Mein geniales Leben - Jenny Jägerfeld - E-Book

Mein geniales Leben E-Book

Jenny Jägerfeld

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Beschreibung

Sigge ist mit seiner Mutter und seinen Schwestern aus Stockholm in das abgelegene Skärblacka gezogen, in das kleine Hotel seiner Großmutter. Für Sigge ein Sechser im Lotto. Jetzt kann er sich selbst neu erfinden! Sein Ziel ist, ungeheuer beliebt zu werden – oder jedenfalls mit Leuten reden zu können, ohne dass sie ihn anstarren, als sei er ein Freak. Aber wie gewinnt man Freunde? Wie wird man beliebt? Jenny Jägerfeld erzählt mit Wärme und spritzigem Humor von Einsamkeit, Freundschaft und einem selbstbestimmten Leben. Ihre schrägen, liebenswürdigen Charaktere bevölkern ein verrücktes Ambiente: Kinderzimmer mit Flipperspiel, Jukebox und Cola-Automat, ausgestopfte Tiere vom Zebra bis zum räudigen Vielfraß – und mittendrin eine höchst originelle Großmutter in Glitzeroverall und High Heels. – Ein berauschendes Leseerlebnis mit Tiefgang! Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Kinderbuch.

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Sigge ist zwölf und einfach genial, wenn es nach seiner Mama geht. Bloß: Freunde hatte er noch nie in seinem Leben. Der Umzug in das originelle Haus seiner durchgeknallten Großmutter in Glitzeroverall und High Heels ist für ihn deshalb ein Sechser im Lotto: Jetzt kann er sich komplett neu erfinden! Aber wie wird man beliebt?

Sigge hat eine Menge Ideen, verwirft, probiert, scheitert, rappelt sich auf — und gewinnt schließlich eine wahre Freundin.

Jenny Jägerfeld erzählt mit viel Wärme und spritzigem Humor. Das Ergebnis ist ein berauschendes Leseerlebnis mit Tiefgang!

Jenny Jägerfeld

MEINGENIALESLEBEN

aus dem Schwedischenvon Birgitta Kicherer

Für alle Tiere, die ich jemals geliebt habe – die Hunde

Benjamin, Siddhartha, Tjifen und Dolly,

die Meerschweinchen Tarzan und Frasse,

die Katzen Michael und Toulouse, die Kaninchen

Turbolina, Stampelina und Fritz, sowie

die Schildkröte Carolina!

Inhalt

NOCH 59 TAGE EINE MAGISCHE HARPUNE

NOCH 58 TAGE WENN DIE HÖLLE ZU EIS GEFRIERT

MEIN ZOMBIEAUGE

NOCH 57 TAGE GUJKE UND JELLYBEANS

EIN HOFFNUNGSLOSER TYP

DAS PARADIES UND EIN AUSGESTOPFTER FISCHOTTER

NOCH 55 TAGE IN EINER MINUTE DREI TIEFKÜHL-WÜRSTCHEN AUFESSEN

AUS DER RATTE WURDE EIN KANINCHEN

NOCH 52 TAGE EINSTEIN, MEIN GELIEBTES PELZMÜTZCHEN

NOCH 51 TAGE NUR MIT EINER LEDERHOSE BEKLEIDET AUF DER STRASSE SITZEN UND WÜRFELN

NOCH 49 TAGE EIN JONGLIERENDES ÄFFCHEN

RACHE IST SÜSS!

NOCH 48 TAGE ZIGARETTEN ANBIETEN

EINE GEHEIME MILLION AUF DER BANK

HALLO, POLIZEI! MAN HAT MIR MEINEN GARTENZWERG GEKLAUT!

NOCH 45 TAGE EIN SCHEISSHAUFEN-EMOJI

GARTENZWERG AUF WELLNESS-URLAUB

NOCH 44 TAGE EIN FUCHS, DER MILKSHAKE TRINKT

KRILLE MARZIPAN

EINFACH SO SEIN, WIE MAN IST

NOCH 43 TAGE GIB MIR EINEN TRITT IN DEN HINTERN

DIE PARTYNERZE

NOCH 42 TAGE EIN LACHS-SMOOTHIE UND DREI GOLDKLUMPEN

NOCH 41 TAGE EINEM VIELFRASS DEN KAPUTTEN HINTERN REPARIEREN

NOCH 40 TAGE VERBRENN DEN BALL!

NOCH 38 TAGE SCHEISS-BANANE

NOCH 36 TAGE EIN DICKER SCHWARZER TROLL

NOCH 34 TAGE ICH WILL NICHT, DASS EINSTEIN TARZAN AUFFRISST

NOCH 31 TAGE ALLES FÜR DIE KUNST!

NOCH 28 TAGE SCHILDKRÖTE ENTKROCHEN!

DREI WÜTENDE TEUFELS-EMOJIS

NOCH 27 TAGE BAGUETTES, STINKEKÄSE UND MÄNNER MIT BASKENMÜTZEN

DER GLÜCKLICHSTE GARTENZWERG DER WELT

NOCH 22 TAGE EINE SCHILDKRÖTE AUF DEM GEPÄCKTRÄGER

EIN AFFE MIT ALZHEIMER

NOCH 21 TAGE NERZE AUF DEM KLO

ZWEI GEHEIMNISSE UND EIN FLIEGENDES KROKODIL

EIN WUNDERKERZENWUNDER

NOCH 20 TAGE WIE HELLROSA ZUCKERWATTE

NOCH 19 TAGE NUR ANDRASE IDIOT

NOCH 17 TAGE BONJOUR UND AUF WIEDERSEHEN!

NOCH 16 TAGE VOLL COOL

NOCH 14 TAGE MUSIKALISCHE SIAMKATZE SUCHT HUMORVOLLES PFERD

NOCH 9 TAGE INLINER MIT HACKFLEISCH

NOCH 8 TAGE DIE KATASTROPHE!

NOCH 6 TAGE MEIN WERTLOSES LEBEN

NOCH 5 TAGE EIN DREIFACHER WILDE

NOCH 3 TAGE HUNDERT MÖGLICHKEITEN, WIE ICH ALLES ANDERS HÄTTE MACHEN KÖNNEN

EIN FLATTERNDES VÖGELCHEN IN MEINER BRUST

NOCH 0 TAGE HALLO, SIGGE, HALLOHALLO!

