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Dr. Daniel ist eine echte Erfolgsserie. Sie vereint medizinisch hochaktuelle Fälle und menschliche Schicksale, die uns zutiefst bewegen – und einen Arzt, den man sich in seiner Güte und Herzlichkeit zum Freund wünscht. Dr. Robert Daniel war gerade im Begriff, das Untersuchungszimmer zu verlassen, als ihm seine Sprechstundenhilfe noch eine Patientin ankündigte. Der Arzt seufzte leise. Offensichtlich war es ihm heute wieder nicht vergönnt, eine ruhige Mittagspause zu genießen, aber wann war das schon jemals der Fall gewesen? »Bringen Sie die junge Dame herein, Frau Kaufmann«, erklärte er ergeben. Lena Kaufmann blieb noch einen Moment zögernd stehen. »Ich kann versuchen, sie auf den Nachmittag zu vertrösten«, meinte sie. »Die Vormittagssprechstunde war so anstrengend…« Dr. Daniel lächelte. »Das ist lieb von Ihnen, Frau Kaufmann, aber ich fürchte, Sie kennen Frau Mangano nicht. Sie hat ein sehr ausgeprägtes Durchsetzungsvermögen.« Lena Kaufmann zog eine Grimasse. »So kann man es auch ausdrücken, Herr Doktor. Ich würde eher sagen, sie ist maßlos verwöhnt.« Sie schwieg kurz, dann setzte sie hinzu: »Ich kenne sie nämlich auch. Schließlich ist sie hier in Steinhausen aufgewachsen, und ich nehme nicht an, daß sie sich entscheidend verändert hat, nur weil sie jetzt in München lebt.« Dann drehte sie sich um, ging hinaus und betrat das Wartezimmer.
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Seitenzahl: 132
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Dr. Robert Daniel war gerade im Begriff, das Untersuchungszimmer zu verlassen, als ihm seine Sprechstundenhilfe noch eine Patientin ankündigte. Der Arzt seufzte leise. Offensichtlich war es ihm heute wieder nicht vergönnt, eine ruhige Mittagspause zu genießen, aber wann war das schon jemals der Fall gewesen?
»Bringen Sie die junge Dame herein, Frau Kaufmann«, erklärte er ergeben.
Lena Kaufmann blieb noch einen Moment zögernd stehen.
»Ich kann versuchen, sie auf den Nachmittag zu vertrösten«, meinte sie. »Die Vormittagssprechstunde war so anstrengend…«
Dr. Daniel lächelte. »Das ist lieb von Ihnen, Frau Kaufmann, aber ich fürchte, Sie kennen Frau Mangano nicht. Sie hat ein sehr ausgeprägtes Durchsetzungsvermögen.«
Lena Kaufmann zog eine Grimasse. »So kann man es auch ausdrücken, Herr Doktor. Ich würde eher sagen, sie ist maßlos verwöhnt.« Sie schwieg kurz, dann setzte sie hinzu: »Ich kenne sie nämlich auch. Schließlich ist sie hier in Steinhausen aufgewachsen, und ich nehme nicht an, daß sie sich entscheidend verändert hat, nur weil sie jetzt in München lebt.« Dann drehte sie sich um, ging hinaus und betrat das Wartezimmer.
»Frau Mangano, der Herr Doktor erwartet Sie«, erklärte sie.
»Wurde auch allmählich Zeit«, entgegnete Livia Mangano vorwurfsvoll, dann erhob sie sich und rauschte an der Sprechstundenhilfe vorbei auf den Flur. »Bemühen Sie sich nicht. Ich kenne den Weg.«
Sie betrat Dr. Daniels Sprechzimmer, als wäre sie hier zu Hause, dann nahm sie Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Mit einer eleganten Bewegung schlug sie die Beine übereinander und strich mit zwei Fingern ein paar ihrer tiefschwarzen Löckchen zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren.
»Guten Tag, Frau Mangano, was kann ich für Sie tun?« fragte Dr. Daniel, und seiner Höflichkeit merkte man nicht an, daß ihm die junge Dame nicht besonders sympathisch war.
»Meine Tage sind ausgeblieben, und ich leide unter Übelkeit und Schwindelanfällen«, erklärte Livia ohne Umschweife. »Kann es sein, daß ich schwanger bin?«
Dr. Daniel nickte. »Diese Vermutung liegt nahe.« Er stand auf. »Kommen Sie bitte mit mir ins Labor hinüber. Frau Kaufmann wird gleich einen Schwangerschaftstest vornehmen, dann haben wir Gewißheit.«
Das Testergebnis lag auch schon wenige Minuten später vor, und es war eindeutig positiv.
