Mein wirst du bleiben - Petra Busch - E-Book

Mein wirst du bleiben E-Book

Petra Busch

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Miriam will ihre Mutter Thea ganz für sich, schon immer, um jeden Preis. Als diese bei einem schweren Unfall das Gedächtnis verliert, geht Miriam ganz in der Pflege auf. Auch wenn Thea von ihrer Tochter nichts mehr weiß. Hauptsache, Thea bleibt immer bei ihr in der Wohnung, dann kann nichts passieren. Dann wird Miriam nicht verlassen. Doch zwei Morde in der Nachbarschaft zerstören das erzwungene Idyll. Dass Hauptkommissar Ehrlinspiel das Leben der Opfer und Nachbarn durchleuchtet, macht Miriam ganz nervös. Als Thea aus ihrem goldenen Käfig ausbricht und in brütender Hitze durch Freiburg irrt, ahnt sie nicht, dass sie in großer Gefahr schwebt…

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Seitenzahl: 516

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Mein wirst du bleiben

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Über dieses Buch

Miriam will ihre Mutter Thea ganz für sich, schon immer, um jeden Preis. Als diese bei einem schweren Unfall das Gedächtnis verliert, geht Miriam ganz in der Pflege auf. Auch wenn Thea von ihrer Tochter nichts mehr weiß. Hauptsache, Thea bleibt immer bei ihr in der Wohnung, dann kann nichts passieren. Dann wird Miriam nicht verlassen.

Inhaltsübersicht

Heute wird das Licht [...]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelHeute ist der Tag [...]12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelDas war nicht schön. [...]20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. KapitelMeine Gedanken sind ein [...]34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. KapitelEineinhalb Jahre später. DezemberDanksagung & Geständnisse
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Heute wird das Licht zurückkehren.

Wir werden uns wieder nahe sein. Unzertrennlich. Wie damals.

Erinnerst du dich an damals? Wir wollten alles teilen. Bis in alle Ewigkeit. Das hast du mir versprochen. Und ich habe es dir geschworen. Mit jedem meiner Worte.

Du hast meinen Worten immer aufmerksam gelauscht. Getan, was ich verlangte, gehandelt, wie ich es erbat. Ich habe dir vertraut. An dich geglaubt. An uns. All die Jahre. Unsere Jahre!

Wie du vor mir gelegen hast! Stunden. Tage. Unfähig, dich zu bewegen. Mit deinem hohlen Blick hast du mich angesehen, hast stumm gefleht – als könne ich dich aus deiner eigenen Düsternis erretten. Blass hast du ausgesehen, wächsern deine Haut. Zuweilen hast du die leeren Augen aufgerissen, schreckerfüllt, als stände ich wie ein schwarzer Engel vor dir. Hast du den Tod schon geahnt?

Manchmal habe ich gelacht. Aber meine Seele hat geweint. Ich wollte das alles nicht. Wollte dir nur Mut machen. Dir zeigen, wo dein Leben ist: bei mir! Das war doch unser Plan: Wir würden für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben. Seite an Seite. Ich bei dir, du bei mir. Unsere Herzen, unser Blut und unser Geist eins, im Licht verschmolzen zu immerwährender Liebe. Aber du hast mein Lächeln nicht gesehen und nicht auf meine Worte gehört. Die Finsternis war dir zu nahe, hat dich mit ihren schwarzen Schleiern umhüllt. Auch du hast das Böse gespürt, ich habe es in deinem Wesen wahrgenommen, als ich mich über dich gebeugt habe. Gelächelt habe. Dich berührt, während du dich ekeltest und nicht bewegen konntest.

Deine Angst war berechtigt.

Und dann hast du mich verlassen!

Mich!

Doch das hast du nicht mit Absicht getan, das weiß ich. Es war nicht dein freier Wille. Sie haben dich gezwungen. Tag für Tag haben sie die tödlichen Schleier der Finsternis enger gezogen, Millimeter für Millimeter, langsam das Leben erstickt, bis du nur noch ein seelenloses Stück Fleisch warst. Weit weg.

Mir entrissen!

Dann bist du zurückgekehrt. Wie du es versprochen hattest.

Doch die Schwingen des Bösen haben sich abermals über dich gebreitet, haben dich davongetragen, dich mir gestohlen. Dem lichten Leben entrückt. Du hast mich erneut verlassen. Das ist nicht recht. Du kannst nicht einfach alles vergessen! Unsere Vergangenheit. Unsere Zukunft. Das kann ich nicht hinnehmen.

Was ich tun muss, ist groß. Die Zeit ist da. Ich habe die Zeichen erkannt, und ich habe gefunden, was ich brauche! Ich sehe alles vor mir. Es wird gut und glanzvoll werden. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wir werden die Dunkelheit besiegen. Denn ich selbst bin das Licht. Ich war immer das Licht. Niemand wird es löschen!

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1

Montag, 26. Juli

Hätte er gewusst, dass er heute sterben würde, hätte Martin Gärtner sich über den Abend keine Gedanken gemacht. Vielleicht hätte er auch mit dem abschließen können, was er einmal Leben genannt hatte – und was er seit einigen Wochen wiederentdeckte.

Es war kurz nach sechzehn Uhr. Reflexartig kniff er die Augen gegen das grelle Licht zusammen, als er aus dem kühlen Supermarkt trat, und für einen Moment glaubte er, die trockene, aufgeheizte Luft nehme ihm den Atem. Vor ihm flimmerte der Asphalt. Die Parkplätze an der Straße waren verlassen, nur eine junge Frau im Sommerkleid packte Weißwein, Erdbeeren und Salat in den Kofferraum eines roten Wagens, neben ihr zwei Mädchen, jede ein großes Eis in der Hand. Gegenüber, auf der Wiese, lagen ein paar Menschen auf Decken, lasen oder dösten vor sich hin, ein Pärchen schmuste. Kinderlachen drang von dem kleinen Spielplatz daneben herüber. Er lächelte und legte den Kopf in den Nacken. Ein weißer Kondensstreifen zerfloss im hellen Blau. Kein Wölkchen war zu sehen. Ein gutes Omen. Er ließ die Sonne warm auf sein Gesicht scheinen.

Dann ging er an den Fahrradständern vorbei, hinter denen, angebunden an einen Stahlring, Jagger wartete, den Kopf mit der heraushängenden Zunge dem Eingang des Supermarktes zugewandt. Gärtner rann der Schweiß über die Schläfen, noch bevor er bei seinem Gefährten angekommen war. Es störte ihn nicht, und Jagger würde die Tropfen ohnehin abschlecken. Das war so sicher wie das begeisterte Schwanzwedeln, mit dem der Hund ihn Tag für Tag begrüßte, wenn er seine wenigen Einkäufe erledigte.

Heute hatte er sich ein Stück Erdbeerkuchen gekauft, und als er es von der Verkäuferin in dem feinen, knisternden roten Papier entgegengenommen hatte, hatte ihm für einen Moment seine tiefe Schuld die Kehle zugeschnürt, nur wenige Sekunden, bis er sich sagte: Es ist in Ordnung. Du änderst nichts mehr daran.

Er löste die Hundeleine und tätschelte den grauen Hundekopf. »Komm, Jagger, wir haben noch Pläne.«

Die Hitzewelle, die die Stadt seit Wochen lähmte, hatte ihn nicht ermüden können. Martin Gärtner war erwacht. Streit in der Nachbarwohnung, das ständige nächtliche Klavierspielen, das durch die Zimmerdecke drang und ihn wach hielt, der kaputte Müllcontainer … Es war noch nicht lange her, da hatte er das alles kaum wahrgenommen. Wie ein Entseelter war er durch die Welt gegangen, dumpf, das Herz leer und der Körper wie taub, gefangen von diesen Bildern, denen er nie hatte entkommen können: die zarten, blassen Glieder, der gelbe Regenmantel, die entsetzten Augen unter dem hellen Pony und der Schulranzen, der wie ein roter Vogel durch den Himmel geflogen war.

Nur selten dachte er noch an die zahllosen Sitzungen bei dem Psychologen. Außer einem amtlichen Gutachten zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hatten sie nichts gebracht. Nur an diesen verhängnisvollen Tag dachte er noch. Es schien ihm ein ganzes Menschenleben her zu sein, als er sich an einem verregneten siebten November zum letzten Mal hinter ein Steuer gesetzt hatte. Wenn er nachrechnete, lag der Tag bald dreizehn Jahre zurück. Ein ganzes Kinderleben lang. Dreizehn Jahre, in denen er sich Rituale und den quirligen Hundemischling zugelegt hatte, um nicht vollends unterzugehen. Und in denen er sich mit wenig Geld und viel Einsamkeit arrangiert hatte. Bis zu dieser unglaublichen Begegnung.

Er ging die Engelbergerstraße hinunter und überquerte die Eschholzstraße. Wie fast jeden Tag dröhnte dort aus einem geöffneten Fenster dieses einförmige Gebrabbel, das die jungen Leute wohl Musik nannten. Auf die Texte hatte er nie geachtet. Erst in letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sie durchaus Sinn ergaben. Von Liebe war da die Rede, von Trostlosigkeit und Angst, die man überwinden konnte – und von Zukunft.

Er ging rascher, fühlte sich beinahe beschwingt, und er wunderte sich über seine Energie und darüber, dass dieses verloren geglaubte Gefühl von leiser Freude noch in irgendeiner Ecke seines Innern ausgeharrt hatte und jetzt, jeden Tag ein zerbrechliches Stückchen mehr, herausgekrochen kam.

Zukunft! Vielleicht war sein Leben nicht wertlos. Vielleicht konnte er ihm einen neuen Sinn geben. Im Herbst feierte er seinen siebenundfünfzigsten Geburtstag. Es war nicht zu spät.

»Dieses Jahr sitze ich nicht mit einem einsamen Bier in der Küche«, sagte er zu Jagger, dessen Krallen gleichmäßig vor ihm über den Gehsteig klackerten. Aus dem rissigen Teer lugten dürre gelbe Grasbüschel hervor.