GALA-PREMIERE

EPILOG EIN HÖLLISCHES WIEGENLIED

ZITATE IM TEXT

NOCH 59 TAGE

EINE MAGISCHE HARPUNE

Einfach so. Da auf dem Tisch zwischen angestoßenen Tellern, alten DVDs und zerzausten Barbiepuppen – eine Harpune. Eine Harpune aus dunklem, lackiertem Holz. Eine, mit der man Wale und Fische erlegt. Sie sah aus wie ein Gewehr, mit einem langen Lauf, aus dem eine Pfeilspitze aus silberblankem Stahl herausragte. Am Pfeilende war ein dünner Strick befestigt, und unter der Harpune saß eine Art Rad, auf dem der restliche Strick aufgerollt war, damit man die getroffene Beute aus dem Wasser ziehen konnte.

Und dabei hatte ich gedacht, der Ausflug zum Flohmarkt wäre total sinnlos. Und jetzt entpuppte er sich als das genaue Gegenteil.

»Was kostet die?«, fragte ich.

Der Mann hinter dem Tisch sah auf. Er hatte Arbeitskleidung an und putzte gerade seine Brille mit einem schmutzigen Taschentuch. Als er die Brille aufsetzte, wurden seine Augen sehr klein, wie hellblaue Hemdknöpfe.

»Was?«, fragte er. »Die Harpune?«

»Ja.«

Er überlegte eine Weile.

»Fünfhundert.«

Fünfhundert. Das war viel Geld. Zwar hatte ich fünfhundert Kronen, aber nicht dabei. Ich starrte die Harpune an. Der Pfeil glänzte in der Sonne. Ich musste sie einfach haben, ganz klar. Das war nicht nur die schönste Harpune, die ich je gesehen hatte (okay, es war auch die einzige Harpune, die ich je gesehen hatte), sie passte außerdem perfekt zu meiner nächsten Erfindung.

»Darling! Hier treibst du dich also herum!«

Bevor ich antworten konnte, landete eine Hand schwer auf meiner Schulter. Armbänder klirrten. Oma.

»Hast du etwas gefunden?«

Ich deutete mit dem Kopf auf die Harpune.

»Flott! Ich selbst habe soeben dieses Meisterwerk erworben!«

Widerstrebend löste ich den Blick von der Harpune und drehte mich zu Oma um.

Auf dem Transportkarren neben ihr war ein Gemälde festgezurrt. Ein Riesengemälde, mindestens so groß wie unser Küchentisch. Es sollte wohl einen Fuchs in einer Winterlandschaft darstellen. Besonders professionell konnte der Künstler, der das gemalt hatte, aber nicht sein. Der Fuchs hatte irgendwie verrutschte Proportionen. Die eine Vorderpfote erinnerte an ein dickes Stuhlbein, der Schwanz hatte die Form eines Eichhörnchenschweifs, und obwohl der Fuchs im Profil gemalt war, sah man beide Augen. Der Fuchs stand in einer Schneewehe und trank Wasser aus einem verblüffend rosaroten See.

»Wow!«, sagte ich.

»Nicht wahr!«, sagte Oma begeistert.

»Das ist wirklich …«

Ich suchte nach dem richtigen Wort.

» … einmalig.«

»Das ist ein Bruno Liljefors!«, erklärte Oma.

Der Mann hinter dem Tisch schnaubte.

»Wenn das ein Bruno Liljefors ist, dann bin ich Diego Maradona.«

»Guter Mann. Ich denke, ich habe vielleicht ein klein wenig mehr Ahnung von Kunst als Sie. Das hier ist ein Bruno Liljefors.«

»Und ich bin Maradona«, sagte der Mann. »Möchten Sie ein Autogramm?«

Oma ignorierte ihn, musterte das Bild mit einem zufriedenen Nicken und sagte:

»Sigge, du musst nämlich wissen, Bruno Liljefors ist der berühmteste Tiermaler Schwedens.«

»Echt?«, sagte ich.

»Der Fuchs sieht ja aus, als hätte er eine Handgranate verschluckt und wäre dann explodiert«, bemerkte der Mann.

»Es ist ein sehr früher Liljefors«, erklärte Oma gelassen. »Als der Künstler das gemalt hat, war er erst sechzehn. Das hat der Verkäufer gesagt. Wahrscheinlich beherrschte er sein Handwerk damals noch nicht so richtig.«

Der Mann kam hinter dem Tisch hervor und hockte sich vor das Bild hin.

»Rune Liljefors steht da!«

»Sind Sie blind, oder was? Sehen Sie nicht das große B?«, sagte Oma.

»Nie im Leben ist das ein B, das ist ein Fleck! Eine tote Fliege, die an der Farbe festklebt, oder was weiß ich!«

»Das ist ein B!«

»Na, von mir aus, aber Tatsache bleibt trotzdem, dass dieser Mensch dann Brune Liljefors heißt!«

»Er wird sich eben verschrieben haben, Herrgott noch mal!«, sagte Oma gereizt.

»Bei seinem eigenen Namen?«

»Mein lieber Mister Know-it-all«, sagte Oma, »das kann jedem mal passieren. Ich selbst hab Charlotte schon mal mit drei T geschrieben!«

Lächelnd drehte sie sich zu mir um.

»Jedenfalls ist das Bild bestens dafür geeignet, das Loch in der Wand damit abzudecken! Im Flipperzimmer. In deinem Zimmer, meine ich!«

»Perfekt«, sagte ich.

Ich streckte die Hand aus, berührte die Harpune vorsichtig. Das Holz unter meinen Fingern war blankpoliert und seidenweich.

»Oma, kannst du mir fünfhundert Kronen leihen? Du kriegst sie gleich zurück, wenn wir nach Hause kommen.«

»Fünfhundert! Ganz schön überteuert! So ein Wucherer! Er kriegt höchstens dreihundert.«

»Ich stehe hier«, sagte der Mann. »Ich höre alles.«

Ich wusste nicht genau, was Wucherer bedeutet, aber mir war klar, dass es nichts Gutes war.

»Sagen Sie mal«, sagte Oma und sah dem Verkäufer direkt in die kleinen Hemdknopfaugen. »Ist das hier eine magische Harpune?«

»Äh … nein.«

»Bekommt man als Dreingabe ein Motorrad?«

Der Mann hob fragend die Augenbrauen.

»Hat die Harpune etwa irgendwann mal Jesus gehört? Nein? Na dann! Ich gebe Ihnen dreihundert«, sagte Oma und begann in ihrer goldglitzernden Handtasche zu kramen.

Sie zog eine Brieftasche heraus und knallte drei Hunderter auf den überladenen Tisch. Drei Hundertkronenscheine, die sofort von einem Windstoß aufgefangen wurden und rasch durch die Luft davonwirbelten.