Verdammt, war Livias erster Gedanke, doch nach außen hin ließ sie sich nicht anmerken, wie wenig erfreut sie über diese Eröffnung war.
Mit einem strahlenden Lächeln sah sie Dr. Daniel an. »Das ist schön. Ricky und ich wünschen uns so sehr ein Baby.«
Dr. Daniel betrachtete sie genau und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Livia Mangano ihm etwas vorspielte. Sie war nicht gerade der Typ, den man sich als treusorgende Mutter vorstellen konnte. Dr. Daniel kannte den Lebenswandel der jungen Dame nur zu gut. Sie war von Beruf Tochter und beschäftigte sich ausschließlich mit den angenehmen Dingen des Lebens – Reiten, Tennis, großen Partys und ausgedehnten Urlaubsreisen.
Jetzt erhob sich Dr. Daniel. »Ich muß Sie noch untersuchen, Frau Mangano. Wenn Sie bitte nach nebenan gehen und sich freimachen.«
Mit elegantem Hüftschwung ging Livia an Dr. Daniel vorbei und trat hinter den dezent gemusterten Wandschirm. Die Art, wie sie sich bewegte und benahm, hätte niemandem den Eindruck vermittelt, daß sie diese Untersuchungen beim Frauenarzt so sehr haßte. Die entwürdigende Haltung, die sie auf dem gynäkologischen Stuhl einnehmen mußte, war ihr zuwider, und so schloß sie ergeben die Augen, in der Hoffnung, daß diese unangenehme Prozedur rasch vorüber sein würde.
Wenn dieser Dr. Daniel wenigstens ein betulicher alter Mann gewesen wäre, aber mit seinem markanten Gesicht, dem dichten blonden Haar und den strahlend blauen Augen sah er auch noch ausgesprochen gut aus. Dazu die sportliche Figur, die er sich trotz seiner fünfzig Jahre bewahrt hatte – alles Dinge, die es Livia nicht gerade leicht machten, sich zu entspannen.
»Alles in bester Ordnung, Frau Mangano«, stellte Dr. Daniel fest. »Die Gebärmutter hat sich schon deutlich vergrößert.« Er lächelte Livia zu. »Sie können sich wieder ankleiden.«
Während Livia dieser Aufforderung nachkam, errechnete Dr. Daniel bereits den voraussichtlichen Geburtstermin.
»Um den 15. Mai können Sie mit Ihrem Baby rechnen«, erklärte er, während Livia sich wieder setzte, dann wandte er sich ihr zu. »Ich möchte noch rasch den Blutdruck kontrollieren.«
Doch auch hier ergaben sich keine Auffälligkeiten.
»Also, Frau Mangano, aus meiner Sicht ist alles in Ordnung«, erklärte er. »Ich würde Ihnen raten, während der Schwangerschaft auf gefährliche Sportarten wie Reiten oder Skilaufen zu verzichten. Die Sturzgefahr ist hierbei nicht zu unterschätzen.« Er lächelte. »Und schließlich wollen wir ja nicht, daß Ihnen oder dem Baby etwas passiert.« Wieder machte er eine kurze Pause, doch als Livia auf seine Worte nichts erwiderte, setzte er hinzu: »Wenn Sie irgendwelche Probleme oder auch nur Fragen haben, können Sie sich jederzeit bei mir melden – auch ohne Termin. Ansonsten sollten Sie in vier Wochen zur nächsten Untersuchung kommen. Lassen Sie sich von Frau Meindl einen Termin geben.« Dann reichte er ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Mangano.«
Er sah der jungen Frau nach, dann atmete er unmerklich auf. Sie redete nicht viel, aber sie besaß eine Ausstrahlung, die in ihm immer wieder das Gefühl weckte, ein dummer kleiner Junge zu sein.
»Unsinn«, knurrte sich Dr. Daniel an. »Ich bin fast doppelt so alt wie sie.«
Dann stand er auf und verließ das Untersuchungszimmer. Er trat an den Schreibtisch der Empfangsdame Gabi Meindl, um die Briefe und Rechnungen zu unterzeichnen, die sie bereits für ihn hergerichtet hatte.
