Mein Kind gehört zu mir! - Marie Francoise - E-Book

Mein Kind gehört zu mir! E-Book

Marie Francoise

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Beschreibung

Dr. Daniel ist eine echte Erfolgsserie. Sie vereint medizinisch hochaktuelle Fälle und menschliche Schicksale, die uns zutiefst bewegen – und einen Arzt, den man sich in seiner Güte und Herzlichkeit zum Freund wünscht. »Sie hatten recht, Fräulein Sandner«, erklärte der Arzt mit einem wohlwollenden Lächeln. »Sie erwarten ein Baby.« Niedergeschlagen sackte Claudia auf ihrem Stuhl zusammen. Sie hatte es doch geahnt! »Nun, sehr erfreut scheinen Sie nicht zu sein«, stellte der Arzt fest. »Nein, Herr Dr. Keller«, gab Claudia unumwunden zu. »Es gibt für mich auch keinen Grund zur Freude. Ich bin vor einem Vierteljahr arbeitslos geworden und habe einen Freund, der nicht im Traum daran denkt, mich zu heiraten – schon gar nicht wegen eines Babys.« »Und obwohl Sie das offensichtlich von vornherein wußten, sind Sie bei dem Mann geblieben und haben so wenig Vorsicht walten lassen?« Dr. Keller konnte nicht verhindern, daß ein leichter Tadel in seiner Stimme mitschwang. Er begriff einfach nicht, warum immer wieder junge Mädchen in eine so mißliche Lage gerieten, obwohl sie sich über den Charakter des jeweiligen Freundes durchaus im klaren waren. Claudia errötete. »Es ist nicht so, wie Sie denken, Herr Doktor. Eduard… mein Freund hatte durchaus Heiratsabsichten – so sagte er jedenfalls. Daraufhin war ich wirklich ein wenig nachlässig.«

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Dr. Daniel – 6 –

Mein Kind gehört zu mir!

Marie Francoise

»Sie hatten recht, Fräulein Sandner«, erklärte der Arzt mit einem wohlwollenden Lächeln. »Sie erwarten ein Baby.«

Niedergeschlagen sackte Claudia auf ihrem Stuhl zusammen. Sie hatte es doch geahnt!

»Nun, sehr erfreut scheinen Sie nicht zu sein«, stellte der Arzt fest.

»Nein, Herr Dr. Keller«, gab Claudia unumwunden zu. »Es gibt für mich auch keinen Grund zur Freude. Ich bin vor einem Vierteljahr arbeitslos geworden und habe einen Freund, der nicht im Traum daran denkt, mich zu heiraten – schon gar nicht wegen eines Babys.«

»Und obwohl Sie das offensichtlich von vornherein wußten, sind Sie bei dem Mann geblieben und haben so wenig Vorsicht walten lassen?«

Dr. Keller konnte nicht verhindern, daß ein leichter Tadel in seiner Stimme mitschwang. Er begriff einfach nicht, warum immer wieder junge Mädchen in eine so mißliche Lage gerieten, obwohl sie sich über den Charakter des jeweiligen Freundes durchaus im klaren waren.

Claudia errötete. »Es ist nicht so, wie Sie denken, Herr Doktor. Eduard… mein Freund hatte durchaus Heiratsabsichten – so sagte er jedenfalls. Daraufhin war ich wirklich ein wenig nachlässig.« Sie senkte den Kopf. »Nein, das ist gelogen. Ich wollte sogar schwanger werden. Und ich habe mich riesig gefreut, als ich die ersten Anzeichen bemerkte, aber dann…« Sie konnte ein heftiges Aufschluchzen einfach nicht unterdrücken. »Er hat eine andere – seit einer Woche.«

Das Mitleid mit dem jungen Mädchen stand Dr. Keller ins Gesicht geschrieben. Und für einen Augenblick wünschte er sich, diesen Eduard in die Finger zu bekommen, um ihm ordentlich den Kopf waschen zu können. Wo hatte dieser Kerl nur seine Augen? War es denn möglich, daß er ein Mädchen hatte finden können, das bezaubernder war als diese Claudia Sandner?

Der Tränenglanz in ihren tiefblauen Augen verlieh ihr etwas Rührendes und paßte in eigenartiger Weise zu dem edlen, feingemeißelten Gesicht, das sehr gut ohne Schminke auskam. Die dichten Locken fielen wie pures Gold um ihre schmalen Schultern. Gab es jemanden, der diesem zierlichen Geschöpf widerstehen konnte?

