Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als siebenjähriger Junge verliert der mit künstlicher Befruchtung gezeugte Joel durch ein Verbrechen seine Mutter. Die Behörden finden für ihn keinen angemessenen Betreuungsplatz. Er wird in ein Heim für Randständige eingewiesen und muss sich in diesem Umfeld behaupten. Maya, geboren in der Folge einer brutalen Vergewaltigung, wehrt sich als zehnjährige gegen den Missbrauch durch ihren Stiefvater. Als sexuell Erfahrene eingestuft wird sie fremd platziert. In einer zufällig sich ergebenen Situation teilen sie als junge Erwachsene einander ihre Erlebnisse und Erfahrungen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Laura 1
Die These Nr. 15 der Idee der Elementarbildung von
Johann Heinrich Pestalozzi
1746 – 1827
Jedes Kind ist als unverwechselbare Individualität zu bilden und erziehen, entsprechend dem Wesen seiner Kräfte.
1Laura
Seit über zehn Jahren lebt die mehrfachbehinderte Laura im Wagernhof Uster, wo sie liebevoll betreut und gepflegt wird.
Die Inspiration und der kreative Ansatz für meinen Roman
Mit seinem Kriminalroman „Berühre mich nicht“ motivierte mich Andrea Cavallieri, ein seit langem in mir tragendes Anliegen, einen Roman in vorwiegend direkter Rede zu schreiben. Die Art und Weise, wie Cavallieri die Charaktere und ihre Interaktionen darstellte, faszinierte mich zutiefst und weckte in mir das Bedürfnis, eine eigene Geschichte zu erschaffen, die hauptsächlich durch Dialoge getragen wird.
Dazu musste ich die grammatischen Regeln zur Zeichensetzung in der direkten Rede für meine Zwecke dehnen. In meinem Roman sollten die Gespräche der beiden Protagonisten und die Geschichten, die sie einander erzählen, klar voneinander unterscheidbar sein. So entschied ich mich für eine besondere Formatierung:
M: Im Gespräch der beiden Protagonisten „xxx“ In Geschichten, die Maya und Joel einander erzählen.
Diese Herangehensweise ermöglichte es mir, die Intensität und die Authentizität der direkten Rede zu verstärken, während ich gleichzeitig die Struktur und den Fluss der Erzählung bewahrte.
Germanistinnen und Germanisten mögen mir den Stilbruch verzeihen. Doch ich hoffe, dass die Leser*innen die Frische und Einzigartigkeit dieses Ansatzes schätzen werden, und dass meine Geschichte auf diese Weise eine besondere Lebendigkeit und Unmittelbarkeit erhält.
Hans Schaub
Lautlos gleitet die Aufzugstür zu. Im letzten Augenblick drängt sie durch den enger werdenden Spalt, wendet sich zum Panel der Liftsteuerung, schreit mit hochrotem Kopf in ihr Smartphone: „Du bist der übelste Kerl, der mir je über den Weg gelaufen ist.“ „Mir reicht’s, mit uns ist es aus!“, und schlägt mit geballter Faust auf den Knopf zum fünften Stockwerk. Sanft, kaum spürbar, zieht die Kabine an. Ihr Blick erstarrt, als es dunkel wird und der Aufzug mit einem Ruck zum Stehen kommt. Aus dem Augenwinkel erkennt sie die Umrisse einer Gestalt.
Erschrocken zuckt sie zusammen. „Waren Sie das? Haben Sie den Not-Stopp gedrückt?“ „Wer sind Sie, was wollen Sie?“
Eine sonore Männerstimme erwidert unaufgeregt: „Der Not-Knopf ist in der Ecke hinter Ihnen. Die Störung kommt von außen.“
In diesem Moment scheppert aus dem Lautsprecher neben dem Panel eine roboterhafte Frauenstimme:
„Sie hören eine automatische Weisung.“ Bitte bewahren Sie Ruhe. Ein externer Stromausfall hat den Betrieb des Aufzugs unterbrochen. Sobald die Anlage wieder mit Strom versorgt wird, werden Sie ins nächste Stockwerk befördert. Ist die Störung nach einer Viertelstunde nicht behoben, wird automatisch die Feuerwehr aufgeboten, um Sie zu evakuieren. „Danke für Ihr Verständnis.“
Sie:mit besänftigter Stimme: Leichter gesagt als getan, die erscheint ja auch nicht schon wieder zu spät zur Sitzung.
