Mein letztes Heute - Julia Thiele - E-Book

Mein letztes Heute E-Book

Julia Thiele

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Beschreibung

Jo ist 21 Jahre alt und wird ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Eine niederschmetternde Diagnose lässt die Welt der Studentin in sich zusammenkrachen und ihre zarte Seele mit dunkel grollenden Gedankengewittern kämpfen. Aber was tun, wenn einem keine Zeit für Selbstmitleid bleibt? Wo fängt man an, bevor man endgültig aufhört? Es beginnt ein letzter Tag mit Champagnerlachen und Herzbeben in einer Welt voller Alltagsmagie. Autorin Julia Thiele erzählt mit radikalem Feingefühl die Geschichte einer jungen Frau, die selbst in der aussichtslosesten Lage den Mut findet, nach vorn zu blicken. Eine Geschichte von einem Anfang mitten im Ende.

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Kapitelübersicht

Prolog 1

01 4

02 6

03 8

04 11

05 17

06 21

07 24

08 28

09 32

10 34

11 40

12 45

13 49

14 54

15 57

16 59

17 62

18 64

19 67

20 73

21 75

22 77

23 82

24 85

25 89

26 95

27 99

28 102

29 109

30 112

31 117

32 123

33 130

34 136

Dankeschön 146

Prolog

Heute ist der Tag, an dem ich sterben werde.

Morgen werde ich nur noch eine Erinnerung sein. Ich spüre, wie sich der Moment wie eine Schlinge enger und enger um mich zusammenzieht. Gelähmt von der Kürze der Zeit warte ich allein in der Dunkelheit. Warte auf das finstere Nichts. Meine Nachttisch­lampe versucht mit ihrem schwachen Schein, mein ­Gemüt aufzuhellen.

»Was mache ich denn jetzt?«, frage ich sie, bekomme aber keine Antwort.

Plötzlich bin ich mittendrin – im letzten Tag meines Lebens. Dabei bin ich noch längst nicht bereit …

Wieso wurde ich bei der Entscheidung über den Zeitpunkt meines Todes eigentlich nicht gefragt? Sollte ich bei so einem lebenswichtigen lebensbeendenden Beschluss nicht auch mitreden dürfen? Habe ich etwa kein Stimmrecht? Kein Veto?!

Mein bebendes Herz ist in dichten Nebel gehüllt. Ich fühle mich dunkelblau.

Gewitterwolken brauen sich in meinem Kopf zusammen. Kurz davor, sich in meine Gedanken auszuschütten. Ist es zu spät für lebenserhaltende ­Maßnahmen? Ich brauche nur etwas mehr Zeit. Zeit für … alles!

In meinem Gehirn kracht es. Ein Donner grollt hinterher. Ich hebe die Hände und spüre den Wolkenbruch hinter meinen Schläfen. Die ersten Regen­tropfen rinnen mir über die Wangen. Aus Dunkelblau wird Tiefschwarz.

Mein kurzes Leben lang habe ich mich immer gefragt, ob ich alt werden würde. So richtig dreistellig alt. Ob ich auf ein intensives Leben zurückblicken würde. Eines, das am Ende nur noch hauchdünn und abgenutzt ist. Wie würde ich wohl als Oma sein? Würde ich so runzlig und glücklich aussehen wie meine eigene Großmutter, die ich nur von alten Fotos kenne? Würde ich eines späten Tages einfach zufrieden einschlafen? Heute kenne ich alle Antworten. Keine Fragezeichen mehr, nur noch Punkte.

Ich werde kein langes Leben haben.

Punkt.

Werde keine Oma sein, weil mir nicht mal mehr die Zeit bleibt, Mutter zu werden!

Ausrufezeichen.

Ich werde mit einem Ruck aus dem Leben gerissen. Nicht mal meinen zweiundzwanzigsten Geburtstag darf ich noch erleben.

Ich bin dabei, alles zu verlieren. Oder habe ich nichts zu verlieren?

Ich weiß es nicht …

Ein Sturm rauscht in meinem Inneren und wirbelt sämtliche Gefühle durcheinander. Unter mir sammelt sich das Regenwasser zu einer Pfütze.