»Sprechen Sie mit ihm«, riet er Claudia aus diesen Gedanken heraus spontan. »Schon so manches Mal hat sich ein draufgängerischer junger Mann vollkommen verändert, wenn er erfahren hat, daß er Vater wird. Wer weiß, vielleicht freut sich Eduard auf das Baby und vergißt sein neues Mädchen darüber.«

Claudia nickte, doch sie glaubte nicht daran. Schließlich hatte Eduard ihr klipp und klar gesagt, daß es zwischen ihnen aus war.

»Ach komm, Schätzchen, du wirst die Geschichte doch nicht so ernst genommen haben«, hatte er mit einem gekünstelten Auflachen festgestellt. »Wir hatten eine hübsche Zeit zusammen, die allmählich zu Ende gehen muß, wenn keine Gewohnheit daraus werden soll. Ich sehne mich nach etwas anderem, und du willst dich sicher auch nicht ein Leben lang an mich hängen.«

Wieder stiegen Claudia Tränen in die Augen, als sie nur an diese Worte dachte. Sie hatte die Beziehung zu Eduard sehr ernst genommen – er war der Mann, mit dem sie ein ganzes Leben hatte verbringen wollen, und Eduard hatte das sehr wohl gewußt.

Ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein, lenkte Claudia ihre Schritte zu der kleinen Wohnung, die Eduard besaß.

»Hey, Claudia, das ist aber eine Überraschung«, stieß er hervor, als er die Tür öffnete und sich seiner Ex-Freundin gegenübersah. Sein Gesichtsausdruck sagte allerdings nur zu deutlich, daß es für ihn keine sehr angenehme Überraschung war. Er warf einen kurzen, prüfenden Blick nach hinten.

»Du bist nicht allein, nehme ich an«, erklärte Claudia voller Bitterkeit.

»Unsinn, Schätzchen«, wehrte Eduard nervös ab. »Natürlich bin ich allein.«

Doch Claudia hörte die Dusche rauschen.

»Soll ich ein anderes Mal wiederkommen?« wollte sie wissen.

Eduard sah auf die Uhr. »Wenn’s nicht lange dauert, dann kannst du bleiben.« Doch er machte keine Anstalten, sie in die Wohnung zu bitten.

Claudia schluckte schwer. Es widerstrebte ihr, mit Eduard hier so zwischen Tür und Angel zu verhandeln, aber offenbar blieb ihr nichts anderes übrig.

»Ich bekomme ein Baby.«

Eduard starrte sie an, als hätte sie behauptet, die Welt würde in fünf Minuten untergehen. Er zögerte noch sekundenlang, dann trat er zur Seite und ließ Claudia eintreten. Er hatte die Tür kaum geschlossen, da führte ihn sein erster Weg schon an die Bar. Er schenkte sich einen Whisky ein, kippte ihn hinunter und ließ einen zweiten folgen, dann zündete er sich eine Zigarette an, wobei Claudia unschwer sehen konnte, wie sehr seine Hände zitterten. Er nahm ein paar hastige Züge, während er auf Claudia zuging.

»Du bekommst also ein Baby«, wiederholte er ein wenig heiser. »Von wem?«

Claudia fühlte sich wie in Eiswasser getaucht.

»Von wem?« stammelte sie. »Eduard… was soll das heißen?«

Er zuckte die Schultern. »Ich wüßte gern, wen du für den Vater hältst.«

In diesem Moment ging die Tür zum Badezimmer auf, und ein blonder Lockenkopf schaute heraus.

»Edi-Schatz, gibst du mir mal ein Handtuch?«

»Im Schrank!« antwortete Eduard kurz und scharf. »Und dann warte, bis ich dich rufe!«

Das Mädchen zeigte einen beleidigten Schmollmund, zog es aber doch vor zu gehorchen. Sie kannte Eduard erst eine Woche, aber schon jetzt wußte sie, daß mit ihm nicht zu scherzen war, wenn er jähzornig wurde. Und im Augenblick schien er immerhin ziemlich wütend zu sein.

Claudia wartete, bis das Mädchen die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, dann sah sie Eduard an.

