Meilenweit für kein Kamel - Bernhard Hoëcker - E-Book

Meilenweit für kein Kamel E-Book

Bernhard Hoecker

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Beschreibung

Die verrückteste Rallye der Welt Ist es eine gute Idee, mit einem 20 Jahre alten Auto 6500 Kilometer vom beschaulichen Allgäu in die jordanische Wüste zu gondeln? Bernhard Hoëcker meinte: Ja! Zusammen mit seinem Freund Tobias Zimmermann stürzte er sich in ein irrwitziges Unterfangen – die Allgäu-Orient Rallye: Fest stand das Ziel (Amman), der Siegpreis (ein Kamel) – und welche Straßen NICHT benutzt werden durften: alle Verkehrswege, die ein reibungsloses Fortkommen garantierten. Ein Abenteuerbericht voll witziger Begebenheiten, absurdem Wissen und skurriler Reiseimpressionen aus Okzident und Orient.

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Seitenzahl: 440

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Bernhard Hoëcker & Tobias Zimmermann

Meilenweit für kein Kamel

Eine ungewöhnliche Reise vom Allgäu in den Orient

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Tag 1 | Freitag, 1. Mai 2009 | Ittenbach – Oberstaufen

Tag 2 | Samstag, 2. Mai 2009 | Oberstaufen – Traisen

Tag 3 | Sonntag, 3. Mai 2009 | Traisen – Makó

Tag 4 | Montag, 4. Mai 2009 | Makó – Braşov

Tag 5 | Dienstag, 5. Mai 2009 | Braşov – Biser

Tag 6 | Mittwoch, 6. Mai 2009 | Biser – Didymoticho – Istanbul

Tag 7 | Donnerstag, 7. Mai 2009 | Istanbul – Kırıkkale

Tag 8 | Freitag, 8. Mai 2009 | Kırıkkale – Ceyhan

Tag 9 | Samstag, 9. Mai 2009 | Ceyhan – Idlib

Tag 10 | Sonntag, 10. Mai 2009 | Idlib – Palmyra

Tag 11 | Montag, 11. Mai 2009 | Palmyra – Damaskus

Tag 12 | Dienstag, 12. Mai 2009 | Damaskus – jordanische Wüste

Das Letzte | Ein paar Tage später | Amman

Danksagung

Bernhards Prolog

Der nächtliche Nebel senkte sich in die Böschung neben der Straße, als mich das leise Dudeln des Radios in einen tranceähnlichen Zustand versetzte. Ich verstand zwar nicht, was der Sänger mir in dieser fremden Sprache sagen wollte, aber dass er litt, war unverkennbar. Plötzlich sah ich im Rückspiegel in einiger Entfernung zwei Scheinwerfer hinter einem Baum aufleuchten, dann setzten sie sich direkt hinter unseren Wagen, begleitet von einer hektischen Auf-und-ab-Bewegung der Lampen, die entsteht, wenn ein Fahrzeug über den neben der Straße verlaufenden Schüttrand aus der Deckung auf die Fahrbahn brettert.

Die Angst kroch wieder in mir hoch, wurde in Sekunden zu Panik. Da waren sie schon wieder. Ich hatte gehofft, sie auf den zehn Kilometern Schotterpiste abgehängt zu haben, hatte gebetet, sie würden uns nicht über die türkische Grenze folgen, und jetzt zeigten sie sogar hier in Syrien ihre Existenz. Dabei hatten wir in Bulgarien doch eigentlich nur einen Kaffee trinken wollen. Hatten dem älteren Herrn bloß schnell geholfen, in die nächste Stadt zu kommen. Die kleine Tasche, die er in unserem Auto zurückgelassen hatte, war uns anfangs gar nicht aufgefallen. Erst an der Grenze, als der Uniformierte sie kritisch beäugte, bemerkten wir sie.

Dass Tobi in einer Kurzschlussreaktion Gas gegeben hatte, konnte ich nicht verstehen. Dass wir danach zur Zielscheibe verschiedener Polizeieinheiten in mehreren Ländern wurden, schon eher. Hatte man uns nicht gewarnt, uns den Behörden gegenüber ja kooperativ zu zeigen? Hatte man uns nicht den Rat gegeben, bloß nicht irgendwo aufzufallen? War uns nicht im Vorfeld dieser Rallye klar gewesen, dass wir jenseits der österreichischen Grenze auf uns allein gestellt sein würden?

Auf einer kleinen Waldlichtung hielten wir an und durchsuchten die vergessene Aktentasche des alten Herrn im Schutz unserer Taschenlampe. Die vorgehaltene Hand brannte schon, aber zu gefährlich erschien uns jeder offene Lichtstrahl, der in dieser einsamen Gegend einem eventuellen Späher den Weg zu uns weisen konnte.

«SECRETĂ» stand in großen roten Buchstaben auf der gelblichen Pappkladde, umrahmt von einem dicken roten Kreis. Dass es hier nicht um die Absonderung von Nasenschleim ging, erschloss sich uns sehr schnell. «GEHEIM» oder «TOP SECRET» sind die Wörter, die man üblicherweise in einer solchen Art und Weise schräg über das Schriftstück gedruckt findet.

In der Kladde lagen dann die Schriftstücke: Pläne, Listen, Bilder, Namen von Personen und Orten. Als uns die fotografische Ablichtung des rumänischen Präsidentenpalastes sowie mehrere Blaupausen mit eingezeichneten Geheimgängen in die Hände fielen, wussten wir, dass unsere Verfolger weit schlimmer waren als jeder Geheimdienst eines jeden Landes. «Securitate» stand deutlich lesbar auf jeder Seite in der ersten Zeile. Zwar gab es die rumänische Organisation angeblich nicht mehr, aber vereinzelt tauchten immer mal wieder alte Mitglieder auf, um die Vergangenheit geheim zu halten.

Die Scheinwerfer hinter uns näherten sich bedenklich, und ich bemerkte erst das Aufglühen eines Feuerzeugs hinter der Windschutzscheibe, dann das Glimmen einer Zigarette. Zwischendurch gab Tobi mir die Kilometer bis zur jordanischen Grenze durch. Dort wären wir in Sicherheit, dort erwarteten uns Freunde der Rallye-Organisatoren mit Verbindungen «nach ganz oben». Ich gab nochmal Gas. Punkte in Syrien waren bestimmt nicht in Flensburg anrechenbar. Kurz darauf tauchten auch schon in der noch schwachen Morgendämmerung die Checkpoints der Grenze auf.

«O mein Gott! Da steht alles voll», konnte Tobi noch rufen, da riss ich das Lenkrad schon herum. Der Wagen sprang förmlich von der Straße und bohrte sich wie ein aus dem Wasser springender Orca in den Wüstensand. Eine riesige Staubwolke hinter uns aufwirbelnd, suchte sich der Wagen den Weg ins benachbarte Land, da tauchte plötzlich ein Zaun vor uns auf, es krachte, und wir kamen zum Stehen. Mit der Vorderseite waren wir in Jordanien, doch das Heck stand noch in Syrien, und von dort war erst das Zerbersten von Glas zu hören, dann das Ächzen und Stöhnen eines Mannes mit dichtem Vollbart, der sich durch das enge Heckfenster quälte.

Indem er die Finger in den Bezug der Rückenbank krallte, zog er sich und seinen muskulösen Körper Stück für Stück näher an uns heran. Dann ein weiterer Knall, und vor uns trat ein Huf die Windschutzscheibe ein, ehe etwas Langes und Behaartes die verbliebenen Scherbenreste zerstörte. Ich sah auf und erblickte im Gegenlicht der Sonne hoch oben auf einem Kamel die Silhouette eines Beduinen, der mir die Hand hinstreckte. Ohne darüber nachzudenken, griff ich danach, und auch Tobi versuchte sie zu erreichen. Aber es war zu spät, der bärtige Eindringling hatte meinen Reisegefährten bereits von hinten gepackt und zog ihn aus dem Wagen. Im letzten Moment griff Tobi nach der Tasche des alten Mannes, ich ebenso. Eine Weile blieb sie wie regungslos in der Luft, verharrte unbeweglich, um dann mit einem schrecklichen Geräusch zu zerreißen.

Während die einzelnen Seiten aus der Kladde zu Boden fielen, hob mich mein Retter auf das Kamel. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie mein Freund und Begleiter in ein Auto gestoßen wurde.

Sein lautes «Nein! Nein! Nein!» klang mir noch lange in den Ohren.

Tag 1

Freitag, 1.Mai 2009

Ittenbach– Oberstaufen

Text: Bernhard

Anmerkungen: Tobias

So stellte ich mir unser Abenteuer vor, allerdings fing es nicht ganz so dramatisch an: Ich saß zu Hause auf dem Sofa und wartete.

