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Was hält uns am Leben, und was zieht uns in den Abgrund? Esther lässt die Erinnerung an den frühen Tod ihres Bruders nicht los. Hat er wirklich Suizid begangen? Das kann sie nicht glauben. Als sie fünfundzwanzig Jahre nach Janus’ Tod seine damalige Freundin Valerie wiedertrifft, bewegen sie Freude, Wut, Trauer und Mutmaßungen über Schuld. Was bedeutet Glück, und was macht ein erfülltes Leben aus? Während Valerie auf ihren Durchbruch als Schauspielerin hofft, versucht Esther, in ihrer Altwarenboutique Vergangenes am Leben zu halten. In der Galerie im Nachbarhaus stellt Adam, Sohn eines vor den Nationalsozialisten geflohenen Wiener Juden, Gemälde seines Vaters aus, damit dieser posthum Anerkennung findet. Auf ihrer Reise in die Vergangenheit entdeckt Esther dann eine dunkle Seite von Janus, vor der sie lange die Augen verschlossen hielt … Ein Roman über die Suche nach Wahrheit, Versöhnung und das ewige Streben nach Glück.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Was hält uns am Leben, und was zieht uns in den Abgrund? Esther lässt die Erinnerung an den frühen Tod ihres Bruders nicht los. Hat er wirklich Suizid begangen? Das kann sie nicht glauben. Als sie fünfundzwanzig Jahre nach Janus’ Tod seine damalige Freundin Valerie wiedertrifft, bewegen sie Freude, Wut, Trauer und Mutmaßungen über Schuld.
Was bedeutet Glück, und was macht ein erfülltes Leben aus? Während Valerie auf ihren Durchbruch als Schauspielerin hofft, versucht Esther, in ihrer Altwarenboutique Vergangenes am Leben zu halten. In der Galerie im Nachbarhaus stellt Adam, Sohn eines vor den Nationalsozialisten geflohenen Wiener Juden, Gemälde seines Vaters aus, damit dieser posthum Anerkennung findet.
Auf ihrer Reise in die Vergangenheit entdeckt Esther dann eine dunkle Seite von Janus, vor der sie lange die Augen verschlossen hielt …
Ein Roman über die Suche nach Wahrheit, Versöhnung und das ewige Streben nach Glück.
Die Arbeit der Autorin an diesem Buch wurde durch das österreichische Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS) gefördert.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen, insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“), zu gewinnen, ist untersagt.
Zitat Absatz 35 in Kapitel 15 stammt aus: Wisława Szymborska: Katze in der leeren Wohnung. In: Wisława Szymborska: Die Gedichte. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 284–285.
Lektorat: Dr. Sabine Schönfellner
Korrektorat: Jana Oltersdorff
Covergestaltung: James, GoOnWrite.com
© 2024 Elisabeth Schönherr
c/oAutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Meiner Mutter, die ich so oft lesend angetroffen habe und die mir nicht nur darin ein Vorbild bleibt.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Danksagung
Über die Autorin
Mit elf ging meine Kindheit zu Ende, weil mein Bruder von der Dachterrasse seiner Freundin Valerie fiel, während ich einen Stock tiefer fernsah. Seither war viel Zeit vergangen, aber ich musste immer noch oft daran denken, und dann wurde es finster in mir, als wären alle Lichter aus.
Laub wirbelte über den Asphalt und raschelte unter den Schritten, während ich den Weg von der U-Bahn zu meinem Geschäft nahm. Ich kam in den Esterházypark, wo sich an warmen Nachmittagen auf den Spielplätzen Eltern mit ihren Kindern drängten. Ein Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg ragte in den von Federwolken bedeckten Himmel. Obdachlose stromerten auf den Wegen, weil sich eine Straße weiter die Gruft befand, ein Nachtasyl der Caritas. Vermutlich wäre es besser, die Leute hier nach ihren Lebensgeschichten zu befragen, anstatt über meine zu grübeln, aber ich sah immerzu Janus auf dem Gehweg unter der Dachterrasse liegen. Das Gesicht in einer Regenpfütze und die Schultern verrenkt. Ein Windstoß hebt eine Strähne seiner Nackenhaare, und mir kommt es einen Augenblick so vor, als bewege sich auch seine Hand. Dann breitet jemand eine Decke über ihn.