Welche Erinnerungen an mich werden bleiben? An was wird sich mein Vater erinnern und woran ­meine Freunde? An mein schön aufgeräumtes ­Zimmer? Meinen Lippenstift am Rotweinglas? Meine Scheiß-­­Prüfungsnoten?

Das Wasser steigt in sanften Wellen. Die stille Glühbirne versinkt und ihr Leuchten erstickt. Ich schließe die Augen, während mich die Flut umspült.

Wird der Klang meines Lachens bleiben? Ich wünsche mir, dass der Klang meines Lachens das ist, was von mir bleibt.

Das Salzwasser reicht mir inzwischen bis zum Kinn.

Ich öffne die Augen. Nein, nicht so. Kein Tod durch Ertrinken! Es ist noch nicht zu spät! Noch nicht zu spät für ein erfülltes Leben. Ein paar Stunden habe ich schließlich noch. Und wer sagt denn, dass diese letzten nicht sogar die wichtigsten von all den vielen, vielen Stunden sein werden.

In einiger Entfernung treibt mein Mut auf der Wasseroberfläche. Ich befreie mich aus den Gewitter­gedanken. Löse mich aus der Schockstarre und schwimme ihm entgegen. Mir bleibt immerhin dieser letzte Tag.

Mein letztes Heute.

01

Am Morgen zuvor

Meine Augen blinzeln ins schläfrige Zimmer, das in rötlich verschwommenes Licht gehüllt ist. Hinter den Vorhängen schimmert ein frischer Tag. Die schwere Bettdecke drückt mich tief in mein zerwühltes Bett. Mir ist übel. Ich will mich mit dem Morgen versöhnen, aber die letzte Nacht macht es mir schwer. Erschöpft drehe ich mich um und blicke zu Herbert.

»Erst mal keinen Merlot mehr für mich!«, sage ich und tippe auf sein dunkelgrünes Blatt, das neugierig bis über mein Kissen ragt. Er nickt still. Mein Magen knirscht leise. Es ist zu früh, flüstert das Buch, als ich durch dessen Seiten blättere. Ein paar Seiten nur, zum Wachwerden. Ich ziehe die Geschichte zu mir unter die Decke, damit der Tag uns nicht findet.

Meine Ohren summen, als ich gegen Mittag in die ­Küche schlurfe. Auf dem Tisch liegt ungefiltertes Sonnen­licht. Es erleuchtet den Raum hell und warm. Der meterhohe Berg schmutzigen Geschirrs wirft lange Schatten.

Typisch Elvy.

Wie so oft beginne ich mein Frühstück damit, eine Tasse im gewaltigen Porzellan-Monument zu finden und operativ zu entfernen. In nicht mal dreißig Sekunden habe ich sie sauber gespült.

Was ist daran bloß so schwierig? Vielleicht bin ich heute nicht fürs WG-Leben gemacht.

Danach suche ich in einer Schublade aus vielen kleinen Teebeuteln meine Lieblingssorte Kamille Vanille heraus und werfe das weiche Viereck in die nass­glänzende Tasse. Im Brotkorb finde ich nur traurige Krümel.

Fantastisch. Das Teewasser brodelt wie ich.

Aus dem Kühlschrank hole ich die Hafermilch und schütte sie in den frisch aufgegossenen Tee. Da ich hauptsächlich solarbetrieben bin, setze ich mich, statt etwas zu essen, in die schweigende Sonne. Ein heller Ton schwingt leise in meinen Ohren. In meiner dampfenden Tasse tobt ein Tornado. Die quellenden Milchwolken lösen sich langsam auf, bis nur noch eine gleichmäßig hellbraune Flüssigkeit in der Tasse kreist. Allmählig werde ich wach. Der heiße Tee beschwichtigt meinen Magen und es geht mir langsam besser. Ich genieße die Ruhe, bis die Uhr an der Wand mit ihrem ­langen Zeiger ungeduldig winkt.

02

Vor unserer Wohnungstür wartet ein prallvoller Müllbeutel auf mich.

Immerhin hat er es schon bis hierher geschafft.