Der Plan sah vor, dass mich Carsten, der Mann, dessen Primärfähigkeit das Grillen war und der deshalb perfekt in unser sechsköpfiges Team passte, um neun Uhr zu Hause abholen sollte. Um zehn wollten wir uns dann mit den anderen an einer durch ein allgegenwärtiges Fastfood-Restaurant zu erkennenden Autobahnausfahrt treffen, die den Einheimischen auch unter Ittenbach oder Siebengebirgsabfahrt bekannt ist.

Von dort sollte es dann mit drei Wagen, die wir eigens dafür gekauft hatten, losgehen zu unserem Abenteuer: der Allgäu-Orient-Rallye 2009.Mit Autos, nicht teurer als 2000Euro und/​oder älter als 20Jahre, ging’s knapp zwei Wochen lang von Oberstaufen im Allgäu nach Amman in Jordanien.

Die Rallye, die es seit 2006 gibt, fing einst an als kleiner Spaß mit gutem Zweck. Sämtliche Autos werden am Ziel nämlich als Ersatzteillager versteigert, und der Erlös kommt einem örtlichen guten Zweck zugute.

Als Preis winkte uns ein Kamel arabischer Bauart, also mit nur einem Höcker.

Hallo, Bernhard, ich bin’s, Tobi. Sorry, dass ich dich hier unterbrechen muss. Aber kaum will man sich entspannt zurücklehnen und deinen Ausführungen folgen, da wirfst du einem auch schon einen sprachlichen Knüppel zwischen den Hypothalamus. Warum sagst du nicht einfach «Dromedar», sondern drückst dich so verquast aus?

Lieber Tobi, den gängigen Streit um die Begrifflichkeit «Kamel» – «Dromedar» – «Trampeltier» möchte ich an dieser Stelle direkt beenden, indem ich kundtue, dass es sich bei dem Begriff «Kamel» um die Bezeichnung der Familie und obendrein dem einzigen Mitglied der Unterordnung «Schwielensohler» handelt. Das Dromedar mit einem Höcker (man lege das «D» auf den Rücken, und schon hat man sich die Anzahl gemerkt) bezeichnet dagegen die Art aus der Gattung der «Altweltkamele». Eine andere Art sind übrigens die «Trampeltiere». (zum Merken der Höckerzahl zähle man übrigens einfach die Enden der waagerechten Striche des «T»). Nebenbei sei bemerkt, dass zu den «Neuweltkamelen» die – und jetzt kommt’s – «Lamas» gehören. Das hat selbst mich überrascht.

Leider machten die örtlichen Einfuhrbestimmungen es dem Sieger unmöglich, die lebende Trophäe mit nach Hause zu nehmen. Damit blieb dem Sieger nichts anderes übrig, als den Preis im Land zu lassen und sich gelegentlich per Videokonferenz mit ihm in Verbindung zu setzen. Aber ob wir am Ende zu glücklichen Dromedarbesitzern werden würden, war zu diesem Zeitpunkt natürlich noch völlig unklar.

Punkt neun stand ich, inzwischen gestiefelt und gespornt, im Flur zwischen meinen Sachen und wartete. Immer noch. Der Kaffee war längst getrunken, der Vollautomat bereits gereinigt. Da stand ich also und drückte nachhaltige Spuren in den Holzfußboden.

Endlich klingelte es, ich nahm das Gepäck in die Hand und stürmte nach draußen. Der Nachbar wunderte sich leicht, aber gab mir dann trotzdem das Päckchen, das schon seit einer Woche bei ihm herumlag, ohne abgeholt worden zu sein. Einmal draußen, setzte ich mich vor dem Haus auf die Treppe und schonte so das Parkett.

Dann hörte ich ihn. Er kündigte sich schon durch ein dumpfes Grummeln an. Mit einer Stunde Verspätung hämmerte er gegen mein Trommelfell. Durch die Straßen fand er den Weg bis vor meine Tür. Schließlich bog auch der Verursacher des Geräusches um die Ecke: Ein Mercedes 300SE, Jahrgang 1986, rollte langsam auf mich zu. Auf der Kühlerhaube prangte ein großer Aufkleber mit einem Kamel, schön in Schwarz, weil man es sonst auf dem silbernen Wagen nicht hätte erkennen können. Ich hatte ihn so noch gar nicht gesehen und war dann doch erstaunt, wie unglaublich «cool» das Ganze wirkte. Die Rückbank war komplett voll mit – Kram. Anders kann man es nicht beschreiben. Noch war der Dachgepäckträger nicht beladen, so musste alles im Rück- und Kofferraum gelagert werden.

Ich öffnete die Seitentür. «Na, wie geht’s, altes Haus?» Ich blickte mich auf der Straße um, ob jemand meinen coolen Spruch gehört hatte. Aber es war niemand da.

«Komm, setz dich, junges Zelt», antwortete Carsten.

[Bild vergrößern]

Alles bereit für die Fahrt: Essen, Sonnenbrille, Strom.

«Haha, junges Zelt! Das stimmt, mit den Falten», sagte plötzlich mein Nachbar, der auf dem Fenstersims lehnte und uns beobachtete.

Mist, die Leute packen ihre Kissen aber auch immer im falschen Moment aus!

Ich warf meine Tasche auf die hintere Sitzbank und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Und schon hätte ich fast auf der Straße gelegen. Der Sitz war leicht abschüssig, da nach rechts komplett durchgesessen, und schlagartig fragte ich mich, wie bequem es wohl sein würde, über einen längeren Zeitraum nur eine Hüfte zu belasten. Gebremst wurde der Sturz nur durch mein unendlich tiefes Einsinken in die Polster. Ich war froh, die Rallye nicht in diesem Wagen absolvieren zu müssen. Wie wir uns auf die einzelnen Wagen verteilten, war vom Reglement her egal, aber durch die Liebe der einzelnen Teammitglieder zu bestimmten Autos kristallisierten sich vorab schon die Paarungen heraus: Renate und Chris im BMW, Fritz und Carsten im Mercedes und Tobi und ich im Volvo.

Während der Fahrt zum Treffpunkt gedachte ich dann doch mal das heikle Thema «Verspätung» anzusprechen, was Carsten mit einem «Haben wir uns gestern Abend anders überlegt» beantwortete. Daraufhin gedachte ich dann doch mal das heikle Thema «Kommunikation» anzusprechen, was er mit «Keiner gemacht? Ui!» abschmetterte. Schließlich gedachte ich dann noch das heikle Thema «So geht es nun wirklich nicht» zur Sprache zu bringen, entschied letztlich aber, es mir besser zu verkneifen.

Carsten ist kein Typ großer Worte. Er war bei der Rallye der Abenteurer, der sich mit knappen Worten, aber unermüdlicher Kraft in die Beschaffung der Ausrüstung kniete und jedem Sponsor so lange an der Wade hing, bis er auch noch ein Schlüsselband seiner Firma rausrückte.

Im letzten Jahrhundert geboren, gehört Carsten zu den klassischen Vertretern alter Männlichkeit. Er ist sehr naturverbunden und nutzt jede Gelegenheit, um alte, bereits vorverkohlte Holzreste wieder und wieder zu entflammen oder erlegtes Wild in einen zum Verzehr geeigneten Zustand zu versetzen. Dass er seinen eigenen Nahrungsaufnahmerhythmus dabei ebenso missachtet wie den seiner Mitreisenden, ficht ihn nicht weiter an. Lediglich tiefere Gewässer können ihn davon abhalten, seinen auf drei Beinen eigentlich überall stehenden Grill zu platzieren und einzuheizen. Selbst von Regen lässt er sich nicht weiter stören, sondern erhöht dann einfach die Temperatur der Flamme, und schon verdunsten die Tropfen, bevor sie auch nur annähernd das Grillgut erreichen.

Praktische Werkstatt- und Fahrzeugkenntnisse sind bei Carsten rudimentär vorhanden, weshalb er einen Auspuff selbst im Dunkeln von einem Wagenheber unterscheiden kann, und das nicht nur an der Temperatur, sondern auch am Geschmack. Als ruhender Pol neben den stampfenden Zylindern behielt er obendrein stets einen kühlen Blick, wenn die «SOKO Auto» mal wieder auf der Jagd war.

