Mein fremder Freund - Emma Haughton - E-Book

Mein fremder Freund E-Book

Emma Haughton

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Beschreibung

Ein atemberaubender Thriller nach einer wahren Begebenheit

Im Alter von 13 Jahren verschwindet Hannahs bester Freund Danny – ohne eine einzige Spur zu hinterlassen. Drei lähmende Jahre voller Bangen und Hoffen später taucht er ebenso unvermittelt wieder auf. Verändert, ohne Erinnerung an die letzten drei Jahre, aber am Leben. Und das ist das Einzige, was zählt, denken Hannah und seine Eltern. – Zunächst. Denn nach und nach müssen sie erkennen, dass der Junge an ihrer Seite ihnen erschreckend fremd ist ... Kann es wirklich sein, dass er sich so verändert hat? Oder ist dieser junge Mann womöglich gar nicht Danny?

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Seitenzahl: 365

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DIE AUTORIN

© Emma Haughton

Emma Haughton wuchs in Sussex auf. Sie hat vier Kinder und lebt heute in Dorset, wo sie als freiberufliche Journalistin arbeitet und für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften schreibt. »Mein fremder Freund« ist ihr erstes Jugendbuch.

Emma Haughton

MEIN

FREMDER

FREUND

Aus dem Englischen

von Violeta Topalova

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Erstmals als cbj Taschenbuch April 2015

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe:

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2014 by Emma Haughton

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Now you see me …« bei Usborne, London

Übersetzung: Violeta Topalova

Lektorat: Christina Neiske

Umschlagkonzeption:

© init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen,

unter Verwendung eines Fotos von

© Plainpicture/Leander Hopf

MP · Herstellung: wei

Satz: KompetenzCenter Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-14989-5

www.cbj-verlag.de

PROLOG

Ich hätte nicht hier sein sollen. Es war nicht meine Absicht gewesen, in der Oktoberbrise zitternd am Ufer des Anlagensees zu stehen und sieben Männern dabei zuzusehen, wie sie nach Hinweisen auf den Verbleib meines verschwundenen besten Freundes suchten.

Ich hatte niemandem davon erzählt, dass ich hier sein würde. Dad nicht, und auch nicht Martha, die die ganze Aktion boykottierte. Sie weigerte sich auch weiterhin zu glauben, dass ihrem geliebten Sohn etwas zugestoßen sein könnte.

Ehrlich gesagt wollte ich auch nicht hier sein. Aber ich musste einfach. Als es so weit war, konnte ich nicht wegbleiben. Weil es plötzlich so kalt geworden war, hatte ich angenommen, ich würde allein hier am Ufer stehen. Aber es waren Herbstferien, und die Nachricht hatte sich offenbar weit verbreitet. Als ich ankam, wartete bereits eine kleine Menschenmenge hinter dem gelben Polizeiband, mit dem der See abgesperrt worden war. Hauptsächlich Erwachsene, aber auch ein paar Kinder. Die kleinsten saßen auf den Schultern ihrer Eltern, die Nasen vom Wind rot gefroren.

Als ich mein Rad an den Zaun des Marine-Cafés anschloss, sah ich Tom aus meiner Klasse gegenüber vom Minigolfplatz stehen, neben einem Mann, der wahrscheinlich sein Vater war. Tom winkte mir lächelnd zu, als hätten wir uns zufällig vor dem Kino getroffen oder so. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht bemerkt, zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht und betete darum, dass mich sonst niemand erkannte. Und dann womöglich Martha erzählte, dass ich hier war. Das musste wirklich nicht sein.

Ich ging zu der Reihe Umkleidehäuschen, denn von dort hatte ich einen guten Blick auf die Polizeitaucher, die sich gerade in ihre schwarzen Neoprenanzüge zwängten und Sauerstoffflaschen umschnallten. Hinter ihren Taucherbrillen waren ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen. Sie wirkten fremdartig und bedrohlich, als seien sie einem Horrorfilm entsprungen.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich bereit waren. Die Schaulustigen wurden unruhig, wickelten sich enger in ihre Mäntel und Schals und stampften mit den Füßen, um sich aufzuwärmen. Mein Magen verkrampfte sich vor Ungeduld und Nervosität, meine Wangen waren vom beißenden Wind gerötet.

»Macht schon«, murmelte der Mann neben mir. Er trug eine gestreifte Bommelmütze, die man sonst nur an kleinen Kindern sieht, und hatte sie tief über beide Ohren gezogen. Die Frau an seiner Seite trug einen roten Anorak und schaute so erwartungsvoll drein, als warte sie auf den Beginn einer Bühnenshow.

Als wäre all das nicht real, als ginge es hier nicht um ein Menschenleben. Und um die Leben all derer, die dieser Mensch zurückgelassen hatte.

Endlich reihten sich alle sieben Taucher in regelmäßigem Abstand voneinander am Ende des Sees auf, um die gesamte Breite abzudecken. Alle hielten lange Stangen in der einen und Taschenlampen in der anderen Hand. Ich war beinahe ein bisschen enttäuscht. Wahrscheinlich hatte ich Dramatischeres erwartet: große Haken, komplizierte Ausrüstungsgegenstände, vielleicht Radargeräte.

