Schweig still, mein Kind - Petra Busch - E-Book
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Schweig still, mein Kind E-Book

Petra Busch

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Ein 500-Seelen-Dorf im Schwarzwald. Das pure Idyll, so scheint es. Dann liegt in der nahen Rabenschlucht eine tote Schwangere. Sie war gerade erst nach zehn Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt. Hauptkommissar Ehrlinspiel nimmt die Ermittlungen auf – und stößt auf mehr als ein düsteres Dorfgeheimnis. Und eine zweite Leiche … Schweig still, mein Kind von Petra Busch: Spannung pur im eBook!

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Petra Busch

Schweig still,mein Kind

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein 500-Seelen-Dorf im Schwarzwald. Das pure Idyll, so scheint es. Dann liegt in der nahen Rabenschlucht eine tote Schwangere. Sie war gerade erst nach zehn Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt. Hauptkommissar Ehrlinspiel nimmt die Ermittlungen auf – und stößt auf mehr als ein düsteres Dorfgeheimnis. Und eine zweite Leiche …

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelEpilogWirkliches, Fiktion und DankLeseprobe »Deine Seele so schwarz«
[home]

Prolog

Anfang Dezember

Der Schnee schluckt sein Wimmern.

Er sieht auf den Boden. Kommen die weinenden Laute überhaupt aus seinem eigenen Mund? Langsam bückt er sich und berührt vorsichtig die kleine weiße Stirn. Sie ist warm. Er geht in die Hocke und streicht über die Wangen. Abrupt zieht er seine Hand zurück. Die Haut fühlt sich an wie die Blätter einer Rosenblüte, schießt es ihm durch den Kopf. Dann tippt er vorsichtig gegen die kleine Hand, die unter der bunten Decke hervorragt. Sie liegt auf der dünnen Schneeschicht, zu einer schlaffen Faust geballt, greift nicht mehr nach seinen rauhen Fingern. Er bringt seinen Oberkörper dicht über das winzige Gesicht, studiert jeden Zentimeter. Geschlossene Augenlider, fast durchsichtig. Goldene Wimpern und Härchen, bleich im Abendlicht. Blasse Lippen, leicht geöffnet, als wollte sich noch ein letzter Ruf in die klirrende Dezemberkälte hinausstehlen.

Er merkt, dass er zittert. Er versteht das alles nicht. Der leblose kleine Körper. Und das Beben seiner Hände und Beine. Er zittert sonst nie. Selbst wenn er im Winter zwischen den kahlen Bäumen übernachtet oder mit der Axt das Eis vom Weiher schlägt, um ein paar Züge zu schwimmen, spürt er keine Kälte.

Er versucht, seine Gedanken auf das Baby zu richten, will nachdenken, aber es gelingt ihm nicht. Die Bilder purzeln in seinem Kopf hin und her. Das stille Haus. Die schlafende Mutter neben der Wiege. Seine schleichenden Schritte. Es war ihm schwergefallen, leise zu sein. Er hatte die Stiefel ausziehen müssen. Fast hätte er den Reim gesummt. Aber das durfte er nicht. Heute war es verboten. Und dann, später, war das Kind zu Boden gefallen. Leicht und leise wie eine Schneeflocke, direkt vor seine Füße, die Zipfel der Decke hatten für den Bruchteil von Sekunden wie die Flügel eines Raben geflattert. Er mag die Vögel. Und er mag Schneeflocken. Sie schweben so sanft, hüllen die Welt in Stille.

Plötzlich schneidet die Stimme durch seinen Schädel. »Du musst es verschwinden lassen«, sagt sie.

Verwirrt richtet er sich auf, stiert um sich.

»Niemand darf es wissen!«

Er hält sich die Ohren zu, schüttelt den Kopf. Warum? Warum soll es niemand wissen? Er versteht nicht. So hat er es doch gelernt: Sünde braucht Buße. Er tut nichts Unrechtes. Er hat das Kind aus dem Bettchen holen müssen. Das war sein Auftrag. Es war richtig gewesen. Sie würden ihn dafür loben!

»Bring es weg, versteck es!«

Er presst die Hände fester auf seine Ohren, biegt die Schultern nach vorne und krümmt den Oberkörper zusammen, bis er glaubt, nichts mehr wahrzunehmen. Doch die Wörter hallen unbarmherzig in seinem Inneren.

»Du musst es fortschaffen! Du willst doch dein Leben nicht ruinieren! Komm, komm!«

Er weiß, dass er der Stimme gehorchen muss. Das war schon immer so gewesen.

