Mein Hiddensee - Ulrike Draesner - E-Book

Mein Hiddensee E-Book

Ulrike Draesner

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Beschreibung

Von Kindheit an liebt Ulrike Draesner das Meer - doch da sie in Süddeutschland aufwächst, liegt zwischen ihr und ihrem Sehnsuchtsort eine quälende Autofahrt über die Alpen, sprich: stundenlange Reiseübelkeit. Die Erlösung bringt der Umzug nach Berlin, die Ostsee ist nur noch einen Katzensprung entfernt und über flaches Land erreichbar. Von nun an zieht es die Schriftstellerin fast jeden Sommer auf die Insel Hiddensee, die kleine, aber nicht minder charmante Schwester Rügens: Zusammen mit Kind und Hund durchstreift sie die Insellandschaft, wirft einen so genauen wie poetischen Blick auf Flora und Fauna, auf Licht, Wind und Wetter und erzählt Erhellendes aus der Inselhistorie: von Seefahrern und Geistern, der einstigen Kultstätte Swantiland, den ersten Mönchen, dem Haus der Dänin Asta Nielsen, Stummfilmstar und frühes Sexsymbol, von dem mit ihr befreundeten Joachim Ringelnatz, von Thomas Mann und Albert Einstein - und nicht zuletzt aus den Jahren vor und nach dem Mauerfall. Vor allem aber begegnet die Schriftstellerin auf der Insel sich selbst und damit vielen Fragen: Was macht dieser besondere, gleichsam entrückte Ort mit ihr, mit ihrem Zeitempfinden, ihrem Verhältnis zur Sprache und zur Natur, aber auch zu den Menschen in ihrem Leben? Was wurde aus der Jahre währenden Liebesbeziehung, deren Höhe- und Tiefpunkte auf ganz eigene Art mit Hiddensee verknüpft sind? Was bedeutet es, Mutter zu sein? Was ist Glück? Und lässt es sich hier auf der Insel finden? So nachdenklich wie scharfsichtig, zuweilen mit hintersinnigem Witz, immer mit genauso viel Geist wie Herz schreibt Ulrike Draesner über ihr ganz persönliches Hiddensee.

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Seitenzahl: 198

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Ulrike Draesner

Mein Hiddensee

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2015 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel/Petra Koßmann, mareverlag Hamburg

Abbildung COLOURBOX/Tatyana Okhitina

Karte Peter Palm, Berlin

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-357-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-213-5

www.mare.de

für Lucia, Inselkind

Inhalt

Anfahrt

Zeit ohne Zeit

100-Wörter-Bild

Auf dem Dornbusch unterwegs

Körbe und Schirme der Höhe

Aus dem Westen

Sommer 1962

Wind am Strand

Fische und Prismen

Flunnern

Swantiland

Das allmähliche Öffnen der Augen

Harter Ort

100-Wörter-Bild

Ostsee – Erdkunde

Am Asta-Nielsen-Haus

1997

Schatzkammer

April 2005

Von Kloster nach Vitte über den Boddendeich

100-Wörter-Bild

Südstrand, winkende Bucht

Auf den Hund gekommen

Gelen, Jeleni

Finte

Herzgespann, Dunt

Die Schlange

Raketenapparat

Hauptwort ›Sonne‹

100-Wörter-Bild

Regen

Guckkasten

Erinnerung, füchsisch

100-Wörter-Bild

Die Ruhe der Wiesen I

Die Ruhe der Wiesen II

Betonplattenweg

Laufbilder

100-Wörter-Bild

Hauptmann, posthum

HLG

Brüten

Fließen I

Die Seefahrer

Fälle zu Land

Fließen II

Sandhaken, Alter Bessin

Belone belone

Versprochen ist versprochen

Wolken

Das Kapitel des Hundes

100-Wörter-Bild

Glücklich sein

Quellennachweis

Dank

Über das Buch

Die Feldlerchen schreien, lassen sich fallen, die dünne Haut der Welt bekommt einen Riss – hinter ihm steht ein großes elektrisches Strahlen.

Hart fasst der Wind zu, drückt, Regenwolken hängen am Himmel, alles zeigt sich in sich unterschieden, klar und einzeln geformt. Gräser, den Hang hinaufgepresst, kleeähnlich, doch stattlicher als Klee, helllila strahlende Bergjasionen, weit gebreitet die Fächer der Staubblätter, neben kleinblütigem, duftendem Kraut. Gebeugte Rispen, Zwergenwuchs.