»Oh dear!«, schrie Oma. Ich rannte hinter den Scheinen her, die natürlich in drei verschiedene Richtungen davonflatterten. Als es mir gelang hochzuhüpfen und einen der Hunderter in der Luft zu fangen, war ich von mir selbst recht beeindruckt. Ich glaube, ich bin noch nie so hoch gesprungen! Ich musste an den Wettkampf in Leichtathletik denken, den wir vor einem Monat in meiner alten Schule gehabt hatten. Wie ich im Hochsprung die Latte schon bei siebzig Zentimetern gerissen hatte. Mein Sportlehrer hatte geseufzt und gesagt: »Was machen wir nur mit dir, Sigge? Hör auf zu denken! Spring einfach! Vergiss deinen Kopf und überlass alles deinem Körper!«

Jetzt hatte ich die Antwort! Geld! Wenn mein Lehrer auf der anderen Seite dieser stinkenden Turnmatte mit einem Hunderter gewedelt hätte, wäre ich mühelos mindestens über eins zwanzig rübergeflogen!

»Hör auf zu denken« ist übrigens einer der schlechtesten Ratschläge, die ich je bekommen habe. Ich hab es versucht, aber es ist einfach unmöglich, mit dem Denken aufzuhören.

Der zweite Hunderter war in einem stachligen Gestrüpp hängen geblieben und ließ sich leicht abpflücken, aber der dritte war davongeflogen und verschwunden.

»So. Ich hab es mir anders überlegt. Sie bekommen zweihundert«, sagte Oma, als das finanzielle Chaos sich gelegt hatte.

»Mindestens vierhundert will ich haben«, sagte der Mann.

»Sie bekommen zwei.«

»Dreihundertfünfzig.«

»Zwei.«

»Dreihundert.«

»Gebongt«, sagte Oma, nahm die Harpune vom Tisch und reichte sie mir.

Ich stellte erstaunt fest, wie schwer sie war, und wurde von einem so starken Glücksgefühl erfüllt, dass mir tatsächlich Tränen in die Augen kamen.

»Aber den letzten Hunderter müssen Sie sich selbst holen. Der ist irgendwo dort drüben«, erklärte Oma und wedelte mit ihrer ringgeschmückten Hand vage in Richtung Horizont.

NOCH 58 TAGE

WENN DIE HÖLLE ZU EIS GEFRIERT

»Du musst dir die Haare schneiden lassen«, sagte Mama.

»Nein, muss ich nicht.«

»Auf jedem Foto, das ich seit Mittsommer von dir gemacht habe, hängen dir die Haare übers Gesicht! Man sieht ja gar nicht mehr, wie du aussiehst!«

»Du weißt doch, wie ich aussehe?«

Ich saß auf dem Fußboden und bohrte meine Finger in Einsteins weiches Fell. Kraulte ihn hinter den Ohren und beobachtete, wie er genießerisch die Augen schloss, wie er den Kopf zurücklehnte und die große schwarze Schnauze in die Luft streckte, als wäre er ein Wolf, der gleich losheulen wollte.

»Man sieht deine Augen nicht mehr«, beschwerte Mama sich.

Rein technisch gesehen hatte sie nicht recht. Sie hätte sagen sollen: Man sieht dein Auge nicht mehr. Das andere Auge war nämlich ohne Weiteres zu sehen. Ich hatte die Haare schräg abgeschnitten, sodass sie mir nur über das eine Auge fielen.

Mama wischte sich die Hände an der Schürze ab und versuchte es auf die sanftere Tour:

»Und dabei hast du so schöne Augen.«

»Mhmm.«

»Darf man die denn nicht sehen?«

»Heißt das, du würdest mich in Ruhe lassen, wenn ich hässliche Augen hätte?«

Plötzlich ging die Küchentür auf und Oma trat ein, eine Zigarette im Mundwinkel und ein ausgestopftes Wiesel unterm Arm. Sie sah sich um, als würde sie etwas suchen, und stellte dann das Wiesel auf der Spüle ab.

»Also bitte, liebste Charlotte«, sagte Mama mit angeekelter Miene. »Musst du dieses räudige Vieh unbedingt hier abstellen, wenn ich beim Kochen bin?«

»Geduld, Darling! Ich will nur das Nähzeug holen. Hast du es irgendwo gesehen?«

Oma warf die Kippe ins Spülbecken und öffnete die Tür zur Speisekammer.

»Nein, und dort wird es ja wohl kaum zu finden sein.«

»Pavlovs Kopf ist oben ein bisschen aufgeplatzt. Ich brauche Sattlergarn oder sonst was Kräftiges, vielleicht eine Art Faden aus Metall? Dieser Faden, den du neulich besorgt hast, hat meinen Erwartungen nämlich nicht entsprochen.«

Oma beugte sich vor wie ein Klappmesser und öffnete einen Schrank, den sie durchwühlte. Ich glaube, sie kann gar nicht in die Hocke gehen. Jedenfalls habe ich das noch nie beobachtet.

»Tut mir echt leid«, sagte Mama säuerlich.

»Das war keine Kritik, Darling, das war nur eine Information.«

Ich trat vor zu Pavlov dem Wiesel und berührte vorsichtig seinen Kopf an der Stelle, wo die weißgraue flauschige Füllung hervorquoll, als würde sein Gehirn aus Fusseln bestehen. Mama hackte mit hastigen, gereizten Bewegungen weiter Zwiebeln und sagte:

»Jedenfalls habe ich morgen einen Termin zum Haareschneiden für dich ausgemacht.«

»Den kannst du gleich wieder absagen«, antwortete ich. »Ich lass mir nämlich nicht die Haare schneiden.«

Einstein knuffte mich mit seiner feuchten Schnauze am Arm, um mich daran zu erinnern, dass ich weiterkraulen sollte.

»Warum muss Sigge sich die Haare schneiden lassen?«, fragte Oma.

»Weil man sonst sein Gesicht nicht mehr sieht.«

»Warum sollte jemand sein Gesicht sehen wollen?« Oma lächelte und kniff mir in die Wange. »Das war ein Scherz, Darling, das begreifst du natürlich, wo du doch so intelligent bist. Dein Gesicht ist ganz entzückend. Müsste als Briefmarke erscheinen.«

»Wie auch immer, morgen um zwei hast du einen Termin beim Friseur, Sigge. Bitte, Mama, kannst du ihn hinbringen? Ich habe morgen ein Vorstellungsgespräch.«

»Charlotte, wenn ich bitten darf.«

»Von mir aus, Charlotte«, sagte Mama mit ziemlich angespannter Stimme. »Kannst du ihn hinbringen?«

Oma will weder Mama noch Oma genannt werden. Sie behauptet, in diesen Worten liege die eingebaute Erwartung, dass sie sich um uns kümmern werde, und das habe sie nicht vor. Es sei ja nicht so, dass sie das gar nicht wolle. Das wolle sie durchaus – aber nur ab und zu! Es solle vor allem nicht als selbstverständlich gelten. Das hatte sie sich erst vor Kurzem ausgedacht, darum hatten wir uns noch nicht so recht daran gewöhnt.