Ein Rabe beginnt zu krächzen. Er drückt noch fester auf seine Ohren. Nein, nicht jetzt! Weg! Weg! Der Schrei des Vogels droht seinen Kopf zu sprengen, er schmerzt. Er muss sich konzentrieren, Ruhe haben. Der Rabe schreit erneut. Zorn erfasst ihn, während er den Blick starr nach unten gerichtet hält. »Krah!«, brüllt er zurück, und ein ersticktes Echo verfängt sich in den Bäumen. »Krah!«

Der Rabe verstummt. Stille senkt sich über die fahle Ebene. Er reißt die Arme herunter, ganz dicht an seine Seiten. Dann beginnt er, seinen Körper rhythmisch vor- und zurückzubewegen. Doch das Zittern endet nicht.

»Los jetzt«, zischt die Stimme und windet sich zwischen seinen Schläfen wie eine dünne Schlange. »Beeil dich! Du kannst das Kind nicht hier liegen lassen. Und zurück kannst du es auch nicht bringen.«

Erschrocken hält er inne und dreht sich dann mit einem Ruck um. Ein Stück unter ihm, jenseits des Waldes, zieht sich eine verschneite Wiese den Hang hinab. Er kann die Häuser an ihrem Ende nicht erkennen. Die weiße Fläche verliert sich im dämmrigen Nichts.

Die Stimme hat recht. Er kann nicht zurück.

Wieder sieht er auf das Kind hinunter. Die Lippen haben sich inzwischen blau verfärbt, und unter seinem Kopf sickert ein schmales rotes Rinnsal in den Schnee.

Da lacht er. Kurz. Rauh. Die Räder in seinem Gehirn laufen nun rund. Das Kind war nicht verloren! Er würde dieses Leben bewahren! Die Bilder in seinem Kopf ordnen sich, schieben sich zu einem neuen Bild zusammen. Rosa Osiria.

Er hebt den Säugling vom Boden auf und birgt ihn vor seiner Brust unter der Kleidung.

Später, in der Nacht, setzt starker Schneefall ein. Schon bald sind seine Fußspuren verschwunden.

[home]

1

Fast zehn Jahre später.Donnerstag, 19. November

Ihre Karriere war zweifelsfrei im Eimer. Alles, was sie mit diesem Idioten noch zu tun haben wollte, war, ihm einen kräftigen Tritt in seinen fetten Walross-Hintern zu versetzen. Nach dem Gespräch hatte sie ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen und war erhobenen Hauptes und zum letzten Mal aus seinem Büro stolziert. Als sie früher als üblich nach Hause gekommen war, hatte Sven sich mit der Verkäuferin aus dem Computerladen im Bett vergnügt. Sein Golden Retriever hatte danebengesessen und sie schwanzwedelnd begrüßt.

Hanna Brock stapfte den steilen Pfad hinauf und fluchte laut über die Brombeerranken und Äste, die sich durch ihre neue Trekkinghose hindurchbohrten. Ihre Wanderschuhe waren noch immer nicht eingelaufen, und sie hatte ihre Zehen vorsorglich mit Pflastern verklebt.

In den letzten Wochen war sie oft in Versuchung geraten, einfach wieder nach Hamburg zurückzufahren. Aber diesen Triumph wollte sie dem Walross nicht gönnen. Bestimmt würde er sich vor Schadenfreude auf die feisten Schenkel klopfen und laut lachen. Und Sven würde um Vergebung winseln und sich in Selbstmitleid suhlen, weil sie seine täglichen Anrufversuche ignoriert hatte. Nein! Sie hatte genug von Männern, die sie hintergingen. Außerdem hatte sie hier einen Job zu erledigen. Und wenn sie so weitermachte, würde sie auch den noch in den Sand setzen. Verdammt!

Als der Pfad endlich auf einen breiteren Weg stieß, hielt sie erleichtert an und setzte sich auf einen großen Stein. Sie musste über eine Stunde gelaufen sein, seit sie um neun Uhr früh aus dem Auto gestiegen und Richtung Südwesten gegangen war. Hanna schnupperte prüfend unter ihrer Achsel und rümpfte die Nase. Was soll’s, dachte sie. Ich muss heute weder Gisele Bündchen am Laufsteg interviewen noch mit Fatih Akin über sein neuestes Hollywoodprojekt plaudern. Und mit den Cocktailpartys war es auch vorbei. Es war ein aufregendes Leben gewesen, und sie hatte es in vollen Zügen genossen. Bis diese Sache begonnen hatte.