Beim oberen Eingang des Parks bellte ein Hund. Vor einigen Tagen war ich dort auf dem Weg einer Frau begegnet, die Valerie ähnlichgesehen hatte. Die rotblonden Haare fielen ihr glatt in die Stirn, und neben ihr lief ein Windhund her, dessen Fell milchkaffeebraun glänzte. Valerie hatte sich immer einen solchen Hund gewünscht, ihre Mutter hatte aber keine Haustiere in der Wohnung erlaubt. Mit wippenden Schultern kam sie auf mich zu, und obwohl die Sonne mich blendete, glaubte ich, einen Anflug von Glück auf dem blassgelben Gesicht zu erkennen. Ich wollte ihren Namen rufen, brachte aber keinen Ton heraus, und dann war sie wieder fort. Seitdem ging ich oft hier vorbei, weil ich hoffte, sie wiederzusehen.
Am Ende des Parks verlief eine Mauer. Ich nahm die Treppe rechts davon zur Gumpendorfer Straße hinab und eilte in Richtung Gürtel. Kein Grün hier, dafür umso mehr Asphalt und Beton. Vor dem Zinshaus mit Rundbogenfenstern blieb ich stehen und sah in die Auslagen. Nierentische, Cocktailsessel, Sideboards. Am schönsten war das lindgrüne Sofa in der Mitte, ein Entwurf aus den 1950er-Jahren, neu gepolstert und tapeziert. Eine Passantin warf im Vorübergehen einen Blick darauf. Die Zeiten, in denen Möbel aus den 1950er- und 1960er-Jahren als kitschig gegolten hatten, waren zum Glück vorbei, und heute schätzten vor allem junge Menschen den eigenwilligen Stil dieser Epoche.
* * *
Als ich die Ladentür aufschloss, läutete das Handy in meiner Tasche. Geschwind schlüpfte ich aus meinem Wollmantel, schob den Vorhang neben der Verkaufstheke zur Seite und hängte den Mantel auf. Es war Viertel nach neun, und um halb zehn öffnete ich den Laden. Vorher musste ich den Boden saugen und die Objekte im Schauraum abstauben. Ich putzte immer morgens, da sich auch nachts Staub auf den Möbeln ansammelte. Endlich hörte das Handy auf zu klingeln. Ich würde später zurückrufen.
Ein kurzer, grässlicher Schmerz. Ich war mit dem Schienbein an etwas Hartes gestoßen. Du meine Güte, der Blumentisch, den ich neulich für eine Kundin aus dem Lager geholt hatte, stand immer noch herum. Ich brachte ihn wieder in den Keller hinunter. Auf dem Weg zurück sah ich mich in der Werkstatt um. Bis spät in der Nacht hatte ich am Vortag an einem Cocktailsessel gearbeitet und war danach zu müde gewesen, um hier aufzuräumen. Falls ich am Nachmittag Zeit hatte, würde ich die Beißzangen, den Klammerlöser, den Schaumstoffschneider und die anderen Werkzeuge wegräumen und den Boden wischen.
Ich holte die Putzmittel aus dem Wandschrank und stieg wieder die Treppe hinauf. Vor dem Fenster ging ein Jugendlicher in ausgebeulten Jeans und weißen Turnschuhen vorüber. Seine Fußknöchel waren nackt, und ich spürte einen Kälteschauer. Noch war es draußen warm, doch bald würde der Winter kommen. Ich mochte die Kälte nicht, aber auch die Hitze des Sommers machte mich manchmal traurig, weil Janus an einem drückend schwülen Sommernachmittag gestorben war.