Ich schließe die Tür ab und schleife die schwere Tüte bis zum Treppenabsatz. Auf meinem Weg nach unten begleiten mich die üblichen Hip-Hop-Bässe aus dem vierten Stock. Die WG schallt gern ihren frag­würdigen Musikgeschmack zur Unterhaltung aller durch die dünnen Wände. Meine Füße sausen die Stufen hinab. Die zum Zerreissen gespannten Plastikgriffe schneiden sich mit jedem Schritt tiefer in meine Finger.

Unten angekommen, stemme ich mit dem Rücken die große Holztür auf und schlüpfe rasch hinaus in den Innenhof. Der Müllbeutel plumpst träge in die schwarze Tonne. An der efeubewachsenen Wand gegenüber lehnt mein pfirsichfarbenes Fahrrad. Das Vorderrad friedlich in die immergrünen Blätter gekuschelt.

»Wir müssen jetzt schleunigst los«, sage ich entschuldigend und frickle einen winzigen Schlüssel ins Fahrradschloss. »Sonst kommen wir noch zu spät zu meinem Termin.«

Mit einem zahmen Quietschen löst sich mein Rad aus dem Stillstand und gemeinsam schieben wir uns zum Vorderhaus. Auf der Straße hinter dem Tor strahlt uns die tiefe Mittagssonne überschwänglich entgegen. Ich hebe die Hand zum Gruß vor meine geblendeten Augen. Dann schwinge ich mich auf den Sattel und trete unseren Ausflug los. Gemeinsam kurven mein Fahrrad und ich auf dem Bürgersteig um die großen und kleinen Pflanzentöpfe eines Blumenladens herum. Fahren vorbei am Späti und am Bäcker mit dem besten Baklava der Stadt. Weichen auf die Straße aus, als uns ein Kind mit einem großen Helm auf seinem Laufrad entgegenkommt. In Schlängellinien eiert es hoch konzentriert an uns vorbei. Sein Papa läuft wie ein persönlicher Motivations­coach applaudierend nebenher.

Die Sonne wirft motiviert ihr Licht zwischen den Häusern hindurch zu uns auf die Straße. Die ­kahlen Bäume malen ihre Schatten auf bunt besprühte Häuser­wände. Ich bin viel zu warm angezogen. Mein Parka schmiegt sich an mich, während ich kräftig in die ­Pedale trete, um den kühlen Fahrtwind in meinem ­Gesicht zu spüren. Zügig gleiten wir quer durch den Kiez. Zwischen spitzen Ästen singen ein paar fröhliche Vögel die Melodie des Frühlings. Es duftet nach Wochen­ende. Heute wird ein guter Tag, ich fühle es.

03

Langsam rollen wir bis zum Ende einer breiten Fahrrad­straße und halten vor einem Ärztehaus an. Ich ­schließe mein Rad an seinem üblichen Platz an und gehe durch die Automatiktür ins Foyer. Die Dame am Empfang ­begrüßt mich wie jeden Gast mit einer ­geballten ­Ladung Ignoranz. Mein freundliches Hallo prallt an ihr ab; ich ernte nur mürrische Stille und einen genervten Blick über den Rand ihrer eckigen Brille. Die große Uhr über dem Fahrstuhl erinnert mich daran, dass ich mich ­beeilen muss.

In der fünften Etage betrete ich den Vorraum der neuro­logischen Praxis. Es beginnt ein längst ­einstudierter Tanz.

»Hallo Frau Zeiss, ist es schon wieder so weit, ja?« Hinter dem Tresen rollt sich Magdalena auf ihrem Büro­stuhl vor den Computer. Während ihre Zeigefinger sich einzelne Buchstaben aus der Tastatur picken, wackelt der Dutt auf ihrem Kopf.

»Ja ja, ist es wohl«, antworte ich und zücke meine Krankenkassenkarte.

»Haben Sie auch neue Bildchen dabei?«

Ich reiche ihr eine schmale Hülle mit einer silber-­­­glänzenden CD. Nach ein paar geübten Handgriffen schiebt sie mir die Karte wieder zu und erhebt sich ächzend vom Stuhl.