»Hör zu, mein Freund«, begann sie langsam und eindringlich. »Wir beide waren fast ein Jahr zusammen und haben uns praktisch täglich gesehen – bis vor einer Woche. Und ich bin im zweiten Monat. Was glaubst du wohl, wer der Vater dieses Babys sein könnte?«

Eduard inhalierte tief, ehe er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. Langsam gewann er seine Sicherheit wieder zurück.

»Mein liebes Kind, wenn du glaubst, daß du mir mit dieser rührseligen Eröffnung das Messer auf die Brust setzen kannst, dann irrst du dich gewaltig.« Seine Stimme war leise und drohend, und spätestens in diesem Moment wurde Claudia klar, daß der Weg hierher umsonst gewesen war. Es war genauso, wie sie zu Dr. Keller gesagt hatte: Eduard würde sie nie und nimmer heiraten – schon gar nicht wegen eines Babys.

Entschlossen stand Claudia auf. »Damit ist dann wohl alles gesagt.«

»Du willst einfach gehen? Was hast du vor?«

Sie bedachte ihn mit einem nahezu verächtlichen Blick. »Interessiert dich das wirklich?« Sie schwieg kurz. Ja, was hatte sie eigentlich vor? Aber noch bevor sie sich diese Frage beantworten konnte, begann Eduard wieder zu sprechen.

»Wenn du Geld brauchst… ich meine…«

»Ich weiß, was du meinst«, unterbrach Claudia ihn nicht ohne Schärfe. »Aber ich kann dich beruhigen – ich brauche keine Geld. Von dir schon gar nicht.«

Und dann hatte sie es plötzlich sehr eilig, Eduards Wohnung zu verlassen, denn er sollte sie nicht weinen sehen. Nahezu blind vor Tränen stolperte sie den Weg entlang, bis sie das Haus ihrer Eltern erreichte.

»Claudia, um Himmels willen, was ist denn geschehen?«

Tief besorgt kam ihre Mutter auf sie zu und nahm sie tröstend in die Arme. Claudia wurde so sehr von Schluchzen geschüttelt, daß sie nicht gleich antworten konnte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Tränen schließlich versiegten, aber noch immer schmiegte sich Claudia an die Brust ihrer Mutter.

»Mama, ich bekomme ein Baby«, gestand sie flüsternd.

Sie fühlte, wie ihre Mutter erstarrte.

»Wie bitte?« brache sie mit Mühe heraus, und Claudia sah das Entsetzen in ihren Augen.

»Du hast richtig gehört, Mama, ich bekomme ein Baby – von Eduard.«

Helene Sandner zog die Augenbrauen hoch. »Wird er dich heiraten?«

Claudia zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Mama, das wird er nicht.«

In diesem Moment rückte ihre Mutter von ihr ab, als hätte sie eine ansteckende Krankheit, und unsinnigerweise mußte Claudia an die Worte denken, die ihr Vater schon so oft gebraucht hatte: »Wir sind eine Familie. Egal, was kommt, wir halten zusammen.«

Doch die Reaktion ihrer Mutter ließ nicht darauf hoffen, daß sie zu ihr halten würde. Und Helene Sandners nächste Worte bestätigten Claudias Verdacht.

»Wir werden einen Arzt ausfindig machen, der dich von diesem Problem befreit.«

Claudia schüttelte den Kopf. »Diese Art von Hilfe hat mir auch Eduard schon angeboten.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, daß ich das Baby behalten werde.« Claudia streckte eine Hand aus, um ihre Mutter zu berühren, doch diese wich aus. »Mama, ich habe mir dieses Baby gewünscht – unter anderen Voraussetzungen zwar, aber es ist noch immer das Kind, das ich mit Freuden empfangen habe. Und ich denke nicht daran, es zu töten.«

Da stand Helene Sandner auf.

»Wir werden sehen«, war ihr einziger Kommentar, dann ließ sie Claudia allein.

Als wenig später ihr Vater nach Hause kam, hörte Claudia, wie ihre Mutter ihm sofort Bericht erstattete. Im nächsten Moment stand Konrad Sandner im Zimmer und starrte auf seine Tochter hinunter. Es schien Claudia, als habe sie ihn noch niemals so zornig gesehen.