Es waren Ferien gewesen, und wir hatten Valerie besucht. Janus und sie hockten eng umschlungen unter einem Sonnenschirm auf der Dachterrasse und küssten sich, während ich mit Emily, Valeries Schwester, im Pool badete. Die Hitze hing wie eine Glocke aus Glas über der Stadt. Wir planschten im Wasser, legten uns hinterher auf die Steinplatten daneben und warteten auf die Sonne, die von Zeit zu Zeit hinter bauchigen Wolken hervorkam. Janus und Valerie hatten sich am Vormittag gestritten, aber bald darauf wieder versöhnt, was oft geschah. Ich beachtete die beiden deshalb wenig. Dann kam ein stürmischer Wind auf, der den Schirm aus seiner Verankerung riss. Valerie kreischte auf, und Janus versuchte, ihn festzuhalten, doch der Luftstoß war so heftig, dass der Schirm um ein Haar über das Geländer in die Tiefe stürzte.
Donner grollte, und Regen tropfte herab. Emily und ich rannten ins Haus, während Janus und Valerie unter dem Dachvorsprung sitzen blieben und rauchten. Ein flüchtiger Augenblick. Später würde ich mir den Moment immer wieder in Erinnerung rufen, denn da hatte ich Janus zum letzten Mal lebend gesehen. Manchmal dachte ich mir, er wäre nicht gestorben, wenn es damals nicht geregnet hätte.
* * *
Ich wischte mit einem Mikrofasertuch über den Holzrahmen des lindgrünen Sofas in der Auslage. Da bemerkte ich eine Passantin, die in das Schaufenster sah. Ihr Blick wirkte freundlich und aufmerksam. Dann nickte sie mir zu, worauf ich lächelte und sie hereinließ. Sie war um die dreißig und schmal. Ihr langer Rock und die feinen Schnürschuhe wirkten schlicht, aber dennoch schick. Es war die Art von Mode, wie sie viele meiner Kundinnen trugen. Sie liebten Qualität, gern auch aus zweiter Hand.
Bobos hießen sie in Wien, eine Abkürzung für bourgeois Bohème. Sie hatten Geld und pflegten einen nachhaltigen Lebensstil. Mich selbst zählte ich nicht dazu, weil ich dafür zu wenig Geld hatte. Jeden Cent zwei Mal umzudrehen, das war nicht schick.
Wir standen vor dem Sofa, das sie in der Auslage bewundert hatte, und ich sagte, das Gestell ist aus Nussbaumholz, 1950er-Jahre, aber die Polsterung und die Tapezierung sind neu. Der Entwurf ist von Oskar Riedel, einem bekannten Architekten.
Die Farbe ist schön, sagte sie, während ihr Blick in dem lindgrünen Sofa versank.
Es stammt aus dem Nachlass eines Diamantenhändlers von den Tuchlauben. Wunderbare Wohnung. Die ganze Einrichtung original 50er-Jahre, erwiderte ich und strich über die sanft geschwungene Rückenlehne.
Wie viel kostet das?
Zweitausend Euro.
Die Frau räusperte sich. Das ist eine Menge Geld.
Es wurde angekauft und aufwendig restauriert. Da steckt viel Arbeit drin.
Machen Sie das selbst?
Früher habe ich alles selbst gemacht, aber seitdem ich den Laden führe, habe ich weniger Zeit dafür. Ein Restaurator und eine Tapeziererin erledigen jetzt das meiste für mich. Diese Leute verstehen wirklich was von ihrem Handwerk.
Ich gebe Ihnen eintausendfünfhundert dafür.
Leider geht das nicht, denn die Preise sind knapp kalkuliert.
Dann muss ich mir die Sache nochmals durch den Kopf gehen lassen, sagte sie und verabschiedete sich.
Nachdem sie fort war, setzte ich mich hinter die Verkaufstheke und holte mein Smartphone aus der Tasche. Alexander hatte zwei Mal angerufen. Vermutlich wollte er wegen einer Lieferung mit mir reden. Ich rief zurück, doch er ging nicht dran. Da schrieb ich ihm eine Nachricht, um zu erfahren, was er von mir wollte. Dann bemerkte ich, dass die Kundin von vorhin wieder vor dem Schaufenster stand.