Als sie in die Hocke geht, um im Rucksack nach ihrer Regenjacke zu suchen, nimmt sie durch den dünnen Stoff der Sommerhose ihren eigenen Geruch wahr, salzig und erdiger als der Inselboden. Zu Tausenden ziehen die paarweise aus einem haarfeinen Stängelchen dringenden Duftkelche des Labkrautes die Hügel ins Hochland hinauf. Eine Distel streckt ihren Kandelaber scharf gezähnter Blätter und goldener Kronen wolkenwärts.

Noch nie scheint ihr die Insel so geblüht zu haben.

Aus prallen Plastiksäcken, überkopfhoch, stark verschnürt, quillt frisch geschorenes, verfilztes Haar. Die Hügel, tiefgrün jetzt unter dem weiter aufreißenden Himmel. Versteckt hinter Ginsterbüschen, die langen Gesichter im Immer-Wind, jammern die Schafe erbärmlich. An ihren Bäuchen wellen sich ein paar Wollflusen.

Das Firmament, lasiert klar, hat sich beruhigt. Wolken? Elektrizität? Ein Spuk.

Der Wind stellt himmelhohe durchsichtige Wände in die Hügel, alles Meer hinter ihnen wirkt unberührt, flirrendes Silbergraublau. Davor, schlagartig in Sonnenflecken aufglänzend, die Erdsee aus strebendem Kraut. Über den Teppich pinkfarbener Miniaturblüten ragen Königskerzen, aufrecht wie Ausrufezeichen; aus jedem der grünen Stängel dringen auf unterschiedlicher Höhe pelziggelbe Blüten. Der Fußpfad, noch letztes Jahr nur tiefer Sand, ist jetzt doppelt gespurt, gesäumt von elektrisch gesichertem Drahtzaun rechts entlang der Pferdekoppel am Bodden, während sich links der feste Grund zum Dornbusch weitet, dem Hügelland der Insel. Extrem fein rieselt der Boden unter ihren Füßen weg, dringt in die Schuhe. In der Trift wuchern halbgrüne, halbgraue Krautknäuel, krallen sich noch in der geringsten Mulde fest.

Nie so geblüht.

Bei jeder Ankunft ist die Insel anders als erinnert. In raschen Schlägen wechselt der abendliche Wind.

Pferde, eben aus dem Reit- oder Kutschdienst entlassen, traben zu der Futterkrippe am unteren Ende der Wiese, wo der Aufstieg in den Dornbusch beginnt. Zu Beginn des Betonplattenweges ist sie nach rechts abgebogen, in den Sand. Gegenüber der Weide kann man das Fahrrad an eine Holzstange lehnen und auf einer Tafel die Entstehungsgeschichte des Moränenlandes Dornbusch studieren.

Die Gäule rupfen Heu. Wie bunt ihre Körper sind. Ihr ist, als sähe sie auf der Insel deutlicher. Dass die Farbigkeit der Tiere sie anspringt, liegt an der Wiese und ihrer Weise, auf Grün und Gelb, Lila und Pink zu bestehen, Unterschiede und Übergänge zu betonen.

Langsam passen ihre Stadtaugen sich an; fast ist es, als könnte sie die Veränderung des Augenruckens, der inneren Sehbewegung spüren. Als Letzter beendet der Apfelschimmel die Mahlzeit, dunkle Füße und Unterschenkel, distelsilberner Schweif, grau gesprenkelt der Rest, einheitlich stolz das Tier. Es trabt an, verschwindet über den Hügel der Wiese, ganz Kruppe und Mähne, die Nase im Wind.

Der Findling an der Gabelung gute 400 Meter weiter im Hochland, von dem sie als »Landesinnerem« denkt, obwohl der Weg Richtung Küste führt – nur tut er das immer hier –, ist vollkommen überwuchert. Sie versucht sich daran zu erinnern, wie oft sie bereits auf diesem apfelschimmelfarbenen Stein zwischen Gräsern und Büschen saß, um sich Sand aus den Schuhen zu schütten. Und jedes Mal vergebens; nach zehn Schritten ist der Schuh so voll wie zuvor. Vergebens auch das Erinnern: schüttelig, rinnend, sandig.