Du bist nicht hier, um unterhalten zu werden, erinnerte ich mich, als die Taucher Schritt für Schritt in den trüben See hineinstapften. Das Wasser reichte ihnen bis zu den Knien und dann bis zur Taille. Nach jedem langsamen, vorsichtigen Schritt leuchteten sie mit den Taschenlampen in die schlammige Tiefe und tasteten mit ihren Stangen Zentimeter um Zentimeter den Grund ab.

Die Menge um mich herum war dichter geworden, denn jetzt waren auch Touristen und Leute, die ihre Hunde spazieren führten, neugierig stehen geblieben. Gut, dass Martha nicht hier war. Die Suche war gleichzeitig langweilig und nervenzerfetzend, und die Neugier der Schaulustigen ärgerte mich irgendwie. Es war eine Privatangelegenheit, die sie überhaupt nichts anging.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge, und ein paar Leute zeigten aufs Wasser hinaus. Kinder reckten die Hälse, um besser sehen zu können. Ein Taucher hielt den Arm hoch und signalisierte den anderen, die Suche zu unterbrechen. Er justierte seine Taucherbrille und tauchte kopfüber ins Wasser.

Sekunden verstrichen … Nichts. Ich wartete atemlos, angespannt und mit einem flauen Gefühl.

War das etwa …?

Dann tauchte er wieder auf und hielt etwas in die Luft. Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich bemühte mich zu erkennen, was es war. Die Polizisten am Ufer reichten eine Plastiktüte weiter, in die der Taucher schließlich einen einzelnen Schuh legte.

»Glaubst du, das ist seiner?«, fragte die Frau im roten Anorak den Bommelmützenmann.

»Wer weiß?«, sagte er achselzuckend.

Ich stellte mir vor, wie Danny über den erhöhten Weg radelte, der den flachen vom tieferen Teil des Sees trennte. Wie in Zeitlupe sah ich ihn das Gleichgewicht verlieren und ins Wasser stürzen, sich den Kopf an der Kante stoßen und in den schlammigen Tiefen versinken.

Ein eiskalter Schauder durchfuhr mich, so kalt wie der Wind, und ich verdrängte das Bild schnell. Drehte mich zu den Tauchern um, die ihren mühsamen Weg wieder aufgenommen hatten und langsam vorwärtsstapften. Meine Beine zuckten vor lauter Frust.

Vielleicht hätte ich Lianna und Maisy bitten sollen mitzukommen. Oder sogar Tanya, Vicky oder sonst jemanden aus meinem Jahrgang. Dann hätte mich wenigstens jemand von dem Kribbeln meiner Haut und dem ängstlichen Flattern meines Herzens abgelenkt.

Aber wahrscheinlich wären sie ohnehin schon längst wieder abgezogen; die Schaulustigen verloren allmählich das Interesse und zerstreuten sich.

»Was ist denn hier los?«, fragte eine ältere Frau mit einem Hund.

Der Bommelmützenmann ratterte Dannys Namen und die Einzelheiten seines Verschwindens vor drei Wochen herunter, als rede er über einen alten Freund. Aber dank der Lokalzeitung wussten nun mal alle aus der Gegend, was genau geschehen war.

»Glauben Sie, er ist beim Schwimmen ertrunken?«, fragte die Frau. Sie wirkte eher geschockt als neugierig, was ich ihr hoch anrechnete.

Der Bommel wippte, als der Mann den Kopf schüttelte. »Das bezweifele ich. Der See ist viel zu seicht. Sie suchen nur nach Hinweisen.«

»Es könnte natürlich auch sein, dass ihn jemand in den See geworfen hat«, warf die Frau im roten Anorak mit fröhlicher Stimme ein. »Mit Steinen beschwert oder so.«

Die alte Frau verzog das Gesicht, und ich erinnerte mich plötzlich daran, wie Danny und ich in dem See geschwommen waren. Wie das schlammige Wasser sich kühl und glitschig um unsere Beine legte. Dass man die Füße hochhalten musste, um nicht im Matsch auf dem Grund einzusinken.

Ich erschauderte noch einmal. Martha hatte recht gehabt. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Aber obwohl mein Kopf mir sagte, ich solle abhauen, blieb ich wie angewurzelt stehen. Die Frau und ihr Hund gingen weiter, und durch die Lücke, die sie hinterlassen hatte, entdeckte ich einen Mann, der eine Fernsehkamera geschultert hatte und die Zuschauer filmte. Wahrscheinlich im Auftrag des örtlichen Nachrichtensenders.

Ich zog meine Kapuze nach vorn und schaute auf meine Füße, als die Kamera in meine Richtung schwenkte. Ich wollte auf keinen Fall in den Lokalnachrichten erscheinen. Als ich den Kopf wieder hob, war das Objektiv wieder auf die Taucher gerichtet.

»Wir müssen los«, sagte der Bommelmützenmann und schaute auf sein Handy.

Die Frau im Anorak schaute noch einmal zu den watenden Männern hinüber, die inzwischen in der Mitte des Sees angekommen waren.