Am liebsten wäre ich rausgegangen und hätte nochmals mit ihr geredet. Ich hätte ein wenig mit dem Preis runtergehen können, aber das ständige Feilschen der Kunden ärgerte mich. Wer etwas Besonderes haben wollte, sollte auch bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen. Schließlich musste ich ebenfalls meine Rechnungen begleichen. Jetzt ging sie fort. Hoffentlich kommt sie wieder und kauft das Sofa.
Ich hängte ein Schild mit der Aufschrift Gleich wieder da an die Tür und ging ins Nachbarhaus. Mit einem großen Schlüssel aus Gusseisen sperrte ich die Klotür auf. Drinnen roch es nach Seife und einem WC-Duft-Stein, doch die Wasserspülung des Klos rann. Die renovierungsbedürftige Toilette auf dem Gang war ein großes Ärgernis, aber die Lokalmiete wäre ansonsten viel höher gewesen. Ich wusch mir die Hände und betrachtete mich im Spiegel. Mein Gesicht wirkte darin zu breit. Die Ohren erschienen mir noch größer als sonst. Ich strich zwei Haarbüschel darüber, dennoch schaute auf einer Seite eine Ohrmuschel hervor.
Als Kind war mir oft gesagt worden, ich wäre hübsch, trotz meiner großen, etwas abstehenden Ohren. Für meine olivgrünen Augen und die honigblonden Haare hatte ich auf jeden Fall immer wieder Komplimente bekommen. Wegen meiner Ohren war ich aber auch oft gehänselt worden. Einmal hatte ich Streit gehabt mit Emily. An den Grund erinnerte ich mich nicht mehr. Jedenfalls hatte ich danach geschmollt.
Da sagte sie, du hast nicht nur Ohren wie ein Elefant, du bist auch ähnlich nachtragend, worauf ich weinte.
Mit großen Ohren hört man mehr und versteht die Menschen besser, tröstete mich Janus. Da drückte ich meine Segelohren an den Kopf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Zwar fand ich die Ohren immer noch zu groß, aber dank Janus konnte ich dem nun auch Gutes abgewinnen.
Übrigens war ich damals wie heute dürr wie ein Stecken. Wenn ich schon abstehende Ohren hatte, wollte ich zumindest dünn sein. Das verschwommene Bild eines zarten Jungen kam in mir hoch. Janus hatte keinen Grund gehabt, sich was anzutun. Valerie wusste das sicher auch.
Die Frau im Park hatte ihr so ähnlichgesehen. Die Haut blass und die Haare rötlich. Sie hatte gelächelt. Ein bisschen zumindest. Auf dem Nachhauseweg würde ich ihr hoffentlich nochmals begegnen und den Mut aufbringen, mit ihr zu reden.
* * *
Ich heftete Rechnungen in den Buchhaltungsordner, als Alexander ins Geschäft kam.
Ist echt nervig, dass du nie rangehst, wenn ich dich anrufe, schimpfte er.
Ich hab zurückgerufen, aber du bist nicht rangegangen, entgegnete ich, während ich den Ordner schloss. Außerdem habe ich dir geschrieben.
Er scrollte mit gerunzelter Stirn auf seinem iPhone und fragte dann, was es bei mir Neues gebe.
Am Morgen war eine Kundin da und danach musste ich mich um die Buchhaltung kümmern, weil ich eine Nachricht vom Finanzamt bekommen habe.
Vorauszahlung oder Nachzahlung? Er warf mir einen neugierigen Blick zu, aber ich gab keine Antwort, weil ich mit Alexander nicht über meine Steuerangelegenheiten redete. Ich wusste, dass er die meisten Einnahmen am Finanzamt vorbei erwirtschaftete, damit wollte ich aber nichts zu tun haben.
Früher, als wir das Geschäft gemeinsam geführt hatten, waren wir deswegen oft aneinandergeraten. Alexander behauptete immer, die Konkurrenz bezahle ebenfalls keine Steuern. IKEA beispielsweise sei die Mutter aller Steuervermeider.
Hast du den Break-even jetzt endlich erreicht?, fragte er.
Break-even? Ich musste lachen. Alexander kam sich gescheit dabei vor, wenn er mit Begriffen aus der Geschäftswelt um sich warf, weil er ein paar Semester an der Wirtschaftsuni studiert hatte, dabei merkte er gar nicht, wie affig das klang.