»So, jetzt verschwinde ich aber schnell nach oben, bevor noch jemand kommt, um mich vom Mittagessen abzuhalten«, erklärte er lächelnd, dann nickte er Gabi Meindl und Lena Kaufmann zu. »Mahlzeit zusammen.«
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend lief er die Treppe in seine Wohnung hinauf. Schon an der Tür schlug ihm der Duft von Sauerkraut und Nürnberger Bratwürstchen entgegen.
»Na endlich!« rief seine Schwester, die ihm seit seiner Rückkehr nach Steinhausen den Haushalt führte. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau hatte Dr. Daniel dem kleinen Vorgebirgsort für fünf Jahre den Rücken gekehrt, und als er sich entschlossen hatte, wieder zurückzukommen, war er froh gewesen, daß Irene ihm mit ihrer Anwesenheit den neuen Anfang erleichtert hatte.
»Tut mir leid, Irenchen, daß ich so spät komme«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich wurde in der Praxis aufgehalten:«
»Von Frau Mangano«, fügte Irene, hinzu.
Dr. Daniel war sichtlich erstaunt. »Woher weißt du denn das?«
Irene lachte auf. »Kunststück. Sie fährt die Auffahrt immer herauf, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.«
Dann deckte sie den Tisch, sah zu, wie ihr Bruder sich bediente, und nahm sich dann selbst eine große Portion Sauerkraut, die sie mit etlichen Bratwürstchen garnierte. Dr. Daniel schmunzelte in sich hinein, als er sah, wie reichlich Irene heute wieder zu essen gedachte. Überhaupt hätte man die beiden ganz bestimmt nicht für Geschwister gehalten, wenn man sie irgendwo gesehen hätte, denn mit ihren ehemals dunklen, jetzt schon leicht ergrauten Locken und den üppigen Körperformen war Irene das genaue Gegenteil ihres Bruders.
»Diese Livia Mangano ist eine äußerst unsympathische Person«, urteilte Irene jetzt.
Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Sie ist eine Patientin wie alle anderen, und dabei darf ich mich von Äußerlichkeiten nicht beeinflussen lassen.«
»Sag bloß, du magst sie.«
Dr. Daniel enthielt sich jeglichen Kommentars. Er wollte seine Schwester nicht belügen, doch die Wahrheit konnte er als verantwortungsbewußter Arzt auch nicht sagen. Allerdings hatte Irene es mit ihren Bemerkungen geschafft, daß er sich in Gedanken wieder mit Livia Mangano und vor allem mit ihrer Schwangerschaft beschäftigte. Nach einigem Überlegen kam er jedoch zu dem Schluß, daß der jungen Dame die Verantwortung, die ein Baby mit sich brachte, vielleicht ganz gut tat.
*
Livia Mangano war da völlig anderer Meinung. Sie verfluchte sich, weil sie sich nicht anderweitig geschützt hatte. Schließlich hatte sie doch gewußt, wie nachlässig sie während des letzten Urlaubs mit der Pille gewesen war. Und nun stand sie also vor dem Problem, daß sie ein Baby erwartete, das sie nicht gewollt hatte und nicht abtreiben durfte, weil ihr Verlobter Richard Schermann, der allgemein nur Ricky genannt wurde, sich wirklich ein Kind wünschte.
Überhaupt war Ricky ein ziemlicher Familiennarr – eine Tatsache, die Livia von Anfang an bei ihm gestört hatte. Ständig sprach er von Heirat, und dann wollte er viele Kinder, weil er selbst als Einzelkind aufgewachsen war und sehr darunter gelitten hatte.
Viele Kinder! Livia schnaubte verächtlich. Sie wollte überhaupt kein Kind. Kinder ruinierten nur die Figur, und später waren sie quengelnde Anhängsel, die an den Nerven ihrer Eltern zerrten.
Jetzt bog Livia in die Villeneinfahrt der Manganos ein und hielt den schnittigen Sportwagen vor dem Portal an. Dienstbeflissen eilte der Chauffeur herbei, um Livia sofort die Wagenschlüssel abzunehmen. Er würde das Auto in die Garage fahren.
Diesen Service war Livia so gewohnt, und sie würdigte weder den Chauffeur noch ihr Auto eines weiteren Blickes. Sie lief die Stufen hinauf und klingelte Sturm, denn wie immer hatte sie keinen Hausschlüssel mitgenommen.