Hanna öffnete ihren Rucksack und zog die Wanderkarte heraus. Wenn sie sich dort befand, wo sie vermutete, lag das nächste Dorf nur einen knappen halben Kilometer entfernt, direkt unterhalb des Tannenwaldes. Bis zu ihrem eigentlichen Ziel konnten es also höchstens noch dreißig Minuten Fußmarsch sein. Kurz überlegte sie, einen Abstecher in das Dorf einzuschieben, verwarf den Gedanken jedoch. Die Karte wies es als Ort mit rund fünfhundert Einwohnern aus – eine Ansammlung kleiner hellgrauer Rechtecke, ein paar einzelne Quadrate, verstreute Bauernhöfe. Ein hübsches Café würde sie dort kaum finden, und zudem stand ihr der Sinn nicht nach verschrobenen Bauern und einem Haufen stinkender Kühe. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie man in dieser Gegend überhaupt leben konnte. Ein Kaff war langweiliger als das andere. Zum Glück musste sie nicht jedes in ihren Wanderführer aufnehmen.

Entschlossen stopfte sie die Karte in den Rucksack zurück. Sie würde auch ohne Stärkung auskommen. Bis zum Mittag würde sie die Rabenschlucht erkunden, sich Notizen machen und ein paar Fotos schießen. Dann schnurstracks zum Parkplatz zurückgehen, zwei Stunden später wieder in der Zivilisation sein und sich dort einen großen Salat mit Thunfisch und zwei doppelte Espressi genehmigen. Am Nachmittag bliebe ihr genügend Zeit, um die Aufzeichnungen der letzten Tage in ihren Laptop einzugeben. Und sich zu entspannen.

Hanna presste die Lippen aufeinander.

Der Laptop, ein silbermattes und teures MacBook Pro, war ein Geschenk von Sven gewesen. Sie hatte ihn im Sommer zum achtunddreißigsten Geburtstag bekommen. Die Szene stand ihr noch deutlich vor Augen.

»Nur das Beste für meine Beste«, hatte er gesagt und ihr strahlend das flache Päckchen überreicht.

»Du Schuft«, hatte sie augenzwinkernd erwidert, denn Sven hatte ihren Wunsch stets als Spinnerei abgetan. »Wie komme ich so plötzlich zu der Ehre? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen? Oder willst du etwas von mir?«

Grinsend hatte er ihre Hüften umfasst. »Sicher, Schatz. Ich will immer etwas von dir.« Und dann hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, drei Wochen Luxushotel auf Hawaii inklusive.

»Stell dir das mal vor! Von morgens bis abends nur Sonne, Sex und sich faul am Strand rekeln.«

Zornig trat Hanna nach einer Wurzel. Wo Sven sich jetzt rekelte, wollte sie gar nicht wissen.

Sie stand auf und rieb sich die ausgekühlten Glieder. Es war Mitte November, und obwohl der Wetterbericht für die Jahreszeit ungewohnt milde Temperaturen vorausgesagt hatte, war es kühl und nass. Die zähen Nebelschleier zwischen den Tannenwipfeln passten hervorragend zu ihren finsteren Gedanken.

Hanna ging weiter, bis sich die Nadelbäume lichteten. Buchen mit dunkelgelben Blättern setzten jetzt farbige Tupfer zwischen die fast schwarz anmutenden Tannen. Der Boden war mit dickem Moos überwuchert, das sich tiefgrün über Wurzelstöcke und Felsbrocken den Abhang hinunterzog. Hanna hörte ein leises Rauschen und blieb stehen. Das musste der Fluss sein, der sich tief in das Tal unter ihr gegraben hatte. Die Rabenschlucht.

Ob es hier wohl etwas Lohnendes zu entdecken gab? Bei ihren Vorrecherchen war sie weder in den Schwarzwaldführern noch im Internet auf verwertbare Fakten gestoßen. Sie hatte lediglich herausgefunden, dass auf einem Felsplateau in der Rabenschlucht einst eine Hinrichtung stattgefunden haben sollte. Und dass die alten Einheimischen sich noch heute alle möglichen Gruselgeschichten davon erzählten.

