Mehr Chancengleichheit durch eine Schule für Alle? Chancen und Grenzen im deutschen Bildungswesen - Tabea Taulien - E-Book

Mehr Chancengleichheit durch eine Schule für Alle? Chancen und Grenzen im deutschen Bildungswesen E-Book

Tabea Taulien

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Beschreibung

Noch immer entscheidet die soziale Herkunft eines Kindes häufig über seine schulische Laufbahn und die anschließende Karriere. Das deutsche Bildungssystem behindert den Austausch zwischen verschiedenen sozialen Schichten. So entstehen Ungleichheiten, die einen starken Einfluss auf das Leben eines Menschen haben. Ist eine Reform des Bildungssystems die geeignete Lösung für dieses Problem? Oder muss der Wandel in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen stattfinden? Tabea Taulien setzt sich in ihrer Publikation mit der Bildungsungleichheit im deutschen Schulsystem auseinander. Eine mögliche Alternative wäre die Schule für alle, die keine Unterteilung in Mittelschule, Realschule und Gymnasium vornimmt. Eine gemeinsame Schulform könnte dafür sorgen, dass Schüler ihre erworbenen Denk- und Verhaltensweisen überdenken und diese sich nicht negativ auf den Schulerfolg auswirken. Die Chancen und Grenzen einer Schule für alle beleuchtet Tabea Taulien in diesem Buch. Aus dem Inhalt: - Chancengleichheit; - Chancenverteilung; - Bildungserfolg; - Schulreform; - Unterricht

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Seitenzahl: 116

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Chancengleichheit im Bildungssystem

2.1 Bildungserfolg in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft

2.2 Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit

2.3 Die Illusion der Chancengleichheit

3 Die Familie als Reproduktionsinstanz bei Bourdieu

3.1 Grundbegriffe der Bourdieuschen Ungleichheitstheorien

3.2 Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg

4 Ungleichheitsverstärkende Effekte im deutschen Schulsystem

4.1 Soziale Ungleichheit innerhalb von Schulen

4.2 Soziale Ungleichheit am Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe

4.3 Soziale Ungleichheit zwischen den Schulformen

4.4 Reduktion sozialer Ungleichheit durch Offenheit des Schulsystems?

5 Chancen und Grenzen einer „Schule für Alle“ in Bezug auf die Chancengleichheit im Bildungssystem

5.1 Chancen einer „Schule für Alle“

5.2 Grenzen einer „Schule für Alle“

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Der Raum der sozialen Positionen

Abbildung 2: Der soziale Raum

2 Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Stärke des Zusammenhangs zwischen den Strukturmerkmalen des familiären Hintergrundes (gemäß ESCS-Index) und dem Kompetenzerwerb von 2003-2018 in den bei PISA schwerpunktmäßig untersuchten Kompetenzbereichen für Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt

Tabelle 2: Gruppenspezifische Standards („kritische Werte“) im Lesen für eine Gymnasialpräferenz der Lehrkräfte und der Eltern in Abhängigkeit der EGP-Klasse

Tabelle 3: Relative Chancenverhältnisse auf einzelnen Stufen der Bildungslaufbahn

Tabelle 4: Leistungsmerkmale von Schulsystemen in Abhängigkeit vom Schulsystem

Abkürzungsverzeichnis

EGP-Klassen                Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassen

ESCS-Index                 Index of Economic, Social and Cultural Status

IGLU                            Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung

OECD                           Organisation for Economic Co-Operation and Development

PISA                             Programme for International Student Assessment

TIMSS                          Trends in International Mathematics and Science Study

3 Einleitung

Durch das Schulsystem werden schon zehnjährige Kinder – und in der Regel definitiv – in Leistungsgruppen eingewiesen, die durch das Berechtigungswesen einer entsprechenden Gruppierung den sozialen Positionen zugeordnet sind. (...) Die Schule ist deshalb ein sozialpolitischer Direktionsmechanismus, der die soziale Struktur stärker bestimmt als die gesamte Sozialgesetzgebung der letzten 15 Jahre.(Picht, 1964, S. 31f.)