»Armer Junge«, seufzte sie und drehte sich dann um.

Als die Taucher den See schließlich durchquert hatten, war ich beinahe allein. Die meisten anderen hatten sich von Kälte und Langeweile besiegen lassen. Viel verpasst hatten sie nicht. Auf der Promenade lag ein Haufen Müll. Unzählige Flaschen und Scherben. Ein alter Fahrradreifen, der zu klein war, um Danny zu gehören. Ein Einkaufswagen.

Und ein verrosteter Puppenwagen. Er war sehr klein, und der Taucher hatte ihn so mühelos aus dem Wasser gezogen, dass er auch ziemlich leicht sein musste.

Jetzt stand er tropfnass auf dem Weg, und ich beobachtete ihn und versuchte, mir vorzustellen, wie er im See gelandet war. Wahrscheinlich war ein kleines Mädchen mit seinen Eltern hier spazieren gegangen und hatte ihn zu nahe an der Böschung entlanggeschoben. Er war ihr aus den Händen gerutscht und hineingestürzt. Vielleicht hatte sie die Puppe noch retten können, aber der Wagen war in den Schlamm gesunken.

Aber warum hatte ihn niemand wieder herausgeholt? Das Wasser reichte den meisten Erwachsenen kaum bis zur Brust, auch im tieferen Teil. Vielleicht hatten die Eltern das nicht gewusst oder es war ihnen den Aufwand nicht wert. So musste es gewesen sein. Ich wäre auch nicht reingegangen, wenn Danny mich nicht dazu überredet hätte.

Ich starrte über den leeren See hinaus. Das Bild des kleinen Mädchens ging mir nicht aus dem Kopf. Wie sie weinend ihre Puppe an die Brust drückte, als ihre Mutter sie wegzog. Wie sie immer wieder zu der Stelle zurückblickte, wo dunkles Wasser ihren Puppenwagen für immer verschluckt hatte.

In mir regte sich etwas. Tiefer Schmerz stieg wie eine Luftblase an die Oberfläche und platzte dort. Ich schüttelte den Gedanken an das Gesicht meiner Mutter ab und sog keuchend die salzige Luft ein, um nicht zusammenzusacken.

Ich durfte nicht an Mum denken. Nicht jetzt.

Schnell ging ich zum Café zurück. Sie haben Danny nicht gefunden, sagte ich mir wieder und wieder. Sie hatten Danny nicht gefunden, und das sollte mich freuen. Danny war nicht im See gewesen – und was mit Mum geschehen war, änderte nichts daran.

Aber als ich mit vor Kälte tauben und ungeschickten Fingern an meinem Fahrradschloss fummelte, wurde ich von der Gewissheit überwältigt, dass ich ihn auch verloren hatte.

Teil 1

l

Heute

Die einzige Vorwarnung davor, dass mein Leben gleich explodieren wird, ist eine Salve Musik, die ich aus dem Musikunterricht kenne – Beethovens Ode an die Freude, so heißt das Stück, glaube ich. Es dröhnt durch das stille Klassenzimmer und dreißig Köpfe drehen sich in meine Richtung. Erst in diesem Augenblick kapiere ich, dass die Musik aus meiner Nähe kommt. Und zwar aus meinem Rucksack. Mist. Mein Handy. Alice hat wieder meine Klingeltöne verstellt.

Ich wühle in meiner Tasche und habe gerade den Anruf abgelehnt, als Mr Harrington sich von den Quadratgleichungen abwendet, die er gerade auf das Whiteboard schreibt. Er betrachtet mein puterrotes Gesicht.

»Glückwunsch zu Ihrem Musikgeschmack, Miss Radcliffe«, bellt er. »Aber bitte demonstrieren Sie ihn nicht während meines Unterrichts. Stellen Sie das ab, sonst konfisziere ich das verdammte Ding!«

Lianna und Josie zwinkern mir grinsend zu. Ich verdrehe lächelnd die Augen. Als Mr Harrington sich wieder seinen Zahlen zuwendet, linse ich unter der Tischplatte auf das Display. Der Anruf war von Martha. Eine Sekunde später bekomme ich eine SMS.

Janet Reynolds hat angerufen. Ich muss dringend weg. Kannst du Ally abholen? Martha xx

Das ist alles. Aber die Worte lassen kalte Furcht in mir aufsteigen.

Ich tippe schnell ein Ja und schalte dann das Handy aus. Lasse es in meine Tasche fallen und wende mich der Tafel zu. Versuche, so zu tun, als sei gerade gar nichts passiert.

Alice sitzt auf dem Rasen des Schulhofs. Mit wippendem blondem Schopf reißt sie Gänseblümchen die Blüten ab und legt sie auf einen Haufen. Ich nicke ihrer Lehrerin zu und werde mit einem Winken begrüßt.

»Hannah!« Alice springt auf, als sie mich sieht. Sie schlingt mir die Arme um den Hals und hängt sich an mich.