Ihr Name wird mit englischem Akzent ausgesprochen: Chaaarlott. Oma ist zur Hälfte Britin, zu einem Viertel Deutsche und zu einem Viertel Norwegerin. Und zu hundert Prozent durchgeknallt, fügt Mama meistens hinzu. Aber Oma behauptet, Mischlinge wären schlauer als reinrassige Tiere. Für mich ist das nur gut. Ich bin zur Hälfte Australier, zu einem Viertel Schwede, zu einem Achtel Brite, zu einem Sechzehntel Deutscher und zu einem Sechzehntel Norweger. Aber wenn ich ehrlich sein soll, fühle ich mich vor allem als Schwede.

»Er kann doch allein zum Frisör gehen, er ist immerhin zwölf«, sagte Oma.

»Ich weiß, dass er allein gehen kann. Das Problem ist nur, dass er nicht allein gehen wird, weil er sich die Haare nicht schneiden lassen will.«

»Aber Hannah, dann verstehe ich wirklich nicht, warum du ihn beim Friseur angemeldet hast?«

»Ich glaube, es tut ihm nicht gut, wenn er sein schwaches Auge nicht trainiert!«

»Oh dear! Ich wusste gar nicht, dass Haare so ein heikles Thema sein können.«

Plötzlich läutete das Telefon. Ein altes rotes Plastikding mit langem Ringelkabel, das im Flur an der Wand hing.

»Saved by the bell«, sagte Oma und zwinkerte mir zu, bevor sie abnahm und in ihre professionelle Stimme wechselte:

»The Royal Grand Golden Hotel Skärblacka, Charlotte speaking!«

Oma schwieg kurz, nickte und hörte zu.

»Nein, bedaure. Es tut mir wirklich leid, aber das Hotel ist momentan total ausgebucht. Den ganzen Sommer, ja. Alle Zimmer. Hoffentlich finden Sie etwas anderes. Vielen Dank, dass Sie an The Royal Grand Golden Hotel in Skärblacka gedacht haben! Bye-bye.«

Sie hängte den Hörer in die Gabel zurück.

Mama hob misstrauisch die Brauen.

»The Royal Grand Golden Hotel Skärblacka. Heißt es wirklich so?«

»Ja, ganz genau so. Ich habe vor Kurzem den Namen geändert. Hotel Skärblacka klang ja unerträglich spießig.«

»Aber«, sagte Mama, »The Royal Grand Golden Hotel … ist das nicht ein bisschen zu großartig? Fast eine Lüge?«

»Finde ich nicht. Es ist doch tatsächlich das größte Hotel in Skärblacka.«

»Es ist das einzige Hotel in Skärblacka!«

»Ganz genau!«, stellte Oma lächelnd fest. »Und damit auch das größte und das großartigste.«

Mama rollte mit den Augen, dann schob sie die Zwiebeln vom Schneidebrett in die Bratpfanne, wo sie sofort zu brutzeln anfingen.

»Übrigens«, sagte Oma. »Ich kann ihm die Haare schneiden, wenn das so wichtig ist. Das Geld kannst du dir sparen.«

»Ja, gute Idee«, meinte Mama, die immer scharf darauf war, Geld zu sparen. »Aber kannst du das denn überhaupt?«

»Selbstverständlich. Schließlich hab ich Einstein jeden Sommer getrimmt, das ist nicht besonders schwierig. Und dir fällt es bestimmt leichter als Einstein, stillzuhalten, nicht wahr, Sigge? Hinterher kriegst du dann auch ein bisschen Frolic, wenn du willst.«

»Bitte, Sigge?« Mama sah mich flehend an.

»When hell freezes over«, sagte ich, das hatte ich nämlich mal in einem Film gehört. Es bedeutet »wenn die Hölle zu Eis gefriert«. Was so viel heißt wie nie.

MEIN ZOMBIEAUGE

Ja. Ich habe ein schwaches Auge. Ich schiele. Das bedeutet, dass mein eines Auge immer auf meine Nase zu gucken scheint, obwohl ich das nicht will. Als ich kleiner war, hatte ich eine Augenklappe. Die saß vor dem starken Auge, weil das schwache trainiert werden sollte. Sonst bestand die Gefahr, dass das starke Auge alle Arbeit übernehmen und das Gehirn das schwache Auge abkoppeln würde, und dann wäre ich einäugig. Oder ich hätte zwar immer noch zwei Augen, aber das eine Auge wäre wertlos und fast blind.

Ich hasste die Augenuntersuchungen und ich hasste die Augenklappe. Jedes Mal, wenn die ausgewechselt wurde, fühlte es sich an, als würde man mir die ganze Augenbraue abreißen.

Die Klappe war beige, hautfarben. Wie ein Pflaster. Echt beschissen. Erstens bin ich nicht beige. Und zweitens war sie kein bisschen unauffällig. Genauso gut hätte ich sagen können: Hallo! Ich hab hier kein Auge! Sieht man doch, oder?

Als Oma einmal vor vielen Jahren meine Babysitterin war, bat ich sie, ein Auge auf die Klappe zu malen. Ich hoffte, dann würde die Klappe weniger auffallen. Oma nahm die Aufgabe ernst und holte Opas winzig kleine Farbdöschen hervor. Damit hatte er die kleinen Häuser und Figürchen für seine geliebte Modelleisenbahn bemalt, die im Keller stand.

Oma erlaubte sich einige künstlerische Freiheiten, das muss man schon sagen. Sie malte nämlich ein Zombieauge auf die Klappe. Ein Auge, rund wie ein Tischtennisball, das aus der Augenhöhle herauszukullern schien, nur von einem kleinen roten Hautfetzen festgehalten. Die Iris hatte die gleiche Farbe wie meine eigenen Augen, dunkelgrün mit einem goldbraunen Ring. Aber rings um die Iris hatte Oma rote Striche gemalt, als wäre das Auge blutunterlaufen. Mir gefiel es, obwohl es nicht ganz so wurde, wie ich es mir vorgestellt hatte. Dass ich mich so deutlich daran erinnere, hat damit zu tun, dass am folgenden Montag in meiner Vorschule Schulfotos gemacht wurden. Mama war nicht begeistert. Aber Oma umso mehr. Sie bestellte eine Unmenge Abzüge und außerdem noch Klebebildchen und Kühlschrankmagnete mit meinem Porträt und verschenkte sie an die Verwandtschaft. Das Weihnachtsgeschenk des Jahres, wie sie es nannte. In unserer früheren Wohnung in Stockholm saß so ein Magnet am Kühlschrank. Oma hat hier in Skärblacka drei Stück am Kühlschrank kleben und im Wohnzimmer ein großes gerahmtes Foto hängen. Es ist ihr Lieblingsbild von mir.