Er: gelassen: Ich denke, der Ausfall betrifft das ganze Haus, da ist es jetzt überall dunkel. Arbeiten wird jetzt niemand mehr, es ist nach sechs und alle fahren in den Feierabend.
Sie: Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind und was Sie hier wollen!
Er: Normalerweise erzähle ich Fremden nichts von mir, aber im Moment sieht es ganz danach aus, dass wir die nächste Zeit gemeinsam in diesem engen Aufzug verbringen werden. Und da ich ein freundlicher Mensch bin … Er lächelt verschmitzt. Mein Name ist Joel Moser, ich arbeite hier im Haus im vierten Stockwerk. Ich war schon auf dem Nachhauseweg, als mir unten im Parkhaus einfiel, dass ich eine wichtige Akte für mein Meeting morgen früh nicht eingepackt hatte … Also wollte ich mit dem Aufzug wieder nach oben. Normalerweise nehme ich lieber die Treppe, aber der hier ist ziemlich schwer. Er deutet mit dem Kinn auf den Aktenkoffer in seiner Hand.
Sie: Im vierten Stock sind doch nur die Büros der UM-Versicherung. Womit beschäftigen Sie sich denn den ganzen Tag?
Er: Sie sind ziemlich direkt, aber ich kenne bisher nicht einmal Ihren Namen, Frau …?
Sie: Ich habe meine Gründe, misstrauisch zu sein, glauben Sie mir. Je nachdem, in welcher Abteilung sie bei der UM arbeiten, erfahren Sie meinen Namen oder Sie erfahren ihn eben nicht.
Er: Gut, wenn das so ist: Ich bin Experte im Firmenversicherungsgeschäft. Betriebshaftung, Produkthaftung, Betriebsunterbruch und so weiter. Genügt Ihnen das? Was ist mit Ihnen?
Ich heiße Maya Zoller und stehe im Clinch mit der UM. Die weigern sich nämlich, meine Behandlungen zu bezahlen. Behandlungen, die mir zustehen! Da Sie aber sicher nicht im Privatleben anderer rumstöbern, wird Ihnen meine Akte wohl kaum bekannt sein.
Er: Ich frage mich gerade, wie lange der Stromausfall dauern wird, die Viertelstunde ist dann bald vorbei. Mit einer eleganten Handbewegung zieht er sein Smartphone aus der Manteltasche und tippt mit schlanken Fingern den PIN-Code ein. Nur ein Balken Empfang. Und die Push-up-Meldung verheißt nichts Gutes:
„Das Stromnetz ist landesweit gestört.“ Wir nutzen unsere Notstromanlage, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Aktualisierte Mitteilung in einer Stunde. „Bitte lassen Sie Ihr Mobiltelefon bis 19 Uhr ausgeschaltet.“
Er: Sieht ganz danach aus, dass wir geduldig ausharren müssen, bis sie uns hier wieder rausholen. Wenn der Stromausfall tatsächlich landesweit ist, muss die Feuerwehr neben anderen Notlagen tausende Leute aus Aufzügen retten.
Sie: Also ich habe keine Platzangst. Und erwartet werde ich ohnehin von niemandem. Seit heute bin ich sogar wieder Single, hab’ ihm vorhin den Laufpass gegeben. So hat die Sache sogar ihre Vorteile. Würde er mich suchen, käme er wohl kaum auf die Idee, mich in diesem verdammten Aufzug zu suchen.
Aber wissen Sie was, Sie stehen da im Dunkeln, und ich weiß nicht, wie Sie überhaupt aussehen oder wie alt Sie sind. Vielleicht habe ich Sie ja sogar schon mal gesehen. Darf ich ein Foto von Ihnen machen, mit Blitz?
Er: Wenn Sie mich hinterher auch lassen, habe ich nichts dagegen.