Bei den SOKOs handelte es sich um eine Organisationsform, der wir im Vorfeld verfallen waren, um die verschiedenen Rallye-Vorbereitungen in Kleingruppen aufgeteilt zu erledigen. Erstens, weil es praktisch war, aber auch, weil es so unglaublich toll klingt: SOKO. Es gab die erwähnte für die Beschaffung diversen Materials wie Zelte, Essen, Werkzeug und dergleichen und eine weitere, die sich um die Beschaffung der Wagen kümmern sollte – hochkarätig besetzt mit Leuten, die sich mit so was auskennen. Folglich waren Tobi und ich nicht dabei, wir gehörten mit Renate zur «SOKO Strecke».

Das Wichtigste bei dieser Rallye war in meinen Augen selbstverständlich die Planung der Route, was durchaus daran liegen mag, dass ich dieser SOKO angehörte.

Die Rallye-Regeln schränkten unsere Streckenwahl natürlich leicht ein:

keine Mautstraßen,

keine Autobahnen,

keine Fähren,

keine Transporte mit Bahn oder Flugzeug,

keine Übernachtung teurer als zehn Euro pro Nacht und Nase,

kein GPS.

Zunächst verschaffte ich mir einen Überblick über die Lage der Länder und war überrascht, wer da so neben wem lag. Was macht Griechenland denn da neben Serbien? War der Kosovo nicht gestern noch Teil von Montenegro? Wo ist eigentlich mein altes Urlaubsziel Jugoslawien, und seit wann liegt Bulgarien in Europa? Auch jenseits des Bosporus war das Staunen groß: Ach, so weit geht die Türkei in den Süden? Stimmt, Jordanien ist ja gar nicht Libanon, ich hatte schon Sorgen. Oh, Syrien ist aber groß. Was ist denn bloß das Graubraune da? Wir müssen doch nicht etwa in die Nähe von Bagdad…

Nachdem die ersten Recherchearbeiten bereits nach fünf Minuten als erfolglos abgetan werden konnten, weil kein zusammenhängendes, digital berechenbares Straßennetz im Internet zu finden war, versuchte ich es mit der guten alten Handarbeit und durchsuchte das Internet selbst. Mit zwei Fingern tippte ich die Suchbegriffe «Istanbul», «Deutschland» und «mit Auto» ein. Sofort schlug mir Frau Google diverse Internetforen zum Durchstöbern vor. Ich machte mich an die Arbeit und las. Viel. Sehr viel. Wenn die Infos überhaupt zu meiner Frage passten, waren es meist Frauen, die mit ihren Männern und Familien mit dem Auto in den Urlaub oder nach Hause, auf jeden Fall aber in die Türkei wollten. Am allermeisten fragten die Frauen in den Foren «mal so nach», wie dass denn mit dem Auto so sei, der Mann wolle das nämlich «auf jeden Fall durchziehen». Sofort waren hilfreiche Helfer helfend zur Stelle und sparten nicht mit Ratschlägen:

>Am besten mit dem Autoreisezug nach Italien und dann mit der Fähre

>>Mit dem Auto? Vergiss es, nimm ’nen Flieger und miet dir dann ’nen Wagen

>>> Wenn dein Mann so bescheuert ist, dann lass den alleine fahren und flieg

>>>>O Mann, stell dich drauf ein, an jeder Grenze gefilzt zu werden und deinen Kofferraum leer zu räumen

Irgendwann gab ich auf. Wie schnell sich doch die Hoffnung auf klare Antworten in den Weiten des Internets verlieren kann. Letztendlich entschieden wir uns, möglichst wenige Grenzen zu passieren, daher fiel die Wahl auf die Strecke Österreich– Ungarn– Rumänien und dann durch Bulgarien direkt in die Türkei. Von dort aus gab es eigentlich nur wenige Möglichkeiten, durch Syrien nach Jordanien zu kommen, weil wir unterwegs nämlich obendrein an bestimmte Aufgaben gebunden waren, die wir allerdings da noch nicht hatten, weshalb sowieso keine genaue Planung möglich war.

Während ich den Erinnerungen an unsere Planungsphase nachhing, rollte der Wagen wie ein fahrendes Sofa souverän rechts, rechts, rechts, U-Turn, rechts, rechts, rechts, links, rechts und dann auf den Parkplatz eines Drive-in-Schnellrestaurants. Carsten und ich beschlossen, drinnen auf den Rest des Teams zu warten, und nach einiger Zeit kam tatsächlich der BMW. Der rote 525i aus dem Jahre 1993 war als letztes Fahrzeug in unseren Fuhrpark gelangt. Dank der Abwrackprämie und den dadurch ins Bodenlose gestürzten Gebrauchtwagenpreisen bekamen wir dieses Fahrzeug für den Bruchteil des Betrages, den wir für den Mercedes ausgegeben hatten. Die «SOKO Auto», bestehend aus Carsten und Fritz, war schon vor der eigentlichen Ansicht des Wagens sehr zuversichtlich. Die Steigung der Straße auf dem Weg zum Verkäufer war nämlich so steil, dass der Wagen gute Bremsen haben musste – oder inzwischen gar keine mehr.

Renate saß am Steuer, fuhr einmal um das Gebäude und parkte, indem sie die Begrenzungslinien perfekt traf, vor dem Fenster. Das wunderte mich nicht. Renate neigt zu einer gewissen Korrektheit. Wahrscheinlich schon mit Kugelschreiber und Klebestift auf die Welt gekommen, tat sie danach nicht ihren ersten Schrei, sondern notierte erst mal die Uhrzeit, den Namen der Hebamme und die Temperatur im Kreißsaal. Im Kindergarten lernte sie nicht nur die Farben, sondern diese gleich in drei verschiedenen Sprachen. Neben Deutsch und Englisch auch in Korrekt. Als sie die Schule verließ, atmeten die Lehrer reihenweise auf, denn endlich durften sie wieder unterrichten, wie sie wollten, und nicht, wie es Vorschrift war, außerdem konnten ihnen wieder Fehler unterlaufen, die keine bemerkte. Renates Freude an Formularen hatten wir es jedoch auch zu verdanken, dass wir überhaupt an dieser Rallye teilnahmen. Und das kam so:

Eines Mittags, es war der 22.Juni 2008, saßen in einem Kölner Büro vier Personen zusammen und speisten köstliche Fertiggerichte. Carsten, Renate, Fritz und Tobi. Carsten erzählte beim Essen von einer Rallye, an der er schon seit zwei Jahren teilnehmen wollte. Renate, von jeher eine Freundin fremder Kulturen, hörte aufmerksam zu, rannte dann in einem Anfall von Übermut zu ihrem Computer und schaute auf der Webseite des Veranstalters nach, wie das denn da so genau aussah mit dieser Rallye. Etwa fünf Minuten später hatte sie aus Versehen das Team StaubMaul angemeldet, aus Versehen den Teilnehmerbeitrag überwiesen und aus Versehen auch schon die Namen der ersten Teammitglieder bekanntgegeben.

Im Vorfeld der Tour übernahm Renate, das Organisationsgenie, freiwillig sämtlichen bürokratischen Aufwand und arbeitete sich dabei bis in die hintersten Winkel des Kleingedruckten vor. Jedes Dokument, jedes Visum, jede Bescheinigung schickte sie im Vorfeld pünktlich und ausreichend frankiert an die richtigen Stellen.

Somit waren sämtliche Anmeldungen perfekt, die Visa-Anträge richtig und alle Karten unseres persönlichen Fahrtenbuchs auf denselben Maßstab vergrößert. Den Großteil der Reise verbrachte Renate dann zwar damit, irgendwelche Belege zu sortieren und die Rechtschreibfehler in unseren Blogs zu korrigieren, aber die hochprofessionell geplante Reise ging hauptsächlich auf ihren Einsatz zurück.

Die Türen des BMWs öffneten sich, und von der Beifahrerseite stieg Fritz aus. Wie immer mit Markenkleidung, mit geföhntem Haar und – da bestand kein Zweifel– Plastikhandschuhen in der Tasche, damit er sich beim Tanken nicht die Finger benetzte. Ein richtiger Städter. Ein Jäger, der viel Zeit auf seinem Hochsitz verbrachte, um auch ja das passende Fahrzeug zu erspähen. Manch ein Auto ließ er vorbeiziehen, um dann im rechten Moment zuzuschlagen. Seinem Verhandlungsgeschick konnten die wenigsten Verkäufer widerstehen, weshalb sie schon nach den ersten zaghaften Versuchen der Abzocke einbrachen. Wir freuten uns jetzt schon auf den ersten Teppichhändler, der uns in Arabien seinen gesamten Vorrat an Bodenbelägen hinterhertragen würde.