»Was fällt dir ein, dich deiner Mutter so zu widersetzen!« herrschte er sie an. »Solange du in unserem Haus lebst, wirst du tun, was wir dir sagen. Und in diesem Fall befehle ich dir, daß du dir von einem Arzt helfen läßt.«

Doch Claudia schüttelte wieder den Kopf. »Nein, Papa, eine Abtreibung kommt für mich nicht in Frage.«

»Das werden wir ja sehen.« Damit verließ er den Raum und Claudia hörte, wie er einige Telefongespräche führte. Langsam trat sie zur Tür und hörte gerade noch, wie ihr Vater einen Termin für sie vereinbarte. Blankes Entsetzen stieg in ihr hoch.

»Das also ist deine Auslegung von Zusammenhalt in der Familie!« schrie sie ihn mit sich überschlagender Stimme an. »Aber darauf kann ich verzichten!«

Und wie von Furien gehetzt rannte sie auf ihr Zimmer, packte in fliegender Hast einige Sachen zusammen und verließ noch in derselben Stunde das Haus ihrer Eltern. Niemand hielt sie zurück.

*

Wie von Furien gehetzt rannte Claudia die Straße hinunter. Sie lief, als wolle sie vor dem eben Erlebten davonlaufen, doch die harten Worte ihrer Eltern verfolgten sie.

Schwer atmend blieb sie schließlich stehen und lehnte sich an das Brückengeländer. Unter ihr floß die Isar, große, spitze Steine ragten aus dem Wasser, und Claudia wußte bald nicht mehr, wie lange sie schon hier stand, in die Tiefe starrte und sich fragte, ob sie springen sollte. Dort unten wäre sie all ihre Sorgen los – für immer.

»Schau mal, Klausi, siehst du die Schwäne?«

Erschrocken fuhr Claudia herum. Neben ihr stand eine junge Frau mit einem etwa zweijährigen Jungen auf dem Arm.

»Swäne«, plapperte der Kleine nach.

In diesem Moment wußte Claudia, was sie zu tun hatte. Eduard und ihre Eltern waren es nicht wert, daß sie sich das Leben nahm, aber ihr Kind war es wert, daß sie weiterlebte, um ihm eine gute Mutter zu sein. Sie würde ihr Baby allein großziehen. Und sie war sicher, daß sie es schaffen würde.

Spontan lief Claudia der Frau mit dem Kind nach und hielt sie am Arm fest.

»Ich danke Ihnen«, erklärte sie. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie haben mir sehr geholfen.«

Dann ging sie weiter ohne den erstaunten Blick der jungen Frau wahrzunehmen. Ihr Kopf arbeitete plötzlich präzise wie ein Uhrwerk. Sie war arbeitslos, hatte hier in München also auch keine Verpflichtungen. Und es gab einen Menschen, der ihr sicher helfen würde.

Und so führte Claudias erster Weg zu ihrer Bank. Sie hatte Glück und huschte gerade noch in den Schalterraum, bevor das Institut schloß. Der Angestelle, der jetzt nach ihren Wünschen fragte, schien nicht gerade erfreut über ihr Auftauchen zu sein. Offensichtlich hatte er sich schon im Feierabend gewähnt. Doch Claudia hatte nicht vor, den jungen Mann lange aufzuhalten. Sie ließ sich lediglich ihr gesamtes Guthaben auszahlen, dann machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof, löste eine Fahrkahrte und nahm den nächsten Zug nach Bad Tölz. Von hier aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zu dem Haus, in dem ihre Tante Ottilie wohnte.

»Claudia! Das ist aber eine hübsche Überraschung!« rief die rundliche Frau mit den zu einem Knoten aufgesteckten grauen Haaren. »Du warst ja schon eine Ewigkeit nicht mehr bei mir zu Besuch.«

Claudia fiel ihrer Tante um den Hals und brach an ihrer Schulter in Tränen aus.

»Tante Otti, du mußt mir helfen«, schluchzte sie verzweifelt. »Ich… ich bekomme ein Baby!«

Claudia spürte, wie ihre Tante sich versteifte, dann rückte sie ein Stück von ihrer Niche ab.

»Ein Baby?« wiederholte sie fassungslos. »Aber, Kind, du bist doch noch gar nicht verheiratet.«

Unwillkürlich begann Claudia zu frösteln. Sollte auch dieser Weg vergebens sein?