Der Reformpädagoge Georg Picht hat mit seinen Veröffentlichungen unter dem Titel „Die deutsche Bildungskatastrophe“ bereits in den 1960er Jahren das stark selektierende Bildungssystem als Problemzone ausgemacht und darin die Ursache nicht nur für die mangelnde Ausschöpfung von Begabungen, sondern auch für ungleiche Bildungschancen gesehen(Watermann, Maaz & Szczesny, 2009, S. 95). Die schulische Selektion findet in Deutschland so früh statt wie in kaum einem anderen Land(Oelkers, 2004, S. 222). Das Bildungssystem erfüllt damit zwar seine Platzierungsfunktion, legt Schüler*innen aber auch sehr früh auf Berufschancen fest(Vester, 2013a, S. 96). Als Reaktion auf den von Picht und anderen Reformpädagogen ausgerufenen Bildungsnotstand einigten sich Politiker*innen 1969 auf einen Schulversuch mit einer Schulform für alle: Die Gesamtschule (Lorenz, 2017, S. 16), die „als nichtselektive Schulform … bis zum Ende der Sekundarstufe Ⅰ allen Schülern eine gemeinsame gleichwohl aber differenzierte zeitgemäße Grundbildung vermitteln“[1] (Köller, 2008, S. 460) sollte. Gestützt wurde diese Idee durch die zunehmenden Inklusionsdebatten, in denen – beruhend auf Artikel drei des Grundgesetztes – eine „Bildung für alle“ gefordert wurde (u. a. Jantzen, 2018; Klafki, 2018; UNESCO, 1994). Nach Braun, Stübig und Stübig (2018, S. 8) bedeutet „Bildung für alle“, „dass alle Menschen die Möglichkeit der Teilhabe an den Bildungseinrichtungen haben müssen. Es geht um eine möglichst umfassende Bildung ohne institutionelle Beschränkung und ohne Selektion. Es geht um Demokratisierung des Bildungswesens sowie den Ausbau und die Intensivierung gemeinsamer Bildungsinstitutionen“. Bis heute existiert die Gesamtschule jedoch neben weiteren Schulformen, eine Strukturreform des deutschen Schulsystems hat also nicht stattgefunden. Nach wie vor werden Schüler*innen größtenteils im Alter von zehn Jahren auf verschiedene Schulformen aufgeteilt. Dabei ist „die Anstrengung des Systems … nicht darauf gerichtet, niemanden zurückzulassen, sondern zu sortieren, wer wo hingehört“ (Oelkers, 2004, S. 222). Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe stellt weiterhin „die zentrale Gelenkstelle in der Bildungsbiografie“ (Vogel, 2019, S. 33) dar, weil die Bildungsentscheidung so unkorrigierbar und mit so weit reichenden Folgen verbunden ist, wie in kaum einem anderen Bildungssystem (Oelkers, 2004, S. 222). Dass die Schule damit weniger Instanz für sozialen Aufstieg, sondern eher eine Institution der intergenerationalen Reproduktion sozialer Ungleichheit ist, zeigen zahlreiche Untersuchungen, allen voran die Schulleistungsstudien IGLU[2], TIMSS[3] und PISA[4].

Was also wäre, wenn das Schulsystem nicht strukturell diese verschiedenen Schulformen vorsehen würde? Ziel dieser Arbeit ist es, die Idee einer „Schule für Alle“ als einzige Schulform im deutschen Bildungssystem weiterzudenken und mögliche Chancen und Grenzen in Bezug auf die Chancengleichheit im Bildungswesen zu ermitteln. Konkret geht es um die Fragestellung, ob eine „Schule für Alle“ geeigneter ist als ein mehrgliedriges Schulsystem, um die ungleichen Bildungschancen von Schüler*innen unterschiedlicher sozialer Herkunft anzugleichen. Strukturell gleicht dieses imaginäre Modell einer „Schule für Alle“ den Einheitsschulen, wie sie beispielsweise schon erfolgreich in Kanada etabliert sind (Geißler & Weber-Menges, 2010, S. 571). Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch lediglich auf dem Merkmal einer gemeinsamen Beschulung aller Lernenden, sodass ein direkter Vergleich mit Schulsystemen in anderen Staaten, in denen weitere Maßnahmen Anwendung finden, nicht zielführend wäre. Vielmehr werden mithilfe von theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen ungleichheitsverstärkende Mechanismen im deutschen Bildungssystem ausgemacht, die Schlussfolgerungen über mögliche Chancen und Grenzen einer „Schule für Alle“ zulassen.