Nur eine Sache hasse ich mehr als die Augenklappe, und zwar die Tatsache, dass ich immer noch schiele. Wenn ich meine Brille aufsetze, schiele ich nicht. Jedenfalls nur sehr wenig. Das Dumme mit der Brille ist nur – sie ist affenscheußlich. Das Gestell ist aus beigefarbenem Kunststoff, und die Gläser sind so dick wie Flaschenböden und vergrößern die Augen ganz gewaltig. Ich sehe wie ein Minion aus, wenn ich die Brille aufhabe. Sorry. Ich mache Witze, das mach ich meistens, wenn ich über mein Schielauge spreche, aber eigentlich möchte ich nur heulen. Denn soll ich euch ein Geheimnis verraten? Ich würde später am liebsten mal fürs Fernsehen arbeiten. Als Moderator für zum Beispiel Die Tierklinik. Oder noch lieber für irgendeine Sendung, die mit Erfindungen zu tun hat. Wo Kinder sich Ideen für lustige Maschinen oder Apps ausdenken und sie dann auch ausführen dürfen. Aber habt ihr jemals einen schielenden Fernseh-Moderator gesehen? Nein. Das habt ihr nicht. So jemand kriegt beim Fernsehen nämlich keinen Job. Der muss denn eben beim Rundfunk arbeiten oder in irgendeinem beschissenen Büro, wo ihn niemand sieht. Das ist der Grund, warum ich mir die Haare bis weit übers Auge hab wachsen lassen – weil ich mein Auge verbergen will. Lieber hacke ich mir mit einer Axt ins Bein, als dass ich mir die Haare schneiden lasse.

NOCH 57 TAGE

GUJKE UND JELLYBEANS

Vor ICA, dem Supermarkt, nahm Oma einen Einkaufswagen und setzte Bobo hinein. Bobo wollte nie im Kindersitz sitzen, sondern immer ausgerechnet im Warenkorb. Oma rannte ein paar Schritte, dann hängte sie sich über den Wagen und hob die Füße hoch. So rollten sie in den Laden. Bobo lachte laut. Ich folgte in einigem Abstand. Es war ein bisschen peinlich, aber eigentlich kannte ich ja niemanden hier. Noch nicht. Oma dagegen kannte viele. Jedenfalls begrüßte sie jeden, der vorbeiging. Manche grüßten zurück, andere glotzten nur. Ich sah, wie sie einander etwas zuflüsterten. Aber so was lässt Oma kalt.

»Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die schlimmer ist, als dass die Leute über dich reden, und zwar, dass sie nicht über dich reden«, hat Oma einmal bemerkt.

Wer Oma einmal begegnet ist, vergisst sie nicht so schnell. Sie sieht nicht unbedingt wie eine ältere Dame um die fünfundsechzig aus. An diesem Tag trug sie eine enge schwarze Hose aus Leder, hochhackige grüne Schuhe und eine Bomberjacke mit Silberpailletten. Lange graue Haare, mindestens fünf klirrende goldene Ketten um den Hals und roten Lippenstift.

»So«, sagte Oma, als sie die Füße wieder auf den Boden gestellt hatte. »Was brauchen wir?«

Bobo deutete auf die Erdbeeren.

»Erdbeeren, ja, die brauchen wir dringend«, bestätigte Oma.

Bobo deutete auf eine dunkelgrüne Wassermelone, die fast so groß war wie ein Strandball.

»Eine Wassermelone, die brauchen wir auch!« Oma wuchtete die Melone in den Wagen, wo sie mit einem schweren Plumps zwischen Bobos Beinen landete.

Ich fand es super, mit Oma einzukaufen. Das fanden wir alle, Majken und Bobo auch. Darum begleiteten wir Oma jedes Mal, wenn sie einkaufen ging. Majken, die ohne Weiteres den Titel »die flinkste Maus Schwedens« hätte gewinnen können, war schon in den Laden vorausgerannt. Wahrscheinlich stand sie jetzt bei den Süßwaren vor den Behältern mit den losen Süßigkeiten und futterte die Bonbons, die auf den Boden gefallen waren. Das machte sie oft. »DIE WERDEN JA SOWIESO WEGGEWORFEN!«, erklärte sie dann. Mama drehte fast durch, wenn Majken sich so benahm, aber Oma schien das kein bisschen zu stören.

Oma schreibt nie eine Liste, bevor sie zum Einkaufen fährt, sondern kauft einfach, was ihr gerade einfällt. Das finden wir ganz besonders toll. Mama dagegen hat immer eine äußerst wohlüberlegte Liste dabei. Die Sachen, auf die sie verzichten kann, falls es zu teuer wird, stehen in Klammern. Auf keinen Fall kauft sie etwas, das nicht auf der Liste steht, da kann man noch so viel betteln. Vor allem jetzt nicht, wo sie arbeitslos ist. Aber Oma braucht man gar nicht erst zu fragen. Man legt einfach das, was man haben will, in den Einkaufswagen. Und solange keine komischen Zusätze auf der Verpackung stehen, so was wie E-314 oder so, kauft Oma es.

Natürlich war ich früher schon mal in diesem Laden gewesen, aber immer nur, wenn wir Oma besucht hatten. Jetzt dagegen würden wir ja hier wohnen und in Zukunft immer in genau diesem Supermarkt einkaufen. Mir lief schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an all die leckeren Sachen dachte, die es bei uns zu essen geben würde.

Das war ein weiterer Punkt auf meiner Liste über die Vorteile unseres Umzugs. PUNKT 1: Ein eigenes Zimmer. PUNKT 2: Nach Herzenslust einkaufen dürfen. Aber am wichtigsten war PUNKT 3: Neuanfang.

Der Umzug nach Skärblacka bedeutete nämlich auch: Ich würde mich selbst rebooten können. Ein neuer Mensch werden. Ich hatte vor, beliebt zu werden. Unglaublich beliebt. Die Leute sollten bei meinem Anblick kreischen und ohnmächtig umfallen, ich wollte Autogramme schreiben, meine Fans sollten Selfies mit mir machen und dann kichernd davonrennen. Ich wollte werden wie Kanye West oder Beyoncé. Okay, das war vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen. Ich wäre ja schon zufrieden, wenn ich mit anderen Leuten reden könnte, ohne wie ein Freak angegafft zu werden. Oder wenn ich im Sportunterricht in eine Mannschaft gewählt werden würde. Es wäre auch nicht schlecht, wenn die anderen mir ab und zu zuhören würden, oder wenn sie sich im Speisesaal mal neben mich setzen wollten.