»Muß man verheiratet sein, um schwanger werden zu können?« fragte sie leise, dann senke sie den Kopf. »Tante Otti, ich war sicher, daß der junge Mann, von dem dieses Baby ist, mich heiraen würde. Aber… aber vor einer Woche, da hat er eine andere kennengelernt, und ich mußte einsehen, daß alles… alles nur ein Spiel für ihn war.« Mit offener Verzweiflung im Blick sah Claudia auf. »Bitte, Tante Otti, hilf mir. Ich bin arbeitslos, und… ich weiß nicht, wohin ich sonst noch sollte.«

Ottilie Hartl zögerte. »Natürlich kannst du fürs erste hierbleiben, Claudia, aber… eine Lösung auf Dauer ist das auch nicht. Versteh mich nicht falsch. Ich möchte dir gern helfen, aber… die Wohnung ist klein, und ich darf keinen Untermieter hier aufnehmen. Und wenn erst das Kind da ist… ich fürchte, du mußt dich nach etwas anderem umsehen.« Sie tätschelte Claudias Hand, um ihren Worten die Härte zu nehmen. »Aber bis du etwas gefunden hast, kannst du bleiben.«

»Danke, Tante Otti«, murmelte Claudia niedergeschlagen.

*

Sie war keinen einzigen Schritt weitergekommen, und das wurde ihr erst so richtig bewußt, als sie abends in dem winzigen Gästezimmer im Bett lag. Tränen liefen wieder über ihr Gesicht, und dann stand sie plötzlich auf und zog sich an. Ohne richtig zu wissen, was sie tat, verließ sie mit ihrem kleinen Koffer die Wohnung der Tante, trat auf die Straße und ging einfach los – ohne ein Ziel vor Augen.

Die aufsteigende Müdigkeit ließ ihre Beine immer schwerer werden. Mühsam stolperte sie durch die Dunkelheit, und als sie einmal hinfiel, blieb sie einfach liegen, schloß die Augen und war sicher, nie wieder erwachen zu müssen. Sie wollte sterben, und sie hoffte, daß sie hier in der Kühle der Nacht auch sterben würde. Doch als der Morgen graute, erwachte Claudia wieder. Mühsam rappelte sie sich auf und ging langsam weiter.

Wenn nicht diese Nacht, dann eben in der nächsten, dachte sie. Irgendwann wird mich der Tod von diesem elenden Dasein erlösen.

Sie hielt den Blick gesenkt und sah so nicht die Häuser, die vor ihr auftauchten. Erst als sie das Ortsschild passierte, bemerkte sie, daß sie nicht länger auf einsamen Wegen vor sich hin stolperte. Mit brennenden Augen betrachete sie die adretten Vorgebirgshäuschen und sehnte sich danach, hier irgendwo Schutz und Geborgenheit zu finden.

Dann erblickte sie die Kirche und ging ohne zu zögern darauf zu. Die Tür knarrte ein wenig, als Claudia sie öffnete, und dann umfing sie auch schon der Duft von Weihrauch und brennenden Kerzen. Langsam trat sie zu den Betbänken, kniete auf einer der Bänke nieder und versank in ein stummes, nach Hilfe flehendes Gebet. Und die Gottesmutter, die so gütig auf das verzweifelte Mädchen hinunterblickte, schien Erbarmen mit ihr zu haben. Es war, als hätte sie der Mann, der jetzt auf der Sakristei trat, gerufen.

»Guten Morgen, mein Kind«, sprach er das junge Mädchen an, das so mutterseelenallein in der Kirche kniete. »Du siehst aus, als wärst du vor etwas auf der Flucht.«

Mühsam erhob sich Claudia und strich durch das wirr gewordene Haar. Die Hose und die Bluse, die sie trug, waren schmutzig vom langen Liegen auf dem feuchten, steinigen Weg. Auch ihr Gesicht wies nur noch vereinzelte Spuren der einstigen Schönheit auf – Kummer und Schmutz hatten es fast bis zur Unkenntlichkeit verändert.

»Das bin ich auch, Hochwürden«, flüsterte Claudia. »Auf der Flucht vor dem Leben.« Sie sah in das gütige Gesicht des Pfarrers. »Heute nacht wollte ich sterben. Ist das eine Sünde?«

Er betrachtete das Mädchen, dem die Verzweiflung im Gesicht geschrieben stand.