»Nie so geblüht.«

Wiesenland, wegeloses Grasmeer. Der feine scharfe Strahl des Glückes, hier anzukommen, schießt durch sie hindurch, links oben zwischen Schulter und Herz. Sie fühlt sich noch benommen von der Reise; die Gerüche und die Seeluft ziehen an ihr, sie kennt das und vergisst es von Mal zu Mal. Es strengt an, auf der Insel zu sein, selbst im Stehen bewegt man sich noch gegen den Wind. Jeder Geruch ist eindringlich, die Nase souffliert dem Gehirn: Grasnelke, wilde Kamille, wilder Thymian, Wiesenflockenblume, Grasgrün. Grasgrün: der Geruch nach dem Saft frisch abgerissener Halme auf den Händen, als Kind nach einem Wiesentag abends im Bett. Ein Brombeergebüsch streckt seine Dornenranken über den nächsten Stein, sie staunt die Schneeweißheit der runden, lappigen Kronblätter an. Blüten und Fruchtansätze beugen sich wie aneinander vorbeisprechende Köpfe in verschiedene Richtungen; die Beeren, starkgrün, haben sich bereits in perfekter Brombeerweise zu Kugelhaufen gerundet. Verhakte Dornenwände wölben sich auf, durchsetzt mit den bewehrten Zweigen der Kartoffelrose, die hellrote Hagebutten und handtellergroße, pinkfarbene Blüten trägt.

Wie sie als Mädchen vor Schmerz um einen halbwilden Rosenstock, der von ihrem Großvater beschnitten wurde – immer kleiner die Rose, immer wilder die Schere (die den Rosenstock fast dahinraffte) –, lange reglos im Garten der Eltern stand.

Nie so geblüht.

Die Stacheln, die Hagebutten. Das Schneeweiß der Kelche.

Sie fühlt Dehnungen, Abdrücke, Griffe, spürt zwischen den bewegten Zweigen, den treibenden Wolken und scheinbar rollenden Hügeln vergangene Zeiten und deren Gegenwart zugleich.

Der Wind drückt auf die Ohren. Wenn sie sich duckt in der rauen, dadurch nahezu haltlosen Lieblichkeit der sich vor ihr öffnenden Landschaft, welche die keineswegs menschlichen Glieder zu dehnen und zu dehnen scheint, wird die Luft stiller. Käfer, nur ein paar Millimeter lang, krabbeln über den Weg, der Hund schnüffelt an einem Stück Kot, das länglich und schmal, auffallend dunkel am Wuchsrand liegt. Er wittert, verhält; die Rehe des Dornbuschs treten abends aus dem Wald, um zu äsen. Verstreut wurzeln in den Wiesen einzeln stehende Bäume, einer strebt den höchsten der nahen Hügel hinauf, die Krone flach zur Seite gedrückt. Es gibt einen Namen für diese windgeformten Gestalten; wie Fühler strecken sie ihre Äste in die Luft.

Links liegt die Ostsee, der Bodden rechts. Oder andersherum – sie dreht sich mit den Feldlerchen, wünscht sich, die Insel wahrzunehmen wie sie: ein Futterteller, schaukelnd auf einem blauen feuchten Tisch. Kreuz und quer, augenscheinlich regellos, schießen die Vögel zwanzig Meter über ihr durch die Luft, zielen auf Mücken (die sie von dort, wo sie steht, nicht einmal erahnen kann). Nach den Bewegungen der Schwalben zu schließen, die nun ebenfalls jagen, taumelt die Beute stark. Erneut ist der Himmel von einer Regenhaut bezogen, ein von hinten erleuchtetes, in Flecken lichtes, dann wieder geballtes Dunkelgrau.

Unwillkürlich legt sie den Kopf in den Nacken. Da wiegt, für Sekunden, die Wiese sie mit sich auf und ab – ablandig, sprachlos, weich.

Anfahrt

Eine Insel erreicht man über Wasser – keine Selbstverständlichkeit, seit es Flugzeuge, unterseeische Tunnel und meerbusenüberspannende Brücken gibt. In den Zwanzigerjahren fand sich im regulären Flugplan der Lufthansa eine Verbindung von Berlin nach Kloster. Heute stimmt der Satz für die Insel wieder: Man erreicht sie über Wasser (zumindest als Mensch, der keinen Helikopter besitzt und auch nicht einfach mal so einen chartert).