»Hi, Ally«, keuche ich und sacke mit ihr auf dem Rasen zusammen. Mein Herz rast und ich bin außer Atem. Ich bin das kurze Stück von meiner Schule zu ihrer beinahe gerannt – eine beachtliche Leistung mit einem vollen Rucksack. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.«

»Schau!« Alice holt ein zerknittertes Blatt Papier aus ihrer Tasche. Ein stacheliges Tier starrt zu mir hoch, sein Kopf, der Körper und der lange Schwanz bestehen aus grellen grünen und blauen Farbklecksen. Manche sind so dick, dass sie reliefartig hervorstechen. Das Bild ist noch ziemlich feucht.

»Kuss!« Sie hält mir das Bild so dicht vors Gesicht, dass ich den merkwürdig kreidigen Farbgeruch riechen kann.

»Neeeeeiiiin«, quieke ich mit gespielter Angst. »Vielleicht beißt es!«

Grinsend stopft Alice das Bild wieder in ihre Tasche.

»Hannah, du Doofi. Das ist doch nur ein Ally-gator.« Kichernd lässt sie sich aufs Gras fallen, setzt sich aber schnell wieder auf. »Wo ist Mummy?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat mich nur gebeten, dich hier abzuholen.«

»Mmmpf.« Alice packt die Gänseblümchen und wirft sie über den Rasen.

»Es war bestimmt wichtig, Alice. Sonst wäre sie gekommen.«

»Mir doch egal«, sagt sie achselzuckend.

»Das meinst du doch nicht so.« Ich rolle sie auf den Rücken und kitzele sie sanft an den Rippen. Sie quietscht vor Panik und Entzücken. Dann stehe ich auf und strecke ihr die Hand hin. »Na komm schon, Käfer. Lass uns nach Hause gehen und auf deine Mum warten.«

Sie ergreift meine Hand und lässt sich dann mit ihrem vollen Gewicht nach hinten sinken und von mir hochziehen. Das ist nicht leicht. Alice ist inzwischen sieben Jahre alt und wird von Tag zu Tag schwerer.

Bald kann ich sie gar nicht mehr tragen, denke ich.

Marthas Auto steht nicht in der Einfahrt vor ihrem Haus, also hole ich den Schlüssel aus seinem Versteck unter der Vogeltränke und schließe die Hintertür auf. Rudman stürzt sich auf uns, sobald wir das Haus betreten haben. Er rennt voller Freude um unsere Beine, bellt und versucht, unsere Knie abzulecken.

Ich lasse unsere Schultaschen auf einen Stuhl fallen und suche nach einem Zettel. Keiner da. Neben der Spülmaschine steht ein Stapel Teller und auf dem Küchentisch liegen noch Butter und Marmelade. Martha muss es wirklich eilig gehabt haben.

»Hast du Hunger?«, frage ich Alice.

Sie schüttelt den Kopf, also mache ich uns zwei Gläser Eistee, hole mir ein paar Kekse und trage alles zu der Hängematte, die zwischen den Apfelbäumen hängt. Es ist der erste richtig warme Frühlingstag. Insekten summen, und die Luft ist voller Vogelgezwitscher und halb vergessener Düfte – Apfelblüten, frisches, grünes Gras und dunkle, feuchte Erde.

Rudman rast wie angestochen über den Rasen, um seine Freiheit zu feiern, und lässt sich dann hechelnd zu unseren Füßen fallen. Wahrscheinlich war er den ganzen Tag im Haus eingesperrt.

Als Alice und ich schließlich eng aneinandergekuschelt in der Hängematte liegen, bittet sie mich, ihr Geschichten zu erzählen. Das ist nicht schwierig, aber ein bisschen langweilig. Wie viele Kinder mit Down-Syndrom will sie wieder und wieder dasselbe hören. Also erzähle ich ihr das Märchen von den drei Geißen und dem Troll unter der Brücke, und sobald ich fertig bin, will sie es noch einmal hören. Ihr kleines, rundes Gesicht ist völlig ausdruckslos, während sie mir zuhört. Als höre sie die Geschichte zum ersten Mal.

Bei der dritten Runde schläft sie ein. Ich nehme ihr die Brille vom Gesicht und lege sie neben dem Baumstamm auf den Rasen. Eigentlich könnte ich jetzt Englischhausaufgaben machen, aber ich würde sie aufwecken, wenn ich ins Haus gehe und meinen Rucksack hole. Also lasse ich den Kopf nach hinten sinken und richte meine Gedanken auf die Frage, die mich schon den ganzen Nachmittag beschäftigt: Warum wollte Janet Reynolds Martha sehen?

Sicher wollte sie ihr etwas mitteilen. Etwas über Danny. Etwas, das sie nicht am Telefon sagen wollte. Es ist so viel Zeit vergangen – inzwischen dreieinhalb Jahre –, dass es nichts Gutes sein kann.

Danny.

Ich versuche, mir sein Gesicht vorzustellen, aber ich sehe nur das Foto vor mir, das auf allen Plakaten zu sehen war.

Ich habe so viel von ihm vergessen, denke ich mit schwerem Herzen. Wie er aussah. Seine helle, spöttische Stimme. Dass alles mit ihm so einfach wirkte.

Auch der Gedanke an Martha schmerzt mich. Was sie wohl gerade durchmacht?