Herrje, ich will doch bloß wissen, ob es mit dem Geschäft endlich bergauf geht.
Ich drückte zwei Verlängerte aus der Kaffeemaschine. Siebträger von De’Longhi. Hab ich kürzlich bei Willhaben gekauft, wie neu, aber zum halben Preis, erzählte ich ihm, und er nickte beiläufig, als interessiere ihn das überhaupt nicht.
Ich weiß nicht, woran es liegt, sagte ich, als ich Alexander die Tasse hinstellte, zu Jahresbeginn hatte ich gute Umsätze, aber seit August ist Flaute. Wie läuft es bei dir?
Kann mich nicht beklagen, behauptete er, während er die Tasse samt Unterteller in den Händen hielt und den Kaffee schlürfte. Vergangene Woche hatten wir wieder einen Legacy-Sale im dreizehnten Bezirk, an die hundert Leute sind gekommen.
Wie viel verlangst du pro Person?
Zwanzig Euro, und wer nichts findet, kriegt sein Geld zurück.
Er startete ein Video auf seinem iPhone und hielt mir das Display vor die Nase. Eine energische Frauenstimme erläuterte die Geschäftsidee hinter dem Legacy-Sale. Wer Eintritt zahle, dürfe mitnehmen, was ihm gefalle. Aber es gelte, schnell zu sein, denn die besten Stücke seien meist gleich weg. Diese etwas andere Art des Nachlassverkaufs verdanken wir Alexander Radu, der es damit geschafft hat, aus Wohnungsräumungen hippe Events zu machen. Der smarte Altwarenhändler mit rumänischen Wurzeln hat das Geschäftsmodell aus New York City nach Wien gebracht. Echt super, sagte ich, und Alexander nickte zufrieden.
War am Samstag in Wien Heute. Er streckte einen Daumen nach oben. Im Moment läuft’s, ich bin aber auch breiter aufgestellt als du. Er räusperte sich und strich sich die Haare aus der Stirn. Mid-Century ist halt eine Nische, aber darüber haben wir ja schon oft gesprochen. Womöglich liegt es auch am Standort. Im Laden nebenan ist immer noch kein neuer Mieter, hab ich gesehen.
Ich nickte. Bin gespannt, wer da einziehen wird, sagte ich. Früher war im Nachbarhaus ein Antiquariat für Bücher gewesen, aber das Geschäft hatte nach dem zweiten Lockdown geschlossen. Ich rechnete damit, dass bald wieder jemand einziehen würde. Hoffentlich kein Händler, der ebenfalls Vintage verkaufte, denn die Straße hinauf hatte kürzlich einer eröffnet.
Alexander erzählte mir von einem Auftrag, bei dem ich dabei sein müsse: eine Hausräumung in Dornbach. Architektenvilla aus den 1960er-Jahren mit Originaleinrichtung. Der Besitzer möchte das Haus besenrein. Er will es schnell verkaufen. Braucht wohl dringend Kohle.
Schon wieder, sagte ich, weil ich Hausräumungen nicht leiden konnte. Es bedrückte mich, im Hausrat von Verstorbenen nach Dingen zu wühlen, die man zu Geld machen konnte. Das meiste endete auf der Müllhalde, weil es niemand mehr brauchte, dabei war vieles davon noch vor kurzem jemandem wichtig gewesen.
Wir brauchen dich dabei, sonst landet zu viel im Sperrmüll, sagte Alexander.
Wer hat im Haus gewohnt?
Eine alte Frau, ist vor ein paar Wochen gestorben.
Ich seufzte, und er sagte, schlimm, ja, aber der Erbe hat uns alles zur Verwertung überlassen. Gleich morgen. Muss rasch erledigt werden.
Morgen schon, da muss ich erst Helene fragen, ob sie Zeit hat, im Geschäft auszuhelfen.
Notfalls hältst du den Laden eben geschlossen.
Aber es ist Samstag, sagte ich.
Hast du vergangenen Samstag viel verkauft?
Ich überlegte. Zum Teufel, nein, dachte ich und fragte, wann muss ich dort sein?