Dazu wird im zweiten Kapitel zunächst der Status quo der Korrelation zwischen dem Schulerfolg und der sozialen Herkunft beschrieben und der Begriff „Chancengleichheit“ – auch in Abgrenzung zu verwandten Termini – definiert. Das Thema der Chancengleichheit im Bildungssystem wurde maßgeblich von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt, der diese als Illusion identifiziert hat. Weiterhin hat Bourdieu im vergangenen Jahrhundert eine Reihe von Theorien zur kulturellen Reproduktion aufgestellt, die sich mühelos auf das deutsche Bildungssystem sowie die deutsche Gesellschaft übertragen lassen und auch heute noch Gültigkeit beanspruchen (Bremer & Lange-Vester, 2015, S. 82). Anhand seiner Ausführungen wird im ersten Teil des dritten Kapitels erläutert, wie sich Mitglieder verschiedener Schichten voneinander unterscheiden und wie Ungleichheiten in den Denk- und Handlungspraktiken der Akteure zustande kommen. Der Einfluss dieser im Herkunftsmilieu erworbenen Denk- und Verhaltensweisen auf den Schulerfolg ist Gegenstand des zweiten Teils von Kapitel 3. Nachdem die Herkunftsfamilie der Schüler*innen als Reproduktionsinstanz sozialer Ungleichheiten in den Blick genommen wurde, fokussiert das vierte Kapitel die ungleichheitsverstärkenden Effekte des deutschen Schulsystems. Werden soziale Ungleichheiten insbesondere am Bildungsübergang von der Primar- in die Sekundarstufe sowie durch die frühe Aufteilung von Schüler*innen auf hierarchisch gegliederte Schulformen verfestigt oder verstärkt, würde das dafür sprechen, dass eine „Schule für Alle“ die Chancenungleichheit im Bildungssystem reduzieren kann. Entstehen soziale Ungleichheiten dagegen eher durch ein ungleichheitsverstärkendes Lehrer*innenhandeln, kann auch eine solche Schulform nicht viel bewirken. Auf der Grundlage der in Kapitel 3 und 4 herausgestellten Mechanismen, die die ungleiche Chancenverteilung bedingen, werden im fünften Kapitel mögliche Chancen und Grenzen einer „Schule für Alle“ beschrieben.

4 Die Chancengleichheit im Bildungssystem

Grundlegend für die Untersuchung der ungleichheitsverstärkenden Mechanismen in den Familien und im deutschen Bildungssystem ist die Erfassung der Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft in deutschen Schulen (Kapitel 2.1) sowie die begriffliche Einordnung des Ausdrucks „Chancengleichheit“ (Kapitel 2.2). In Kapitel 2.3 wird schließlich an Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1964/1971) angeknüpft, die im französischen Bildungssystem im letzten Jahrhundert einen ähnlichen Zustand der sozialen Ungleichheit beobachten konnten, wie er heute in Deutschland existiert. Die Autoren sprechen aus verschiedenen Gründen von einer „Illusion der Chancengleichheit“.

4.1 Bildungserfolg in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft

Die Chancenungleichheit im Bildungssystem wurde in Deutschland bereits in den 1960er Jahren öffentlich problematisiert (Geißler, 2008, S. 71). Während zu dieser Zeit noch die „katholische Arbeitertochter vom Lande“ als Idealtyp verschränkter Ungleichheiten galt, hat sich das Bild in den letzten Jahren zugunsten der Mädchen verändert (ebd., S. 85). Im Zuge der Bildungsexpansion wurden darüber hinaus durch den Ausbau von Realschulen und Gymnasien neue Bildungschancen geschaffen, von denen jedoch Schüler*innen aus allen Schichten profitierten. Die Veränderungen konnten daher nicht zu einer Angleichung der Chancen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft beitragen (ebd., S. 74f.; Geißler, 2014, S. 357). Nach Geißler (2008, S. 95) hat vielmehr ein Wandel der Chancenstruktur stattgefunden: „Die Kumulation der mehrdimensionalen Benachteiligungen hat sich von der Arbeitertochter zum Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien verschoben“.