Der Butler Karl kannte das anscheinend gar nicht anders, denn ohne eine Miene zu verziehen, öffnete er die schwere eichene Haustür und deutete eine Verbeugung an, als Livia an ihm vorbeirauschte. Mitten in der Eingangshalle blieb sie stehen und drehte sich zu dem Butler um.
»Ist mein Verlobter schon hier, Karl?« fragte sie, und ihre Stimme klang dabei befehlsgewohnt.
Wieder deutete der Butler eine Verbeugung an. »Herr Schermann wartet im Blauen Salon, gnädige Frau.«
Livia drehte sich auf dem Absatz um, ging auf eine der kunstvoll verzierten Türen zu und trat ein. Im selben Moment änderte sie sowohl ihr Auftreten als auch ihren Gesichtsausdruck. Mit einem strahlenden Lächeln ging sie auf den jungen Mann zu, der sich bei ihrem Eintreten umgewandt hatte.
»Ricky, stell dir vor, wir werden ein Baby haben!« rief sie. »Ist das nicht wunderbar?«
In Rickys Augen leuchtete es auf, dann schloß er seine Verlobte zärtlich in die Arme.
»Eine größere Freude könntest du mir gar nicht machen, Liebling«, murmelte er in ihr Ohr. »Wann wollen wir heiraten?«
Livia löste sich geschickt aus seiner Umarmung. »Aber, Ricky, wer wird denn gleich von Heirat sprechen. Wir sind doch noch so jung.«
Rickys Stirn umwölkte sich. »Ich möchte aber nicht, daß unser Kind unehelich geboren wird.«
Wenn es nach mir geht, dann wird es überhaupt nicht geboren werden, dachte Livia, laut jedoch sagte sie: »Ach, bis dahin ist noch eine Menge Zeit. Und außerdem möchte ich nicht mit dickem Bauch heiraten. Wir werden Hochzeit feiern, wenn das Baby hier ist.«
Ricky wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihr zu widersprechen. Wenn Livia einen Entschluß gefaßt hatte, dann war das meistens endgültig.
»Gut, wie du meinst«, stimmte er zu, dann trat er an die Bar, um sich einen Cognac einzuschenken. »Möchtest du auch etwas, Liebling?«
»Nein, danke, im Moment nicht«, lehnte sie ab, während sie zusah, wie Ricky zur Bar ging. Er bewegte sich dabei ohne Hast und so geschmeidig, daß man unschwer den Sportler erkennen konnte.
»Livia, da bist du ja!«
Der dröhnende Baß gehörte Luigi Mangano – Livias Vater. Jetzt trat er zu seiner Tochter und umarmte sie so herzlich, als hätte er sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Und als er sich endlich von ihr löste, legte er mit geradezu besitzergreifender Geste einen Arm um ihre Schultern.
In diesem Augenblick wurde Ricky wieder einmal bewußt, wie sehr Livia ihrem italienischen Vater glich – die dunklen Augen, das blauschwarz schimmernde Haar, das sie heute in einem kunstvollen Knoten hochgesteckt hatte. Es war eine ausgesprochen strenge Frisur, die durch die kleinen Löckchen, die sich über der Stirn ringelten, ein wenig aufgelockert wurde. Dazu das fast klassische Gesicht mit der schmalen, geraden Nase und dem feingeschwungenen sinnlichen Mund. Livia war der fleischgewordene Traum eines jeden Mannes, und Ricky war glücklich, daß es ihm vergönnt sein würde, dieses wunderschöne Mädchen eines Tages zum Altar führen zu dürfen. Daß damit gleichzeitig der Industriekonzern Luigi Manganos mit dem Unternehmen von Rickys Vater verheiratet wurde, stand für ihn dabei erst an zweiter Stelle. Vielleicht, weil er ein Leben lang reich gewesen war und es für ihn keinen Anlaß zu der Befürchtung gab, er könnte es irgendwann einmal nicht mehr sein.
»Was hat Dr. Daniel gesagt?« fragte Luigi Mangano jetzt und riß Ricky damit in die Wirklichkeit zurück.
Nur mit Mühe unterdrückte Livia einen Seufzer. Sie wußte, wie sehr sich ihr Vater nach Enkelkindern sehnte.