Wir fangen um sieben an. Um Viertel vor hole ich dich von zu Hause ab.
Ich bemerkte, dass er in der Hand eine Zigarette zu verbergen versuchte, die er sich draußen sicher gleich anzünden würde. Hör endlich mit dem scheiß Rauchen auf, schimpfte ich, aber er seufzte nur und ging.
Danach schrieb ich eine Nachricht an Helene, in der ich die Architektenvilla erwähnte, worauf sie mir ein Emoji mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund sandte.
Wäre gern bei der Räumung dabei.
Ich schick dir Fotos.
Da fällt mir ein, ich muss für die Zwischenprüfung lernen.
Kannst im Geschäft machen. Du musst auch nicht putzen, das tu ich heute noch. Zum Abschied sandte sie mir ein Herz-Emoji, und ich dachte mir, Gott sei Dank arbeitet sie bei mir.
* * *
Die Bekanntschaft mit Helene verdankte ich ihrem Auge für Schönes. An einem Samstag vor Weihnachten hatte sie beim Bummeln eine Herzvase von Holmegaard in meiner Auslage entdeckt. Sie kam herein und erzählte mir, dass sie auf der Suche nach einem Geschenk für eine Freundin sei. Die Vase würde ihr bestimmt gefallen. Sie fragte nach dem Preis.
Sechzig Euro.
Eine Weile überlegte sie, dann entschied sie sich dafür. Als sie bezahlte, wurde sie auf einen Apothekerschrank aufmerksam.
Wie viele Schubladen hat der?
Vierzehn. Ist Eiche mit Kiefer. Passt in ein Schlafzimmer ebenso wie in ein Büro.
Sie musterte den Korpus. Das Holz war hellbraun, die Knäufe an den Schubladen dunkelbraun, was einen feinen Kontrast ergab.
Wie lange muss ich dafür bei Ihnen arbeiten?, fragte sie und lächelte mich erwartungsvoll an.
Sie wollen hier arbeiten?, fragte ich, und sie nickte mit ihrem kleinen Kopf. Mir fiel auf, dass ihr blasses Gesicht unscheinbar wirkte, trotz der etwas langen Höckernase. Das einzig Auffallende an ihr war ihr karminroter Wollmantel.
Das freut mich, aber ich befürchte, dass ich sie nicht bezahlen kann, sagte ich und erklärte ihr, dass es nicht einfach war, teure Möbel zu verkaufen. Viele junge Leute, denen der Stil gefällt, können sich die Sachen nicht leisten.
Es gibt aber auch Leute, die Geld haben.
Nur wo finden wir die?
Im Internet zum Beispiel. Dort können Sie Ihre Möbel sogar versteigern. Sie erzählte, dass sie an der Angewandten Industrial Design studierte.
Ich habe auch an der Angewandten studiert, Textiles Gestalten und Technisches Werken für die Schule.
Sie nickte leicht, und ich ahnte, sie dachte, ach wie langweilig.
Unterrichten Sie auch?
Nein, die Schule ist für mich Plan B, ich wollte immer schon im Kunsthandel tätig sein.
Gute Entscheidung, sagte Helene. Sie erwähnte, dass ihre Mutter am Gymnasium unterrichtete und sie immer vor diesem Beruf warnte. Die Schüler machen dich fertig. Null Respekt vor dir und wenn du jemandem schlechte Noten gibst, kommen die Eltern mit dem Anwalt in die Sprechstunde. Von den Kollegen und von der Direktion gibt es auch keine Unterstützung.
Ich sah sie schweigend an und merkte, wie mein Herz klopfte. Klar, am Schulhof galt das Recht des Stärkeren. Das Getuschel in den Wochen nach Janus’ Tod war so fürchterlich gewesen.
Und das Restaurieren, haben Sie das auch an der Uni gelernt?, fragte Helene.
Nein, nach dem Studium habe ich in einer Polsterwerkstatt gearbeitet, außerdem habe ich bei Vintage-Händlern gejobbt, bevor ich den Laden hier eröffnet habe.