Das Rauschen schwoll an und begleitete sie den steiler werdenden Berg hinauf. Keuchend verwünschte sie ihre schlechte Kondition, als der Weg sich nun beinahe senkrecht in kleinen Serpentinen und zwischen Steinblöcken und Bäumen hindurch nach oben wand. Der Untergrund war glitschig, der Weg kaum mehr als ein matschiger Schlammpfad. Kein Geländer bot Schutz vor einem Sturz in den Abgrund, kein Schild mahnte den Wanderer zur Vorsicht. Offenbar war sie eines der überaus seltenen Exemplare Mensch, die dämlich genug waren, sich im kalten, nebligen Spätherbst und in etwa so klettertauglich wie ein holzwurmgeplagter Pinocchio diesen halsbrecherischen Viehpfad hinaufzuquälen.

Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, tastete sich von einem festen Stück Boden zum nächsten. Schließlich wurde das Gelände eben, und vor ihr ragte das Felsplateau auf. Schwer atmend blieb sie stehen, strich sich die schweißverklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte hinauf.

Aus einem dreieckigen Felsspalt sprudelte mit lautem Dröhnen eine Fontäne kristallklaren Wassers hervor. Sie ergoss sich auf eine darunterliegende, weitläufige Felsplatte und stürzte von dort in unzähligen kleinen Rinnsalen die zerklüftete Tiefe hinab, die das Plateau wie ein Festungsgraben umgab. Die Bäche schienen einander zu jagen. Unten vereinten sie sich in einem Becken und tosten von dort als reißender Strom durch das Tal.

»Wow«, sagte Hanna leise, »nicht schlecht.«

Sie kramte ihre kleine Digitalkamera aus dem Rucksack, machte ein paar Bilder und überlegte, ob sie versuchen sollte, über den Abgrund und die Felsen bis ganz zum Plateau hinaufzuklettern. Einen Zugang sah sie nicht, aber sie hatte im Internet gelesen, dass es einen geben und der Ausblick von oben ebenso grandios wie die Kletterpartie riskant sein sollte.

Neugierig umrundete sie das Felsgebilde, konnte aber keinen Weg hinauf entdecken. Nach einer halben Stunde gab sie die Suche auf.

Den rutschigen Steig, der sie hergeführt hatte, wollte sie kein zweites Mal gehen. Umso mehr freute sie sich, als sie einen überwucherten Nebenpfad bemerkte. Sicher würde er nach unten führen und früher oder später in die Straße zum Parkplatz münden. Lieber würde sie sich Arme und Beine im Unterholz zerschinden, als zerschmettert in der Schlucht zu landen.

Sie bog in das Gestrüpp ab, drückte einige Zweige zur Seite, damit sie ihr nicht ins Gesicht schlugen. Ihre Füße schmerzten. Sie hatte Hunger. Erst war ihr kalt gewesen. Jetzt schwitzte sie. Gebückt kämpfte sie sich vorwärts, bis sie unvermittelt am Rand einer großen Lichtung stand. Hohe Grasbüschel, braunes Laub und abgebrochenes Astwerk breiteten sich vor ihr aus.

Hanna trat auf das offene, baumgesäumte Feld. Die Äste knackten laut unter ihrem Gewicht. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, den Weg auf der anderen Seite der Lichtung zu erspähen. Aus dem Gebüsch stob ein Vogel hervor. Ihre Augen wanderten, und … Abrupt hielt sie den Atem an. Dort lag etwas, dort, in den Sträuchern, zu Füßen der dunklen Stämme. Etwas Türkisfarbenes. Verwirrt machte sie einige Schritte darauf zu, zögerte, ging weiter und fixierte dabei die Stelle auf dem Boden.

Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.

»Mein Gott«, flüsterte sie.

Eine kleine Ewigkeit verging. Hanna schmeckte Galle. Würgte. Obwohl ihre Kleider warm auf ihrer Haut klebten, fröstelte sie, zitterte haltlos wie ein kleines Kind.

Dann wandte sie sich von dem Anblick ab und ließ die Augen die Lichtung entlanggleiten. Fieberhaft, voller Angst. Da! Ein leises Rascheln. Gleich darauf knackte es hinter einer Baumgruppe. Sie war nicht allein! Langsam ging sie einige Schritte rückwärts, stolperte, fiel, kroch, rappelte sich wieder auf.

Dann rannte sie, als gelte es ihr Leben.

[home]

2

Kriminalhauptkommissar Moritz Ehrlinspiel bückte sich unter dem rot-weißen Absperrband hindurch. Die junge Polizeibeamtin blieb dicht neben ihm.

»Da vorne«, sagte sie und deutete auf eine Gruppe Männer, die in weißen Overalls zwischen den Bäumen hin und her gingen. »Die Tote heißt Elisabeth Kühn.«

Ehrlinspiel schwieg. Die einsetzende Dämmerung tauchte den Ort in ein kühles Zwielicht.