Martin fühlte die Plastiktüte schwer in seiner Hand. Sekt. Es war der teuerste, den er gefunden hatte, eigentlich nicht zu bezahlen für ihn. Lange hatte er vor den Flaschen gestanden und mit sich gekämpft. Ebenso wie mit der Entscheidung: Lachs ja oder nein. Jetzt wartete eine Delikatesse darauf, verzehrt zu werden. Es war der Versuch, einen schönen Abend zu bereiten. Den Grundstein für die kommenden Ereignisse zu legen. Nein, heute war kein Tag für Dosenbier, Leberwurst und Graubrot in Scheiben.

Kurz darauf füllte Martin Gärtner Wasser und Kaffeepulver in die Maschine, legte Sekt und Fisch in den Kühlschrank und nahm einen Tetrapak Milch heraus. Dann drückte er den Startknopf auf dem alten CD-Spieler neben der Spüle. Die Rolling-Stones-Scheibe hatte er gestern aus einer Schublade herausgekramt, zuerst mit zittriger Hand – aber schließlich hatte er sie einfach eingelegt. Bei den ersten Klängen hatte er wie paralysiert im Zimmer gestanden, die Faust auf den Mund gepresst, die Augen geschlossen. Doch dann war es vorbei gewesen, und er hatte gewusst, dass ein neuer Weg vor ihm lag. I’m free to do what I want any old time, intonierte er, während er den alten Küchentisch mit der abgeplatzten Resopalplatte deckte.

Als das Blubbern der Kaffeemaschine verstummte, gab er Milch und dampfenden Kaffee in eine Tasse, rührte zwei Stücke Würfelzucker hinein, setzte sich und schob sich eine Gabel Kuchen in den Mund. Lange ließ er die frischen Erdbeerstücke zwischen den Backen hin und her gleiten, als koste er zum ersten Mal in seinem Leben die süßen Sommerfrüchte.

Vieles ging ihm durch den Kopf, Profanes, an das er längst keinen Gedanken mehr verschwendet hatte: Der Stuhl wackelte. Er musste darauf achten, dass er selbst auf diesem sitzen würde heute Abend. Er sollte ein Tuch über die hässliche Tischplatte legen. Der Boden war voller Krümel und Flecken. Hätte er Blumen kaufen und auf den Tisch stellen sollen?

Er trank, und als die heiße Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, erfasste ihn tiefes Vertrauen. Zukunft. Heute würde sie beginnen. In wenigen Stunden würden sie ihren Plan zu Ende schmieden. Vielleicht würden die alten Bilder dann irgendwann ganz verblassen, und das Leben würde an Buntheit gewinnen.

Anpacken! Er holte den Schrubber aus dem Schrank und wischte nass durch den Flur und die Küche. Wischte anschließend die Küchenfronten und die Kühlschranktür ab und säuberte die Schubladen- und Schrankgriffe, an denen sein altes Leben förmlich klebte.

And I’m free any old time to get what I want.

Schweiß perlte von seiner Stirn herab.

Die unangenehmen Seiten des Putzens und Kaffeetrinkens im Sommer, dachte er und blickte auf das Thermometer. Erst kürzlich hatte er es gereinigt, und sein Weiß hob sich jetzt deutlich von den beigen Rauten der Tapete ab. Vierunddreißig Grad Innentemperatur.

Er goss kalte Milch in eine zweite Tasse Kaffee und fügte der Liste in seinem Kopf als letzten Punkt hinzu: duschen. Dann spülte er einen weiteren Bissen Kuchen hinunter.

Sein Kaffee, dieses Ritual am Nachmittag, war immer wie eine Ahnung von der Süße des Lebens geblieben. Eines entflohenen Lebens. Heute schmeckte die Süße nach Hoffnung. Nein, sie war mehr: Gewissheit.

Der Abend würde es besiegeln.

Das Brennen unter seiner Zunge schrieb er der Aufregung zu. Auch die leichte Übelkeit beunruhigte ihn zunächst nicht.

I’m free any old time, summte er leise vor sich hin. Dann fühlte er, wie neuer Schweiß aus seinen Poren drang, und gleich darauf musste er erbrechen. Als er sich dabei an der WC-Schüssel festhielt, stellte er erstaunt fest, dass seine Hände gerötet waren und juckten. Sorgen machte er sich noch immer nicht. Er lachte sogar. I’m free. Fast fühlte es sich an wie früher, als er mit vierzehn Jahren seine erste Verabredung mit einem Mädchen gehabt hatte. Hinter dem Schulhof hatte er Gitta getroffen, heimlich, und sie hatte ihm erlaubt, die geflochtenen blonden Zöpfe zu lösen und sie auf die Wange zu küssen.

Martin Gärtner ging zurück in die Küche.

Damals, bei Gitta, hatte er auch diese Hitzewallungen gehabt.

Er trank einen Schluck Milch gegen den schlechten Geschmack im Mund. Doch das Aroma schien ihm fremd, und der säuerliche Belag auf seiner Zunge wollte nicht verschwinden.

Erst als ihm der Tetrapak aus der Hand glitt, die Milch sich über den Boden ergoss, als seine Gliedmaßen sich anfühlten wie große Gummirollen und gleichzeitig glühendes Blei seine Lungen füllte, ergriff ihn Angst. Verschwommen sah er Jagger, der mit schiefem Kopf vor ihm saß und winselte. »Hörst du das Pfeifen auch?«, sagte er und fragte sich, ob das Röcheln aus ihm selbst drang oder die CD einen Fehler hatte, während Krämpfe ihn schüttelten.

Das Telefon!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Herz raste, er krallte sich am Tisch fest, stürzte zu Boden, wollte schreien, spürte die Nässe der Milch durch sein dünnes Hemd dringen und Jaggers Zunge auf seinem Gesicht, und im selben Moment lösten sich Harn und Stuhlgang, klebten warm zwischen den Pobacken und in seinem Schritt.

So muss sie sich auch gefühlt haben, vor fast dreizehn Jahren, dachte er noch und sah den roten Vogel in den Himmel hinauffliegen.

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2

Die Finger schlossen sich um den Kugelschreiber wie dicke Würmer, als die Sprechstundenhilfe den nächsten Termin auf den Zettel schrieb.

Thea Roth betrachtete die Frau im weißen Kittel hinter dem Tresen und sog den Geruch der Räume ein. Es war die typische Mischung aus Desinfektionsmittel, Essig, Staub und abgestandenem Schweiß, mit der sie stets das Gefühl von Machtlosigkeit und Schmerz verband, ja, bei der sie manchmal den Tod zu riechen glaubte.

Die intensiven menschlichen Ausdünstungen rührten allerdings nicht von Krankheit und Sterben her, sondern eindeutig von Gabriele Hofmann, die ihr gerade den Terminzettel reichte und dabei große, dunkle Flecken unter ihren Achseln entblößte.

»Montag in vierzehn Tagen, neunter August, acht Uhr. Frau Wimmer ist gleich so weit«, sagte Hofmann, und ihr gewaltiger Vorbau schob sich unter dem weißen Kittel nach vorn. »Wie schön, dass Sie die alte Dame immer begleiten.«

Thea Roth schüttelte sich innerlich. Gabriele Hofmann sollte sich besser pflegen bei ihrem Job, dachte sie und blickte in das aufgedunsene Gesicht, aus dem ihr zwei kleine Äuglein unter ungleichmäßig gezupften Augenbrauen entgegenblickten. Ihre Wimperntusche war leicht verlaufen und bahnte sich den Weg über eine der feisten Wangen, als hätte die Arzthelferin geweint. Thea überlegte, ob sie sie auf das Malheur hinweisen sollte, als das Telefon hinter dem Tresen klingelte.

»Sie waren beim Friseur.« Hofmann strahlte sie an, nahm den Hörer ab und legte kurz die Hand über die Muschel. »Sie sehen umwerfend aus«, fügte sie mit einem vertraulichen Zwinkern hinzu und flötete dann ins Telefon: »Praxis Doktor Jakob Wittke, Gabriele Hofmann am Apparat?«

Erleichtert über die Unterbrechung, gab Thea Roth ihr ein Zeichen, dass sie ins Wartezimmer gehe, und setzte sich dort auf einen der Plastiklehnstühle. Außer ihr war nur eine Frau im Raum. Sie nickte ihr zu, und die andere blätterte weiter in ihrer Illustrierten.

Thea fuhr sich durch das frisch geschnittene Haar und dachte an Hilde Wimmer. Sie begleitete die 87-jährige Nachbarin alle zwei Wochen zum Hausarzt, und selbst die wenigen Meter von ihrer Wohnung bis zu der Praxis fielen der alten Dame schwer. Auf ihr Gehwägelchen gestützt, setzte sie mühsam einen Fuß vor den andern, Thea Roth an ihrer Seite. Wenn sie die Häuserzeile entlanggingen und wenn Thea merkte, wie gut ihre Zuwendung Hilde Wimmer tat, wie munter sie von ihrem Leben erzählte und ihre Gebrechen vergaß, huschte immer ein Lächeln über ihr eigenes Gesicht. Das Reden und die kurze Zeit, in der die Mühseligkeiten des Alters vergessen waren, schienen mehr wert als alle Pillen zusammen.

Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür, und Gabriele Hofmann bat die Patientin ins Sprechzimmer. Dann schloss sie die Tür von innen und setzte sich neben Thea. Der Stuhl ächzte.

Thea seufzte in Gedanken und stellte sich vor, wie die Arzthelferin gleich wieder aufstehen und der Stuhl sich an ihrem Hintern festklemmen würde.

»Der Chef mag das ja eigentlich nicht«, sagte Hofmann und beugte sich herüber, »aber so ein Minütchen …«

»Wo ist Frau Wimmer?«

»Die Kollegin gibt ihr noch ’ne Spritze.«

»Ah.« Sie war Hofmann also höchstens fünf Minuten lang ausgeliefert.