Echt jetzt, ich verstehe, dass Sie mir nicht viel bezahlen können, sagte Helene, trotzdem würde ich gern bei Ihnen arbeiten, weil ich die Möbel süß finde und was lernen will. Nachdem wir eine Weile herumgeredet hatten, kamen wir überein, dass ich sie geringfügig anstellen würde.
Helene entpuppte sich als geschickte Verkäuferin. Den Apothekerschrank versteigerte sie auf eBay mit beträchtlichem Gewinn. Der Preis spielte für die Käuferin offenbar keine Rolle, denn sie fand den Schrank einfach hip und wollte ihn unbedingt haben. So exklusive Käuferschichten hatte ich nie erreichen können. Seither veräußerte sie immer wieder teure Waren für mich, allerdings konnte auch sie nicht zaubern.
Der Abend senkte sich über den Esterházypark, während ich an den im Wind rauschenden Kastanienbäumen vorbei zur U-Bahn ging. Mein Blick schweifte über den Weg, da bemerkte ich eine dünne, in einen langen Mantel gehüllte Gestalt mit einem Hund. Stiefelabsätze klapperten, und die Hundeleine klimperte. Das könnte Valerie sein, dachte ich, als die Frau näher kam, aber dann machte ich ein fremdes, mürrisches Gesicht aus.
Ich fuhr zur Schweglerstraße und nahm den Weg in Richtung Nibelungenviertel. Viele Wege hier waren nach Figuren des Nibelungenliedes benannt. So gab es eine Walkürengasse, eine Alberichgasse, eine Guntherstraße und eine Brunhildengasse. In welcher anderen Stadt fand man Viertel, deren Straßen nach Figuren aus Heldenepen und Opern benannt waren? Mir fiel keine ein. Vermutlich war es diese Kunstbesessenheit, wegen der ich gern in Wien lebte, trotz des Grants der Leute, der wohl vom Wetter herrührte. Was hätten die Häuser nicht alles erzählen können, wenn sie Augen, Ohren und Münder hätten? In den mehr als hundert Jahren ihres Bestehens war viel geschehen: zwei Weltkriege und der Völkermord an den Juden. Von überall her waren die Menschen in die Stadt geströmt, und trotz der Wirren ähnelten sich vermutlich viele Lebenswege.
Als ich an einem offenen Haustor vorbeikam, fiel mein Blick hinein. Die Wandfliesen und die Marmorböden im Vestibül ließen erkennen, dass es sich um ein ehemals nobles Mietshaus handelte, doch aus einer Tonne quollen Müllsäcke, die einen fauligen Geruch verströmten, und auch sonst wirkte das Haus heruntergekommen.
Es stand gewiss unter Denkmalschutz und hätte renoviert werden müssen, aber niemand wollte oder konnte für die Kosten aufkommen. Ich hoffte natürlich, dass die schönen alten Häuser instand gesetzt würden, ehe sie verfielen, aber dann könnte ich mir das Leben in der Gegend nicht mehr leisten.
An der nächsten Ecke bog ich in die Markgraf-Rüdiger-Straße ab, eine Lindenallee mit einem Fahrradweg und kleinen Geschäften und Lokalen. Das Klappern von Skateboards hallte über den Asphalt, und von irgendwoher war Kindergekreische zu hören. Erst kreuzte eine Muslima mit schwarzem Mantel und Hidschab meinen Weg, dann ein Mädchen, dessen Gesicht mit Piercings übersät war, als wären Metallklammern in ihre Nasenlöcher, Brauen und Lippen getackert.
An der Ecke war ein Buchgeschäft, und ich sah in die Auslagen. Einmal hatte ich zwischen den Bücherstapeln eine Katze schlafen gesehen, seitdem blieb ich immer stehen und schaute hinein, aber leider hatte ich die Katze nie wieder erblickt. Auf der anderen Straßenseite lag ein paar Meter weiter das Café Kriemhild. Als ich an die leckere Linsensuppe dachte, die es dort gab, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich ging also hinein, obwohl ich mir vorgenommen hatte, nicht mehr auswärts zu essen, solange mein Geschäft rote Zahlen schrieb.