Der Fokus dieser Arbeit liegt weniger auf Ungleichheiten in Bezug auf das Geschlecht oder einen Migrationshintergrund, sondern insbesondere auf der Ungleichheit von Bildungschancen bei Schüler*innen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Der Begriff „soziale Herkunft“ gilt dabei als sozialwissenschaftliches Konstrukt, das so erstmal nicht empirisch messbar ist. Stattdessen gehen in die Entwicklung der Erhebungsinstrumente zur objektiven Erfassung der sozialen Herkunft unterschiedliche Vorstellungen ein, die diesen Gegenstand überhaupt erst definieren (Brake & Büchner, 2012, S. 51). Grundlegend wird die soziale Herkunft über die relative Position in der Gesellschaft bestimmt, „welche die Eltern in der gesellschaftlichen Hierarchie, also in einem Gefüge von Über- und Unterordnung, einnehmen“ (ebd.).

Die soziale Herkunft wird oft mit dem sozioökonomischen Status gleichgesetzt, der sowohl ökonomische als auch soziale Ressourcen berücksichtigt und meist der beruflichen Tätigkeit der Eltern ein besonderes Gewicht beimisst. In den IGLU- (u. a. Hußmann et al., 2017) und TIMS- (u. a. Wendt et al., 2016) Studien haben sich unter anderem die Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassen (EGP-Klassen) zur Bestimmung des sozioökonomischen Status und damit der sozialen Herkunft etabliert. Die EGP-Klassen ordnen „Berufe nach der Art ihrer Tätigkeit (manuell, nicht-manuell, landwirtschaftlich), der Stellung im Beruf (selbstständig, abhängig, beschäftigt), den Weisungsbefugnissen (keine, geringe, große) sowie den zur Berufsausbildung erforderlichen Qualifikationen (keine, niedrige, hohe)“ (Klemm & Rolff, 2016, S. 12f.). Der International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI), der beispielsweise in der ersten internationalen PISA-Erhebung (OECD, 2001) oder im deutschen Bildungsbericht (u. a. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020) Anwendung findet, basiert weniger allein auf der beruflichen Stellung, sondern fokussiert insbesondere das Einkommen und das Bildungsniveau (Klemm & Rolff, 2016, S. 12). Ab der zweiten Erhebungswelle der internationalen PISA-Studien wurde der Index of Economic, Social and Cultural Status (ESCS-Index) zur Erfassung des sozioökonomischen Status gewählt, der neben der beruflichen Tätigkeit und dem Bildungsniveau auch den Besitz von Kultur- und Wohlstandsgütern berücksichtigt (OECD, 2016a, S. 222). Weiterhin wird die soziale Herkunft in einigen Untersuchungen (u. a. Bos, 2010; Pfost, Artelt & Weinert, 2013) als Bildungsherkunft definiert. Der Bildungsgrad der Familie wird dann durch den höchsten Schulabschluss der Eltern erfasst. In dieser Arbeit werden verschiedene Studien vorgestellt, die die soziale Herkunft von Schüler*innen messen, diese jedoch unterschiedlich operationalisieren. Alle gewählten Ansätze können wichtige Hinweise liefern, lassen jedoch keinen direkten Vergleich der Daten zu.

Nachdem die Chancenungleichheit im Bildungssystem in den 1970er Jahren aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist, wurde sie 2000 durch die erste PISA-Studie erneut öffentlich problematisiert (Maaz, Baumert & Trautwein, 2010, S. 12). Neben den im internationalen Vergleich unterdurchschnittlichen Testergebnissen im Lesen der 15-Jährigen schnitt Deutschland auch in Bezug auf die soziale Chancengleichheit verhältnismäßig schlecht ab. Im Vergleich der OECD[5]-Staaten nahm Deutschland im Jahr 2000 in diesem Bereich sogar eine Spitzenposition ein (OECD, 2001, S. 139). Zwar hat sich der Zusammenhang zwischen dem sozioökono­mischen Status und den schulischen Kompetenzen in den darauffolgenden Jahren zunächst reduziert, die Stärke des Zusammenhangs liegt aber weiterhin signifikant über dem OECD-Durchschnitt (Tabelle 1). In Tabelle 1 ist der Prozentsatz der durch den sozioökonomischen Status (gemäß ESCS-Index) erklärten Leistungsvarianz von Lernenden in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen von 2003 bis 2018 für Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt dargestellt. Die Ergebnisse aus dem Jahr 2000 wurden in die Tabelle nicht mit aufgenommen, da in diesem Jahr ein anderer Index zur Erfassung der sozialen Herkunft verwendet wurde (Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel, 2004, S. 252).