Er versuchte, die Atmosphäre zu verinnerlichen. Schon mehrmals hatte ihm der erste Eindruck eines Leichenfundorts wichtige Hinweise auf die Umstände eines Gewaltverbrechens geliefert. Menschen töteten nicht irgendwo, an einem x-beliebigen Ort. Oft wählten sie den Schauplatz ihrer Tat oder die Stelle, an der sie ihr Opfer später ablegten, sorgfältig aus.

Dieses Stück Wald strömte zugleich etwas Märchenhaftes und Bedrohliches aus.

Die Polizistin führte ihn über die Lichtung, vorbei an den Markierungen, die von den Kriminaltechnikern in den letzten Stunden in den Boden gesteckt worden waren.

»Elisabeth Kühn?«, hakte Ehrlinspiel nach.

»Geborene Sommer. Alter: siebenundzwanzig, gemeldet in Berlin. Hatte alle Ausweispapiere bei sich. Sie ist unten im Dorf aufgewachsen. Als Jugendliche ist sie abgehauen und war seither nicht mehr hier. Doktor Brandt, der die Totenbescheinigung ausgestellt hat, kennt die Familie gut. Er steht da vorne, der große schlanke Herr mit den grauen Schläfen. Er kann Ihnen mehr sagen.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Eine Wanderin. Sie wartet im Dorf.«

Ein Mann im weißen Overall trat auf sie zu. »Hallo, Moritz«, sagte er und streifte die Latexhandschuhe ab. »Du kannst loslegen. Wir sind fertig.«

Die Männer gaben sich die Hand.

»Irgendetwas Brauchbares?«

Lukas Felber, der Leiter der Spurensicherung, schüttelte den Kopf. »Wir haben alles durchkämmt. Keine Gegenstände, keine Waffe, nichts. Nicht einmal die üblichen Bonbonpapiere oder Zigarettenkippen. Nur ein paar niedergetretene Stellen im Gras. Und ein schlechtes Sohlenprofil.«

»Fasern?«

»Strauchwerk haben wir natürlich gesichert, die Auswertung bekommst du morgen. Da sucht dann auch noch eine Hundertschaft das Gelände großräumig ab.«

Ehrlinspiel nickte und ging zu der Toten. Bei ihr standen Doktor Brandt und Professor Reinhard Larsson, der Rechtsmediziner aus Freiburg.

»Willkommen zu unserer fünfundzwanzigsten gemeinsamen Leiche«, begrüßte ihn Larsson.

»Ehrlinspiel, Kripo Freiburg«, wandte sich der Hauptkommissar an Brandt und warf dem Rechtsmediziner einen verärgerten Seitenblick zu. Der Polizeiberuf brachte Routine mit sich wie jeder andere Job. Aber an die abgebrühte Art von Larsson konnte er sich nur schwer gewöhnen. Jeder gewaltsame Tod rührte etwas in Ehrlinspiel an. Jedes Opfer sprach auf seine eigene Weise zu ihm. Und bei jedem neuen Mordfall erfasste ihn dieselbe Unruhe, drängte ihn, dem Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Er kniete sich neben die tote Frau. Sie lag auf dem Rücken, die Arme dicht am Körper. Ihre Finger steckten schon in Plastikbeuteln, um eventuelle Abwehrspuren und Hautpartikel unter den Fingernägeln nicht zu zerstören. Der Kopf war auf ein Kissen aus Moos gebettet. Das blonde Haar floss darüber. Als hätte man es ihr sanft aus der Stirn gestrichen, dachte Ehrlinspiel und bat um eine Taschenlampe. Er ließ den Lichtkegel über ihr Gesicht wandern. Die Haut war weißlich violett. Die Augen starrten blicklos und leicht geöffnet in die Weite des Himmels, das Kinn war eingesunken. Auf der rechten Schläfe befand sich eine große Wunde, von der aus sich ein feines Netz aus verklebtem Blut über einige Haarsträhnen und einen Teil der Wange zog. Ehrlinspiel schaute auf den Bauch des Opfers. Von den Brüsten bis zu den Schamhaaren klaffte ein langer tiefer Schnitt, der einen blutigen Blick auf die Eingeweide freigab. Der Leib schien seltsam unförmig für die zierliche Frau.

»War sie nackt?«, fragte Ehrlinspiel und schluckte hart.