Das Kriemhild war ein mit rötlichem Holz getäfeltes Lokal mit Rundbogenfenstern, cognacfarbenen Sitzbänken, gelben und roten Lampen und dickblättrigen Topfpflanzen. Es war fast leer. Ich setzte mich an einen Tisch gegenüber dem Tresen und bestellte Suppe. Während ich auf das Essen wartete, beobachtete ich einen großen, kräftigen Mann, der vier Tische weiter saß.
Er trug eine schmutzige Arbeitsjacke und telefonierte mit lauter, aufgeregter Stimme. Im Lokal war es sonst still, und ich verstand deshalb jedes seiner Worte. Er war Dachdeckermeister, und einer seiner Gesellen war von einem Dach gestürzt. Nun sprach er von den Ermittlungen der Behörden.
Mah, gehn ma de am Oasch, sagte er. Die Versicherung wollte für die Behandlungskosten des Verunglückten nicht aufkommen.
Warum muass imma jemand schuld san?, fragte er.
Mein Essen kam, und ich löffelte die Suppe. Dabei musste ich an die Ermittlungen der Polizei nach Janus’ Tod denken. Die Beamten hatten die Familien und Nachbarn befragt, um Zeugen des Vorfalls zu finden. Auch uns Kindern stellten sie Fragen, was auf sehr direkte, fast brutale Weise geschah.
Natürlich verstehe ich, dass du traurig bist, weil dein Bruder gestorben ist, der Beamte hämmerte mit einem Zeigefinger auf die Tastatur seines Computers ein. Mir rannen Tränen über das Gesicht, aber der Mann blieb ungerührt. Wieso sagst du denn nichts? Wir wollen doch nur herausfinden, was passiert ist. Mit leichter Hand reichte er mir eine Box mit Taschentüchern, worauf ich eines davon nahm und mir die rotzige Nase putzte.
Emily und ich waren im Wohnzimmer einen Stock tiefer und sahen uns eine Serie an.
Was denn?
Reich und Schön, antwortete ich zögernd. Natürlich schämte ich mich, dass ich, anstatt meinem Bruder zu helfen, eine so dümmliche Serie angesehen hatte.
Meine Frau mag das auch. Er grinste. Und während du ferngeschaut hast, hast du natürlich nicht bemerkt, was auf der Dachterrasse vor sich gegangen ist, gell?
Als ich Valerie schreien gehört habe, bin ich zuerst zur Dachterrasse hinaufgerannt. Und dann, als ich ihr Gebrüll erst aus dem Stiegenhaus, dann vor dem Haus gehört habe, bin auch ich hinuntergelaufen und habe Janus auf dem Asphalt liegen gesehen.
Dass ich erst am liebsten auf der Couch sitzen geblieben wäre, weil ich die Geschichte im Fernsehen aufregender fand als Valeries Gekreische, behielt ich für mich. Die Serie sah ich danach übrigens nie wieder.
Der Beamte runzelte die Stirn und nickte mir zu, was vermutlich seine ein wenig unbeholfene Art war, mir sein Mitgefühl auszudrücken. Letztlich stellte sich heraus, dass Valerie die einzige Zeugin des Sturzes gewesen war.
Selbst im Haus gegenüber hatte niemand etwas gesehen, was ich kaum glauben konnte. Valerie gab an, dass sie und Janus während des Regens unter dem Dachvorsprung gesessen und sich unterhalten hätten. Sie hätten dabei über nichts Besonderes gesprochen. Dann habe es aufgehört zu regnen, ein Regenbogen habe sich gebildet, und sie seien nach vorn zum Geländer der Dachterrasse gegangen, um die Farben am Himmel zu betrachten.
Janus sei dann auf einen Plastiksessel vor dem Geländer gestiegen und habe die Arme ausgebreitet, als wolle er davonfliegen wie ein Vogel. Komm runter, habe sie gerufen, denn das Plastik sei glitschig vom Regen gewesen, dann habe sie kurz weggeschaut, warum, wisse sie nicht, und er sei in die Tiefe gefallen.
Da sich keine anderen Zeugen fanden, blieb Valeries Aussage unwidersprochen.