»Die Männer werden Ihnen nachlaufen«, flötete Hofmann mit einem Blick auf Theas Frisur und flüsterte dann: »Das würde ich mir auch mal wieder wünschen.« Ihre Lippen bewegten sich hastig, während sie mit den Händen über ihre Oberschenkel rieb. »Mein Ex schwört ja immer noch, ihn hätten meine Haare und meine Pfunde nicht gestört. Aber ich weiß es besser. Mit mir kann man so was nicht machen. Wissen Sie, ich merk ja gleich, wenn einer ’ne andere hat. Er war ein« – sie senkte die Stimme, und ihre Hände kamen zur Ruhe – »Dreckskerl. Sie finden doch auch, dass es richtig war, ihn rauszuwerfen? Also, ich mein, ich war immer gut zu ihm, und dann so was! Ich hab …«

»Sicher«, murmelte Thea und hörte nicht mehr hin. Sie wusste genau, was jetzt kam. Gabriele Hofmanns Schweinebraten in Karottensud nach dem Rezept ihrer Oma. Seine Leibspeise. Ihre polierten Wohnzimmerschränke. Die zwei Flaschen alkoholfreien Biers im Kühlschrank, für seinen Fernsehabend. Ihre Hingabe, mit der sie während jedem öden Fußballspiel und dröhnenden Formel-1-Rennen neben ihm ausgeharrt hatte, bereit, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. Der Verräter von Ehemann, der als Dank mit irgendwelchen jungen Schlampen durch teure Cocktailbars gezogen war, selbst aber nur Orangensaft trank; der das Geld im Lotto verzockt hatte, eines Tages samt Fernseher, DVD-Spieler und dem gemeinsamen Auto verschwunden war – und eine Woche später reumütig wieder vor der Tür gestanden hatte. Das Schwein, dem die Hofmann schließlich die Koffer vor die Tür der gemeinsamen Wohnung gestellt hatte. Und dem sie aus Stolz bis heute die Scheidung verweigerte. Die ausschweifende Fassung eines nüchternen Scheiterns. Betrug. Schmerz. Zorn und Rache. Ein Klassiker. Im Grunde banal.

»Ist das nicht der Gipfel? Kommt der einfach zurück, als wär nichts gewesen, und denkt, ich schließ ihn wieder in die Arme. Na, der soll sich vorsehen!«, beendete die Arzthelferin ihren Redefluss. Ihre Wangen glühten in diesem typischen fleckigen Rotviolett, das Thea schon öfter bei ihr wahrgenommen hatte.

Es ist nicht nur die Hitze, dachte Thea und sagte: »Sie arbeiten in dieser Praxis. Sie haben einen prima Chef und nette Kolleginnen. Sie können den Kerl getrost vergessen. Jede Emotion und all die Wut, die Sie in den noch investieren, schadet nur Ihnen selbst.«

»Vergessen!« Ihr Schnaufen klang zynisch. »Das Schwein hat mich für blöd verkaufen wollen, oder etwa nicht? Dazu hatte er kein Recht! So eine wie mich« – sie holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust – »findet er nicht wieder.«

Thea stand auf. Sie klebte fast auf der Sitzfläche fest, und ihre dünne Jeans und kurzärmlige Bluse lagen feucht auf ihrer Haut. In Hofmanns Nähe fühlte sie sich vollends wie in einem Treibhaus. »Kommen Sie«, sagte sie freundlich, »sonst wird Doktor Wittke ungeduldig.« Thea wollte Gabriele Hofmann nicht vor den Kopf stoßen. Sie war derb und direkt in ihrer Art, doch sicher kein schlechter Mensch. Sie kämpfte sich auf ihre Weise durchs Leben.

»Es war ja klar, dass ihn diese magersüchtigen halbnackten Dinger sofort gelangweilt haben.«

»Ja.« Was sollte sie auch erwidern? In fünfzehn Minuten würde sie zu Hause sein und es sich gemütlich machen. Kein Mäkeln mehr, keine ungewollte Konfrontation mit niederträchtigen Ehemännern.

»Ich wusste, dass Sie das auch so sehen.« Schwer atmend erhob sich auch die Arzthelferin. Die Hand auf der Türklinke, sagte sie: »Sie sehen aus wie die Monroe auf diesem berühmten Foto. Sie wissen schon, das mit dem sexy Blick und diesem fliegenden Kleid.« Ihre Augen blitzten.

»Nur dreißig Jahre älter.« Thea Roth lächelte, froh darüber, dass das Thema »mein Ex« vorerst überstanden war.

»Wenn Sie sich dann noch ’nen hübschen Minirock …« Die korpulente Frau kicherte, und ihr ganzer Körper vibrierte.

Thea fuhr mit der Hand über ihre Beine. Sie hatte sich gut gehalten für ihre fünfundfünfzig Jahre. Muskulöse Oberschenkel, straffe Haut. Ihre Beine waren makellos. »Sie meinen, das steht mir?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass Kostüme sie hervorragend kleideten. Erst letzte Woche hatte sie einen Satinfummel aus dem Schrank geholt und sich damit vor der verspiegelten Tür um die eigene Achse gedreht. Kurzer Rock, hochgeschlossener Kragen. Wie für sie maßgeschneidert. Danach hatte sie den Plastikschutz wieder darübergestülpt und die Schranktür verschlossen.

»Sie könnten super im Fernsehen auftreten.« Hofmann gluckste.

»Die Diva aus der Draisstraße«, erwiderte Thea Roth schmunzelnd und freute sich über ihre neue Frisur. Blond, dicht, schulterlang. Perfekt.

»Bestimmt haben Sie früher auch schon so toll ausgesehen.«

Thea wiegte den Kopf. »Vergessen kann auch Gnade sein«, sagte sie und dachte: Und manchmal zwingt einen das Leben dazu.

Gabriele Hofmann lachte und öffnete die Tür zum Empfangsbereich, von wo aus Doktor Jakob Wittke ihnen zunickte. »Sie sind immer so lustig«, sagte sie zu Thea Roth.

 

Lustig!, dachte Thea und hakte Hilde Wimmer unter, deren knotige Hände die Griffe des Rollators umklammerten. Die beiden Frauen drückten sich in den Schatten der Häuserzeile. Jetzt, nach achtzehn Uhr, hatte die schlimmste Hitze ihren Höhepunkt überschritten, doch die Sonne brannte noch immer unerbittlich. Nur drei Hauseingänge lagen zwischen der Praxis und dem Zugang zu ihren Wohnungen, doch der Weg strengte Hilde Wimmer an wie ein Halbmarathon. Zwei Schritte schlurfen, stehen bleiben und keuchend atmen. Zwei Schritte schlurfen, innehalten … In einem Haus auf der andern Straßenseite fiel träge eine Haustür ins Schloss, gleich darauf eine zweite, Menschen kamen heraus, wahrscheinlich für ein paar Besorgungen oder einfach, um sich im nahe gelegenen Eschholzpark auf eine Bank zu setzen, friedlich eine zu rauchen oder den Tag im Freien ausklingen zu lassen. Manche waren allein an diesen Abenden. Wie Hilde Wimmer. Ihr war nicht das vergönnt, was Thea selbst hatte erfahren dürfen in den letzten Monaten. Lustig? Nein. Lustig war sie nicht. Sie war dankbar. Gott, falls es den gab, Miriam und dem Leben.

Am Treppenaufgang zu einem dreigeschossigen Haus mit bröckliger Fassade, die einmal gelb gewesen sein musste, blieben sie stehen. Es bildete das Nordende eines langgestreckten Gebäudes, das aus mehreren identischen Häusern bestand. Sie unterschieden sich nur durch geringe Nuancen in der Farbe voneinander. Jedes Haus beherbergte sechs Wohnungen, zwei pro Stockwerk. Nur die Arztpraxis hatte die Größe zweier Wohnungen und nahm das gesamte Erdgeschoss des südlichen Endhauses ein.

»Jetzt haben wir’s gleich«, sagte Thea und trug das Gehwägelchen zum Hauseingang hinauf. Danach half sie der alten Frau Stufe für Stufe nach oben, machte dabei auf dem breiten Treppenabsatz Pause mit ihr, schob sie dann sanft weiter.

»Sie sind so eine gute Seele, Kindchen«, sagte Hilde Wimmer und nickte. »Was würde ich nur ohne Sie machen.«

»Ich bin immer da, wenn Sie mich brauchen, das wissen Sie doch.« Thea lächelte, legte einen Arm um den Rücken ihrer Nachbarin und drückte mit genau der richtigen Kraft leicht nach oben, so dass sie die nächste Stufe bezwang.

»Gute Seele«, wiederholte Hilde Wimmer, und Thea betrachtete sie von der Seite. Sie hatte helle, wässrige Augen, lange, fast durchsichtige Wimpern und hohe Wangen, auf denen zahlreiche Altersflecke die pergamentene Haut überzogen. Sie war sicher einmal eine schöne Frau gewesen.

Bis sie oben waren, schien Thea eine weitere Ewigkeit vergangen zu sein. Doch sie hatte sowieso nichts zu tun. Und Geduld – das war eine Tugend, die sie verinnerlicht hatte wie kaum ein anderer Mensch.

Sie kramte den Hausschlüssel hervor. Miriam arbeitete noch. Thea versuchte, sich zu erinnern, wo sie gerade war, aber es fiel ihr nicht ein. Doch bestimmt hatte Miriam ihr einen Teller gedünstetes Gemüse im Kühlschrank bereitgestellt. Sie lächelte.

Wie unterschiedlich die beiden doch waren. Ihre Tochter, die geduldig war, fürsorglich und still, und der nie ein böses Wort über die Lippen kam. Und Gabriele Hofmann, laut, zornig und enttäuscht vom Leben. Die Hofmann passt in den trostlosen Wohnblock ein paar Straßen weiter, dachte Thea und schämte sich sofort für diesen Gedanken. Er war ungerecht. Sie kannte die genauen Hintergründe nicht, die die Hofmann dorthin geführt hatten. In ein Umfeld, das alles andere war als ein Ort der Stars und Erfolge. Zumindest glaubte Thea, dass die nahe gelegenen Hochhäuser anonym waren und die Menschen dort unendlich einsam. Genau wissen tat – und wollte – sie es nicht. Erst recht nicht von Gabriele Hofmann.