Aus dem Ländlichen kommend, hat Fritz wohl bereits auf den heimischen Wochenmärkten das Feilschen von der Pike auf gelernt, ebenso bereits in frühester Kindheit die Faszination des motorisierten Antriebs erfahren dürfen. Traktoren waren in dieser Region Deutschlands nun mal mit die einzige Möglichkeit, den schlammigen Untergrund ohne anstrengende Beinbewegung zu meistern. Als er später in die große Stadt Köln kam, wunderte er sich nicht nur über die flächendeckende geschlossene Bebauung, sondern auch über die diversen Möglichkeiten, den Untergrund den Fahrzeugen anzupassen und nicht umgekehrt. So ist aus ihm ein wahrer Kenner des Automobils geworden, wenn auch die theoretische Seite durchaus Priorität genießt. Sämtliche Zeitschriften, die von PS-Zahlen, Hubraumangaben und Beschleunigungswerten nur so strotzen, gehören zu seiner Standardlektüre. In der Zwischenzeit liest er aber auch gerne mal «was mit verschachtelten Sätzen».

In seiner stets modischen Kleidung bildet er einen auffallenden Kontrapunkt zum üblichen Rallye-Outfit. Allerdings lässt der unregelmäßige Gebrauch von weißen Socken zu schwarzen Schuhen eine gewisse modische Dissonanz zwischen Kleidung und seiner allzeit gegelten Frisur erkennen. Dies war wohl ein nicht unerheblicher Faktor, der die jeweiligen Autoverkäufer bei den knallharten Verhandlungen in die Knie gezwungen hatte.

Ein Großteil des Teams war somit vollständig vorhanden, lediglich der Volvo mit Tobi, Michael und Chris ließ auf sich warten. Hoffentlich saß nicht Tobi am Steuer, dann würde es noch etwas dauern, denn als Freund der modernen vernetzten Kommunikation fuhr er sicher auch im realen Leben lieber langsamer, als sich einen Virus, sprich einen Unfall, einzufangen.

Er ist übrigens nicht wie andere Menschen auf die Welt gekommen, sondern höchstwahrscheinlich aus dem Internet heruntergeladen worden. Wie das funktioniert haben soll, ist allerdings ein Rätsel, denn die Paranoia, mit der er seinen Computer gegen jeden wie auch immer gearteten Zugriff, sei es ein automatisches Update, Spam oder auch ein Virus, schützt, hätte eigentlich jede Form von Schwangerschaft bei seinen Eltern verhindern müssen. Kein Buchstabe kann gedrückt werden, ohne dass sich das System dies zweimal bestätigen lässt, und natürlich muss vorher ein 13-stelliges Passwort eingegeben werden.

Dafür leistete er unterwegs, zumindest wenn er neben mir als Beifahrer im Auto saß, fast mehr als hinter dem Steuer. Kann man beim Lenken nämlich eine Hand lässig herunterbaumeln lassen, hat er auf dem Beifahrersitz ununterbrochen die zwei Jahre alten Informationen aus der Offline-Wikipedia abgerufen und uns während der gesamten Rallye damit auf dem fast aktuellen Stand der damaligen Wissenschaft gehalten.

Aber eigentlich hat er auch später jede Situation mit seiner stoischen Ruhe, die Enya wie eine Heavy-Metal-Gruppe erscheinen lässt, und selbst die nervigsten Momente erträglich werden lassen. Fuhr er, so konnte ich entspannt die Augen schließen und mich durch die Welt treiben lassen – wenn er dabei nur nicht so laut geschnarcht hätte.

Aber immer noch ließ Tobi im Volvo mit Michael und Chris auf sich warten.

Eine Weile auf sich warten.

Eine ganze Weile auf sich warten.

Wir anderen hatten uns längst mit Kaffee und einem Frühstück eingedeckt, das noch leicht nach den Burgern des Vorabends schmeckte, als wir ihn plötzlich sahen: den Volvo, der für die nächsten 14Tage mein und Tobis Zuhause sein sollte. Die anderen wollten später öfter mit uns tauschen, auch wenn Fritz den Mercedes bereits im Vorfeld okkupiert hatte. Schön und kompakt, stark und stolz durchfuhr er den Verteilerkreis. Zweimal. Oh, da hatte sich der gute Tobi wohl in der Ausfahrt geirrt.

Wenn ich Bernhard an dieser Stelle kurz unterbrechen dürfte. Hätte ich mich in der Ausfahrt geirrt, wäre ich wohl kaum nach der zweiten Runde richtig rausgefahren. Ich war lediglich durch meine Mitfahrer abgelenkt und habe die Vorzüge eines Kreisverkehrs für solche Situationen genutzt. Genau genommen musste ich mich gerade über die ausgelassene Freude von Chris und Michael über die erste Pause mit Frühstück, Kaffee und WLAN wundern. Wir hatten zwar bereits 47 von mehr als 6000Kilometern geschafft, aber ich hoffte inständig, dass diese herzliche Begeisterung nicht ein Indiz für die angestrebte Pausenfrequenz sein würde.

Dann stand der Volvo auf dem Parkplatz, und zwei der Insassen betraten das Restaurant. Die dritte Person hatte leichte Probleme, sich aus dem Auto zu schälen. Unser sechster Mann Chris war die Ruhe selbst. Er war heiß auf das Abenteuer und trotzdem immer sehr «entspannt», was er uns als Ratschlag in den verschiedensten Situationen auch gerne mit auf den Weg gab.

Eine Hand hat er eigentlich ständig am Ohr, um das Telefon nicht abstürzen zu lassen. Als derjenige unter uns mit der größten internationalen Erfahrung war er als Letzter ins Team gekommen. Renate war ihm mal in einem Arabischkurs begegnet, in dem sie sich auf die Reise in die weite Welt vorbereiten wollte. Chris’ Kenntnisse über Autos betreffen nicht nur den schönen Lack, sondern auch einzelne Details des Motorraums. Schrauben und Drähte sind ihm genauso vertraut wie Ventile und Dichtungsringe. Nun gut, dass er normalerweise mit Fahrzeugen größeren Kalibers zu tun hat, war durchaus als Einschränkung zu verstehen. Aber wer schon mal im Schlafsack gelegen hat, der weiß: Zu groß ist immer noch besser als zu klein.

Seine besondere Fähigkeit war der ständige Kontakt mit der Heimat. Der 655-stellige Betrag auf seiner Telefonrechnung führte dazu, dass sein Mobilfunkanbieter eigens das Rechnungssystem umstellte und die Rechnungen nun auf DIN-A4 quer verschickt.

Noch bevor Chris das Restaurant betreten hatte und noch bevor sich die Neuankömmlinge setzen konnten, die Knie schon leicht gebeugt, den Körper der Schwerkraft überlassen wollend, sprangen wir anderen auf. Zu heiß waren wir auf den Start der Rallye und vor allem auf das erste Gruppenfoto, das erste Umpacken und das erste Kolonnenfahren. Zu heiß war auch der Kaffee, den sich Carsten ungeschickterweise in einem Glas hatte servieren lassen. Wahrscheinlich fühlte er sich so der brennenden Hitze näher.

Wir traten auf den Parkplatz vor dem Gebäude und fingen zu sechst erst mal an, das Gepäck umzuladen. Doch eigentlich waren wir zu siebt, und da sahen wir ihn auch schon alle, den armen, einsam dastehenden Mann, der mit einer Jutetasche um Aufmerksamkeit warb. Es war Michael, unser Kameramann. Weltoffen, neugierig und tolerant, sprudelte er vor Freude und guter Laune. Dass er, neben seiner Neigung zu derben Späßen, dem philosophischen Diskurs nicht abgeneigt war, machte ihn für mich zu einem angenehmen Reisepartner.

Da wir unsere Fahrt auch filmisch für die – Achtung, es folgt ein Begriff aus der Vor-Flatscreen-Zeit! – Flimmerkiste in bewegten Bildern auf eigens dafür vorgesehenem Material bannen wollten, brauchten wir jemanden ohne eigene Meinung, der willenlos das tat, was wir wollten, also jemanden, der eigentlich gar nicht wusste, dass die Welt dreidimensional ist.

Da war Michael genau der Richtige. Dank ihm verfügten wir über zwei mit Spannungswandlern ausgestattete Fahrzeuge – eigentlich, damit er seine Kameraakkus aufladen konnte, aber noch eigentlicher, um unsere Laptops mit Strom zu versorgen. Seine Ratschläge über Verhalten im Ausland, sei es Indien, Mosambik oder Paraguay, waren für uns Unerfahrene sehr hilfreich, falls wir im Leben je nach Indien, Mosambik oder Paraguay kommen sollten.