»Vollständig angekleidet. Sogar der Pullover war wieder über den Bauch gezogen und der Daunenmantel zugeknöpft.« Larsson hielt eine große durchsichtige Tüte mit türkisfarbenem Inhalt hoch.

»Todesursache?«

»Bin ich ein Hellseher?«

»Ich habe sie schon als kleines Kind gekannt«, sagte Brandt plötzlich ganz leise. »Ich war sogar bei ihrer Geburt dabei. Wenn sie krank war, habe ich ihr Hustensaft verschrieben und Wadenwickel gemacht.« Er strich sich über das graue Haar. »Sie wollte die Medizin immer mit ihrem Teddybären teilen. Und jetzt … liegt sie hier, erschlagen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Verrückter. Das muss ein Verrückter gewesen sein.«

»Erschlagen?« Ehrlinspiel blickte zu dem älteren Mann auf.

»Die Kopfwunde. So etwas überlebt keiner.«

»Landarztlogik«, unterbrach Larsson, reckte das Kinn in die Höhe und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die exakte Todesursache kann nur eine fachgerechte Obduktion klären.«

Ehrlinspiel stand auf und sah den Rechtsmediziner direkt an. »Was ist mit ihrem Bauch?«

»Sie war schwanger.«

»Schwanger?« Der Hauptkommissar sah auf den Leichnam hinab. »Und das Kind?«

»Weg.«

»Was heißt hier weg?«

»Nicht mehr vorhanden. Geklaut. Keine Ahnung. Das herauszufinden ist dein Job.«

Ehrlinspiel wurde wütend. »Du meinst, jemand hat dieser Frau das ungeborene Kind gestohlen?«

»Wenn man einer Leiche etwas stehlen kann, dann ja. Der Fötus ist aus ihrem Bauch herausgeschnitten worden. Unsachgemäße Sectio caesarea. Laienhafter Kaiserschnitt, wenn du so willst. Ritsch, ratsch.«

»Reinhard …«, begann Ehrlinspiel, gab es aber sofort wieder auf. Larsson würde seine zynische Art nie ändern. Mitgefühl war ein Fremdwort für ihn und sein Begriff von Ethik dem Kriminalhauptkommissar so fremd wie der außergalaktische Andromedanebel. Dennoch war Larsson ein brillanter Mediziner und konnte sich nächtelang mit den Toten beschäftigen. Am Seziertisch und im Labor entlockte er ihnen auch das verborgenste Geheimnis, klärte die verzwicktesten Todesursachen. So erwies er den Toten auf seine Weise Respekt. Ehrlinspiel arbeitete mit ihm zusammen, seit er vor bald elf Jahren die Polizeihochschule abgeschlossen und eine rassige Studentin seine Heimatstadt Freiburg wieder attraktiv für ihn gemacht hatte. Er brauchte Larssons Hilfe.

»Kannst du schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«

»Tja … die Totenstarre ist noch nicht vollständig eingetreten. Heute Nacht hatten wir beinahe Frost, das zögert den Prozess um das Doppelte hinaus. Rektaltemperatur acht Grad. Exakt wie die Außentemperatur. Sie wiegt etwa fünfundfünfzig Kilo, liegt windgeschützt, es ist nass.« Er legte einen Zeigefinger an den Mundwinkel und lächelte. »Wie du weißt, sehen wir daran, wie schnell die Leiche auskühlt, und können dann zurückrechnen, wann der Tod eingetreten ist. Henßge-Nomogramm.«

»Jaja, ich weiß.« Ehrlinspiel trat ungeduldig von einem Bein auf das andere.

»Am frühen Nachmittag haben wir die Totenstarre an einem Arm künstlich gebrochen. Zur Sicherheit. Und was, meinst du, ist passiert?«

»Bitte, Reinhard, komm zur Sache.«

Larsson hob einen Arm der Toten an. »Siehst du? Stocksteif.« Er ließ ihn wieder fallen.

Ehrlinspiel zuckte innerlich zusammen. Er durfte jetzt nicht daran denken. Rasch zwang er seine Gedanken in die Gegenwart zurück.