Das Wasser ist zweigeteilt: salzig und brackig, meerisch und seeähnlich. Vom Festland tuckert, rudert oder segelt man über ein Stück Bodden auf die Insel zu, sprich: über eine Ostseelagune, die nur durch schmale Arme mit der offenen See verbunden ist. Das relativ süße, nicht tiefe Gewässer friert in manchen Wintern zu; man kann darüber laufen oder mit dem Schlitten zur Insel fahren. Ungefährlich ist das nicht, mächtige Wasserströmungen ziehen unter dem salzig-süßen Boddeneis dahin.

Um die Inselhaftigkeit der Insel scheint es nicht zum Besten bestellt. Das möchte auch meinen, wer die Karte liest. Bald wird das zarte Eiland mit Rügen zusammenstoßen; ausgerechnet es, das ein Jahrhundert lang aufs Reizendste und Unwahrscheinlichste einem Seepferdchen glich, gleicht inzwischen, man muss es sagen, einem pubertär-magersüchtigen Vertreter dieser ungewöhnlichen Fischart, dem zwei überkräftige Piercings aus der Nase wuchern.

Nur mehr einen Fährensprung entfernt liegt Rügen. Was am Kopf des Seepferdchens von der Ostsee abgetragen wird, schwemmen die Wellen an seiner Ostseite oder an der Schwanzspitze wieder an. Leichthin gleiten die Wassertaxis über das halb baltische, halb boddensche Gewässer. Die Wellen spillern, ständig wird die Fahrrinne ausgebaggert, jeder Bootsmann steuert zwischen männerkopfdicken orangefarbenen und kleineren grünen Bojen hindurch. Eine Fähre nach der anderen legt in Schaprode ab.

August 1997, erste Anreise, Stralsund. Die Hansestadt schief und grau; der Hafen weit; frisch gestrichen die Werft. Wie glänzte die See. Das Übersetzen dauerte Stunden; auf der Fahrt wurden Pommes serviert, Tee, Salzwasser, Wind sowie eine erste Bräunung der Arme und des Gesichts: Fährenstraße, Reisegefühl. Eine Weile sah sie, an Deck stehend, nichts als Wasser; erst während des letzten Drittels der Fahrt schob sich der weiß-rote Leuchtturm von unten aus dem Horizont, begleitet von ein paar Hügelkuppen.

So damals, so jetzt, sechzehn Jahre später. Das Inselchen taucht auf. Mit aller Selbstverständlichkeit. Nun doch ordentlich inselig. Ein Planet für sich, begleitet von seinem Mond, der Fährinsel vor Vitte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Hauptinsel von Badegästen entdeckt wurde, musste hier an- und ausgebootet werden; ihre Großmutter hätte, wäre sie als junges Mädchen zum Ostseebaden angereist, umsteigen müssen: den Rock geschürzt, eine Hand am Hut, unter flatternden Bändern im geschnürten Mieder, vom großen Boot ins kleine. Und bei Niedrigwasser auf den Rücken des Fährmanns, die pochende Angst der Nichtschwimmerin im Herzen.

Die Fähre tuckert an der Fährinsel vorbei, die heutzutage nur mehr von Vögeln betreten werden darf, legt in Vitte an, lässt beinahe alle Passagiere aussteigen, wartet, tutet, ruckt los. Mit jedem Schiffsmeter hebt sich der Dornbusch klarer aus den Fluten, während der Rest des Landstückchens Richtung Süden ins Meer hineinzurinnen und immer tiefer zu versinken scheint. »Untergluckern« sagt ihr Kind. Die Insel gleicht einem aufgeschlagenen Ei in der Pfanne (offensichtlich hat sie Hunger), aus dem ein paar Zahnstocher ragen (Bäume), im Norden reichen sie in den Himmel, der über der Fähre zerfasert wie Zuckerwatte, die jemand vor einer gläsernblauen, sich zum ersten Mal an diesem Tag im Ganzen zeigenden Wasserplatte auseinanderzupft. Das Gefühl ›Land‹ stellt sich ein, die Baum- und Graswellen senden etwas Tröstliches, Versicherndes aus: wie das Eiland da in der glitzernden Wasserwelt treibt. Wie es näher kommt, nein, sie, die Besucherin, näher kommen lässt.

Ihre tiefe, kaum benennbare Freude über das Stückchen Erdboden muss Teil ihres ältesten Erbes als Säugetier sein. Bin Nichtfisch! Will Grund unter den Füßen. Kann leben nur dort.