Dennoch: Unser ständiger Begleiter erfreute sich unserer illustren Gemeinschaft und versuchte uns stets mit philosophischen und politischen Gesprächen zu erheitern, womit er allerdings nur eingeschränkt erfolgreich war. Egal, ich hatte jedenfalls Spaß. Er dagegen denkt heute noch über die Darstellung der vierten Dimension nach, oder vielmehr versuche ich es ihm nach wie vor zu erklären, doch er lässt sich seit unserer Rückkehr verleugnen.

Seine baumelnde Jutetasche enthielt jedenfalls ein durchaus sinnvolles Equipment: Funkgeräte, und zwar zwei Sets mit jeweils zwei Geräten, die jedoch leider nicht miteinander kompatibel waren.

Wir verteilten die Funkgeräte möglichst gerecht, die mit der großen Reichweite im ersten und im letzten Wagen, die weniger starken bekam das Team in der Mitte, bis wir auf die Idee kamen, wenigstens eines davon an ein anderes Fahrzeug weiterzureichen.

Dann ging es endlich los in Richtung Allgäu. Gut gefrühstückt hatten wir ja, daher konnten wir uns voll auf die Trainingsfahrt zum Ort des Starts konzentrieren. Wir mussten irgendwann im Laufe des Tages da sein, weil die eigentliche Rallye erst am folgenden Tag losging.

Während sich die ersten Versuche der Kolonnenfahrt mit drei Autos recht gut anließen – es fühlte sich schon ziemlich cool an–, mussten wir die Funktechnik erst noch üben. Eventuell falsch verstandene Anweisungen korrigierten wir daher vorerst per Händi. Wobei ich zugeben muss, dass es auf der Strecke recht wenig anzuweisen gab. Wir fuhren ja einfach nur geradeaus.

Also fast. Auf unserem Weg gab es durchaus mehrere Autobahnkreuze und im Prinzip drei mögliche Routen. Schnell einigten sich einige von uns auf die Strecke, die anderen wurden einfach geeinigt. Unterwerfung ist bei einem solchen Projekt eine nicht unübliche Form der Stressvermeidung. Wirft sich der kleine Welpe vor der Rudelführerin auf den Rücken, so zeigt er nicht nur Demut, sondern gibt zugleich auch jede Verantwortung ab. Das nimmt ein nicht unerhebliches Maß an Stress von ihm.

Daher versuchten Tobi und ich im Volvo Stress erst gar nicht aufkommen zu lassen, was auch ganz gut funktionierte. Chris im BMW fuhr vorneweg, immer schön zügig, mal etwas schneller, mal etwas langsamer. Dabei achtete er immer darauf, den richtigen Abstand zum Hintermann zu halten, damit niemand zurückblieb. Einzige Ausnahmen waren die Autobahnkreuze. Ausgerechnet dort, wo wir eigentlich erst recht hätten zusammenbleiben sollen, weil verschiedene Streckenführungen das Auseinanderbrechen der Gruppe gefährdeten, testete er aus, wo die «Leistungsgrenze» seines Wagens zu finden war.

Auf unser kurzes «Vielleicht sollten… krschhh… wir darauf… kraschhh… dass wir an den… krschschsch… schwierigen Stellen zusammen… krsch… bleiben» kam nur sein «Entspann dich!», klick. Mist, die Funke könnte er aber noch besser bedienen.

Dann kam der erste Boxenstopp. Die Abfahrt war noch nicht mal spannend, kein «Hier raus!» mit quietschenden Reifen1, scharfen Lenkbewegungen, schwitzenden Beifahrern und Lebensgefahr. Einfach nur: «Nächste raus?» – «Ja, okay.» Blinker setzen, abfahren. Wir fuhren an der Tankstelle vorbei und stellten uns in drei Parktaschen nebeneinander auf. Natürlich so, dass uns jeder sehen konnte.

Kaum ausgestiegen, liefen wir auch schon um die Wagen rum. «Boah, der hält!» – «Wie der zieht!» – «In der Kurve isser aber… ohhha!», waren die vorherrschenden Floskeln, die das eher belanglose Gespräch mit Inhalt füllten.

Plötzlich eine kleine Überraschung, denn ein anderes Team hielt genau uns gegenüber. Gerade mal 150Kilometer von Köln entfernt, gerade mal ein Autobahnkreuz hinter uns gelassen, da konnten wir auch schon zu den Fahrzeugen von Team 28 rüberrennen, und wieder ging es in ähnlicher Reihenfolge, aber doch recht gleichem Inhalt los: «Boahhh!» – «Na, wie fährt sich’s?» – «Halten die auch?»

Zu unserer Belustigung hatte sich das Team 28 neben dem Namen «TEAMquadrat– Hessen geht aus» ein paar weitere kleine Besonderheiten ausgedacht, die wir natürlich sofort entdeckten. So war auf dem uralten Golf eine Sperrholzplatte befestigt, auf der vier eingeschraubte Haken nach oben wiesen. Während Fritz noch überlegte, wie diese Konstruktion das Fahrverhalten des Wagens optimieren sollte, Carsten darüber nachdachte, ob man damit einen Grill auch während der Fahrt benutzen könnte, Renate die haftungsrechtlichen Fragen durchging und Chris darüber sinnierte, ob man mit den Haken einen besseren Händi-Empfang hatte, wussten Tobi und ich sofort, dass man damit ein Zelt aufschlagen und in skorpionferner Reichweite zum Boden schlafen konnte.

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Auch das Befestigen der Motorhaube mit Kabelbinder kann man zu einem demokratischen Prozess machen.

Wir waren doch recht erstaunt über die Kreativität und den Einfallsreichtum, ebenso die raffinierte Ausarbeitung und das offensichtliche Fachwissen der anderen Mannschaft. Ernüchterung setzte allerdings ein, als einer der anderen, den sie uns als denjenigen vorstellten, «der wirklich Ahnung hat und dafür sorgt, dass alle Wagen sauber und funktionstüchtig ans Ziel kommen werden», sich mit einem Akkuschrauber vor den Wagen kniete und zwei Löcher in die Motorhaube bohrte, um diese danach mit Draht an der Karosserie zu befestigen. Ich machte mir zwar Sorgen um das Team, aber geidisch war ich schon. Ich hätte nämlich auch gerne so einen Akkuschrauber.

Geidisch??? Du betreibst Lautverschiebungen offenbar mittlerweile mit dem Schaufelradbagger?

Nein, aber ich möchte an dieser Stelle auf ein Manko des deutschen Vokabulars hinweisen. Da fehlt einfach ein Wort. Neid passt nicht, heißt es doch so viel wie: «Ich will das auch, aber der soll’s nicht besitzen.» Und wenn ich etwas «gönne», freut es mich für den anderen, ich selbst bin jedoch nicht daran interessiert. Akkuschrauber sind mit beidem nicht zu beschreiben. Die will ich haben. Aber andere sollen sie natürlich auch haben dürfen.

Wir fädelten uns ungefähr zeitgleich wieder auf die Autobahn ein, und beim nächsten Kreuz war klar, die wollten gar nicht mit uns im Allgäu ankommen, denn sie fuhren der A 3 folgend, während wir bereits die A 5 nach Süden nahmen.

Weiter ging es, immer entspannt auf den geraden Strecken, bei Abzweigungen nach wie vor durch das Vorpreschen des BMWs leicht verunsichert, aber dadurch vor Langeweile gefeit. Wir wechselten auf die A 5 Richtung Heilbronn, folgten der A 81 nach Süden, an Stuttgart vorbei, und wo die A 81 und die A 8 eine Weile auf den gleichen Spuren verlaufen, überholte uns wie aus dem Nichts das Team 28 mit lautem Hupen und Gejohle. Freudiger Ausdruck auf allen Gesichtern, denn auch sie hatten sicher angenommen, wir hätten gar nicht vor, jemals in Oberstaufen anzukommen.

Es ging sehr lang die A 7 runter Richtung Süden, weit, immer weiter weg von zu Hause, daher nutzten Tobi und ich die Fahrt, um uns im Volvo häuslich einzurichten. Beim Einsteigen war der Teppich im Fußraum des Beifahrerbereichs noch zu erkennen, aber das war nur von kurzer Dauer, da dieser sofort mit der Schachtel bedeckt wurde, in der eben noch die Funkgeräte gewesen waren. Ergänzt durch die Plastikverpackung eines Ladegeräts, kam noch ein akustischer Reiz hinzu. So lässt es sich leben, fand ich, ist doch viel schöner als diese sterile Reinraumatmosphäre, die hier vorher geherrscht hatte.