Im Haus schlug ihr der Geruch nach Braten und Waschmittel entgegen, und Babygeschrei hallte durch das Treppenhaus. Das junge Pärchen aus der ersten Etage, dachte Thea. Die Wohnung von Theas Tochter und die des Pärchens lagen sich im ersten Obergeschoss gegenüber. Die Studenten hatten im Frühjahr ein Kind bekommen, und seither stritten sie pausenlos. Kein Tag verging ohne laute Worte und Türenschlagen. Was das Baby erst recht zum Weinen anstachelte. Armes Würmchen.

Thea drückte eben auf den Knopf, um den Aufzug zu holen, als hinter einer Tür ein Hund zu kläffen begann. Im nächsten Moment flog eine andere Tür auf, und eine Frau in Blümchenkittel schoss heraus. Die Hausmeisterin. Kleine schwarze Augen funkelten Thea Roth und Hilde Wimmer an, und über einer spitzen Nase türmte sich ein filziges Etwas, das irgendwann einmal eine Hochsteckfrisur gewesen sein mochte.

Ratte, dachte Thea.

»Verfluchte Töle.«

»Der Hund hat uns kommen hören, es ist bestimmt nur eine Begrüßung«, sagte Thea.

Im Aufzugsschacht rumpelte es laut.

»Abmurksen sollte man das Vieh!«, rief die Ratte und eilte zu der Tür, durch die jetzt ein klägliches Winseln drang. »Kläfft hier seit einer geschlagenen Stunde herum.«

Der Hund begann, an der Tür zu kratzen, bellte.

»Halt die Schnauze«, brüllte die Ratte und drückte dann ihr Ohr gegen die Tür. Das Winseln wurde leiser, klang beinahe fragend.

Thea stellte sich vor, wie der Hund herausschoss, auf die Ratte zu, und sich in die blaugeäderten Waden mit den Nylonstrümpfen verbiss.

Hilde Wimmer schüttelte den Kopf. »Er hat Durst, sag ich Ihnen.« Dann ereiferte sie sich plötzlich: »Aber wenn der Hund eingesperrt ist, verteilt er wenigstens keinen Kot auf den Wegen. Widerlich ist das. Fahren Sie da mal mit diesem Ding durch!« Sie ruckelte am Rollator.

»Wissen Sie was, wir trinken jetzt noch eine Tasse Eistee zusammen.« Thea bugsierte die Alte sanft in die Aufzugskabine. »Einverstanden?« Sie drückte die Taste mit der 2.

»Und Sie lesen mir auch die Standesamtnachrichten aus der Zeitung vor?«

»Natürlich.« Thea tätschelte vorsichtig die verkrümmten Finger.

Die Metallwände schlossen sich um die beiden Frauen und schluckten das erneute Bellen des Hundes. Ein verstohlenes Lächeln schlich sich auf Thea Roths Gesicht.

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3

Dienstag, 27. Juli

Kriminalhauptkommissar Moritz Ehrlinspiel stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und musterte seinen Kollegen Paul Freitag, der ihm gegenübersaß und konzentriert auf seinen Monitor blickte.

»Neuigkeiten?«, fragte er und fischte die Wasserflasche zwischen Rechnertastatur, Papierstapeln und einem Durcheinander von Stiften, einem Locher, Zetteln und CDs hervor. Wie immer war er Punkt sieben Uhr fünfzehn mit dem Fahrrad in den Carport der Polizeidirektion Freiburg eingebogen, hatte rasch geduscht und sich ein frisches T-Shirt übergezogen. 2 many ways make my day, stand jetzt in schwarzen, abstrakten Lettern auf seiner dunkelorange bekleideten Brust.

»Versuchte Vergewaltigung bei einem Bikertreffen.« Freitag verzog den Mund. »Ein Harleyfahrer wie aus dem Bilderbuch. Ein Berg von Mann, übersät mit Tattoos und mit Bierfahne. Und dann: Eingeknickt wie ein Baby, als er die Kollegen schon von weitem gesehen hat.«

Ehrlinspiel fuhr seinen Rechner hoch und scrollte wie sein Kollege durch die Pressemitteilungen und internen Meldungen der letzten Stunden. »Nichts als sexuell gestörte Typen, prügelnde Betrunkene, Verkehrsunfälle, Einbrüche. Und der Nacktläufer war auch auf Tour.« Er blähte die Nasenflügel. »Hat den Kollegen wieder einmal die alte Leier aufs Auge gedrückt von wegen innerer Befreiung und Öffnen der Poren, damit der Kosmos ins Karma dringen kann.« Er schüttelte den Kopf. »Kaum etwas fürs Dezernat 11 dabei. Warum müssen eigentlich immer wir zwei in diesen Sommerwochen die Stellung halten?«

»Du, Moritz. Nicht wir.« Kriminalkommissar Paul Freitag lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »In knapp drei Wochen bin ich in Dänemark. Ostseeküste. Familienhotel mit Ponys und eigenem Sandstrand, Badeanlage mit Rutschen, Saftbar, schattige Promenaden, frischer Wind, Möwen über dem Meer …« Er grinste. »Keine Kinder – kein Recht auf Sommerferien. Ganz einfach.«

Ehrlinspiel setzte eine gespielt beleidigte Miene auf. »Ich fahre mit Bentley und Bugatti weg. Kater müssen schließlich auch einmal woanders jagen.«

»Jagen?« Freitag spitzte die Lippen. »Die beiden jagen doch höchstens in deinen heimischen Kochtöpfen. Apropos« – er deutete mit dem Kinn auf eine Schatulle, die neben Ehrlinspiels Rechner stand –, »hast du eigentlich die geheime Schenkerin inzwischen erlegt? Fleischeslust?« Er zwinkerte.

Ehrlinspiel schüttelte den Kopf und betrachtete die Perlen auf der Schatulle. Sie bildeten den Schriftzug B&B-Gourmetbox, und der Hauptkommissar sammelte in ihr Rezeptideen für Katzenfutter. Seit die Box eines Morgens auf seinem Tisch gestanden hatte, leer bis auf einen Zettel mit dem Wort Fleischeslust, suchte er die Gönnerin zu enttarnen. Doch alle Spuren hatten bislang zu nichts anderem außer dummen Sprüchen seitens seiner männlichen Kollegen geführt. »Immer noch im Fleischesfrust? Probier’s mal mit Gemüselust!« oder »Ich sehe schon die Aasgeier über deinem alten Singlebody kreisen.«

Freitag blickte in die Zeitung. »Er war auf Trab bei Morgenrot, doch jetzt ist Jäger Jürgen tot«, zitierte er. »Da siehst du’s!« Wie meist, hatte er die Seite mit den Todesanzeigen aufgeschlagen.

»Wie viele hast du eigentlich schon?« Sicher quoll Freitags Archiv mit den Jahren über. Zwölf bis fünfzehn Schuhkartons, schätzte Ehrlinspiel, reihten sich im Regal hinter Freitags heimischem Schreibtisch aneinander. Seine Leidenschaft gehörte dem Sammeln skurriler Todesanzeigen und Nachrufe. Tiefste Tragik und ungewollte, höchste Komik lagen darin dicht beieinander. Alle drei bis vier Monate blickte Freitag morgens drein wie ein Totengräber nach einer Massenbestattung, weil er die Nacht mit dem Sortieren und Scannen der Annoncen verbracht hatte. Die Kategorie Makabres umfasste den größten Teil der Sammlung, dicht gefolgt von Beruf & Hobby sowie Lyrisches und schließlich Hass & Zwist, Enigmatisches, Tiere und Selbstanzeigen.

»Achttausenddreihundertundfünfundzwanzig. Mit Jäger Jürgen.« Freitag faltete die Zeitung zusammen. »Lilian meint, ich soll ein Buch daraus machen.«

»Und ich meine, wir sollten mal wieder zusammen grillen.« Ehrlinspiel stand auf und ging um den großen, ovalen Schreibtisch herum, den die Kommissare sich seit vielen Jahren teilten.

Hier oben, vom dritten Stock, Zimmer I-334, blickten sie auf den Innenhof. Der Rotahorn mit seinem dichten, purpurnen Blätterkleid verkörperte für Ehrlinspiel Stärke und Optimismus. Wenn er nachdachte, stellte er sich oft ans Fenster und blickte auf diesen Baum.

Paul Freitag genoss zudem die Aussicht auf eine stattliche Galerie gerahmter Fotos. Neben exakt ausgerichteten Ablagekörben reihten sie sich Kante an Kante auf seinem Schreibtisch aneinander und zeigten seine Familie: eine mollige Blondine Anfang dreißig – Freitags Ehefrau Lilian – und zwei Mädchen im Vorschulalter.

»Wie wär’s heute Abend? Ich besorge die Steaks und du –«, setzte Ehrlinspiel an, als sein Telefon klingelte. Der Dezernatsleiter.

»Der KDD hat was für dich«, sagte sein Vorgesetzter. »Leichenfund, ungeklärte Todesursache. Stadtteil Stühlinger. Draisstraße. Lukas ist schon dort. Fahr bitte gleich raus. Allein. Kleiner Bahnhof erst einmal.«

»… und ich brutzle hier einsam vor mich hin«, fuhr Paul Freitag fort, als Ehrlinspiel seine Ledertasche umhängte, die Wagenschlüssel schwenkte und ging.

 

Lukas Felber streifte die Latexhandschuhe ab. Seine Finger waren verschrumpelt. »Grüß dich, Moritz.«

»Scheiße«, sagte Ehrlinspiel, der einen weißen Overall und Schutzschuhe übergezogen hatte. Er rümpfte die Nase und blickte auf den Körper, der auf hellgrauen Steinfliesen in der stickigen, kleinen Küche lag.

»Du sagst es«, sagte der Leiter der Kriminaltechnik.