Für eine Insel musst du über Wasser.

Sträucher, Pferde, das lang gestreckte Haus, bis vor Kurzem das Ökologische Institut der Universität Greifswald, auf dem Hügel über dem Schwedenhagener Ufer. Rechts der Leuchtturm, links die Anlegestelle Kloster. Schlickfarbenes, schieferfarbenes, grau gekräuseltes Meer, kreuz und quer von sich selbst überschwappt, kalt auch im Sommer, jetzt.

Schon einmal, im August 1864, ist die Insel, als Fläche so wenig ausgedehnt, dass man, steht man an einem erhöhten Punkt, ihre gesamte Form körperlich (in einem Rutsch, einem Bild) begreift, bei einer Sturmflut auseinandergebrochen. Im Augenblick treibt sie unter einer halbverschatteten Sonne als lang gezogener, bleisilbern glitzernder Streifen, übrig geblieben aus einem Silvesterguss, auf einer dunkler bleifarbenen See, fragil und tröstlich gerade darin.

Land! Auch der Hund wedelt mit dem Schwanz.

Zeit ohne Zeit

Man spurtet vom Schiff, wuchtet, hievt, stürzt sich auf einen Bollerwagen. Der Hund hechelt, sie nimmt an, dass er »Rehbraten« denkt (auf Hundisch; auf Menschisch enthielte der Gedanke das Wort »roh«). Koffer holpern über das Katzenkopfpflaster, zwei aufgeregte Labradore bellen. Das Kind ist bereit, selbst zu laufen, was die Lage merklich entspannt: Auch ohne Kind ist der Bollerwagen voll. Sie schließt die Hand um die Lenkstange, lehnt sich gegen das Gewicht des Wagens nach vorn und bricht ins Innere der Insel auf. Die Pferde vor den Abholerkutschen schnauben; die Birken, die all die Jahre neben dem hohen Fachwerkbau des Hotels Hitthim gleich hinter der Anlegestelle Kloster rauschten, sind gefällt.

Zum Glück hat sie das Umschlagen der Bäume nicht miterlebt. Manchmal scheint sie jemand zu sein, der Veränderungen hasst. Eigentlich sieht ihr Selbstbild anders aus. Ihr Leben ebenfalls. Umzüge über Umzüge, keine Arbeitsstelle, kein festes Einkommen. Das Einzige, was sich nicht verändert, ist, dass alles sich ständig verändert. Dass sie seit bald zwei Dezennien fast jedes Jahr auf die Insel fährt, könnte sie sonderbar finden an sich selbst. Diese Art von Reisetyp ist sie nicht.

Offensichtlich doch, flüstert der Dorfweg des »söten Lännekens« ihr zu. Offensichtlich schmeichelt das süße Ländchen jenem Teil von ihr, der Kontinuität sucht. Etwas, das bleibt: klein und überschaubar, dabei abwechslungsreich.

Selbstverständlich verändert auch die Insel sich, sagt ihr Kopf. Erkennen ihre Augen.

Gleichwohl: Es gilt ein anderes Zeitmaß als »draußen«, als in der wirklichen Welt, der »Landigkeit«.

Die Dorfstraße von Kloster – ein aus der Vergangenheit ins Heute hinüberanimiertes Gemälde. Hohe Laubbäume links und rechts, kein Gehsteig, kein Asphalt, Gräser, nichts eben oder geradeaus, eine Bahn aus Bodenwellen, Mulden, feinem und grobem Sand. Pfützen und Matsch, kaum regnet es. Sandig-wurzeliger Bilderbuchweg. Zwei Kutschen, Fahrradfahrer, Fußgänger, quer laufende Hunde. Wenn die letzte Fähre abgelegt hat, wird es hier leer. Nur Übernachtungsgäste und Inselbewohner streifen durch den langsamen Halbschatten. Nur die Bäume rauschen.