»Die Totenstarre ist wieder eingetreten«, erläuterte Larsson. »Das funktioniert nur in einem bestimmten Zeitraum nach dem Tod. Etwa vierzehn bis achtzehn Stunden danach, je nach Umgebungsbedingungen. Der Grund dafür ist der Muskelmetabolismus, der –«

»Wann?«

»Gestern zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr.« Er stülpte mit geübtem Griff einen Plastikbeutel über den Kopf der Toten. »Und dann wurde das Kind aus dem Bauch geschnitten.«

»Also nach ihrem Tod?«

»Vermutlich nicht gleich danach. Siehst du die Wundränder hier an der Bauchdecke? Sie sind nicht sonderlich blutig. Der mütterliche Kreislauf war wohl schon zum Erliegen gekommen.«

»Müsste das nicht trotzdem ein Blutbad gewesen sein?«

»Nicht unbedingt. Das Blut sinkt im Leichnam nach unten. Die Bauchdecke aufzuschneiden ist also noch unblutig. Erst das Öffnen des Uterus hat das Blut in den benachbarten Bauchraum und auch nach außen fließen lassen. Je weniger Blut, desto später das Herausschneiden – vereinfacht gesagt. Aber«, er deutete neben die Tote, wo der Boden fast schwarz verfärbt war, »mit der Menge hier können wir nicht arbeiten. Du weißt, wie leicht man sich verschätzt, wenn das Blut in die Erde gesickert ist.« Larsson nahm zwei weitere Plastiktüten und verpackte die Füße.

»Wurde sie vergewaltigt?«

»Abwarten.«

»Sie ist also hier gestorben?«

»Wahrscheinlich. Das Baby jedenfalls ist hier und in ihrer jetzigen Lage herausgeschnitten worden. Die Techniker haben aber ein paar Meter weiter geringe Mengen Blut gefunden. Wohl aus der Kopfwunde. Dann wäre sie dieses kleine Stückchen transportiert worden. Allerdings könnte ihr die Verletzung auch an einem ganz anderen Ort zugefügt worden sein. Oder post mortem.« Reinhard Larsson hob leicht den Kopf und lächelte zu Doktor Brandt. »Und sie ist vielleicht an etwas ganz anderem gestorben.«

»Sonst noch etwas?«, fragte Ehrlinspiel.

»Falls sie umgelagert wurde, zum Beispiel, um das Kind herauszuschneiden, dann war das in den ersten fünf, sechs Stunden nach ihrem Tod.« Larsson drückte auf die rotblauen Hautflächen, die die Tote an den bodennahen Stellen aufwies. »Die Leichenflecke befinden sich genau dort, wo sie in ihrer jetzigen Lage entstehen würden. Sie können ihre Position nur in den ersten Stunden komplett ändern. Danach werden sie fest.«

Nachdenklich ging Ehrlinspiel davon, als Larsson ihm nachrief. »Das Kind …«

Er sah zurück. »Ja?«

»Das war längst tot beim Aufschlitzen des Bauches. Es hat nicht gelitten, falls dich das beruhigt.«

»Danke«, murmelte Ehrlinspiel. Er schlang seinen langen Mantel enger um sich und ging zurück zur Absperrung. Die Kriminaltechniker packten bereits ihre Geräte in die großen Koffer.

Der Hauptkommissar beobachtete die letzten Arbeiten. Die Tote ist eine schöne Frau gewesen, dachte er. Und sie wurde fast schon liebevoll gebettet. Was ist das für ein Mörder, der sich die Mühe macht, seinem Opfer ein Kopfkissen aus Moos herzurichten? Und die Frau nach der Tat wieder anzukleiden? Hatte er Elisabeth Kühn gekannt, vielleicht sogar geliebt? Oder war es einer von diesen Getriebenen, den psychisch Kranken, die wahllos töten und dabei an einen religiösen Auftrag glauben? Und wer war hier überhaupt das eigentliche Opfer? Die Frau? Das Kind? War es denkbar, dass jemand die werdende Mutter getötet hatte, um das Baby an sich zu bringen?

Ehrlinspiel vergrub die Hände tief in den Manteltaschen. Ein erwachsenes Mordopfer war schon schrecklich genug. Aber ein totes Kind – das berührte ihn jedes Mal zutiefst und erschütterte seinen Glauben an das Gute im Menschen.

Er wusste, dass manche Kollegen ihn deshalb belächelten. Schließlich hatte er schon genug Mördern ins Gesicht geblickt. Mördern, die Blutbäder angerichtet, vergewaltigt, Leben zerstört hatten. Die keinen Funken Reue zeigten, oft sogar noch stolz auf sich waren. Dennoch … Ehrlinspiel konnte in fast jedem Menschen einen letzten Rest Anstand entdecken. Einen positiven Wesenszug, der tief verschüttet unter dem Bösen lag. Was nicht bedeutete, dass er Gewaltverbrechern Sympathie entgegenbrachte. Die meisten widerten ihn an.