»Ist das der Mieter dieser Wohnung? Martin Gärtner?«

»Ja. Stefan Franz hat schon alles erfragt. Personaldaten liegen vollständig vor. Der Mann war sechsundfünfzig. Frührentner.«

»Stefan Franz«, echote Ehrlinspiel und hob die Augen gen Himmel. »Ausgerechnet. Wo ist er?«

»Trinkt Kaffee mit der Nachbarin, die den Toten gefunden hat.«

Ehrlinspiel schüttelte den Kopf und ging in die Hocke. Der Tote lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen und verdrehtem Oberkörper. Er trug ein grünes T-Shirt und eine verwaschene, kurze Hose, die im Schritt gelb und braun verfärbt war. Auf dem Boden lag ein Tetrapak Milch, dessen Inhalt in die Kleidung des Mannes und die Bodenfugen gesickert und dort eingetrocknet war. Etwas abseits standen eine Futterschüssel und ein Wassernapf, beide leer. Der Gestank von Urin, Exkrementen und säuerlicher Milch hatte sich mit dem Geruch des Todes verbunden. Ehrlinspiel hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. »Hast du schon etwas?« Er sah zu dem geöffneten, kleinen Fenster, durch das jedoch kein Luftzug drang. Er würgte.

Lukas Felber schüttelte den Kopf. »Nur das, was du auch siehst. Und riechst. Kein Hinweis auf Fremdeinwirkung. Vielleicht eine Herzgeschichte. Auf jeden Fall kein friedlicher Tod.«

Graubraune Haarsträhnen klebten auf der Schläfe des Toten, sein eingesunkenes Kinn und die Wangen waren unrasiert und die Augen halb geöffnet. Sein Kiefer schien nach links verschoben, als habe er noch jetzt, im Tod, Schmerzen und wolle schreien.

»Eine Bewohnerin aus dem Haus hat ihn gefunden, sagst du?« Ehrlinspiel richtete sich auf und erfasste mit wenigen Blicken den Raum. Kleiner Tisch, darauf eine halbvolle Kaffeetasse und ein angegessenes Stück Erdbeerkuchen. Zwei verschiedene Stühle, einer davon krumm, als ginge er aus dem Leim. Küchenzeile aus Herd, Spüle, Kühlschrank. Kaffeemaschine mit eingetrocknetem Rest. Senfgelbe Wandfliesen, darüber vergilbte Tapete mit Rautenmuster. Sieht aus, als habe man die Küche auf einem Wühltisch zusammengesucht, dachte der Kriminalhauptkommissar.

»Die Hausmeisterin. Sie ist« – Lukas Felber grinste – »mit Franz in ihrer Wohnung, direkt gegenüber.« Entschuldigend zuckte er mit den Schultern, als Ehrlinspiel im selben Moment fragend auf eine Tür deutete, hinter der ein leises Winseln zu vernehmen war.

»Okay, ich rede mit den beiden. Hat der Hund was zu fressen?«

Der Kriminaltechniker verneinte. »Er kommt gleich dran, keine Sorge. Der Kerl muss übrigens die ganze Nacht gejault haben. Das hat die Hausmeisterin alarmiert.«

»Dann liegt Gärtner also schon länger hier«, konstatierte er, ging zur Wohnungstür und öffnete sie von innen.

Augenblicklich trat eine drahtige Frau auf ihn zu. Sie musste direkt vor der Wohnung gewartet haben. »Ich hab’s ja schon immer gesagt.« Sie gestikulierte vor seinem Gesicht.

Breitbeinig stellte er sich vor sie. »Ehrlinspiel, Kriminalpolizei«, sagte er. »Haben Sie den Toten gefunden?«

Ein giftiger Blick traf ihn. »Mit dem ist doch was faul. Sehn Se sich nur mal die Wohnung an. Aufgeräumt hat der!«

Sie wollte an Ehrlinspiel vorbei in Gärtners Wohnung schlüpfen, doch ein großer Polizist fasste sie am Ärmel ihres Arbeitskittels. »Nicht, Frau Zenker«, sagte der Uniformierte und nickte Ehrlinspiel zu. »Hallo, Herr Kriminalhauptkommissar.« Zynisch betonte er jede Silbe von Ehrlinspiels Dienstgrad. Weder sein Mund noch seine Augen verrieten ein Lächeln. »So schnell sieht man sich wieder.«

Ehrlinspiel blickte auf Franz’ birnenförmigen Kopf, der mit dem Hals verschmolz und von kleinen Löckchen gekrönt war. Erst vor wenigen Wochen hatte der Kollege vom Revier Süd, das im Gebäudeflügel neben Ehrlinspiels Büro lag, zu dem Polizeiposten Stühlinger gewechselt. Nicht einer hatte ihm zum Abschied die Hand gedrückt. Jetzt war er hierhergeschickt worden und hatte – garantiert erleichtert darüber, dass ein Toter nicht in seinen Zuständigkeitsbereich gehörte, jede Art Essen dagegen sehr wohl – kurzerhand ein zweites Mal gefrühstückt. Mit der Zeugin.

»Guten Morgen, Herr Polizeihauptmeister«, erwiderte Ehrlinspiel und konterte damit Franz’ Affront, einen Kollegen mit dem Dienstgrad anzusprechen. »Kaffeeplausch beendet? Wollten Sie sich schon verabschieden aus diesem gastlichen Haus?«

Oben schlug eine Tür zu, und ein junges Paar kam die Treppe herunter. Die Frau trug ein Baby in einem Tragetuch vor der Brust. Für einen Moment glaubte Ehrlinspiel, der schwarzhaarige Mann mit der dunklen Haut wollte etwas sagen, doch seine Partnerin – mit kurzen, blonden Stoppelhaaren, Lippenpiercings und hautengen Hosen – zischte ihm etwas zu, und sie gingen vorbei.

»Ich habe mit Frau Zenker gesprochen. Sie ist eine wichtige Zeugin. Es ist alles protokolliert«, sagte Stefan Franz. »War das falsch?«

»Sie wissen schon, wie Sie sich immer das beste Stück vom Kuchen einverleiben können, nicht wahr? Kommen Sie doch bitte mit herein.« Ehrlinspiel lächelte. Er war sich noch immer nicht sicher, ob Franz, der stets nach Zwieback roch, die Rolle des Tumben nur spielte oder ob seine Naivität echt war. Er wandte sich an die Hausmeisterin: »Eventuell habe ich später noch einige Fragen an Sie.«

»Also«, fragte Ehrlinspiel Franz barsch, als sie in der Wohnung des Toten waren und der Polizeihauptmeister umständlich in einen Overall stieg, »was hatte die Dame zu sagen?«

»Sie hat sich über das Gekläffe geärgert«, gab Franz monoton zurück und zog den Reißverschluss zu. »Kam ihr seltsam vor. Sie ist mit dem Schlüssel rein. Der Mann lag da in Kot und Pisse. Da hat sie die 110 angerufen. Das Führungs- und Lagezentrum hat mich hergeschickt.«

»Ist das alles?« Ehrlinspiel widerstand dem Reflex, den Mann zurechtzuweisen, während sie in die Küche gingen.

Dort kniete Felber und entkleidete den Toten. Weil die Totenstarre offenbar schon vollständig eingetreten war, schnitt er die Hose auf. Wie das T-Shirt klebte er auch diese mit breiten Streifen Klebeband ab, damit mögliche Fremdfasern nicht verlorengingen. Zwischendurch fotografierte er den Toten mehrmals aus verschiedenen Perspektiven. Auf der Seite des Leichnams, die dem Boden zugewandt war, hatten sich große, bläuliche Totenflecke gebildet.

»Wirkte Frau Zenker glaubhaft?«, fragte Ehrlinspiel den Polizeihauptmeister. »Aufmerksam? Kannte sie den Toten näher?«

Franz zuckte mit den Schultern, und am liebsten hätte Ehrlinspiel ihm ein Feuerzeug unter den breiten Hintern gehalten, um ihn auf Touren zu bringen. Manchmal waren Raucher eindeutig im Vorteil.

»Der Typ knallt keine Tante mehr«, sagte Franz mit einem Grinsen, das gelbe Zähne entblößte, und setzte sich auf die Kante des Küchentischs. »Der CD-Player lief übrigens noch. Uralte Songs von den Rolling Stones, auf Endlos-Wiederholung geschaltet.«

»Runter vom Tisch«, zischte Lukas Felber und drückte mit zusammengekniffenen Augen auf einen der Leichenflecke, dessen Farbe und Lage sich dabei nicht veränderte. Bestimmt hätte auch Lukas dem Kollegen gern eine Nachhilfestunde in Sachen freundliches Benehmen und Pietät verpasst, dachte Ehrlinspiel. Doch dazu ist er zu diskret. Lukas Felber war keiner, der andere grob zurechtwies.

Gärtner musste länger als zehn Stunden tot sein. Zwar waren Totenstarre und Leichenflecke kein zuverlässiges Mittel zur Bestimmung des Todeszeitpunktes, erste Anhaltspunkte konnten sie dennoch liefern: In den ersten Stunden nach Todeseintritt ließen sich die Flecke wegdrücken. Bei Gärtner waren sie fixiert. Postmortale Austrocknung, Zerfall roter Blutkörperchen, Austritt von Hämoglobin ins gefäßangrenzende Gewebe. Mit manchen Dingen war man vertraut, obwohl man es nicht wollte.

»Ich hab immerhin den Arzt geholt, nachdem ich hier angekommen bin«, erklärte der Polizeihauptmeister. »Sie müssen mich nicht so herablassend behandeln.«

Ehrlinspiel hob eine Augenbraue. »Immerhin? Das gehört zu Ihrem Job. Dafür gibt es kein extra Kuchenstück.«

Franz schnaubte, und Ehrlinspiel wusste, dass er nicht nur beleidigt war, sondern voller Verachtung und Neid steckte. Franz hatte nie Karriere gemacht und missgönnte allen Gleich- und Höhergestellten ihren Erfolg. Arbeit schob er am liebsten andern hin und bestand zudem auf dem »Sie« – wahrscheinlich als einziger Polizist des Landes.

Felber drehte den Toten auf den Bauch, fotografierte ihn erneut und maß die Rektaltemperatur. »Der Hausarzt hat ihn nicht ausgezogen.« In seiner Stimme schwang Kritik.