Dann, endlich, irgendwann verließen wir die Autobahn, folgten der breiten Landstraße, bis auch diese ihre Ausbaustufe II verlor, und waren ganz nah am Start der Rallye. Nicht mehr lange, und wir würden da sein, am Start. Das Abenteuer würde nun wirklich beginnen, am Start.

Lieber Bernhard, unter «Ausbaustufe» versteht man in den zuständigen Behörden den Status der baulichen Maßnahmen, um eine Straße zu bauen oder instand zu setzen. Vermutlich möchtest du dich hier über die Fahrbahnbreite, das Fehlen des Seitenstreifens oder den mangelhaft realisierten Grad der Querneigung echauffieren. Dafür benutze doch bitte den Begriff «Straßenquerschnitt». Dieser beschreibt den Verkehrsraum, Sicherheitsabstände sowie zusätzliche Einrichtungen im lotrechten Schnitt einer Straße im rechten Winkel zur Straßenachse.

Lieber Tobi, ich gebe zu, dass der Begriff «Ausbaustufe» hier etwas vage, wenn nicht sogar ungenau, aber doch sehr mutig, wenn nicht sogar tapfer gebraucht wird. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass die Straßen in ihrem «lotrechten Schnitt im rechten Winkel zur Straßenachse». (und versuch nicht, mir zu erzählen, du hättest dir das ausgedacht, das hast du abgeschrieben! Die Gerichtsverhandlung wegen der Copyrightverletzung kannst du alleine besuchen) bereits fertiggestellt wirkten, allerdings im senkrechten Schnitt parallel zur Kraftrichtung der Zentripetalkraft durchaus den Eindruck erweckten, noch nicht ganz fertig zu sein.

Das Schöne an so einer Fahrt durch mehrere Länder ist ja, fremde Kulturen, andere Sitten, Gebräuche und auch die dazugehörigen Menschen kennenzulernen. So kann man sich selbst ein wenig spiegeln. Kommt man mit seiner Geschichte, seinem Gebaren und seiner sozialen Erfahrung in ein fremdes Land, werden einem die eigenen Besonderheiten besonders deutlich vor Augen geführt. Darauf freuten wir uns, darum waren wir unter anderem unterwegs.

Dass dieses Aufeinandertreffen mit fremden Kulturen bereits im Oberallgäu begann, überraschte uns dann doch etwas. Wir hatten kurz vorher noch angehalten und das Gepäck umgeladen. Für die Strecke von Köln in den Süden, die wir größtenteils, wenn nicht ganz, auf der Autobahn verbracht hatten, hatten wir sämtliches Gepäck in den Kofferräumen, auf den Sitzbänken oder in den Fußräumen verstaut. Damit boten die Wagen, bis auf die vorbereiteten Gepäckträger, dem Wind keine Angriffsmöglichkeit. Allerdings machte das nichts her. Wofür die coolen silbernen Kisten, wenn sie keiner sah? Wieso die auffälligen orangefarbenen und wasserdichten Packtaschen, wenn sie im Kofferraum versteckt waren? Wenn wir auf den Parkplatz fuhren, wo wir zum ersten Mal auf die anderen Rallye-Teilnehmer stießen, wollten wir optisch ganz vorne mitspielen.

Daher hielten wir also kurz an, holten die größten Packelemente aus den Wagen und zurrten sie auf dem Dach fest. Nicht, dass dies sehr einfach gewesen wäre, schließlich gab es auch hier vieles zu beachten, was bisher nicht vorüberlegt war. Zurrten wir besser längs oder quer? Oder gar über Kreuz? Durch die Handgriffe oder darüber? Wir entschieden uns für eine wilde Kombination von allem, auch wenn die Befürchtung nahelag, dass wir bis nach Jordanien nicht mehr an unsere Schlafsäcke kämen. Aber da wir ja auch durch Kappadokien mussten, lagen das antike Phrygien und die alte Hauptstadt Gordion nicht weit. Und die sollten sich mit Knoten ja wohl auskennen.

Derart gepimpt und ausstaffiert, kamen wir nun in Oberstaufen an. Der erste Kreisverkehr fegte zwar unsere Formation auseinander, aber letztendlich schafften wir es dann doch bis vor das Festzelt.

Schon im Ort begegneten uns die Wagen der anderen Teams, und die Straße, die zum allgemeinen Treffpunkt führte, war voll mit beklebten und bemalten Fahrzeugen. Auf dem Gelände rund um die Anmeldestelle wimmelte es dann von PS-starken und auch PS-schwachen Motoren, die teils von guterhaltenen, teils jedoch eher von kaum erkennbaren Karosserien verdeckt wurden.

Besonders ins Auge fielen die Österreicher mit drei gleichen VW-Bussen, zwei davon rot, einer weiß. Sehr schön! Damit konnten sie die Flagge ihres Landes darstellen. Zum Glück kam das Team nicht aus Saint-Pierre-et-Miquelon, da wären mindestens 200Fahrzeuge in verschiedenen Farben nötig gewesen, um das dreimastige Segelschiff auch nur annähernd korrekt darzustellen.

Während wir über den Platz liefen, um uns ein Bild von der Lage zu verschaffen, verfolgte ich dann noch einige Gespräche mit völlig irrelevanten Informationen:

«Das ’n T3er, oder?»

«Ja, der T2er war zu teuer.»

«Ah, selten.»

«Mhm», kam es zustimmend zurück.

Ja, solche Gespräche schnappt man auf, auch wenn man nicht wirklich Ahnung hat, worum es da geht. Dann entdeckten wir die Styrian Speed Sisters mit ihrem rosa Mercedes und freuten uns jetzt schon auf den Jordanier, der das Auto später ersteigern und es stolz seiner Familie in Amman zeigen würde. Gleich daneben standen zwei alte Käfer, von denen der eine eigentlich schon gar kein Käfer mehr war. Der Wagen war so weit gestutzt und verändert worden, dass wir es hier wohl eher mit einer Kreuzung aus einem Regenwurm und einem Grashüpfer zu tun hatten, weshalb der Begriff «Restomobil» auch nicht im Ansatz an der Realität vorbeiging.

Die ersten dumpfen Töne von fremder Musik lagen in der Luft, sie legte sich über den Golf mit der auf das Dach geschraubten Sperrholzplatte, auf die später das Zelt gezurrt werden sollte. Sie umgab die Gruppe der drei tiefergelegten Mercedes-S-Klassen, von der ein Wagen schon beim Start den Auspuff verlieren sollte. Wir hörten sie, als wir an dem Citroën CX vorbeigingen, der bereits am Starttag vom Parkplatz würde geschoben werden müssen.

Wir gingen durch die Reihen der geparkten Fahrzeuge auf einen breiten Eingang zu. Viele Menschen liefen umher, teilweise sahen sie etwas merkwürdig aus mit ihren Lederhosen oder Dirndln, andere wiederum waren so normal angezogen wie wir: Khakihosen, buntbedruckte T-Shirts, darüber natürlich North-Face-Jacken, Goretex-Schuhe und Sympatex-Mützen. Die Wassersäule möchte ich sehen, die da durchkommt. Okay, wir würden im Auto sitzen…

Gemeinsam betraten wir das große Festzelt, in dem ein buntes Treiben vieler feierfreudiger Menschen zu beobachten war. In Oberstaufen findet regelmäßig ein Maifest statt – nicht ganz zufällig am Ersten des Monats und wahrscheinlich genauso wenig zufällig, wie die Auftaktveranstaltung mit dem Start der Rallye zusammenfiel. Das hatte für das freundliche Organisationskomitee den Vorteil, dass es nicht erst aufwendig Zelte und Veranstaltungsräume aufbauen oder besorgen musste, und für die Einheimischen bot sich die günstige Gelegenheit, den ortsansässigen Genpool mal wieder aufzufrischen. Den prüfenden Blicken der Anwesenden bei unserem Eintreten nach zu urteilen, schien dies ein althergebrachtes Ritual zu sein.

Wir warfen erst mal nur einen kurzen Blick in die Runde und bewunderten den Mut der meisten, hier in Tracht herumzulaufen. Während auf der ganzen Welt die Jugend versucht, sich von der Elterngeneration zu unterscheiden, sich abzugrenzen, wird den Alten hier fleißig nachgeeifert. Vielleicht gefiel es ihnen ja, und sie hatten richtig Spaß? Dem Lärm nach zu urteilen hatten sie richtig Spaß…

Während wir uns umschauten, bahnten wir uns gleichzeitig einen Weg zur Anmeldung. Diese war freundlicherweise direkt neben der Bühne aufgebaut, sodass wir ganz nah an den davorstehenden Boxen vorbeigehen durften. Zu unserer Freude wurde gerade ein Soundcheck durchgeführt. So hörten wir kein ganzes Lied, sondern nur das ständige und regelmäßige Einschlagen auf die Bass-Drum, die Snare und noch einige andere Teile des Schlagzeugs, was aber bald der allseits einsetzende Tinnitus übertönte. An dem Tisch angekommen, hinter dem das freundliche Organisationskomitee stand, bekamen wir erst mal diverses Material zum Mitnehmen. Die gelben Rallye-Schilder mit unserer Startnummer drauf, zwei weitere Aufkleber, mehrere Informationsbroschüren und, das Wichtigste, Getränke- und Essensgutscheine.