Unter der Hängematte beginnt Rudman im Schlaf zu fiepen, seine Beine zucken, offenbar jagt er im Traum etwas. Vielleicht eine Katze. Oder ein Kaninchen. Neben mir regt sich Alice, streckt ihren Arm aus und legt ihn auf meinen. Ich lasse ihn dort, bis er mir zu schwer wird, dann rücke ich zur Seite und mache ihr Platz. Ich schließe wieder die Augen und versuche, meine Gedanken zu bändigen.

Aber sie sind so ruhelos wie Rudmans Träume und zerren mich an all die Orte zurück, die ich eigentlich längst hinter mir gelassen habe. Dannys Verschwinden. Die Suche. Das endlose Warten und vergebliche Hoffen.

Und der letzte Anruf, den Martha von Police Constable Janet Reynolds bekommen hat. Als eine Leiche gefunden worden war.

Bei der Erinnerung daran stockt mir der Atem, ein scharfer Kontrast zu Alice’ langsamen, regelmäßigen Schnaufern. Plötzlich habe ich das Gefühl, in der Falle zu sitzen und zu ersticken. Ich will nur noch weg hier, per Bus, per Schiff oder per Bahn. Weit weg von den schlechten Nachrichten, die hier auf mich warten.

Denn wie hoch sind schon die Chancen, dass es noch einmal ein falscher Alarm ist?

2

Damals

Daniel Geller verschwand an einem Sonntagnachmittag Ende September – eine Woche nach seinem dreizehnten Geburtstag. Aber davon wusste ich erst mal nichts. Nicht einmal abends, als Dad seinen Kopf durch meinen Türspalt schob.

»Weißt du, wo Danny ist?«

Ich legte mein Buch über den Sklavenhandel beiseite. Dad wirkte abwesend und zerzaust und vermied es, mich direkt anzusehen. Er fuhr sich durch das Haar, das in dem Jahr seit Mums Tod dicker und struppiger geworden zu sein schien.

»Ist er nicht zu Hause?«, fragte ich achselzuckend.

»Seiner Mutter nach nicht.«

Dad nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Er starrte auf meine Hausaufgaben, die ich auf meinem Schlafzimmerboden verteilt hatte. Er sah wieder einmal so aus, als habe er etwas auf dem Herzen, wisse aber nicht, wie er es ausdrücken sollte. Doch es war eigentlich immer irgendetwas. Meistens hatte es mit seiner Arbeit zu tun.

»Sie ist immer noch dran. Kannst du mit ihr sprechen, Hannah?« Sein Mund verzog sich zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. »Ich bin gerade sehr beschäftigt …«

Ein paar Sekunden später war er mit dem Telefon zurück und legte es wie eine heiße Kartoffel auf mein Bett. Dad vermied es so weit wie möglich, mit Martha zu reden. Sie grüßten sich höflich und tauschten wichtige Informationen aus, das war alles.

Ich hörte die Tür seines Arbeitszimmers ins Schloss fallen, legte meinen Stift weg und drückte das Telefon an mein Ohr. Ich hörte ein leises, wütendes Bellen.

»Hi, Martha.«

»Hannah, Schätzchen. Ist Danny bei euch?« Trotz Rudmans Kläffen im Hintergrund hörte ich die Sorge in ihrer Stimme.

»Nein. Ich dachte, er sei schon zu Hause.«

»Ich habe ihn seit heute Morgen nicht gesehen. Und jetzt ist es schon fast neun.«

Ich schaute in die Dämmerung hinaus. Im Haus gegenüber waren die oberen Fenster bereits hell erleuchtet.

Eine weitere Kläffsalve drang durch den Hörer und Martha stöhnte. »Moment …« Ein gedämpftes Geräusch, dann schimpfte sie mit Rudman.

»Sorry, Hannah«, sagte sie dann ein bisschen außer Atem. »Keine Ahnung, was in dieses Tier gefahren ist. Ich mache mir jedenfalls Sorgen. Ich habe schon sechs Mal versucht, Danny auf dem Handy zu erreichen, aber er geht einfach nicht dran.«

»Er ist mit mir zurückgefahren, aber das war schon vor Stunden. Ich dachte, er fährt sicher gleich weiter nach Hause.«

»Hat er das gesagt?«

Ich dachte einen Moment lang nach. »Nein, ich glaube nicht.«

»Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?«

Ich wusste eigentlich gar nicht mehr, was Danny so machte. Aber das sprach ich nicht aus. »Probier’s doch bei Joe«, schlug ich vor. »Oder bei Ross und Evan.«

»Hast du ihre Nummern?«

»Leider nicht.«

Ich hörte beinahe, wie Martha am anderen Ende der Leitung einen genervten Seufzer unterdrückte. »Könntest du bei deinen Freundinnen nachfragen, Hannah? Vielleicht wissen sie ja, wo er ist.«

»Ich rufe Vicky Clough an. Könnte sein, dass sie es weiß.«

»Danke.« Marthas Stimme klang verängstigt. »Hör zu, Hannah, wenn du irgendetwas hörst, sagst du mir Bescheid, okay?«

»Natürlich.«

»Danke. Bis morgen nach der Schule, okay?«

»Klar. Tschüs …«

Als Antwort hörte ich nur ein Klicken. Ich lauschte noch ein paar Sekunden lang dem Freizeichen, dann holte ich mein Handy und schrieb Vicky eine SMS. Hoffentlich interpretierte sie es nicht falsch, dass ich nach Danny fragte. Ich hatte ihr zwar schon tausendmal versichert, dass Danny und ich nur Freunde waren, aber sie glaubte mir einfach nicht.