Ehrlinspiel wusste, dass viele Morde unentdeckt blieben, weil der Hausarzt das Misstrauen der Angehörigen nicht auf sich ziehen wollte. Wozu nach Anzeichen für einen gewaltsamen Tod suchen? Man kannte sich schließlich. Und vor allem brauchte man zahlende Patienten, am besten privatversicherte. Andere Ärzte waren einfach zu faul. Über die Dunkelziffer unentdeckter Tötungen in Altenheimen wollte er erst gar nicht nachdenken. Die Erfahrungen des Kriminalhauptkommissars warfen in diesem Punkt kein gutes Licht auf die Ärzteschaft. Auf Lukas Felber dagegen konnte er sich verlassen: Er übernahm keinerlei Angaben ungeprüft – egal, wie umfassend und kompetent diese auch schienen.

»Der Arzt musste zu ’nem Notfall«, erklärte Franz und nahm eine Fernsehzeitschrift zur Hand, deren halbes Titelblatt dem Dekolleté eines plastikgleichen Models gehörte. »Er konnte nicht warten.«

»Und Sie offenbar auch nicht.« Ehrlinspiel wechselte einen Blick mit dem Kriminaltechniker.

»Doktor Wittke hat im Totenschein angemerkt, dass eine Nussöl-Allergie bestand«, fuhr Felber sachlich fort und beugte sich dicht über den Rücken, dann über das Gesäß und die Beine Martin Gärtners. »Keinerlei äußere Anzeichen für einen gewaltsamen Tod. Keine Verletzungen.« Er stand auf und reichte Ehrlinspiel das mehrseitige Schriftstück.

»Todesart ungeklärt«, las Ehrlinspiel neben dem angekreuzten Kästchen.

»Und dabei bleibt es auch für mich.« Lukas Felber nickte.

»Der Hausarzt hat gesagt, dass Gärtner letzte Woche zum Generalcheck bei ihm war.« Der Polizeihauptmeister schlug die Fernsehzeitschrift auf. »Topfit bis auf die Allergie. Aber die ist ihm wohl am Arsch vorbeigegangen.«

Felber nickte, doch sein Seitenblick auf Franz sprach Bände. »Wir schicken ihn zur Obduktion.« Er wandte sich zum Küchentisch. »Du hast das gesehen?«, fragte er Ehrlinspiel, steckte den Kuchenrest in eine luftdurchlässige Tüte, kippte den Kaffee in ein Plastikgefäß und verstaute auch die Tasse. »Er ist mitten beim Kaffeetrinken gestorben. Wenn’s kein Herzinfarkt oder Ähnliches war und er sich dabei vor Angst in die Hosen gemacht hat … Ich schicke das gleich ins Labor der Rechtsmedizin.«

Ehrlinspiel verstand. Gift vielleicht. Drogen. Eine Überdosis an Medikamenten. Freiwillig jedenfalls war der Mann nicht aus dem Leben gegangen. Für einen Suizid wählte man nicht gerade seine Kaffeestunde und aß dazu Erdbeerkuchen. »Ich rufe das Lagezentrum an«, sagte Ehrlinspiel, doch Felber hatte sein Handy bereits am Ohr. »Schickt mir Verstärkung von der Technik«, sagte er. »Außerdem einen Bestatter. Er soll in fünfundvierzig Minuten da sein. Der Tote geht in die Rechtsmedizin.« Er beendete das Gespräch. »Leitest du die Formalitäten in die Wege?«, bat er den Hauptkommissar.

Moritz Ehrlinspiel nickte. Das Prozedere, das die Strafprozessordnung bei Hinweisen auf eine nichtnatürliche oder unklare Todesursache vorschrieb, war Alltag für ihn: Meldung an die Staatsanwaltschaft. Mit den Angaben, wer, wann, wo und durch wen gefunden worden war. Aktueller Kenntnisstand der Kripo. Das Ganze in Kopie an involvierte Stellen – im aktuellen Fall also den Polizeiposten Stühlinger. Das alles konnte er per E-Mail erledigen. Danach würde die Staatsanwaltschaft beim Ermittlungsrichter die Obduktion beantragen.

Die Zusammenarbeit zwischen der Freiburger Kripo und der Justiz war vorbildlich, und wenn eine Obduktion eilig war, erfolgte die offizielle Anordnung meist wenige Minuten später per Fax. Martin Gärtner allerdings – der zählte wohl zu den weniger dringenden Fällen. Kein Hinweis auf Mord. Routine. Zwei Tage würde er mindestens im Kühlfach warten müssen. Und Ehrlinspiel konnte bis dahin ein paar Aktenberge abtragen.

Im Nebenzimmer begann der Hund zu jaulen. Der Hauptkommissar füllte den Wassernapf, ging hinüber und fand sich unmittelbar im Schlafzimmer des Toten wieder. »Du bist aber auch schon ein älteres Semester«, sagte er und kraulte das Fell, das fast dieselbe graubraune Farbe wie die Haare des Toten hatte, während das Tier gierig soff.

Felber war noch nicht durch mit der Spurensicherung. Einen vorsichtigen Blick konnte Ehrlinspiel trotzdem in den Raum werfen. Doch er entdeckte nichts Interessantes. Ein schmales Bett, ein Hocker, ein zweitüriger Kleiderschrank, in den der Hund die Schnauze steckte, als der Kriminalhauptkommissar Handschuhe anzog und ihn öffnete. Zwei Hosen, verwaschene Überhemden, einige T-Shirts. Ein schiefer Stapel Doppelripp-Unterwäsche. Socken mit dünnen Fersen und ausgeleierten Bündchen. Ein Winterpullover. Und der Geruch von Staub. »Was für ein Leben«, murmelte Ehrlinspiel und sah zu dem Hund. »Und was soll jetzt aus dir werden?« Zwei dunkle Augen blickten ihn aus einem schiefgelegten Kopf an. Ihm wurde die Kehle eng. »Wer will denn so einen alten Kerl?«

Auch seine beiden Kater waren nach einem Fall »übrig geblieben«, wie er gern sagte. Als sei es gestern gewesen, sah er das Bild ihrer Vorbesitzerin vor sich: Die alleinstehende Frau war erstochen und mit abgetrennten Händen und Füßen vor einer Kapelle abgelegt worden. Bis heute war der Fall ungeklärt. Die jungen Tiere ihrer Zucht hatten sofort vermittelt werden können. Die Brüder Bentley und Bugatti aber, schon damals neun Jahre alt und unzertrennlich, waren in ihrem Weidekorb buchstäblich sitzen geblieben. Ehrlinspiel musste die beiden ins Tierheim bringen. Auf halber Strecke dorthin hatte er kehrtgemacht. Und war bis heute dankbar dafür. Auch das war im Hochsommer gewesen.

Ich muss mir etwas für den Hund einfallen lassen, dachte er.

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4

Donnerstag, 29. Juli, 14:00 Uhr

Ehrlinspiel fröstelte. Das leise Klackern, wenn die Edelstahlbahren über den Fliesenboden des Sektionssaals zurück zum Kühlraum gerollt wurden, erfasste ihn stets wie mit kalten Fingern. Manch einer, dem er von diesem geradezu körperlichen Empfinden erzählte, mochte ein wohliges Gruseln spüren. Für den Hauptkommissar war es bedrückende Realität. Ein brutales Gehen. Das abscheuliche Ende menschlichen Daseins.

»Schon wieder so blass, Moritz?«, sagte Professor Reinhard Larsson, streifte die orangefarbenen Handschuhe ab, desinfizierte Hände und Unterarme und warf OP-Hose und -Mantel in den Wäschesack zwischen Metallschränken und Lüftungsschacht. »Lass uns in mein Büro gehen.«

Erleichtert folgte Ehrlinspiel dem Rechtsmediziner aus dem weiß gekachelten Raum. Dass der klimatisiert war, hatte dem Kommissar trotz der bleiernen Hitze, aus der er vor rund eineinhalb Stunden hier hereingekommen war, keine Erleichterung verschafft. Auch in den beiden Tagen seit dem Leichenfund hatte das Wetter keinerlei Hoffnung auf einen Windhauch oder gar einen kühlen Tropfen Regen aufkommen lassen.

Die Obduktion hatte als Routinearbeit ohne die Anwesenheit eines Kripobeamten begonnen – bis Larsson die Sektion unterbrochen und Ehrlinspiel angerufen hatte: Es waren Hinweise für einen Mord entdeckt worden. Erst als der Kommissar im Institut war, hatten die Mediziner ihre Arbeit fortgesetzt.

»Vorläufiges Ergebnis?«, fragte Ehrlinspiel jetzt, nahm auf dem Stuhl vor Larssons Schreibtisch Platz und sah über Stapel medizinischer Fachbücher hinweg in das auffallend symmetrische Gesicht seines Gegenübers.

Kerzengerade thronte der auf seinem ledernen Bürostuhl. Mit seinem perfekt getrimmten, aschblonden Ziegenbärtchen, der Brille mit dem dunklen Kunststoffgestell und der schwarzen Markenkleidung erinnerte Reinhard Larsson ihn immer an einen Designer aus einer dieser Nobelagenturen.

»War es wirklich Mord?«

Larsson lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dieses Wort nehme ich nicht in den Mund. Ich könnte mich allerdings« – er schürzte die Lippen – »zu einem zarten ›Tötungsdelikt‹ hinreißen lassen.«

»Könntest oder tust? Du hast mich immerhin herzitiert.« Ehrlinspiel spürte leichte Kopfschmerzen. Zu gern hätte er sie dem Wetter zugeschrieben. Doch er kannte seine Reaktion auf so manchen Zeitgenossen gut genug, um zu wissen, dass sie die Folge einer mühsam bewahrten Beherrschung waren. Larsson gehörte zu denen, die ihn bis kurz vor die Explosion bringen konnten.