Auf ging es zu den Autos, schließlich wollten die neuen Utensilien sofort an Ort und Stelle angebracht werden. Von zwei Aufklebern hatten wir die Größe im Vorfeld gewusst, die klebten wir also genau an die Stellen, für die sie vorgesehen waren. Ein dritter und vierter fanden eher nach einem System, das an Tetris erinnert, ihren Platz auf den Wagen.

Das Anbringen der schönen gelben Schilder war da schon komplizierter. Zwar hatten wir genügend Kabelbinder dabei, um eine entsprechende Befestigung zu garantieren, aber wie einige andere Teams mit vorgefertigten Metallunterlagen zur Stabilisierung oder gar einem Akkuschrauber, um jede Form von Beweglichkeit zu unterbinden, waren wir nicht ausgestattet. Zunächst versuchte jeder sein Schild am Kühlergrill festzuzurren.

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Der Fotograf…

Chris meinte dann: «Ob das ’ne gute Idee ist, am Kühler?»

«Warum?»

«Wegen der Luft!»

«Vom Kühler die?»

«Ja!»

«Trotz Regen?»

«Ja, hier, aber da unten.»

«Stimmt, is warm dort.»

Später erfuhren wir, dass die Kühlluft meist von unten angesaugt wird und dass man Sätze auch mit Subjekt, Prädikat und Objekt bauen kann.

Trotzdem probten wir drei Strategien: Der Volvo befestigte das Schild oben am Gepäckträger, der BMW am Kühler, allerdings mit Ausbuchtungen, um ausreichend nicht benötigte Luft heranzulassen, und der Mercedes lieh sich kurzerhand ein Handschraubgerät und machte aus der Stoßstange ein Abtropfsieb für Nudeln. Letztendlich entschieden sich auch Carsten und Fahrzeugchef Fritz für den Gepäckträger.

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… und sein Foto.

Wir standen solange rum und überlegten, was zu tun sei.

«Sollen wir essen?»

«Hm?»

«Weiß nicht.»

«Hotel?»

«Okay.»

«Wo ist Carsten?»

«Der hat sich ein Bier bestellt.»

Also hockten auch wir uns hin. So laufen gruppendynamische Prozesse eben manchmal ab: anders.

Carsten hatte das irgendwann zu lange gedauert, und er bestellte sich zum Zeitvertreib ein Getränk. Also orderten wir sechs Bier und ein Spezi. Ich musste ja noch fahren. Wahrscheinlich hatte ich im Gegensatz zu meinen Kollegen die Tatsache noch nicht verdrängt, dass wir mit dem kompletten Kram noch in unsere Herberge mussten. Und zwar mit drei Autos. Im Gegensatz zu meinen Kollegen hatte ich allerdings verdrängt, dass man auch mit Bier im Blut Auto fahren kann.

Lieber Bernhard, waren wir nicht im schönen Bayern angekommen, wo Günther Beckstein erst 2008 verlauten ließ, er wolle am liebsten die Promillegrenze zur Fahruntüchtigkeit auf zwei Maß Bier heraufsetzen? Selbstverständlich waren wir wesentlich verantwortungsbewusster und genossen höchstens eine winzige hopfige Pfütze, um den Gaumen zu benetzen und ihn auf das abendliche Fest(zelt)gelage einzustimmen. Neben einem ausgeprägten Hang zum Separatismus und einem unauslöschbaren Dialekt hat der Bayer ja vor allem eine Stärke: das Bierbrauen. Wer das nicht mag, der trinkt halt süße, klebrige, leicht blubbernde Limonade. Prost, Bernhard!

Danke für den Hinweis, Tobi. Aber leider war die Rezeptur des Spezis nicht ganz mit den deutschlandweit verbreiteten Ingredienzien versehen, denn anstatt der Fanta hatte man einheimische Limonade verwendet. Das mag Lokalpatriotismus pur sein, nur leider traf es meinen Geschmack nicht so genau. Es erinnerte mich eher an einen der Zaubertränke von Severus Snape.

Ich kann es nicht begreifen. Für diese zuckrige Plörre ersinnst du, lieber Bernhard, einen regionalen Geschmacksatlas und bemühst auch noch einen Lehrer von Harry Potter? Sei froh, dass dir diese Karies-Oase erspart geblieben ist. Dein Zahnarzt und deine Magenschleimhäute werden es dir gedankt haben.

Endlich klärte sich die Frage nach der Art des Essens: erst auswärts richtig, dann wiederkommen. Also machten wir uns auf und suchten unsere Herberge, die wir bereits im Vorfeld reserviert hatten. Erst eine schmale Straße hinauf, dann zwei, drei Biegungen, und schon sahen wir unsere Unterkunft. Wir freuten uns auf ein Abendessen in der heimischen Küche, eventuell konnten wir dann auch auf die abendliche Feier verzichten und direkt schlafen gehen. Genau genommen war es meine Hoffnung, auf diese Art und Weise den undisziplinierten Trinkern in unserer Runde wenigstens am ersten Tag einen kontrollierten Zufluss an nervengifthaltigen Getränken zu verpassen.

Auf unser Klingeln öffnete ein netter älterer Herr, der sehr einheimisch aussah und uns, ebenfalls sehr einheimisch, in Dialekt begrüßte. Er berlinerte. Leicht kulturgeschockt, war ich nun doch etwas perplex, ließ mich aber von dem Herrn bereitwillig darüber aufklären, dass er als Zahnarzt einfach mal etwas Ruhe haben wollte und deshalb aus dieser großen Stadt an der Spree hierhergezogen sei.

Leider war das mit der Ruhe sehr ernst gemeint, und schon die abendliche Küche mit einem anwesenden Koch wäre wohl zu laut gewesen, weshalb unser Gastgeber diesen kurzerhand nach Hause geschickt hatte. «Wusst ick nich, hättet ihr mir sahren müssen», entschuldigte er sich, als wir ihn darauf ansprachen. Zumal er gar nicht mehr mit uns gerechnet hatte, nach sieben Uhr abends…

Unsere Bitte nach der Benutzung des Grills wurde ebenfalls abgelehnt, knackende Kohle wäre wahrscheinlich auch zu laut gewesen. Ach ja: Frühstück ab neun. Na gut, da wir um acht schon unten am Start sein mussten, würde sein Tag morgen genauso beginnen, wie er ihn sich vorgestellt hatte: leise.

Wenigstens waren die Zimmer gut gekühlt, und wir konnten die Heizung selbst anmachen. Mitmachhotel sozusagen.

Danach fuhren wir hinunter ins Tal. Erst zum Essen, danach auf die große Maiparty. Wir speisten im Kuhstall, dem P1 von Oberstaufen, dem Sansibar vom Allgäu. Allerdings waren wir fast die Einzigen – bis auf ein paar Landwirte, die nach getaner Arbeit den Tag an der Bar ausklingen lassen wollten, und ein oder zwei Pärchen am Nachbartisch.

Zu guter Letzt kamen wir mit dem Chefredakteur des Magazins Scene in Kontakt. Die Gemeinde Oberstaufen hat also eine eigene Scene… In Begleitung des Herrn befand sich zufällig eine Dame aus der Tourismusbranche, die uns darüber aufklärte, dass wir die Kurtaxe unter anderem dafür zahlten, um die Rad- und Wanderwege nutzen zu können. Ich freute mich schon auf den ersten Tag in unseren Autos.

Anschließend ging es nochmal zurück ins Festzelt, immer schön im großen Haufen. Hier gaben wir uns dann ganz den Feierlichkeiten hin. Umgeben von mehreren hundert Menschen, versuchten wir einen freien Platz zu ergattern, setzten uns irgendwo am Rand an eine Biertischgarnitur und genossen sowohl die Musik als auch die Getränke, als auch die Menschen.