Das war in Stockholm nicht unbedingt der Fall gewesen. An und für sich hatte ich in Stockholm einen Freund gehabt, Valter, aber wenn ich etwas sagte, hatte er nicht direkt übertrieben aufmerksam zugehört. Manchmal waren wir nach der Schule zusammen nach Hause gegangen. Hatten uns dann und wann ein paar SMSe geschickt und ein seltenes Mal am Wochenende getroffen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, er war vor allem darum mit mir zusammen, weil er sonst keinen Freund hatte, und nicht, weil er mich so unglaublich cool fand.

Mama behauptet immer, ich sei »ein einmaliger Junge«, ich sei »anders« und »speziell«. Aber eigentlich ist das wohl nur eine freundlichere Art zu sagen, dass ich irgendwie komisch bin.

Ich hatte genau sechzig Tage Zeit, um ein neuer Mensch zu werden. Oder inzwischen eher siebenundfünfzig Tage. Dann waren die Sommerferien zu Ende und ich würde in meiner neuen Schule anfangen. In der Mosstorpschule. Klar, es würde nicht einfach werden, das eigene Leben in siebenundfünfzig Tagen zu verändern, aber total unmöglich dürfte es eigentlich auch nicht sein. Wenn man zum Mond fliegen kann, sollte man doch auch beliebt werden können? Oder?

Wir hatten die Gemüseabteilung noch nicht einmal hinter uns gelassen, als Bobo bereits in den vielen Wassermelonen, Salatköpfen, Maiskolben und Erdbeerkartons zu ertrinken drohte, die Oma in den Wagen gelegt hatte.

»Gujke!«, rief Bobo und deutete eifrig auf einen großen Berg Gurken.

Bobo liebt Gurken, und das ist ehrlich gesagt auch eines der wenigen Wörter, die sie wirklich sagen kann. Für jemand, der im Dezember vier wird, ist das vielleicht nicht gerade eine Meisterleistung, aber wir freuen uns jedes Mal, wenn sie überhaupt spricht. Bobo liebt Gurken mehr als alles auf der Welt. Oder, nein, am meisten liebt sie natürlich Mama und Majken und mich. Aber dann kommen bestimmt Gurken. Manchmal glaube ich fast, sie liebt Gurken mehr als ihren eigenen Vater.

Bobo und Majken haben einen anderen Vater als ich. Svedrik. So heißt er. Hast du Fredrik gesagt? Nein, Svedrik! Und auch wenn Svedrik in Bobos und Majkens Leben häufiger präsent ist als mein Vater in meinem eigenen Leben (nachdem ich meinen Vater exakt null Mal getroffen habe), würde er wohl nicht gerade zum Vater des Jahres nominiert werden. Svedrik ist nett und immer gut gelaunt und umarmt einen wie ein großer lieber Bär. Aber irgendwie fehlt bei ihm die action. Er findet viele Dinge extrem schwierig. Sich einen Job zu besorgen, zum Beispiel. Den Abwasch zu machen ebenfalls. Und aufzuräumen. Und Essen zu kochen. Und einzukaufen und Bobo die Windeln zu wechseln und überhaupt von der Couch aufzustehen, um Majken von der Schule oder Bobo von der Vorschule abzuholen. Schließlich wurde es Mama zu dumm. Sie musste mehr oder weniger alles allein erledigen. Sie erklärte, es sei, als wäre sie die Mutter von vier Kindern, nur dass eins der Kinder einen Bart hatte und Bier trank.

Darum machte sie mit Svedrik Schluss. Was wohl in Ordnung war, nehme ich an. Nur gehörte die Wohnung, in der wir lebten, Svedrik, und eine eigene Wohnung konnte Mama sich nicht leisten. Als Krankenschwester mit drei Kindern, einem riesigen Hund, zwei Rosettenmeerschweinchen namens Tarzan und Frasse und einer Schildkröte kriegt man offenbar keinen anständigen Kredit bei der Bank. »Und das, obwohl man sein Leben lang alle Rechnungen pünktlich bezahlt hat!«, wie Mama enttäuscht ausrief.

Darum sind wir jetzt umgezogen. Zu Oma in ihr großes gelbes Haus in diesem Nest namens Skärblacka oder kurz »Blacka«, das in der Nähe von Norrköping liegt, wo alle … ja … wie soll ich sagen: ein bisschen eigenartig reden. Der komische Dialekt ist wahrscheinlich der einzige Nachteil von Skärblacka. Und dass es hier eine gigantische Papierfabrik gibt, die das ganze Dorf manchmal in eine Wolke hüllt, die nach Kacke stinkt.

Als wir bei den Süßigkeiten ankamen, war Majken tatsächlich dort. Aber sie sammelte keine Bonbons auf. Stattdessen sahen wir, wie sie etwas aus einer kleinen Schachtel in eine der durchsichtigen Bonbonschütten leerte.

»Was machst du da?«, fragte ich.

Majken drehte sich zu uns um. Ihr sommersprossiges Gesicht strahlte. Sie versuchte zu flüstern, doch das liegt ihr nicht. Ihre Stimme eignet sich nicht für Geflüster.

»ICH MACHE EINEN STREICH!«

»Aha«, sagte Oma voller Interesse. »Was für einen Streich denn?«

Majken hielt kichernd die Schachtel hoch, damit wir lesen konnten: Bertie Botts Every Flavour Beans.

»Aber Majken!«, sagte ich.

»ICH HAB DIE ALLE ZU DEN JELLYBEANS GELEERT!«

»Was ist das überhaupt?« Oma streckte die Hand nach Majkens Schachtel aus.

»DAS IST AUS HARRY POTTER, DA GIBT ES ALLE GESCHMACKSSORTEN AUF DER WELT! EIN GRÜNES KANN NACH ROTZ ODER NACH APFEL SCHMECKEN, KOMMT GANZ DARAUF AN, WELCHES MAN ERWISCHT. DIE SEHEN ALLE GLEICH AUS. MANCHMAL SCHMECKEN SIE NACH REGENWURM, OHRENSCHMALZ ODER KOTZE. ABER MANCHMAL HAT MAN GLÜCK UND KRIEGT EINS, DAS NACH ZITRONE SCHMECKT! ICH HAB SIE VON MEINER FREUNDIN IN STOCKHOLM BEKOMMEN. UND DIE HAT SIE IM HARRY POTTER-MUSEUM IN LONDON GEKAUFT!«

»Oh dear. Ohrenschmalz und Kotze, das klingt nicht allzu appetitlich«, sagte Oma und gab Majken die Schachtel zurück.