»Der innere Befund zeigt eine generalisierte Hyperhydration der Weichteile, vor allem der Mukosae. Inklusive Epiglottis. In Interstitium und Alveolen der Lunge ist zudem Blutflüssigkeit aus den Kapillargefäßen getreten.« Larsson schmunzelte. »Schleimhäute überwässert, Kehldeckel geschwollen plus Lungenödem – wenn du’s umgangssprachlich möchtest. Die Schleimsekretion in den Bronchien war auch leicht vermehrt.«

»Was soll das heißen? Mord? Vielleicht mit Gift oder mit Hilfe eines Allergikums? Der Hausarzt hat doch im Totenschein eine Nussöl-Allergie vermerkt.«

Ein süffisantes Lächeln stahl sich auf Larssons Lippen. »Totenbescheinigungen – um bei der korrekten Terminologie zu bleiben – sind für Leute wie mich allenfalls ein Quell der Erheiterung. Ich schaue selbst nach der Todesursache.«

»Und was hast du gesehen?« Die Bilder aus dem Sektionssaal tauchten vor ihm auf. Gärtners Leichnam unter grellem Neonlicht. Die drei geöffneten Körperhöhlen: Brust, Bauch, Schädel. Die beiden Mediziner und der Präparator, die Eingeweide in Schüsseln legten, wogen, die Ergebnisse auf eine grüne Wandtafel schrieben, Urin-, Mageninhalts- und Gewebeproben einlagerten. Er sah vor sich, wie sie Name und Obduktionsnummer Gärtners auf einen kleinen, braunen Plastikbehälter schrieben, in dem wie buntes Fleischallerlei die konservierten Innereien in Formalin schwammen, wie sie den Behälter ans Ende einer langen Reihe stellten – Relikte derer, die hier in den vergangenen Tagen ihre letzten Geheimnisse preisgegeben hatten. Noch intensiver aber erinnerte Ehrlinspiel sich an die Geräusche: das metallene Klappern der Autopsieskalpelle und Pinzetten, die dumpfen Schläge des Hammers auf den Knochenmeißel; das Krachen der Rippen beim Brechen mit der Knochenschere und das Knirschen der Handsäge, als die Schädelplatte abgenommen worden war. Alles begleitet vom ständigen Rauschen des Wasserschlauchs, unter dessen Strahl die Organe abgespült wurden und Sekret und Blut in den Abfluss gluckerten. Noch immer schmeckte Ehrlinspiel den Geruch des Todes auf seinen Schleimhäuten.

»Zunächst einmal keine der ursprünglich vermuteten Todesursachen. Kein Herzinfarkt, keine Hirnblutung, keine Lungenembolie, keine –«

»Sondern?«

»Ein anaphylaktischer Schock.« Larsson ließ die Arme sinken.

»Also doch kein … Tötungsdelikt?« Bloß nicht provozieren, dachte Ehrlinspiel. Schön auf ihn eingehen. Ich will schließlich etwas von ihm.

Larsson kam hinter seinem Schreibtisch hervor und lehnte sich an dessen Vorderkante. »Ein Rechtsmediziner beschreibt, was er findet. Er bewertet. Er bittet um Analysen. Aber er spekuliert nicht. Weder über den Auslöser des allergischen Schocks noch darüber, wie das Allergikum in den Körper gekommen ist.« Er blickte Ehrlinspiel direkt an. »Klinkenputzen ist deine Sache.«

»Warum hast du mich dann überhaupt geholt, wenn du nicht weißt, ob …« Ehrlinspiel verstummte und holte tief Luft. Ganz ruhig! Er ist einer der gefragtesten Rechtsmediziner Deutschlands. Fachlich betrachtet. »Was ist mit den Analysen? Lukas Felber hatte euch Lebensmittel aus der Wohnung des Toten geschickt.«

»In der Milch war Walnussöl.« Larsson schlenderte wieder hinter seinen Schreibtisch.

»Was?« Moritz spürte ein Pochen in den Schläfen. Er kannte Reinhard Larsson seit vielen Jahren als komplizierten Menschen. Stets sarkastisch, oft vermessen, selten mit menschlichen Anwandlungen. Heute aber schien er dem Wort Arroganz eine neue Dimension verleihen zu wollen.

»Warum hast du mir nicht –«

»Und er starb plus/minus siebzehn Uhr am Montag.«

»Was genau für ein Walnussöl?«

Der Rechtsmediziner setzte sich, schlug einen Ordner auf und begann zu lesen. »Vergiss es! Die sind alle gleich. Niemand kann da einen Unterschied feststellen. Ich schicke die Befunde an die Staatsanwaltschaft. Nur der bin ich rechenschaftspflichtig.«

Korinthenkacker, dachte Ehrlinspiel und klappte sein Handy auf. »Ich brauche eine Soko«, sagte er zum Dezernatsleiter. »Wir haben einen Mord.«

 

Nur wenige Stunden später saß das Team im vierten Stock der Polizeidirektion beisammen.

In dem L-förmigen Gebäude mit dem rotbraun geklinkerten Eingangsbereich und den charakteristischen abgerundeten Ecken waren einst chirurgische Instrumente und Elektronik für die Medizintechnik hergestellt worden. Nach einem millionenschweren Umbau beherbergte der denkmalgeschützte Bau in der Heinrich-von-Stephan-Straße die zentralen Organisationseinheiten der Polizeidirektion Freiburg: Seit 1999 teilten sich Einsatzstab, Führungs- und Lagezentrum, Ermittlungsdezernate der Kripo, die Kriminaltechnik samt ihren Hightech-Laborräumen, das Revier Süd, die Verkehrspolizei, Direktion, Verwaltung und Archive mehr als achttausend Quadratmeter Nutzfläche. Im Keller befanden sich zudem einige Arrest- und die Großraumzelle, die sich vor allem nach Fußballbundesligaspielen füllte. Die Sonderkommissionen besprachen sich ganz oben.

Zur Leiterin der Soko »Draisstraße« war Kriminalhauptkommissarin Meike Jagusch ernannt worden. Sie verfügte über eine hohe soziale Kompetenz und Entscheidungsstärke und war als kluge und stets sachliche Teamchefin beliebt. Nichts war der Leiterin des Dezernats 12 fremd. Egal, ob Fälle aus dem eigenen Dezernat – das sich mit Raub, Erpressung, Jugenddelinquenz und Sexualdelikten im sozialen Nahraum beschäftigte – oder aus anderen Bereichen. Ehrlinspiel war erleichtert, dass der Kripochef ihm den Part der Soko-Leitung erspart hatte. An den Schreibtisch verdammt zu sein, zu koordinieren und zu organisieren, war ihm zuwider. Er musste hinaus. Ausschwirren. Ins Wespennest stechen und so lange nachbohren, bis auch die letzte Larve aus ihrer Verpuppung schlüpfte, ans Licht kroch und ihre Rolle im Staat der Verdächtigen verriet.

Meike Jagusch stand vor den Tischen, die in einem großen Rechteck angeordnet waren und auf die durch bodentiefe Fenster viel Licht fiel. Sie starrte auf das leere Whiteboard und rieb sich gedankenverloren über die Stirn. Die kompakte Frau Ende vierzig mit dem vollen grauen Haar war nicht für große Gefühlsausbrüche bekannt. Doch heute zeigte ihr Gesicht mit den sympathischen Furchen einen niedergeschlagenen Ausdruck.

»Verstehe ich das richtig. Wir haben – nichts?« Jaguschs Blick glitt über die Runde: den Leiter der Kripo; Lorena Stein, die ermittelnde Staatsanwältin; Ehrlinspiel, der zum Hauptsachbearbeiter bestimmt worden war und zusammen mit Paul Freitag ein Ermittlungsteam bildete; Lukas Felber von der Kriminaltechnik; Judith Maiwald, eine Wirtschaftskriminalistin aus dem Dezernat für Betrugs- und Insolvenzdelikte; den Pressesprecher und Stefan Franz. Letzterer würde hoffentlich nur heute dabei sein, um die Truppe auf den aktuellen Stand zu bringen. Diesem Kernteam gegenüber saßen rund fünfzehn Ermittler, außerdem Kollegen zur Recherche und Datenerfassung sowie zwei Schreibkräfte. Abhängig von der Entwicklung des Falls käme auch der Rechtsmediziner zu den zwei täglichen Besprechungen. War es kriminaltaktisch notwendig, so ließen die Soko-Leiter die Telekommunikation überwachen und forderten Unterstützung durch die Operative Fallanalyse aus Stuttgart an.

»Okay, die Fakten. Moritz?«, sagte Jagusch.

Ehrlinspiel begann: »Der Tote heißt Martin Gärtner, war sechsundfünfzig Jahre alt und nach erster Aussage einer Nachbarin Frührentner. Wir müssen alles erst durchgehen. Keine Familie nach bisherigem Wissensstand. Wohnte allein in einer Erdgeschosswohnung der Draisstraße 8 a. Ein älterer Hund. Tod aufgrund eines allergischen Schocks. Ausgelöst durch Walnussöl in der Milch beziehungsweise im Kaffee.«

»Welches er wohl kaum selbst dort hineingekippt hat«, warf Freitag ein.

»Stimmt«, sagte Lukas Felber. »Der Tetrapak war unversehrt. Keine Einstiche von Spritzen oder Ähnlichem. Jemand hat das Öl also durch die reguläre Öffnung in die Packung gegeben.«

»Bitte, einer nach dem andern.« Jagusch hob die Hand und schrieb die Eckdaten auf das Whiteboard. Daneben hingen Fotos von dem Toten in der Küche.

Ehrlinspiel nickte. »Fragt sich nur, wann und wo die Milch präpariert wurde. Ich vermute, dass es erst in Gärtners Wohnung passiert ist, nicht schon im Laden. Wobei: Es gibt keinerlei Einbruchsspuren. Der Täter ist entweder mit einem Schlüssel eingedrungen, während Gärtner unterwegs war, oder das Opfer hat seinem Mörder die Tür geöffnet.«

Auf Jaguschs Stirn erschien eine steile Furche. »Wer hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung?«

»Das werden wir heute Abend noch versuchen herauszufinden. Auf jeden Fall die Hausmeisterin. Britta Zenker.«

»Wer hat mit ihr gesprochen?«

»Der Herr Kollege vom Polizeiposten Stühlinger.« Ehrlinspiel betonte die beiden letzten Wörter und lächelte.