Abgesehen von dem Gedanken, dass Danny mächtig Ärger bekommen würde, wenn er nach Hause kam, muss ich zugeben, dass ich Marthas Anruf keine weitere Aufmerksamkeit schenkte. Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Warum auch? In letzter Zeit war Danny ständig irgendwo, hing bei seinen Kumpels ab oder fuhr mit dem Rad herum. Seine Mutter hatte schon ziemlich oft hier angerufen, weil sie ihn nicht finden konnte.

Trotzdem erscheint es mir im Nachhinein unfassbar, dass ich nicht ahnte, nicht irgendwie spürte, dass etwas nicht stimmte. Schließlich war ich Dannys beste Freundin. Oder war es zumindest gewesen. Uns hatte nicht nur eine normale Schulfreundschaft verbunden, sondern wir waren praktisch gemeinsam aufgewachsen. Freunde, die sich in- und auswendig kennen.

Aber da war nichts. In meinem Kopf schrillten keine Alarmglocken los, als ich meinen Stift wieder in die Hand nahm. Ich machte mir nicht die geringsten Sorgen, als ich weiter über die Sklavenschiffe schrieb, über all die geraubten Menschen, die ans andere Ende der Welt verschleppt wurden und ihre Häuser und ihre Familien nie wiedersehen würden.

3

Damals

»Hi, Hannah.«

Ich schaute auf. Vor meinem Tisch stand Joe Rowling, nickte Lianna kurz zu und konzentrierte sich dann wieder auf mich.

»Hast du Danny gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Seine Mum hat ihn gestern Abend gesucht. Hat sie dich erreicht?«

»Ja. Ich habe ihr gesagt, dass wir uns gestern eigentlich zum Kicken treffen wollten. Aber Danny ist nicht gekommen.« Joe runzelte die Stirn und schob seinen Rucksackträger höher auf die Schulter. »Du hast also keine Ahnung, wo er sein könnte?«

»Nein. Ich dachte, du wüsstest es vielleicht.«

»Keinen Schimmer.« Joe zog die Nase hoch. »Ich versuche die ganze Zeit, ihn zu erreichen, aber ich glaube, er hat sein Handy ausgeschaltet.«

»Vielleicht ist der Akku leer«, warf Lianna gleichgültig ein.

»Wahrscheinlich.« Joe schaute sich um. Gerade betrat Mr Young das Klassenzimmer, die Anwesenheitsliste unter dem Arm.

»Na ja, wenn du ihn siehst, sag ihm, er hat das beste Spiel aller Zeiten verpasst.« Er boxte in die Luft. »Wir haben die Idioten von Randolphs fertiggemacht.«

Ich grinste. Danny würde sich wirklich darüber ärgern, dass er das verpasst hatte.

Es ging den ganzen Tag so weiter.

»Weißt du, wo Danny Geller abgeblieben ist?«, fragte Mr Young mich nach der Stunde. Wahrscheinlich hatte Martha nicht angerufen, sonst hätte er Bescheid gewusst.

Danny war nicht bei der Schülerversammlung, und auch in der Pause sah ich ihn nirgends. In der Schlange vor der Essensausgabe konnte ich ihn auch nicht finden. Ich ließ Maisy und Lianna bei ihren Sandwiches sitzen und machte mich auf den Weg zur Schwimmhalle. Ich wusste zwar nicht mehr genau, was Danny zurzeit den ganzen Tag lang so machte, aber eines wusste ich: Wenn er hier war, dann würde ich ihn dort finden. Danny verpasste nie ein Schwimmtraining – außer er war richtig krank.

Ich drückte mein Gesicht an die Glastüren, die das Becken von der eigentlichen Sporthalle trennten. Ein halbes Dutzend Kids schwamm Bahnen, aber ich musste nicht darauf warten, bis sie das Wasser verließen, um zu sehen, dass keiner von ihnen Danny war. Man sah es an der Art, wie sie durchs Wasser pflügten – anders als bei Danny wirkte es bei ihnen sehr angestrengt.

Als ich gerade gehen wollte, kam Mr Cozens zu mir. »Hast du Geller gesehen?«, bellte er und bemühte sich nicht, seinen Ärger zu verbergen. Als wäre es aus unerfindlichen Gründen meine Schuld, dass Danny nicht aufgetaucht war.

»Nein. Ich suche ihn auch.«

»Okay. Wenn du ihn findest, sag ihm, dass ich mit ihm reden will«, sagte er barsch. »Wir wollten heute die Mannschaftsauswahl für den nächsten Wettkampf treffen.«

»Ich sag’s ihm.« Ich flüchtete, bevor Cozens mich weiter anpflaumen konnte. Er war zwar ein fantastischer Schwimmtrainer, aber ich beneidete Danny nicht darum, dass er es dreimal die Woche mit ihm aushalten musste.