»ICH WEISS! DARUM HAB ICH SIE JA HIER REINGELEERT!«

»Du hättest sie mir geben können«, sagte ich. »Ich liebe Jellybeans. Die Ekligen kann man doch einfach ausspucken, oder?«

»ICH MACH MIT MEINEN JELLYBEANS, WAS ICH WILL!«

»Aber trotzdem«, sagte ich verärgert.

»Das hier ist ein total unnötiger Streit«, sagte Oma. »Ich kann dir neue kaufen, Sigge.«

Wir sahen in die durchsichtige Bonbonschütte, die bis an den Rand mit leuchtend bunten Jellybeans gefüllt war. Ich öffnete den Deckel und rührte mit einer Plastikschippe darin herum. Es war unmöglich, die Harry Potter-Beans von den anderen zu unterscheiden.

»Darf ich mir vielleicht eine andere Sorte Süßigkeiten aussuchen?«, fragte ich hoffnungsvoll und sah zu Oma auf.

»Tut euch keinen Zwang an, Darlings«, sagte Oma mit einem ermunternden Kopfnicken zum Süßwarenregal hin. Und dabei war heute nicht einmal Samstag, der offizielle Süßigkeitentag.

Majken und ich wurden ganz wild! Wir füllten unsere Tüten mit mindestens je einem halben Kilo Süßkram. Bobo dagegen war mit ihrer Gujke hochzufrieden.

Wie gesagt: Mit Oma einkaufen ist toll!

EIN HOFFNUNGSLOSER TYP

Mama traf meinen biologischen Vater, als sie in Australien und Neuseeland als Backpackerin unterwegs war. Backpack bedeutet Rucksack auf Englisch, und Backpacker sein handelt eigentlich nur davon, dass man mit einem Rucksack durch die Welt reist. Da wohnt man nicht in irgendwelchen Luxushotels, sondern eher in Jugendherbergen, wo es Wanzen gibt.

Damals hatte Mama einen Job als Kellnerin in einem Lokal auf der Insel Kangaroo Island, und dort lernte sie meinen Vater kennen. Er war Koch, und sie verliebte sich bis über beide Ohren in ihn. Er hatte schulterlange schwarze Locken und die schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie behauptet, die hätte ich von ihm geerbt.

Sie waren genau sieben Wochen zusammen, dann musste Mama wieder nach Schweden zurück. Kaum hatte sie in Stockholm das Flugzeug verlassen, musste sie sich übergeben. Wie eine Fontäne kam alles hoch. Zuerst dachte sie, sie hätte sich den Magen verdorben, aber als die Kotzerei nach ein paar Tagen nicht aufhörte, sah sie ein, dass sie schwanger war. Mit mir!

Sie war zwar erst zwanzig, wusste aber gleich, dass sie mich behalten wollte, obwohl keine ihrer Freundinnen ein Kind hatte.

Außer wie seine Haare und Augen aussehen, weiß ich genau fünf Dinge über meinen Vater. 1. Er heißt Jonathan Taylor. 2. Er ist ein hoffnungsloser Typ (das hat Mama mir nicht so direkt gesagt, aber ich hab gehört, wie sie am Telefon über ihn geredet hat). 3. Er hat ein Piercing in der Zunge, das sieht von oben aus wie ein blaues Bonbon und von unten wie eine runde Metallkugel. 4. Er ist nicht sehr groß. 5. An einem Tag, als das Lokal geschlossen war, hat er ein märchenhaftes Gericht für Mama gekocht. Sie durfte auf der Terrasse sitzen, mit Blick aufs Meer, während die gelben, roten und blauen Lampions im Wind schaukelten. Er tischte das beste Hühnchen auf, das sie je gegessen hatte (das war, bevor sie Vegetarierin wurde), und als Nachtisch gab es einen Apfelkuchen, den er mit ihrem Namen, »Hannah«, aus lauter Apfelstückchen verziert hatte, dazu ringsum ganz viele Herzen. Also scheint er ja auch ziemlich verknallt in sie gewesen zu sein.

Mein Vater weiß, dass es mich gibt. Das hat Mama mir gesagt. Aber er hat nie den Wunsch geäußert, mich kennenzulernen. Klar, er wohnt ja auf der anderen Seite der Welt, da kann man sich natürlich nicht alle zwei Wochen sehen, aber man könnte vielleicht skypen, mal eine Mail schicken oder so. Aber dazu hat er sich nie aufgerafft. Mama sagt, ich soll mir nichts daraus machen. Sie habe Liebe genug für zwei Eltern und sogar mehr.

Meine Lehrerin hat einmal gesagt, das, was man nie gekannt hat, kann man nicht vermissen. Sie erzählte, sie sei ohne Mutter aufgewachsen. Die sei nämlich gestorben, als sie selbst noch ein kleines Baby war. Aber mir war sofort klar: Das stimmt nicht. Ich habe meinen Vater vermisst. Oder, vielleicht nicht direkt meinen Vater, weil ich ja nicht weiß, wie er ist (bis auf diese fünf Dinge). Aber einen Vater habe ich auf jeden Fall vermisst. Zwar war Svedrik da, aber das ist nicht dasselbe. Wir haben nicht die gleichen Augen. Wir sind uns in keiner einzigen Sache ähnlich.

Vielleicht irre ich mich total, aber manchmal denke ich, wenn es in meinem Leben einen Vater gegeben hätte, hätte ich nie solche Probleme mit Freunden und so gehabt. Vielleicht hätte ich mich dann nicht so komisch gefühlt? Nicht so verkehrt. Vielleicht hätte er mir beibringen können, wie man alles richtig macht? Vielleicht.

DAS PARADIES UND EIN AUSGESTOPFTER FISCHOTTER

Obwohl Mama behauptete, der Umzug zu Oma sei eine Notlösung, war er für mich ein Umzug ins reinste Paradies! Auch für die Tiere war es hier viel besser. Einstein durfte öfter frei herumrennen, Tarzan und Frasse bekamen einen viel größeren Käfig, und die Schildkröte Carolina konnte in ihrem Gehege draußen im Freien sein. Oma hatte es rechtzeitig bis zu unserem Einzug gebaut. Es war zwei mal zwei Meter groß und hatte keinen Boden, so konnte Carolina mit ihren Schildkrötenfüßchen direkt auf dem Gras laufen.