Sie: Dann stellen Sie sich mal in die Ecke … Moment, ich suche noch Ihr Gesicht … Hm, ja, den Umständen entsprechend scharf geraten, das Bild meine ich. Ihr Aftershave riecht gut. Haben Sie im Büro nochmal nachgesprayt, oder hält es so lange? Okay … Sie haben einen leichten Bürojob, dabei kommt man wohl kaum ins Schwitzen … Bei meinem Freund, ich meine Ex, war das anders, er hat nämlich keine Arbeit, er treibt sich tagelang im Fitnesscenter rum. Oder er verbringt Zeit mit irgendeiner Frau, die er beschenkt. Entschuldigen Sie, ich habe ein ziemlich loses Mundwerk … Und Joel, das klingt lieblich, weich … Ihre Gesichtszüge sind fein geschnitten, eine Spur südländisch, fast feminin. Also entweder habe ich einen Frauenhelden vor mir oder Sie sind schwul.
Er: Sie sind ziemlich forsch. Zu ihrer Beruhigung: Ich bin kein Herzensbrecher und Männer ziehen mich nicht an. Seit einer Viertelstunde haben Sie jetzt mein Gesicht auf Ihrem Handy. Ich verlange gleiches Recht. Stehen Sie mal still, nicht wegdrehen … Lassen Sie mal sehen … markant und gepflegt, brünett. Ist das echt …? Roter Mantel, Pelzstiefel, die Handtasche, sehr elegant …
Sie: Wie alt sind Sie, lassen Sie mich raten, hm, so fünfundzwanzig? Ich bin neunzehn. Dann sprechen wir uns doch mit ‚Du' an!
J: Kein Problem, wir brauchen uns ja nicht gleich zu küssen. Er zieht seinen Mantel aus und faltet ihn sorgfältig zu einer Sitzunterlage, setzt sich darauf und deutet auf den Platz neben sich. Setz dich. Sie sind eine Weile still. Ziemlich eng, so nahe beieinander. Wenn wir hier länger bleiben, lege ich mich auf den Boden.
M: Shit. Dunkel, unbequem, mit einem fremden Typen in einer engen Zelle die Nacht verbringen … Was für ein Albtraum. Wenigstens habe ich immer meine Wasserflasche dabei, wenn ich zur Psychologin gehe. Ihr ungesüßter Lindenblütentee schnürt mir die Kehle zu … Hier, nimm einen Schluck. Sie hält ihm die Wasserflasche vors Gesicht.
J: Winkt höflich ab. Im fünften Stock war ich mal. Dort sind lauter Spezialisten: Orthopäden, Kardiologen, Neurologen, Psychiater und Psychologen mit ihren jeweiligen Therapeuten. Ich war vor einem Jahr beim Lungenspezialisten. Gefunden hat er nichts, zum Glück. Der Husten ging von allein wieder weg. Und du gehst zur Gebetsstunde bei der Psychologin? Da bin ich Experte. Die haben zehn Jahre lang versucht, mir die Welt zu erklären. Ich habe auch ohne ihre Ratschläge überlebt.
M: Du meinst, hier haben sich zwei Psychos getroffen und das hier ist Teil der Therapie? Klar, wenn sie nicht weiterwissen, stecken sie zwei Spinner in eine Dunkelkammer und schauen, was passiert. Wäre bestechend, und wir beide würden morgen fürs Leben gerüstet nach Hause fahren. Wir machen diese ganzen Therapeuten noch arbeitslos.
J: Du bist ja ziemlich sarkastisch. Es gab schon eine Zeit, als ich deren Hilfe brauchte. Aber du hast recht, einmal in der Mühle, lassen sie dich nie wieder heraus. Sag mal, wie steht es mit deinem Akku? Meiner hat 60 Prozent.
M: Knapp 20 …
J: Schalte es mal lieber aus. Wenn das hier bis morgen dauert, sind wir froh um jede Restladung. Oder gibt es jemanden, dem du Rechenschaft schuldig bist?
M: Nein … sagte ich doch schon.
J: Schaltet sein Telefon wieder ein. Die schreiben: „Das Stromnetz ist europaweit zusammengebrochen.“ Ein schwerer Sturm an der Nordsee hat zur Abschaltung aller Windräder geführt. Bei der Inbetriebnahme der für Notsituationen vorgesehenen Gasturbinen kam es aufgrund von Softwareproblemen zusätzlich zu einer Verzögerung der Stromproduktion. Man ist daran, die Stromversorgung schrittweise wiederaufzunehmen, zunächst in Südeuropa. In unserer Region wird kaum vor morgen früh mit einer stabilen Elektrizitätsversorgung zu rechnen sein. Die Bevölkerung ist aufgefordert, Ruhe zu bewahren. „Die Polizei ist aufmerksam und wird kriminelle Handlungen, die sich diesen Notfall zunutze machen, strafrechtlich verfolgen.“
J: Unsere Schicksalsgemeinschaft wird wohl einige Stunden dauern.