Stefan Franz reagierte nicht. Er schaukelte in einem der schwarzen Freischwinger vor sich hin und sah zu Judith Maiwald, der jungen Wirtschaftskriminalistin. Sie steckte in einem roten, enganliegenden Top, trug einen dazu passenden Lippenstift, und ihr Haar war zu einem festen Knoten geschlungen.

»Sie sind dran«, sagte Maiwald zu Franz, und Ehrlinspiels Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Dass die Männer Judith anstarrten, war nicht ungewöhnlich: eleganter Schwung der Wimpern, heller Flaum über den Augenbrauen, schimmernde Haut, winzige Narbe neben dem linken Auge. Déjà-vu, dachte der Kriminalhauptkommissar und erinnerte sich an seine erste Begegnung mit der kühlen Blondine. Die lag drei Jahre zurück. Er war nicht der Einzige, den sie seither hatte abblitzen lassen.

Unter Schnaufen berichtete Stefan Franz. Mehr, als er am Dienstag am Leichenfundort erzählt hatte, wusste er auch jetzt nicht zu sagen: Die Hausmeisterin hatte aufgrund des Gebells den Notruf gewählt, der beim Führungs- und Lagezentrum, kurz FLZ, eingegangen war. Dieses hatte den örtlichen Polizeiposten verständigt. Franz – ein notorischer Frühaufsteher, der gern vor den offiziellen Bürozeiten am Schreibtisch saß und hoffte, dann von Arbeit verschont zu bleiben – war fünf vor sieben am Morgen mit Britta Zenker in die Wohnung des Toten gegangen und von Gestank und Rolling-Stones-Liedern begrüßt worden. Der alarmierte Hausarzt, Jakob Wittke, hatte seine Praxis fast nebenan und war sofort da gewesen. Wegen eines Notfalls war er nach fünfzehn Minuten gegangen. Vorschriftsmäßig hatte nun Franz das FLZ angerufen, weil der Hausarzt keinen natürlichen Tod hatte attestieren können. Dieses hatte die drei Kollegen vom KDD kontaktiert, also sind »meine ehemaligen Hauskollegen, die Herren Kriminalhauptkommissare Felber und Ehrlinspiel«, zu dem Toten gekommen. Britta Zenker sei eine freundliche Frau, erklärte der Polizeihauptmeister, etwas zu schrumpelig vielleicht. Sie habe ihm aber sogleich Kaffee angeboten, und so war er mit ihr in die gemütliche Wohnung gegangen, sobald Lukas Felber mit dem Kombi der Kriminaltechnik vor dem Haus gehalten habe. Hätte ja sein können, dass sie etwas Wichtiges beobachtet hatte.

Ehrlinspiel verdrehte die Augen. Zu schrumpelig! Die Frau war vermutlich nur wenige Jahre älter als der 52-jährige Franz.

»Und?«, fragte Jagusch. »Hat sie etwas beobachtet?«

»Dass Gärtner aufgeräumt hat. Anscheinend hat er sonst eher weniger ordentlich gelebt. Und in den letzten Wochen hat er mehr mit dem Hund gesprochen als sonst.«

»Woher wusste sie das denn?«

»Keine Ahnung.«

»Aha.« Jaguschs Stirnfalte wurde tiefer. »Moritz, Freitag, ihr sprecht nachher mit ihr, bitte.«

Freitag sah hoch und nickte.

»Kinder?«

»Wie gesagt« – Ehrlinspiel blätterte in seinen Notizen –, »Gärtner lebte sehr zurückgezogen. Keine Familie. Keine Kinder.«

»Zumindest keine eingetragenen«, warf Judith Maiwald ein, und alle Köpfe drehten sich zu ihr.

Ehrlinspiel fragte sich, ob sie einschlägige Erfahrungen hinter sich hatte oder ob ihre Bemerkung eher allgemeiner Natur war. Sie war eine brillante Ermittlerin, doch nur wenig war über sie bekannt. Achtundzwanzig Jahre alt, Studienaufenthalt bei der Kantonspolizei Zürich, wo sie für ihre analytischen Fähigkeiten und das Verständnis für komplexes Bankenwesen ausgezeichnet worden war, Spezialisierung auf Wirtschaftskriminalität in mehreren hochqualifizierten Lehrgängen. Maiwald redete nur das Nötigste und dann nur Fachliches, stimmte sich selten mit anderen ab und war nie in der Stadt anzutreffen. Böse Zungen behaupteten, sie halte zu Hause einen wehrlosen Goldfisch, dem sie abends ihre bis zu zwanzigtausend Wörter ins Aquarium blubberte, die den Frauen als Tagesgequassel noch immer nachgesagt wurden. Dabei galt es längst als erwiesen, dass Männer kaum schweigsamer waren und beide Geschlechter rund sechzehntausend Wörter von sich gaben – auch wenn sie nichts zu sagen hatten. Judith Maiwald würde zu Larsson passen, dachte der Kriminalhauptkommissar. Zwei schöne Menschen, kluge Einzelgänger und umgeben von der Aura kühler Distanz. Hatte er die beiden schon einmal zusammen erlebt? Er konnte sich nicht erinnern.

»Sonst noch Erkenntnisse, Frau Maiwald?«, fragte Jagusch mit ironischem Unterton und öffnete zischend eine der Apfelsaftschorleflaschen, die neben einer Obstschale und einem Teller Kekse auf dem Tisch gruppiert waren. Der einstige Schokoladenüberzug der Kekse klebte dickflüssig auf dem Teller.

Judith Maiwald blieb ernst. »Lukas hat mir die Unterlagen erst vorhin übergeben. Ich werde sie so bald wie möglich auswerten.«

Jagusch nickte. »Was habt ihr sonst noch mitgenommen?«

»So ziemlich alles.« Lukas Felber trug eines seiner obligatorischen karierten Hemden, aus dessen Brusttasche drei Stifte und eine Packung Marlboro herauslugten. »Lebensmittel, Kleidung, Papiere.« Er zögerte. »Und den Hund. Jagger. Wie Mick Jagger von den Rolling Stones. Der Name steht im Impfpass des Tiers.« Ein Blick traf Ehrlinspiel, den er nicht deuten konnte.

Hatte der Kriminaltechniker Jagger einschläfern lassen? Der Leiter des Dezernats 42 wusste, dass Ehrlinspiel Tiere liebte und niemals seine Zustimmung dazu gegeben hätte. Doch wahrscheinlich hatte alles seinen gewohnten Gang genommen, und der Vierbeiner hatte Aufnahme im Tiergehege Mundenhof oder im Tierschutzzentrum Ehrenkirchen-Scherzingen gefunden.

»Gärtner hatte Lachs und Sekt im Kühlschrank«, schloss Felber seinen Bericht. »So viel zum Thema zurückgezogenes Leben.«

»Sprechen Lachs und Sekt gegen ein solches?«

»Es waren teure Marken, Moritz. Ich glaube nicht, dass es zu seinem Standardeinkauf gehört hat.«

Ehrlinspiel dachte an die Möbel mit dem abgesplitterten Lack, die muffigen Kleider, die altmodischen Tapeten. »Vielleicht die Assoziation eines besseren Lebens?«

»Oder er hatte etwas zu feiern«, sagte Freitag. »Netten Besuch zum Beispiel. Für den er picobello aufgeräumt hat.«

»Findet es heraus«, sagte Jagusch und verteilte die Aufgaben.

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5

Eine Stunde nach der Soko-Besprechung kroch Ehrlinspiel mit Paul Freitag im Dienstwagen die 30er-Zone der Draisstraße entlang, in der das Haus des Opfers lag. Auf der Fahrt hatten die Kommissare geschwiegen, nur das Summen der Klimaanlage hatte das zähe Stop-and-Go des abendlichen Berufsverkehrs begleitet.

Große Bäume säumten die Straße, in der sich gepflegte Einfamilienhäuser an schlichte, mehrgeschossige Häuserblocks reihten. Die meisten Vorgärten waren nicht mehr als kleine Rasenflecke, doch zusammen mit dem Grün der Bäume verliehen sie der Umgebung die angenehme Illusion von Frische.

Ehrlinspiel nahm die Sonnenbrille ab und parkte im Schatten einer Linde.

Freitag blickte zu der Zeile mit den gelb gestrichenen Häusern. »Sechziger Jahre? Kleine Fenster, Minibalkons, bröckelige Fassade. Die Reichen leben woanders.«

»Sag das nicht.« Sie stiegen die Betontreppe zum Eingang des nördlichen Endhauses hinauf. »Das Volk nennt den Stühlinger nicht umsonst ›Montmartre Freiburgs‹. Überfluss neben Hartz-IV-Empfängern, Ärzte neben Arbeitern, Professoren neben Studenten.«

»Emsige Bienen neben faulen Hunden«, sagte Freitag und murmelte: »Stefan Franz.«

Ehrlinspiel sah ihn von der Seite an. Paul Freitags Nase war etwas zu groß und gebogen, und seine Mundwinkel waren nach oben gerichtet. Sein Partner galt als die Gelassenheit selbst und hatte sogar dann noch ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen, wenn er am Rande der Erschöpfung stand oder krank war. Und er war stets gut gekleidet, mit einem gebügelten Hemd, dunkler Stoffhose und Jackett – sofern das Wetter dies zuließ.

Sie klingelten bei der Hausmeisterin.

Ehrlinspiel war froh, dass Meike Jagusch den Polizeihauptmeister aus der Nachbarschaftsbefragung herausgehalten hatte – auch wenn das für die Kommissare jetzt mehr Arbeit bedeutete.

Noch bevor Ehrlinspiel den Finger von der Klingel genommen hatte, summte der Haustüröffner, und Britta Zenker riss ihre Wohnungstür auf. »Kommen Sie schnell herein«, rief sie wild gestikulierend und blickte um sich, als sei eine Horde bewaffneter Verfolger hinter den Polizisten her und sie die Bewacherin des einzigen Bunkers weit und breit.