PISA-Jahr

Untersuchte Kompetenz

Prozentsatz der durch den sozioökonomischen Status erklärten Leistungsvarianz in Deutschland

OECD-Durchschnitt des Prozentsatzes der durch den sozioökonomischen Status erklärten Leistungsvarianz

2003

Mathematik

22,8%

16,8%

2006

Naturwissenschaften

19,0%

14,4%

2009

Lesen

17,9%

14%

2012

Mathematik

16,9%

14,8%

2015

Naturwissenschaften

15,8%

12,9%

2018

Lesen

17,2%

12%

Tabelle 1: Stärke des Zusammenhangs zwischen den Strukturmerkmalen des familiären Hintergrundes (gemäß ESCS-Index) und dem Kompetenzerwerb von 2003-2018 in den bei PISA schwerpunktmäßig untersuchten Kompetenzbereichen für Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt (eigene Darstellung anhand der PISA-Veröffentlichungen: Ehmke et al., 2004, S. 249; OECD, 2007, S. 123; OECD, 2010, S. 55; OECD, 2013, S. 15; OECD, 2016b, S. 402; OECD, 2019, S. 17).

Die Unterschiede in den untersuchten Kompetenzen lassen zwar keinen direkten Vergleich zwischen allen Jahren zu, man kann aber dennoch davon ausgehen, dass bis 2015 zumindest ansatzweise eine Angleichung von Bildungschancen stattgefunden hat. 2018 scheint sich die soziale Ungleichheit in Deutschland jedoch wieder verstärkt zu haben. In diesem Jahr lassen sich 17,2% der Leistungsvarianz der Jugendlichen im Lesen auf den sozioökonomischen Status zurückführen. Obwohl der Wert leicht niedriger ist als im Jahr 2009, in dem ebenfalls die Lesekompetenz untersucht wurde, hebt er sich mit 5,2% in diesem Jahr deutlich stärker vom OECD-Durchschnitt ab als in den vergangenen Jahren. Die Chancenungleichheit im Schul­system ist damit ein beständiger und im deutschen Bildungssystem besonders schwerwiegender Zustand.

4.2 Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit

Sowohl in den PISA-Studien als auch in den sich daran anschließenden bildungspolitischen Diskussionen werden in Bezug auf die enge Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg häufig die Begriffe „Bildungs(un-)gerechtigkeit“, „Chancen(un-)gerechtigkeit“ oder Chancen(un-)gleichheit genannt, wobei sich die Wortbedeutungen zu einem großen Teil vermischen (Dietrich, Heinrich & Thieme, 2013, S. 15). Bildung wird laut der OECD (2016a, S. 219) dann als gerecht angesehen, wenn Bildungschancen gleich verteilt sind: „In PISA bedeutet Bildungsgerechtigkeit, dass allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem familiären Hintergrund oder ihrem sozioökonomischen Status, qualitativ hochwertige Bildungschancen geboten werden“. Die Vorstellung von Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit gilt – zu einem gewissen Anteil sicherlich auch dank PISA – als dominante Lesart des Bildungsgerechtigkeitsbegriffs (Heinrich, 2015, S. 241). Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass die oben genannten Begriffe häufig synonym verwendet werden. Stojanov (2011, S. 18) sieht in dieser Bedeutungsvermischung jedoch einen „Skandal der wissenschaftlichen PISA-Diskussionen“, da die Begrifflichkeiten weder problematisiert noch anständig geklärt werden. Im Folgenden wird der Versuch einer Problematisierung und Abgrenzung der Begriffe vorgenommen, um die Grundlage für weitere Diskussionen auf Basis der genannten Termini in dieser Arbeit zu schaffen.

Bildungsgerechtigkeit