M: Blöd. Aber ich habe schon Schlimmeres erlebt. Du könntest ein Kotzbrocken sein und diese Situation ausnutzen. Aber du machst einen ganz anständigen Eindruck. Ich hoffe nur für dich, dass ich mich da nicht täusche. Wenn ich mich bedroht fühle, kann ich nämlich ziemlich unangenehm werden.
J: Hast du so ungünstige Erfahrungen mit Männern gemacht? Ohne dir nahetreten zu wollen, aber du scheinst Probleme mit dem anderen Geschlecht zu haben.
M: Ja, das tue ich. Was glaubst du denn, warum ich regelmäßig im fünften Stockwerk antrete? Immerhin war ich schon so weit therapiert, dass ich mich überhaupt auf eine Beziehung einlassen konnte. Reingefallen bin ich auf genau so einen, den ich nie hätte treffen dürfen. Er nennt sich Jimmy und hält sich mit seiner krausen Mähne und seinem solariumgebräunten Gesicht für den Star der früheren Generation, für Jimi Hendrix. Läuft mit einer verstimmten Gitarre rum, auf der er aber überhaupt nicht spielen kann. Ich habe ihm immer wieder vertraut. Von einem Moment auf den anderen ist er vom Softie zum groben Schläger mutiert. Aber ich habe im Heim gelernt, mich zu wehren. Ich ließ ihn um Vergebung winseln. Hätte ich mal auf meine Psychologin gehört. „Ich solle die Finger von ihm lassen“, hat sie gesagt. Aber wenn du das Pech geerbt hast, bleibt es an dir hängen, egal was du dagegen unternimmst.
J: Ich weiß genau, was du meinst. Ich trage auch so einiges mit mir herum. Und ich habe schon meine Gründe, warum ich Bindungsängste habe. Ein normaler Mensch würde vor Angst vergehen, wäre er die ganze Nacht hier eingesperrt. Daran würden die Psychotherapeuten gut verdienen. Nach dem, was ich bisher von dir weiß … Ich denke, wir beide haben schon Schlimmeres durchgemacht als eine Nacht im Lift. Gibst du mir jetzt einen Schluck Wasser?
M: Sie reicht ihm ihre Trinkflasche, dann drapiert sie ihre Handtasche als Kopfkissen. Ich leg mich auf den Boden … Nicht, dass ich dir nicht trauen würde. Sie schweigen eine Weile. Die Heizung ist aus und hier drin wird es jetzt immer kälter. Der harte Boden ist auszuhalten. Im Heim musste ich zur Strafe eine ganze Woche auf dem bloßen Flurboden schlafen. Du hast recht, eine qualvolle Vergangenheit erleichtert es, Situationen wie diese zu ertragen.
Schon eigenartig, dass uns das Schicksal hier zusammengeführt hat. Eigentlich würde ich intime Dinge wie eine schwierige Kindheit nie vor Fremden ausbreiten. Aber irgendetwas verbindet uns, das spüre ich. Etwas, das schon immer da war. Ich habe da so ein Gefühl. Erzählst du mir mehr von dir?
J: Was hältst du davon, wenn ich mich zu dir lege? Wir legen meinen Mantel als Unterlage auf den Boden und decken uns mit deinem zu. Damit nutzen wir unsere Körperwärme besser.
M: Sie nickt, steht nochmals auf und zieht ihren Mantel aus. Beide legen sich nebeneinander und decken sich mit Mayas Mantel zu. Ein richtiges Doppelpack. Nie wäre ich heute Morgen auf den Gedanken gekommen, heute Nacht mit einem fremden Mann unter einer Decke zu liegen.
J.setzt sich nochmals auf und streift seine Schuhe ab. Entschuldige, aber in Schuhen kann ich nicht schlafen.