»Na, dann kommen Sie doch am besten gleich mal mit zum Blutabzapfen, haha.«

Wir gehen in den kleinen Nebenraum. Hier ist alles weiß.

»Warm ist es heute, finden Sie nicht auch?« ­Magdalena öffnet eine der zahlreichen identisch aussehenden Schubladen, während ich mich auf die Patienten­liege setze und meinen Jackenärmel hochkrempele.

»Viel zu heiß für diese Jahreszeit. Haben die vorhin im Radio gesagt. Aufpassen, wird mal kurz kalt …« Ein paar Sekunden lang riecht es nach Ethanol.

»Ich finde das Wetter schön.«, sage ich.

»Ja, ist schon schön, ist schon schön. Achtung, kleiner Pieks. Aber normal ist das nicht für Anfang März, sagen die.«

»Nee, normal ist das bestimmt nicht«, antworte ich und beobachte, wie die Spitze der Kanüle in meiner Haut verschwindet.

»Und morgen soll es sogar noch wärmer werden. Ich nehme heute zwei Portionen, ja? Irgendwas mit ­Sahara-Winden hieß es. Also nehmen Sie sich was Schönes vor, Frau Zeiss. Den Wattebausch bitte noch feste draufdrücken.« Sie zwinkert mir zu, zwei Röhrchen meines dunkelroten Blutes in den Händen.

Ein paar schlanke Sätze von der nicht ganz so schlanken Sprechstundenhilfe später sitze ich gemeinsam mit einer anderen Frau im Wartezimmer. Sie liest eine Zeitschrift unter einem knallbunten Kunstdruck. Drei Kreise auf acht Quadraten. Ich warte neben dem ­kleinen Fenster zur Straße. So schönes Wetter und ich ­hocke hier drinnen. Statt einer Uhr sehe ich auf meinem Handgelenk nur den briefmarkengroßen milchkaffeefarbenen Fleck in der Form Australiens, der mich schon immer begleitet. Auf der Suche nach der Uhrzeit ziehe ich mein Handy aus dem fast leeren Rucksack. Was, so spät? Ich schlendere eine Weile durchs Internet, wische durch einen endlosen Stream quadratischer Bilder und verteile gedankenlos Herzen. Meine Schulfreundin Mel postet ein Foto von einem übervollen ­Eisbecher mit Streuseln.

I like.

Im Behandlungszimmer begrüßt mich Dr. Fahim mit einem kräftigen Händedruck. Geschäftig nimmt er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz, während ich mich auf die ihm gegenüberliegende Seite setze und viel lieber ein Eis essen möchte.

04

Dr. Fahim trommelt mit seinen Fingern auf meiner Patientenakte.

»Frau Zeiss, wie geht es Ihnen?«, fragt er.

»Gut, gut.«

»Etwas genauer, bitte«, verlangt er ernst. »Haben Sie in letzter Zeit vermehrt Schwindelgefühle? Wie ist Ihr allgemeiner Erschöpfungsgrad?«

»Joah, also ich bin gerade erst aus der Prüfungs­phase raus, daher bin ich natürlich schon etwas kaputt–«

»Schwindel?«, unterbricht er mich.

»Nicht wirklich, nein«, überlege ich. Nicht vermehrt.

»Würden Sie sagen, dass sich Ihre Sehkraft verschlechtert hat?«

»Was ist denn das heute für ein Verhör?«, witzle ich. Er lacht nicht.

»Also manchmal habe ich eine Art Schleier vor den Augen. Aber nicht schlimm. Und auch nicht oft«, sage ich und durchsuche meine Jackentaschen erfolglos nach Kaugummis. Dr. Fahim tippt auf der lauten Tastatur herum und wirft seinen Blick tief in den ­Monitor. Bis auf das gelegentliche Klicken seiner Maus ist es vollkommen still. Plötzlich werde ich nervös. Zerstreut wühle ich in meinen Sachen herum. ­

Irgendwie ist die Stimmung heute anders. Bilde ich mir das nur ein? Wo sind denn meine Kaugummis, verdammt?

Dr. Fahims Räuspern reißt mich aus dem Rucksack und als ich aufblicke, treffen mich zwei schwarze Augen ­direkt ins Mark.