Bestimmt fanden Majken und Bobo den Umzug auch gut, obwohl sie in Stockholm garantiert nicht so sehr gelitten hatten wie ich. Außer dem guten Essen, das es bei Oma gab, fanden wir es alle super, dass jeder von uns hier sein eigenes Zimmer hatte. In Stockholm hatte Bobo bei Mama und Svedrik geschlafen, und Majken bei mir im Zimmer. Das Zimmer hatten wir zwar mit einem Bücherregal abgeteilt, aber das war nicht so ideal. Majken ist acht, also vier Jahre jünger als ich. Außerdem brachte sie immer ihre Freundinnen mit nach Hause, und wenn die im Zimmer waren, konnte man fast nicht denken. Majken redet schrecklich laut. Ihre Freundinnen in Stockholm redeten genauso laut, aber wahrscheinlich nur, weil sie Majken übertönen wollten. Wenn die Freundinnen allein waren, redeten sie ganz normal.

Als Majken klein war, ging Mama mit ihr zum Arzt, weil die Erzieherinnen in der Vorschule meinten, Majken wäre taub. Sie sprach nämlich nicht nur wahnsinnig laut, sondern schien auch kaum zu hören, was andere Leute sagten. Aber nach dem Test erklärte der Arzt, Majken hätte ein Gehör wie ein Walfisch. Walfische können offenbar Geräusche von der anderen Seite des Atlantiks hören. Der Arzt hat vielleicht ein bisschen übertrieben, aber Majken hört tatsächlich das Rascheln einer Bonbontüte über mehrere Zimmer hinweg. Das ist sozusagen ihre Superkraft. Majken selbst hat erklärt: »WAHRSCHEINLICH HÖRE ICH VOR ALLEM DANN NICHT SO GUT, WENN MIR JEMAND WAS VERBIETEN WILL.«

Wenn Majkens Stimme durch Mark und Bein geht, wie Oma immer sagt, ist es mit Bobo gerade umgekehrt. Sie spricht fast überhaupt nicht. Sie kann nur dreißig oder vierzig Wörter sagen. Ihre häufigsten sind: Gujke, Hallohallo, neinnein, Mama, Sigge, Maje (bedeutet Majken) und fetti (bedeutet fertig, das schreit sie, wenn sie auf dem Klo gewesen ist). Und dann kann sie noch viele Tiernamen, Tiere sind ihr größtes Interesse. Außer Gurke, natürlich. Aber obwohl sie nicht viel reden kann, scheint sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Mama ist weniger zufrieden. Sie macht sich Sorgen, weil Bobo so »eine Spätentwicklerin« sei.

In Stockholm ging Bobo zu einer Logopädin. Das gefiel ihr, weil es da große Buchstaben aus Samt gab, die waren wie Schmusetiere, mit Augen und Mündern und allem Drum und Dran. Und außerdem machte die Logopädin immer so verrückte Töne, in der Hoffnung, dass Bobo die nachahmen würde. Was sie aber nicht tat.

Aber immerhin scheint Bobo zu verstehen, was man zu ihr sagt. Wenn es ums Sprechen geht, bin ich der einzig Normale. Tut gut, wenigstens auf einem Gebiet normal zu sein.

Wie dem auch sei. Zurück zum Thema. Nach Großvaters Tod vor vier Jahren erbte Oma ein kleines Hotel, The Royal Grand Golden Hotel Skärblacka, wie es inzwischen heißt. Die meisten Gäste waren Touristen aus Deutschland, aber seit wir hier eingezogen sind, ist damit Schluss.

Der einzige Hotelgast, der geblieben ist, heißt Krille Marzipan. Aber der macht sein Bett selbst und sorgt für sein eigenes Frühstück und so. Krille Marzipan ist ein sehr langer, sehr dünner und sehr eleganter Herr, der es liebt, über seine Filmideen zu reden. Jedes Mal, wenn man ihm begegnet, hat er eine neue Idee. Alle sind ähnlich … wie soll ich sagen … speziell. Die ersten siebenundvierzig Ideen, die er mir erzählte, fand ich einigermaßen spannend. Inzwischen fühle ich mich ehrlich gesagt etwas erschöpft. Zu dumm, dass man immer so höflich ist.

Mama ist weniger höflich. Sie unterbricht ihn sofort und sagt: »Krister, nein!« Ich selbst versuche lieber, eine Ausrede zu finden. Zum Beispiel: »Ich muss … äh, Wäsche zusammenlegen.« Aber das führt dann nur dazu, dass ich dastehe und Wäsche zusammenlege, während Krille Marzipan danebensteht und labert. Ich muss mir unbedingt eine andere Lösung ausdenken.

Weiter im Text. Oma hat alle Zimmer im Stil der 1950er-Jahre eingerichtet, wie damals, als sie jung war. In Bobos Zimmer steht eine Jukebox. Das ist eine Maschine, die Schallplatten abspielt, wenn man eine Münze reinsteckt. Ein bisschen wie Spotify, nur mit echten Vinylplatten. Und man kann nur Hits aus den 1950er- und 1960er-Jahren abspielen.

In Majkens Zimmer steht ein alter Coca-Cola-Automat, der jetzt allerdings leer ist. Aber letzten Samstag hat Majken fünf echte Colaflaschen besorgt und ihn damit aufgefüllt. Bobo und ich durften uns eine Flasche teilen, die vier übrigen trank Majken aus. Hinterher lief sie den ganzen Nachmittag rülpsend durch die Gegend. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, dass Majken sehr laut rülpsen kann.

In meinem Zimmer gibt es das Beste von allem: einen Flipperautomaten! Er heißt Frau Fortuna, und ich liebe ihn! Jedes Spiel kostet eine Krone, aber das sind alte Kronen von früher, und Oma hat eine Dose voller alter Kronenmünzen neben das Spiel gestellt. Wenn die Münzen alle sind, öffnet man unten am Flipper einfach eine kleine Klappe, leert alle Kronen aus und kippt sie wieder in die Dose zurück. Na, ist das was?! Man fühlt sich echt, als wäre man im Paradies gelandet!

Mama findet wahrscheinlich nicht, dass sie im Paradies gelandet ist. Abgesehen vom Zigarettenrauch, der Oma immer in eine hellgraue Wolke hüllt, stört es Mama, dass Oma zu viel Krempel hat. Z. B.: ein elektrischer Rollstuhl (den Opa benutzte, bevor er starb), eine große Buddha-Statue aus grünem Marmor, eine Menge Uhren (in jedem Zimmer mindestens eine), die bei jeder vollen Stunde eine kleine Melodie spielen, und dann die vielen meterhohen Bücherstapel.