M: Ich auch nicht. Wärst du so nett, mir meine Stiefel auszuziehen?
J: Er streift vorsichtig Mayas Stiefel ab und stellt sie sorgfältig nebeneinander auf. Sie legen sich dicht aneinander. Das letzte Mal, dass ich so nahe bei einem anderen Menschen lag, ist zwanzig üble Jahre her. Da war ich sieben.
M: Und wer war dieser Mensch?
J. Meine Mutter.
M: Und danach hat sie dich nie mehr an sich gelassen?
J: Sie ist gestorben.
M: Und dein Vater?
J.: Den gab es nie. Ich bin ohne Vater auf die Welt gekommen.
M: Jeder hat einen Vater, so will es die Natur. Ich habe noch nie gehört, dass Menschen oder Säugetiere ohne Männlein gezeugt wurden. Sogar mich gibt es durch das Zutun eines Mannes. Zwar ohne die Einwilligung meiner Mutter, aber dafür sitzt er nach wie vor hinter Gittern. Sie war nicht die einzige, an der er sich vergangen hat. Aber ohne ihn gäbe es mich nicht. Komm schon, deine Mutter muss doch was mit einem Mann gehabt haben!
J: Hatte sie aber nicht, meine Mutter liebte Frauen. Und sie war kein Beziehungsmensch, lebte ungebunden. Trotzdem war es ihr sehnlichster Wunsch, ein Kind zu bekommen. Sie ließ sich in einer Klinik in Spanien künstlich befruchten. Nach dem x-ten Versuch wurde sie endlich schwanger. Ich wurde in einem Reagenzglas gezeugt, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
M: Besser so als zwei Väter, von denen beide grobe Schweine sind. So wie meine.
Und wie ist deine Mutter gestorben? Willst du drüber reden?
J: Es war an einem sonnigen Freitagnachmittag. Meine Mutter nahm mich bei der Hand und wir liefen zur Bank, um Geld abzuheben. Vor dem Schalter hatte sich eine Schlange gebildet. Als wir an der Reihe waren, drängte ein maskierter, bewaffneter Mann meine Mutter zur Seite und verlangte Geld vom Bankangestellten hinter dem Tresen. Der Bankangestellte zögerte, woraufhin der maskierte Mann mit seiner Pistole in die Decke schoss. In seiner Panik drückte der Mann den Alarmknopf unter seiner Kasse. Der Alarm ging los, die Leute im Schalterraum kreischten. Der Räuber verlor die Kontrolle und schoss wie wild um sich. Meine Mutter war sofort tot, noch bevor der Gangster die Bank ohne Beute verlassen hatte.
Maya und Joel liegen lange schweigend nebeneinander.
Hörst du die Polizeisirenen? Die sind einfach am Gebäude vorbeigefahren, es scheint niemanden zu interessieren, ob hier Menschen eingeschlossen sind. Ich rufe jetzt die Notfallnummer an. Er greift nach seinem Telefon: „Die Alarmstelle ist überlastet, bitte bewahren Sie Ruhe und versuchen Sie es später noch einmal.“ Einen Versuch war es wert. So übel haben wir es ja nicht.
M: Erzähl mir von deiner Mutter. Hattet ihr ein gutes Verhältnis? Denkst du, sie hätte lieber ein Mädchen gehabt?
J: Sie war stolz, meine Mutter zu sein. Ich war ihr Ein und Alles und sie hätte alles für mich getan. Sie war alleinerziehend und musste oft kämpfen und sich allein durchsetzen. Ein Kind mit unbekanntem Vater wirft auf Ämtern und in Schulen Fragen auf, wie du dir vorstellen kannst. Ihr wurde immer das Gefühl gegeben, eine Frau mit einem lasterhaften Umgang mit Männern zu sein. Nur eine Frau mit hohem Männerverschleiß könne den Vater ihres Kindes nicht identifizieren. Das machte sie wütend, aber sie war schlagfertig und ließ sich nichts gefallen. Einmal habe ich einen Streit zwischen meiner Mutter und einer Dame vom Sozialamt miterlebt. Es ging um unsere Rechte und meine Mutter hat die Frau ganz schön zurechtgewiesen, hat sich nicht kleinbekommen lassen. Sie war groß, schlank und immer elegant gekleidet und arbeitete von zu Hause aus für ein internationales Unternehmen. Kontrollierte Bücher und Zahlen. Er nimmt einen kräftigen Schluck Wasser. Was ist mit dir? Du hattest gleich zwei Väter?