»Frau Zeiss, der Befund Ihres jüngsten MRTs weist eine deutlich erkennbare Anomalie auf. Wir sehen eine hohe Dichte an entdifferenzierten Zellen.«

Dr. Fahim macht eine quälend lange Pause und hat mich mit seinem Blick fest im Griff. Meine Augen starren zurück. Ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Er holt tief Luft, bevor er seinen Blick abwendet und mich fallen lässt.

»Ihre Schnittbilder zeigen multiple Neurofibro­sarkome an peripheren Nerven. Neue Wucherungen, Frau Zeiss. Diese haben zunächst Missempfindungen und Sensibilitätsstörungen wie beispielsweise eine Verminderung der Sehkraft zur Folge.«

Er blättert in meiner Akte. Ich fühle mich in den Moment vor neun Jahren zurückgeschossen, als ich das erste Mal hier saß. Als Mama ganz fest meine Hand drückte und ich beobachtete, wie die Falte zwischen ­Dr. Fahims Augenbrauen immer tiefer wurde. So tief wie jetzt war sie noch nie.

»Bei Ihnen ist vorrangig der achte Hirnnerv betroffen, was die Veränderungen in Ihrem Audiogramm erklärt.«

Er schiebt ein Blatt Papier zu mir. Ich schaue auf zwei abfallende Kurven auf kariertem Untergrund. Aha. Wieder räuspert er sich und fährt fort: »Nach einer Konsultation mit meinen Kollegen von der Neuro­chirurgie muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ­aufgrund der netzartigen Wucherung der Glioblastome eine Operation in Ihrem Fall ausgeschlossen ist.«

Moment,Operation?

»Ich verstehe nicht …«, sage ich kopfschüttelnd.

»Frau Zeiss«, verkündet Dr. Fahim eindringlich, »wir sprechen hier von bösartigen Tumoren der Kategorie 4.«

»Ich verstehe nicht …«, höre ich mich wiederholen.

»Diese Entwicklung ist bei Ihrem Typ 2 der NF relativ selten.«

Meine Augen wandern träge nach unten. ­Beobachten meine Finger dabei, wie sie zittrig einen Kau­gummi aus der Packung fummeln.

»Was jedoch problematischer als die multiple Wucherung ist«, Ach, es gibt noch eine schlechte Nachricht? »ist die gegenwärtig offenbar drastische Beschleunigung Ihres Krankheitsverlaufes.«

Drastisch?

»Drastisch?«

»Ihre Blutwerte weisen heute eine starke Veränderung Ihrer metabolischen Daten auf. Wir sehen eine hohe CRP-Konzentration, Ihr LDL-Wert liegt über der Norm.« Er schwenkt den Monitor schräg zu mir. Ich rücke auf meinem Stuhl näher heran. Der Bildschirm zeigt eine große Tabelle mit unendlich vielen Zahlen. Ich kneife die Augen zusammen und suche die Zeile, in der Sie werden sterben steht.

Dr. Fahim zeigt auf eine Zahl mit sehr vielen Nach­kommastellen. Fachbegriffe hageln auf mich herab. ­Seine Worte vermischen sich zu einem klebrigen Brei, den ich nicht verdauen kann. In meinen Ohren rauscht das Meer.

»Heißt das – das war’s jetzt?«, fragt mein Mund.

Er blättert erneut durch die Akte. Schweigt.

»Wie lange bleibt mir noch?«

»Nun, genau genommen …«, wieder macht er eine schrecklich lange Pause, in der sich meine Augen mit Wasser füllen. Dr. Fahim senkt den Kopf in dem verschwommenen Aquarium. Diesmal schaut er mich nicht an, sondern heftet einen entschuldigenden Blick auf seinen Schreibtisch. Mein Kaugummi ist hart und schmeckt nach Beton. Mein Kiefer verkrampft.

»Also?«, frage ich zu laut.

Seine schattigen Augen wirken plötzlich stumpf und fremd.