Wie so oft konnte ich auch hier äußerst interessante Feldstudien betreiben. Nehmen wir mal das Auftauchen eines Paares: Wir haben da ein bereits länger zusammenstehendes Grüppchen junger Menschen, die aber so was von die Sau raus lassen wollen. Dann gesellen sich zwei neue Gäste hinzu. Zunächst ist das Begrüßungsritual der Männer auffällig, da es recht laut, zeitweise auch recht brutal vonstattengeht. Man reicht sich die Hände, eine archaische Form der Demonstration von Unbewaffnetsein und Friedfertigkeit. Allerdings nicht auf die übliche Art und Weise, mit ausgestrecktem Arm und gesenkten Fingerspitzen, sondern eher dergestalt, dass sich der rechte Arm beider Beteiligten nach oben im Ellenbogengelenk krümmt und die Handflächen ineinandergelegt werden, als wäre Armdrücken die nächste gewünschte Handlung. Dann werden die Arme jeweils angezogen, und die Oberkörper berühren sich. Dabei versucht das eine Männchen dem anderen seine Stärke und Furchtlosigkeit zu zeigen. Hin und wieder schlägt einer der Beteiligten mit der freien Hand auf die Schulter des Vererbungskonkurrenten, zwar freundschaftlich, aber bestimmt. Dazu werden Floskeln der Höflichkeit ausgetauscht, etwa «Ey, Alter!», «Na?» und «Scheiße!», die eigentlich alles aussagen, was es auszusagen gilt.

Die Gruppe der Weibchen verhält sich dagegen völlig anders. Zunächst ist auffällig, dass sie das Gespräch bereits beginnen, bevor sie sich überhaupt berühren. Dieses Verhalten wird auch während der folgenden Handlungen nicht abgelegt, sondern höchstens unterbrochen, weil der Lautbildungsapparat mit anderen Tätigkeiten beschäftigt ist. Anschließend werden die Hände auf die jeweiligen Schultern der anderen gelegt, und eine Umarmung wird angedeutet. Dabei wird streng darauf geachtet, maximal die Oberkörper einander zu nähern, um eventuelle Duftmarken nicht miteinander zu vermischen.

Das ermöglicht es dem Männchen, sein Weibchen des Interesses auch im volltrunkenen Zustand zu erkennen. Während dieser zu einem Ritual verstümmelten Geste des «Kind-auf-den-Arm-Nehmens und -Wiegens» werden Küsschen ausgetauscht. Die Anzahl der mit einem unhörbaren Schmatzlaut versehenen Lippenbewegungen variiert hier von sozialer Gruppe zu sozialer Gruppe. Auf diese Weise kann auch in dem ohrenbetäubenden Lärm, den eine eventuell anwesende Combo auf der Bühne veranstaltet, anderen signalisiert werden, dass dies hier eine eingeschworene Gemeinschaft ist. Dass das Küssen vermutlich seinen Ursprung darin hat, dass Mütter ihr Essen einst vorkauten und dann wieder ausspien, um den Kleinstkindern die Nahrungsaufnahme zu erleichtern, ist hier so gut wie nicht mehr erkennbar. Einzig das Männchen neigt gelegentlich dazu, das Ausspeien zu späterer Stunde noch einmal zu praktizieren.

Ist die Begrüßung beendet, stellt der männliche Partner noch einmal seinen Besitzanspruch an das Weibchen klar. Dies habe ich auch schon oft beobachtet, wenn ein Paar eine andere gastronomische Lokalität beritt. ER legt den Arm um SIE, steckt seine Finger in ihre Hosentasche und gibt ihr einen Kuss. Das ist mit dem Markieren des Rüden von Wegpunkten durchaus vergleichbar, nur nicht ganz so eklig.

Während Bernhard die indigene Bevölkerung für seine Sozialstudien unter Beobachtung genommen hatte, richtete ich meinen Fokus auf das anwesende Fahrer(innen)lager. Die geographisch nicht zwingend im Allgäu verwurzelte Gemeinschaft der Rallye-Teilnehmer versuchte den lokalen Verhaltensmustern in freundschaftlicher Anerkennung zu entsprechen. Einigen wenigen gelang es sogar, die Erwartungen zu übertreffen. Sie kippten ungelenk und ohne den Hauch eines Bewusstseins von einer Bierbank oder schlugen großflächig mit dem ganzen Körper horizontal auf der Tanzfläche ein. Das gab nicht nur ein Mordsgetöse, sondern auch bewundernde Blicke der Einheimischen. Viele helfende Hände begannen dann die jeweiligen Personen wieder in die ursprüngliche Position zu manövrieren und leicht aufzupäppeln, damit das Schauspiel von neuem beginnen konnte.

Ähnlich erfolglos geriet unser gemeinsamer Rückzug aus diesem dicken Gemisch aus guter Stimmung, guter Laune und Live-Musik. Während die Band noch spielte, verließen Chris und Fritz als Erste den Veranstaltungsort, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Wahrscheinlich gaben sie sich der Illusion hin, dass sich der Alkohol schneller, besser oder überhaupt nur abbaut, wenn man sich bewegt und den Kreislauf aktiviert. Der Rest der Truppe ließ sich in die Strömung der Massen fallen und fand sich später angespült an einem runden Biertisch im hinteren Teil des Zeltes wieder. Dort traf ich dann zum ersten Mal auf die Styrian Bustards, die mich alleine durch ihre besondere Fahrzeugwahl faszinierten: die drei roten und weißen T3er. Sofort stellten wir uns die Standardfragen der Fahrt: «Zum ersten Mal dabei?» – «Welche Strecke?» – «Und sonst?»

Nach dem kleinen Plausch mit unseren deutschsprachigen Nachbarn, die sich ebenfalls der GPS-gestützten Suche nach Tupperdosen hingaben2, bemühte ich mich dann um eine Fahrgelegenheit nach Hause in die Pension des Berliner Zahnarztes. Zugegeben, der Gedanke an den Beruf des Hotelchefs war nicht gerade erbauend, vor allem nicht um irgendwas nach drei Uhr nachts. Fangen so nicht immer die gruseligen Filme an?

Während Tobi, Renate und Micha sich drinnen dem Konsum guter Gesellschaft hingaben, wartete ich draußen unter dem geschützten Vordach des Zeltes auf ein vorfahrendes Taxi. Endlich kam es, doch der Taxifahrer meinte, eher die anderen Mitbewerber um seine Gunst bevorzugen zu müssen, auch wenn ich immer noch der Meinung bin, wir, das heißt in dem Fall unser Kameramann Michael und ich, wären zuerst da gewesen. Aber wahrscheinlich siegte am Ende der Lokalpatriotismus, und ich ließ sie ziehen. Leichte Zufriedenheit überkam mich, als ich beim Losfahren des Wagens noch sah, wie sich der im Vorteil wähnende Fahrgast auf einmal die Hand vor den Mund hielt und offensichtlich erbrach. Wohin, lässt sich leider nicht sagen, der Wagen machte schon eine Linkskurve und versperrte mir den Blick auf die Beifahrerseite, auf der vermutlich ebenso hilflos wie verzweifelt versucht wurde, die Scheibe herunterzukurbeln.

Der nächste Wagen war unserer. Auch den hätten wir fast verpasst, hatte mich doch das offensichtlich im Innenraum des Festzeltes an einer Wand stehende Geschöpf irritiert, das zwecks Markierung seines Reviers das eigene Begattungsorgan zur inneren Befruchtung in Händen hielt und leicht schwankend kreisförmige Spuren auf der Sperrholzwand des Bonverkaufsstandes hinterließ.

Michael rief noch schnell den Rest der Truppe zusammen, dann stürmten wir mit fünf Leuten das Taxi, das nur vier von uns mitnehmen wollte, folglich fuhren wir zu dritt und die anderen zu zweit, und das alles an einem Abend.

Tag 2

Samstag, 2.Mai 2009

Oberstaufen– Traisen

Text: Tobias

Anmerkungen: Bernhard

Kopfschmerzen.

Das erleichterte es mir, mich in der unbekannten Umgebung zu orientieren. Wegen der enormen Allgäuer Kälte musste ich mich nach dem kläglichen Weckversuch früh um sieben wieder unter dem gigantischen Federbett verkrochen haben, um zu hoffen, der Tag beginne vielleicht doch ein paar Stunden später. Dort, wo der Schmerz war, müsste sich allem Anschein nach mein Kopf befinden, mutmaßte ich. Bingo! Zu meiner Überraschung kramte ich noch einen kleinen Laptop, ein Netzwerkkabel und ein Mobiltelefon unter meinem Astra(l)-Körper hervor. Dadurch erklärten sich dann auch die Hämatome und eingeklemmten Nerven in diversen anderen Körperteilen. Beschwingt von so einem übersichtlichen Start in den Tag, versuchte ich trotz der enormen Kälte die Matratze zu verlassen.