greifen bekam er nur ein Bierglas, das ihm aus den Fingern glitt, auf den Boden fiel und zerbrach, nachdem er den Besitzer von oben bis unten mit dem Inhalt besudelt hatte. Konig fand wieder Halt, doch als der begossene Mann aufstand, war der fast einen Kopf größer als er. Konigs Knie wurden weich.

»Oh«, brachte er noch hervor, bevor eine dicke Faust auf seiner Nase niederging. Sein Blut mischte sich unter die Schweinerei aus Bier und Scherben auf dem Bretterboden des Etablissements.

»Du zahlst mir ein Bier«, brummte der Mann und hob Konig am Anzugkragen hoch. »Sofort.«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte der Angestellte mit belegter und wegen seiner Verletzung näselnder Stimme. »Gern auch einen ganzen Krug.«

»He«, rief Darren und packte den Mann am Arm. »Das ist mein Banker. Wäre nett, wenn Sie ihn in Ruhe ließen.«

»Als würde mich interessieren, was du nett findest, Yankee«, höhnte der Kerl. »Geh zurück an deinen Tisch und lass das hier von ein paar Saffern regeln.«