Jetzt wird geredet, geklingelt, geschrien, gelacht. Kinder johlen, der Hund stürzt sich auf einen Pferdeapfel, schlingt. Gewusel, chaotisches Gehen. Knapp hinter dem Dorfbäcker biegt sie nach rechts ab. Wie vielgestaltig die Insel gewesen sein muss, bevor die Anlegestellen gebaut wurden. Nichts als Wind, Vogelgeschrei. Freiere Regeln als auf dem Festland. Wäre ihre Großmutter in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg tatsächlich als Sommergast nach Kloster gekommen, hätte sie am Ende der Dorfstraße einfach in die See springen können. Keine Badeanstalt wie andernorts üblich, keine Begrenzungen der Wasserzeiten. Mehr noch: Die knielangen Badehosen und die hochgeschlossene Badebluse hätte sie ausziehen dürfen. Nackt, ein junges Mädchen zwischen Besenginster, Steinen und Sand.

Halb verborgen im Strandhafer, etwas erhöht auf der Düne, hätte der Warner gesessen. Selbst weitgehend entkleidet, umwuchert von einem Grashorst, halb Vogel, halb Späher. Er pfiff, wenn der als Ordnungshüter und Sittenwächter fungierende Landjäger sich näherte. Landjäger! Welch hübsches (hübsch komisches) Wort hier am Meer.

Die abgeworfenen Kleidungsstücke, dunkle Haufen, liegen zum raschen Hineinschlüpfen im Sand bereit.

Die Abgelegenheit der Insel reicht nicht aus, um die frühe Freizügigkeit zu erklären. Ebenso wenig die Ärmlichkeit der Lebensverhältnisse: Fischer und noch einmal Fischer in niedrigen Rauchkaten (Häuser ohne Schornstein). Früher Naturschutz, baden gehen, wie man kann und will.

Bis heute, denkt sie, hängt die Insel so stark ins Meer – ein Geschenk, dunstig, halbdurchsichtig, hingestreckt, exponiert. Das Licht ist kräftig, dabei dünn. Etwas Transparentes scheint dicht am Boden entlangzukriechen, als suche es Haftung. Noch die vagsten Träume drängt das Eiland einem nach vorn, die Sehnsucht nach Luft auf der Haut, nach salziger, sandiger, nasser, menschlicher Berührung. Man watet, schaut in die geringen Tiefen, verändert sich. Erkennt die Festlandswelt allenthalben wieder, doch ist sie »übersetzt«. Es duftet nach dornigen, seltenen Pflanzen, nach Matten von Labkraut und Distel. Möwenschreie kreiseln überm Kopf, Äste schnellen ins Gesicht, der Körper wird ins Sandgebläse gejagt, bis er lacht, bis man mit ihm lacht und schluckt und wider eigenes Erwarten schwimmen lernen will (Großmutter). Tief eingegraben liegt man im Sand, nur die Nase und die großen Zehen im Wind.

Kind und Hund sind vorausgelaufen. Schwitzend wuchtet sie den Wagen das steile holprige Stück vor der Villa mit dem Ebenholzzaun hinauf. Alle paar Meter zieht sie sich etwas aus: die Jacke. Die Strümpfe. Die Schuhe.

100-Wörter-Bild

Orangefarbener Wäschekorb, dörrgrüne Wiese. Die Leinen flattern; Handtücher, in zehn Minuten trocken, werden gebleicht. Ameisen, schwer arbeitend, sind Richtung Zukunft unterwegs: Zukunft, der Haufen.

Das Haus, in dem sie wohnen: nah wie der Himmel, umhüllt von gedankenlosem Blau. Ein Fink verfehlt die Wäsche und kreiselt, die Füße eingekrallt, dreimal um die Leine. Weiche flaumige Spirale, zerknitterter Vogel. Lautlos löst sich ein Blatt vom Sanddornstrauch an der Veranda, schwebt abwärts, setzt auf der sandigen Erde mit den Spitzen auf, vorsichtig wie eine Hand.

Alles Ferne verschwimmt, man braucht keinen Horizont.

Das Kind sagt: Mein innerer Körper sitzt im Meer und trinkt.

Auf dem Dornbusch unterwegs

Querfeldein sind sie hinter ihrem Haus am Ende von Kloster aufgebrochen Richtung Nordosten. Am Saum des Waldes zwischen Gräsern und Nesseln, Eichen und Ginster folgen sie dem Trampelpfad über Hügel, durch Senken, bis sie den Aussichtspunkt am Ende des Betonplattenweges erreichen. Eine Kutsche, gezogen von zwei Braunen, trifft im gleichen Augenblick ein, das Chassis schwarz lackiert, edelrot die Bänke. Zwei Männer und zwei halbwüchsige Knaben haben sich herauffahren lassen, der ältere, graubärtige Passagier zieht ein Fernrohr aus der Tasche und hält es sich ans Gesicht. Verkehrt herum.