»So genau kann man das nie prognostizieren …«

»Aber irgendwas haben Sie doch erzählt mit den ­Lipidwerten … Sie haben doch beim letzten Mal gesagt, es sähe alles so gut aus. Es sei alles stabil!«

Er schaut zurück auf den Monitor.

»Werde ich denn die nächste Woche noch erleben?«

»Möglicherweise«, antwortet er gepresst.

Das sollte ein Scherz sein.

»Das ist natürlich lediglich eine Prognose, Frau Zeiss. Selbst aus medizinischer Sicht lässt sich der Zeitpunkt Ihres Ablebens nicht mit Bestimmtheit voraussagen.«

Der Zeitpunkt meines Ablebens …

»Wir sprechen hier allerdings mit relativ großer Wahrscheinlichkeit eher von Tagen als Wochen«, fügt er nach einem Moment des Schweigens leise hinzu.

Ich schlucke den Kaugummi herunter. Er knallt auf den Grund meines Magens und löst eine Erschütterung aus, die bis in meinen Kopf dröhnt. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, und entscheide mich für keines von beidem.

»Aber, wie gesagt: Es ist und bleibt zu diesem Zeitpunkt eine hypothetische Vorhersage anhand Ihres bisherigen Krankheitsverlaufes. Trotz der klinischen Befunde können Ihnen durchaus ein paar Tage mehr bleiben.« Ein Beschwichtigungsversuch. Jedem seiner Worte folgt ein hallendes Echo.

»Oder auch ein paar Tage weniger?« Meine Stimme bricht. Wo kommt das alles plötzlich her?Das ist lächerlich!

Auf der anderen Seite der Tür klingelt das Telefon. Es donnert seine aggressive Melodie wieder und wieder gegen die Tür. Niemand geht ran. Ich will hinausstürmen, zum Empfang rennen und dann irgendwas in den Hörer brüllen. Egal, was. Stattdessen bleibe ich auf dem harten Plastikstuhl sitzen. Meine Zähne sind aufeinandergepresst, meine Hände umklammern die Kaugummipackung.

Es ist nichts mehr übrig, das noch gesagt werden muss. Und doch sehe ich Dr. Fahim reden. Sein Mund bewegt sich, seine Worte verfehlen mich jedoch. Hin und wieder schwingen einige nah genug an meinem Ohr vorbei: Symptomatisch. Gabapentin. Palliativ.

Vermutlich ist eines davon mein Stichwort zu gehen, denn er beendet seinen Monolog und schaut mich fragend an. Ich nicke automatisch und merke, wie meine Beine sich bereits zum Aufstehen entschieden haben.

Als ich den kalten Türgriff unter meiner schwitzigen Hand fühle, halte ich kurz inne. »Danke«, sage ich und weiß eigentlich gar nicht, wofür.

»Alles Gute!«, sagt Dr. Fahim wehmütig zu meinem Rücken. Wie jedes Mal.

Bis auf die letzten Worte, die lässt er heute weg.

›Alles Gute; wir sehen uns in drei Monaten.‹

05

Die Sprechstundenhilfe lächelt mir im trüben Empfangs­bereich hell entgegen. Meine Stimmbänder vibrieren, mein Mund bewegt sich. Meine Füße tragen mich über die Türschwelle.

Was ist hier gerade passiert?

Der Flur zum Fahrstuhl ist ungewohnt finster und lang. Dumpfe Schritte hallen von den Wänden zu mir zurück.

Es muss ein Fehler vorliegen – es geht mir doch gut!

Am Ende des Ganges verbirgt sich der kleine neonbeleuchtete Raum hinter einem Vorhang aus Metall. Ich zwänge mich hinein. Stehe neben einer halbtransparenten Person, die vage aussieht wie eine blasse Version meiner selbst. Meine Hand drückt auf die unterste Taste. Die Tür schließt mich mit meinen Gedanken ein.

Der Fahrstuhl setzt sich schleppend in Bewegung und über mir startet ein leuchtend roter Countdown.

5 – Ein Betonklumpen liegt schwer in meinem Bauch.

4 – Die Luft hier drinnen ist schlecht.

3 – Der Doktor muss sich geirrt haben.

2 – Ich suche mir einen neuen Arzt!

---ENDE DER LESEPROBE---