Es war seltsam, dass Danny nicht da war, aber ich machte mir noch keine Sorgen. Wahrscheinlich war er krank. Martha hatte ihn bestimmt zum Arzt gebracht und vergessen, in der Schule Bescheid zu sagen, und jetzt lag Danny zu Hause im Bett, neben sich eine riesige Flasche Cola, und spielte dämliche Spiele auf seinem Laptop. Oder er lag auf dem Sofa neben Alice und schaute mit ihr das Kinderprogramm. Cartoons, Spielshows und sogar das Babyzeugs für Kleinkinder – Danny liebte das Zeug genauso sehr wie seine Schwester.

Erst nach der Schule, als ich in die Straße einbog, in der Danny wohnte, sah ich etwas, womit ich nie gerechnet hätte. Etwas, das mir die Kehle zuschnürte und mich wie angewurzelt stehen bleiben ließ.

Im Schatten der Bäume direkt neben der Einfahrt stand ein Streifenwagen.

Und in diesem Augenblick wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung.

4

Damals

Es war ein richtiger Streifenwagen mit Blaulicht, und ich starrte ihn an und hoffte, dass ich ihn mir nur einbildete. Oder dass es einen ganz alltäglichen, harmlosen Grund dafür gab, dass er dort unter den Bäumen parkte und den Blick auf die Haustür verstellte.

Aber ich hätte auch ohne den eisigen Klumpen in meiner Magengrube gewusst, dass ein Besuch von der Polizei niemals etwas Gutes bedeutet.

Ich dachte wieder an Mum, und der nagende Schmerz flammte wie Zahnweh in mir auf. Ich drängte ihn beiseite und konzentrierte mich auf Danny. Was hat er bloß angestellt?, fragte ich mich. Meine Furcht ließ mich zögern. Sollte ich vielleicht lieber nach Hause gehen und darauf warten, dass irgendjemand mir erklärte, was hier los war?

Aber der Gedanke daran, zu Hause allein herumzusitzen und nicht zu wissen, was passiert war, erschien mir plötzlich unerträglich. Also ging ich ums Haus und klopfte an die Hintertür. Normalerweise wäre ich einfach reingegangen, aber irgendwie hatte der Streifenwagen alles verändert.

Niemand hörte mich. Ich legte die Hand an die Scheibe und linste durchs Fenster. Die Küche war leer. Sie mussten im Wohnzimmer oder im Wintergarten sitzen. Ich hätte klingeln können, aber das fühlte sich zu schräg an. Das Haus der Gellers war praktisch mein zweites Zuhause.

Also drückte ich die Klinke und ging hinein. Tatsächlich hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Erst sprach Martha, dann eine fremde Frau. Ich räusperte mich leise und mein Herzschlag beschleunigte sich. Dann ging ich zur Tür. Sie war zwar nur angelehnt, aber ich klopfte trotzdem.

»Ja?«, sagte Martha mit hoher, unsicherer Stimme.

Ich ging ins Zimmer. Vier Köpfe drehten sich zu mir um – keiner von ihnen gehörte Danny. Martha saß blass und angespannt auf dem Sofa, ihre schwarzen Locken fielen ihr wirr ins Gesicht. Paul saß in seinem Arbeitsanzug neben ihr, er wirkte müde und ernst. Ihnen gegenüber saßen zwei Polizeibeamte – ein Mann und eine Frau. Alle saßen hoch aufgerichtet auf den vorderen Kanten ihrer Sitze, als wären sie eigentlich viel lieber aufgestanden.

Ich stammelte einen Gruß, die Beamten lächelten und ich konnte zum ersten Mal, seit ich das Polizeiauto gesehen hatte, wieder frei atmen. Es waren nicht dieselben Beamten, das sah ich. Nicht diejenigen, die zu uns nach Hause gekommen waren und uns von Mum erzählt hatten.

Paul stand auf und winkte mich heran, aber Martha starrte mich so geschockt und verstört an, als habe sie völlig vergessen, wer ich war. Dann entgleisten ihre Gesichtszüge, sie ließ den Kopf sinken und vergrub ihn in den Händen.

Ich wurde unsicher. War sie wütend auf mich, weil ich hier einfach so reinplatzte?

Ich räusperte mich, murmelte eine Entschuldigung und begriff dann endlich – sie hatte geglaubt, ich sei Danny. Der Ausdruck auf Marthas Gesicht war Enttäuschung gewesen.

Oh Gott. Mir wurde schwindelig, meine Gedanken rasten. »Wo ist er?«, platzte ich heraus. »Ist Danny in Schwierigkeiten?«

Paul kam mit verlegener Miene auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter, drückte sie beruhigend und stellte mich dann den Polizeibeamten vor. »Das ist Hannah, das Mädchen, von dem wir Ihnen erzählt haben. Sie steht Danny sehr nahe.«

Die Polizistin stand auf. Sie hatte braunes Haar und ein sympathisches, Vertrauen erweckendes Gesicht. Sie sah aus, als könne man mit ihr über alles reden. »Ich bin Police Constable Janet Reynolds vom Vermisstendezernat, aber du kannst mich einfach Janet nennen. Und das hier« – der Mann neben ihr nickte mir knapp zu – »ist mein Kollege Simon Jenkins.« Sie endete mit einem leisen Lachen, das mich offensichtlich entspannen sollte. Aber das funktionierte nicht.