Der Aussichtspunkt sieht fürchterlich aus: gestaltet. Ein grob geschnitztes, überdimensioniertes Fischerpaar mit Taube steht in einem Holzrahmen. Daneben ein gleichermaßen fehlproportioniertes Holzbett samt Holzkissen. Niemand setzt sich darauf, allein der Hund versucht, es als Aussichtspunkt zu erklimmen. Die zwei Bögen schlagende hölzerne Schlange nimmt das Kind als Aufforderung zum Klettern, kopfüber baumelnd quietscht es vor Vergnügen. Piaget beobachtete, dass Menschen die ersten Lebensjahre hindurch egozentrisch vor sich hin brabbelten; noch im Alter von sieben seien fast die Hälfte ihrer Äußerungen nur für sie selbst gedacht. Erst dann bilde sich das soziale Sprechen.

So ganz glaubt sie daran nicht. Das Baby rief sie, lächelte sie an, blubberte mit den Lippen. Richtig ist, dass sich das Sprechen, das Handlungen gezielt begleitet, bei ihrem Kind nach wie vor entwickelt. Es wächst aus seiner sozialen Bezogenheit. In seinem Grund ist der Mensch auf andere angewiesen; aus dieser Verbundenheit entstehen wesentliche Funktionen seines Bewusstseins. Manchmal, wenn sie ihr Kind betrachtet, glaubt sie zu fühlen, wie das, was später die Persönlichkeit eines Menschen genannt wird, Schicht um Schicht durch innere Faltungsprozesse wächst und komplexer wird. Manchmal ist ihr, als stehe ein Mädchen neben ihrem Mädchen, ein Mädchen aus einem Gemälde, winterlich weißhäutig in blauem Mantel, und schlinge sich einen Pelz noch um den Stoffkragen, den es, vorsichtig, mit einem dünnen Faden zusammenknüpft. Und wieder löst. Und erneut verknüpft.

Die weichen, abstehenden Haare. Der Kragen auf dem Kragen.

Das Kind turnt. Die Wiesen schäumen gelb von Labkraut und Königskerzen, pink von Grasnelken und geduckten Zwergblühern, weiß von Schafgarbe sowie Wilder Möhre, die der Schafgarbe bis zur Ununterscheidbarkeit gleicht, aber möhrig riecht.

Die gesamte, einst sandig-steinige Aussichtsbucht ist mit auffallend dunkelgrauem Kies aufgeschüttet und mit einem Zaun versehen. Man kann nicht mehr vorn an der Hügelkante sitzen, um mit leichtem Schwindelgefühl über die Richtung Bodden fallenden, von Sträuchern, Kühen und silbern glitzernden Tümpeln gefleckten Wiesen zu blicken. Die beiden alten Bänke stehen auf der anderen Seite des Weges, Wind und Wetter ausgesetzt. Schäbig die eine; die andere, weiter vorn, schäbiger.

Pflanzen und Pflänzchen krallen sich in den Boden, kaum kniehoher Ginster, dem Wind angepasste, niedrige Glockenblumen, silbergoldene Disteln mit Blättern wie Fechter in voller Rüstung. Kartoffelrosen (Blüten, Hagebutten), behaarte Seggen, silbriges Fingerkraut, tieflilafarbene Ochsenzungen. Gräser fahl, manche bis zur Farblosigkeit ausgebleicht.

Dreht sie den Kopf nach rechts, liegt schmal und gebuchtet die gesamte Insel vor ihr. Knapp 17 Kilometer lang, 250 Meter nur breit in der Taille, ein lanzettförmiges Blatt, grünbeige aufs Wasser geweht.