»Meine Vermutung war richtig«, erklärte sie und brachte dabei wieder ein glückliches Lächeln zustande. »Ich erwarte ein Baby.«
Luigi Mangano lachte auf. »Wunderbar! Meine Güte, wie freue ich mich, wenn hier erst mal ein halbes Dutzend kleine Manganos herumsausen.«
»Schermanns«, berichtige Ricky schmunzelnd. »Schließlich wollen Livia und ich irgendwann heiraten.«
»Richtig.« Luigi Mangano lachte dröhnend. »Aber ob Schermann oder Mangano – das ist doch völlig gleichgültig, solange die Babys hier der Reihe nach eintrudeln.«
»Vorerst erwarte ich nur eines«, warf Livia verdrossen dazwischen.
Und wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, dann wird nicht einmal das zur Welt kommen.
*
»Ich muß jetzt gehen, Frau Kampe«, erklärte Gesine Neumeister. »Sie kommen die letzten beiden Stunden doch sicher ohne mich aus.«
Marina Kampe nickte. »Natürlich, Frau Neumeister. Sehr viel Betrieb herrscht heute sowieso nicht.«
»Stimmt. Also dann, bis morgen.«
Damit verließ sie die kleine Kinderboutique im Herzen von Bad Tölz. »Große Mode für kleine Leute« stand auf der alten Schiefertafel, die im Schaufenster lehnte.
Marina sah ihrer Chefin nach, dann atmete sie auf. Heute war sie wirklich froh, Gesine Neumeister los zu sein. Normalerweise arbeiteten die beiden Frauen trotz des enormen Altersunterschiedes sehr gut zusammen, doch in den letzten Stunden hätte Gesine Neumeister ihre Angestellte beinahe auf die Palme gebracht. Ständig hatte sie etwas herumzunörgeln gehabt.
»Wahrscheinlich Krach mit ihrem Alten«, murmelte Marina, dann mußte sie lachen. Solche Ausdrücke waren ihr normalerweise fremd, und außerdem kannte sie Herrn Neumeister ja gar nicht. Vielleicht war er ein gutaussehender Mittfünfziger mit grauen Schläfen und markantem Gesicht. Wieder mußte Marina lachen, dann entschloß sie sich, die neuen Kinderjeans auszupacken, die mit der letzten Lieferung gekommen waren. Jetzt hatte sie gerade Zeit, und die wollte sie nutzen.
Marina war noch keine fünf Minuten im Lager, da hörte sie von draußen die zarte Melodie zu »Alle meine Entchen«, mit der sich die Ladentür öffnete.
»Komme gleich!« rief sie, während sich die Tür mit »schwimmen auf dem See« wieder schloß.
»Laß dir nur Zeit!«
Marina erkannte die Stimme auf Anhieb, ließ die roten Jeans Größe 86 fallen und lief in den Laden hinaus.
»Annemarie! Das ist aber eine Überraschung!«
Am liebsten wäre sie ihrer Freundin um den Hals gefallen. Immerhin hatten sie sich ja seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.
Auch Annemarie Klein strahlte über das ganze Gesicht.
»Bad Tölz hat mich wieder«, erklärte sie. »Und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, endlich zu Hause zu sein.«
»War’s nicht schön in Kanada?«
Annemarie verdrehte schwärmerisch die Augen. »Traumhaft, Marina. Ich sage dir, diese Landschaft – einfach umwerfend.« Dann lachte sie. »Aber es geht eben nichts über die Heimat.«
»Das glaube ich gern.« Marina strich eine Strähne ihres langen kastanienbraunen Haares zurück. »Ist deine Tante wieder gesund?«
Annemarie nickte. »Ja, sie ist soweit wiederhergestellt. Die Operation hatte sie gut überstanden, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie ihre Arbeit wieder erledigen konnte. Eine kanadische Farm zu leiten ist kein Kinderspiel. Das habe ich in den vergangenen zehn Monaten nur zu deutlich gemerkt.« Nachdenklich blickte sie vor sich hin. »Ich habe sie ja schon damals bewundert, als sie nach Onkel Georges Tod beschlossen hatte, die Farm allein weiterzuführen, aber seit ich weiß, welche Arbeit dabei dahintersteckt, ist meine Bewunderung für sie ins Grenzenlose gestiegen.« Dann sah sie Marina wieder an. »Und du? Was hast du in diesen zehn Monaten getrieben?«
»Nicht viel«, meinte Marina. »Wie du siehst, arbeite ich noch immer hier in der Boutique und sonst… na ja, viel Neues gibt es nicht von mir zu erzählen.«