Vermisstendezernat? Das Wort hallte in meinem Kopf wider wie die Schulglocke, laut und schrill. Auf einmal wollte ich nur noch nach Hause. Ich wollte mich ins Bett legen, ein Buch lesen und so tun, als sei alles in Ordnung.

»Soll ich gehen?«, fragte ich Paul schnell. »Ich wollte eigentlich nur sehen, ob Danny hier ist.«

»Deshalb sind wir auch hier, Hannah.« Janet legte eine Pause ein, als warte sie darauf, dass ich etwas sagte. Ich starrte sie sprachlos an. Meine Gedanken rasten, und ich fühlte mich plötzlich so schuldig, als hätte ich etwas angestellt und es dann irgendwie vergessen. Oder gar nicht gemerkt.

Als Janet meine Verwirrung sah, fuhr sie fort. »Danny wurde seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen, Hannah. Wir versuchen herauszufinden, wo er sein könnte.«

Mein Herz pochte wie wild und die Welt begann sich zu drehen.

Es ist doch genau wie bei Mum, dachte ich. Es passiert noch einmal.

Ich schaute auf meine Füße hinunter und kämpfte gegen die Panik an, die mich zu überwältigen drohte. Unter dem Sofa sah ich eins von Alice’ Spielzeugen. Die weiche Lumpenpuppe, deren gelbes Haar man zu Zöpfen flechten konnte. Wo war Alice eigentlich? Bei einer Freundin? Vielleicht hatte Martha jemanden gebeten, auf sie aufzupassen.

»Also ist es gut, dass du hier bist, Hannah«, hörte ich Janet sagen. »Wir wollten sowieso mit dir reden. Wir hoffen nämlich, dass du uns helfen kannst.«

Ich zwang mich, den Blick zu heben. Sie zeigte auf einen freien Sessel und ich setzte mich.

»Soweit wir wissen, bist du die Letzte, die Danny gestern gesehen hat.«

Janet wartete, bis ich ihre Worte verarbeitet hatte, und fuhr dann fort: »Könnten wir dir ein paar Fragen stellen?«

Ich nickte. »Klar … kein Problem.«

»Willst du zuerst deinen Dad anrufen? Soll er vorbeikommen?«

Ich schaute Martha an. Sie kaute stirnrunzelnd auf ihrer Lippe herum. Aus Ungeduld, wie mir plötzlich klar wurde. Ich schüttelte den Kopf. Dad steckte irgendwo an der Uni in seinem Labor, bis über beide Ohren in Arbeit vergraben. Es würde eine Ewigkeit dauern, ihn ans Telefon zu kriegen.

»Nein, nicht nötig«, sagte ich.

»Wir sind ihre Paten«, fügte Martha schnell hinzu. »Hannah verbringt eine Menge Zeit bei uns.«

Janet schaute sie an und nickte dann. Ich beugte mich vor und klemmte die Hände zwischen den Knien ein, damit niemand sehen konnte, dass sie zitterten.

Ich war über eine Stunde lang bei den Gellers. Ich sagte den Polizisten alles, was ich wusste, was nicht viel war. Wo Danny und ich gestern Nachmittag gewesen waren, was wir gemacht hatten, was er gesagt hatte. Alles, woran ich mich erinnern konnte.

Janet stellte die Fragen. Ihr Kollege namens Simon schrieb alles in ein kleines Notizbuch, das er in seine Tasche steckte, als wir fertig waren. Sie wollten Details über Dannys Freunde wissen, darüber, wo er sich normalerweise aufhielt, wo er meiner Meinung nach stecken könnte. Sie fragten mich sogar, ob ich die Passwörter für seinen E-Mail- und Facebook-Account hätte, weil sie seine Nachrichten überprüfen wollten. Leider konnte ich ihnen da nicht weiterhelfen. Danny hatte sich online genauso weit von mir entfernt wie im realen Leben.

Während ich sprach, rieb Martha sich die Stirn und zog ihre Haut so weit zurück, dass sie extrem überrascht aussah. Ihre Angst drang wie Fieberwellen aus ihr heraus.

Ich versuchte immer wieder, ihren Blick zu erhaschen, aus Angst, ich könne etwas Falsches sagen. Angst, ich könne sie irgendwie enttäuschen. Aber als es vorbei war und Janet und Simon weggefahren waren, kam Martha zu mir und drückte mich kurz an sich.

»Entschuldige, Hannah. Wir reden später, okay? Jetzt muss ich Alice abholen.« Sie sprach hastig und rannte dann beinahe aus dem Zimmer.

Paul griff nach meinem Arm, während ich ihr nachstarrte. »Alles okay?«

ENDE DER LESEPROBE