Mit dem Vater des Kindes hat sie hier oben vor Jahren Silvester verbracht, sie weiß nicht mehr, wann, und erinnert sich auch kaum an das Verhalten des Mannes, mit dem sie damals verheiratet war. Es kommt ihr seltsam vor, dass er so getilgt sein soll. Bis ihr auffällt, dass sie sich auch an sich selbst während jener Winterreise nicht auf greifbarere Weise erinnert. Ihr Gedächtnis liefert nur Ausschnitte: die Windkälte, etwas Schnee (Knirschen unter den Füßen – erinnert sie sich daran oder bildet sie es sich ein?), die sternklare Nacht des Jahreswechsels, das Schießen und Feuerwerken auch hier auf dem Dornbusch. Überraschend viele Menschen, stark vermummt, hatten sich versammelt, andere strebten neben ihrem Mann und ihr den Plattenweg hinauf (während der Hund an der Leine wild, wenn auch vergebens, nach unten zerrte), man böllerte. Vom nachbarlichen Rügen stieg kein beeindruckendes Feuerwerk auf, rasch wurde die Luft um Mitternacht so rauchig, dass man nichts sah. Der Hund zog und zog, daran erinnert sie sich gewiss: seine Kraft in ihrem Arm. Wie sie stehen geblieben war vor der Anhöhe, während ihr Mann zum Aussichtspunkt vorauseilte. Wie sie, des Tieres wegen, zögerte. Wie sie wieder hinuntergingen in das Zimmer, in dem sie jetzt auch mit dem Kind wohnt, wie der Boden unter den Füßen knirschte, doch, ja, wenn auch nicht von Schnee, sondern von steif gefrorenem Gras.

Das Kind, der Hund und sie laufen den Betonplattenweg hinunter. Ein etwa vierzigjähriger Mann keucht ihnen auf einem Mountainbike entgegen, es schwankt. Fährt man hier bergab, fliegt man, alle Schrauben und Muttern des Rades lockern sich, die Insel springt. Kommt man unten an, ist das Rückgrat zehn Jahre älter und zwei Bandscheibenvorfällen näher gebracht. Der Biker immerhin will hügelan; während die Kutschpferde hinaufgaloppierten, scheinbar mühelos, und dabei noch gezügelt werden mussten, strampelt er auf der Stelle. Weit offen steht ihm der Mund

Sie gehen südwärts, abwärts, Hand in Hand. Das Kind hüpft über die schiefen Rillen zwischen den Platten. Gussbeton, made in GDR, jede Fuge verworfen, schief jeder Rand. Links, zur Boddenwiese hin, ein Zaun, rechts ein Pfad ins Hochland. Es wird schattig, Kiefern, hoch aufgeschossen für Inselverhältnisse, säumen den Weg. Vor dem Schutzwald wachsen Sanddornbüsche, Apfelbäumchen, einmal eine krüppelige Kirsche. Links hingegen, auf der Schafweide, Buschwerk und Hecken. Allmählich rutschen Kind, Hund und sie vom Dornbusch nach Kloster hinein.

Das gesamte Hochland heißt so: Dornbusch.

Seepferdchenkopf, Seepferdchenbrust.

Über der Hügelflanke rechts geht die Sonne unter. Der Himmel wird foliendünn; jäh kommt Wind auf, die Platten wirken eingewachsen, grau. Das Kind und sie sind allein unterwegs, wie oft hier auf der Insel. Schlagen sich auf einer engen, geschlängelten Spur nach rechts in die Büsche. Sie führt steil nach oben, kippt abwärts (verschwindet vor ihren Augen), um sich an einem dahinterliegenden Hügel wieder zu zeigen und, steiler noch, auf dessen Grat zu ziehen. Das Kind muss all das ansehen wie neu, weil es sich an nichts hier erinnert; sie hingegen weiß, dass der Weg auf einen mageren, dem Wind schutzlos ausgesetzten Wiesenrücken mündet (wo sie einmal mittags im hellsten Sonnenschein einem Fuchs begegnete, der sie lange ansah, wobei er ohne Unterlass sein Gehöre drehte). Habichtskraut, Tausendgüldenkraut, Pusteblumen.

Windflüchter heißen die schiefen Bäume, jetzt fällt es ihr ein. Sie treten auf den dämmrigen Pfad am Waldrand, gehen zwischen Ginster und Brennnesseln, leise miteinander sprechend (»Erzähl mir eine Entführungsgeschichte«, sagt das Kind, »erzähl mir, wie der Hund nicht schwimmen lernte«, »erzähl mir was Doofes«), zwischen sandigen Kiefern dahin, drei immer schmaler werdende Figuren: ein eifriges, in der Dämmerung nur mehr grauschwarzes Tier, eine Frau, die eine Geschichte erfindet, ein von der Geschichte nach Hause gezogenes, müde trottendes Kind.

Körbe und Schirme der Höhe

(am Leuchtturm und um den Leuchtturm herum)