M: Mein Erzeuger sitzt im Knast, ich bin ihm nie begegnet und habe auch nicht das Bedürfnis, ihn zu sehen. Den anderen, den Ex meiner Mutter, hasse ich. Am liebsten würde ich ihn durch einen Schredder jagen.
Er heiratete meine Mutter, nachdem sie von ihrem Vergewaltiger schwanger war. Ein feiner Zug von ihm, könnte man meinen. Eine Frau zu heiraten, die von einem anderen schwanger ist, zeigt Größe und Anteilnahme. Sie war froh, nicht alleinerziehend zu sein. Sie musste sich gedacht haben, dass es besser ist, einen Partner zu haben als gar keinen.
Er ließ sich von ihr aushalten und profitierte von der Leibrente, die ihr Vater für sie kapitalisiert hatte.
Mein Großvater ist ein paar Jahre vor meiner Geburt gestorben. Er war sehr reich und legte sein Geld klug an. Aber er hatte Angst, seine einzige Tochter würde alles verlieren, wenn sie das gesamte Vermögen bekommen würde. Sie war schon als Jugendliche in die falsche Richtung abgebogen: Drogen, Alkohol, die falschen Männer … Sie hatte es nie auf die Reihe bekommen, ein geregeltes Leben zu führen. Kein Wunder, ihre Mutter ist mit einem Jazzmusiker durchgebrannt und hat alles zurückgelassen. Sie dreht sich zu ihm auf die Seite. Sag, was war eigentlich mit dir nach dem Tod deiner Mutter? Hatte sie Familie?
J: Meine Mutter lag tot im Schalterraum der Bank. Ich verstand damals mit sieben Jahren überhaupt nicht, was gerade vorgefallen war, legte mich auf sie und versuchte, sie zum Reden zu bringen. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod, sonst kannte ich ihn nur aus Märchen. An das, was danach passierte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Dann weiß ich nur noch, dass eine Polizistin mich in einen Bus vor der Bank führte. Ich konnte durch die Autoscheibe sehen, wie die Polizisten die Handtasche meiner Mutter durchsuchen. Das Bild vergesse ich nie. Irgendwann wurde meine Identität festgestellt und man brachte mich zum Sozialamt.
Dort hatte ausgerechnet die Frau Dienst, die meine Mutter einige Wochen zuvor zur Schnecke gemacht hatte. Wie schadenfroh sie ausgesehen hat. Ihr Hochgefühl bei meinem Anblick stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ich erinnere mich noch genau an den Hohn in ihrer Stimme:
„Der Junge ohne Vater, mit einer Mutter, die sich im Ton vergriff und Sonderwünsche hatte.“ Und jetzt ist sie tot und alles bleibt an mir hängen. Gibt es denn Verwandte deiner Mutter, kennst du jemanden aus ihrer Familie? Wenn du schon keinen Vater vorzuweisen hast, existiert wenigstens ein Großvater, eine Großmutter, eine Tante? “
Ihr ganzes Gerede verstand ich damals nicht. Ich wusste nicht, was sie von mir wollte. Ich musste allein in einem kahlen Vorraum warten. Ich musste pinkeln, fand aber keine Toilette. Meine Hose war schon beim Banküberfall nass gewesen und jetzt passierte es wieder. Irgendwann saß ich in der Ecke und weinte. Es war so kalt. Nach einer halben Ewigkeit schaute mal eine Frau nach mir. Draußen war es inzwischen dunkel. Sie hatten keinen Platz für mich gefunden, dafür aber die Adresse meiner Großeltern ausfindig gemacht. Sie würden am nächsten Tag mit der Bahn anreisen, um zu besprechen, wie es mit mir weitergehen sollte. Für die erste Nacht hatten sie eine Unterkunft für mich gefunden. Bevor ich auf den Hintersitz ihres Autos kletterte, bemerkte sie, dass meine Hose nass war. Sie schrie mich an, ich solle warten, bis sie eine Plastiktüte auf den Sitz gelegt hatte.