Ein Techniker schleppte eine Kameraausrüstung an ihm vorbei und hob zum Abschied kurz die Hand. »Du hast die Bilder noch heute Nacht auf dem Rechner.«

Der Hauptkommissar blickte dem Mann hinterher. Wie gern wäre er jetzt mit seiner eigenen Kamera unterwegs, würde in Irland schroffe Küsten im Sonnenaufgang einfangen oder Nomaden in der Sahara porträtieren. Oder Bentley und Bugatti in Szene setzen. Mit einer Fotoserie seiner Siamkatzen war er im letzten Jahr als Catlife Photographer of the Year geehrt worden. Aber das war nun in weite Ferne gerückt. Wieder einmal.

Er suchte die Polizistin, die ihn hierhergeführt hatte. Sie hatte sich als Polizeiobermeisterin aus dem örtlichen Polizeiposten vorgestellt und war als erste Kollegin am Fundort der Leiche gewesen. Die Situation hatte sie sofort richtig eingeschätzt und die Einsatzleitzentrale alarmiert. Jetzt, als er sie gefunden hatte, wirkte sie blass und erschöpft in ihrer Uniform. Ihren Namen hatte Ehrlinspiel im Trubel vergessen.

»Haben Sie die Familie schon verständigt?«, fragte er.

»Nein.« Sie hob die Hände. »Aber hier bleibt nichts unbemerkt. Schon gar nicht ein solches Polizeiaufgebot. Ich wette, das ganze Dorf weiß bereits Bescheid.«

»Bringen Sie mich hin«, bat Ehrlinspiel, während der Bestatter den Leichnam in einen großen Sack legte und vorsichtig in den Zinksarg hob. Larsson würde gleich morgen früh obduzieren. Die zweite Sektionsärztin und der Präparator waren schon informiert.

Sie gingen einen zugewachsenen Waldpfad entlang bis zu der Straße, an deren Rand die Polizeifahrzeuge und der Leichenwagen Stoßstange an Stoßstange parkten.

»Fahren Sie hinter mir her«, sagte die Polizeiobermeisterin, als beide in ihre Dienstwagen stiegen.

Ehrlinspiels Opel Astra – neuestes Zugeständnis des baden-württembergischen Innenministeriums an seine Kripobeamten – schnurrte leise durch abgeerntete Felder und Weiden. Der Himmel lag wie in Blei gegossen über den Hügeln und schluckte das letzte spärliche Abendlicht. Er schaltete die Freisprechanlage ein und wählte die Nummer der Freiburger Polizeidirektion.

»Freitag?«, fragte er, als sein Kollege sich meldete.

»Moritz! Wo steckst du? In einer halben Stunde ist Training.«

»Am Ende der Welt. Bitte schau doch mal, was du alles über eine Elisabeth Kühn herausfinden kannst. Geburtsname Sommer, wohnhaft in Berlin. Und falls es einen Ehemann gibt, schicke jemanden zu ihm. Sie ist ermordet worden.«

»Gut.«

»Nein, überhaupt nicht«, beendete er das Gespräch.

 

Das Dorf lag in einer Senke, umschlossen von einem weitläufigen Forst auf der einen und Äckern und Obstbaumwiesen auf der anderen Seite. Der Ortskern war wie ausgestorben, und auch zwischen den umliegenden Höfen konnte Ehrlinspiel keine Menschenseele entdecken. Nur ein einsames Mofa knatterte um eine Ecke und verschwand hinter einer Scheune. Merkwürdig, dachte er. Es ist doch genau die Zeit, um geschäftig zwischen Ställen und Heuschobern umherzulaufen, Schweine und Pferde zu füttern und die Kühe zu melken.

Vor einem großen Bauernhof mit mehreren Gebäuden hielten sie an. Ehrlinspiel hörte das Brüllen des Viehs und sog den vertrauten Geruch von feuchter Ackererde, Kelterobst und Mist ein. Es war eine Ewigkeit her.

»Der Sommerhof«, erklärte die Polizeiobermeisterin.

Ehrlinspiel räusperte sich. »Wie heißen Sie gleich noch einmal?«

»Ich?« Sie lächelte verunsichert. »Monika Evers.«

»Ist das Ihre erste Leiche?«

»Ja.«

»Kennen Sie die Sommers gut?«

»Die kennt jeder gut. Hermann Sommer, der Bruder der Toten, ist hier Bürgermeister.«

Noch bevor sie zum Wohnhaus gehen konnten, trat ein muskulöser Mann mit Hakennase aus der Eingangstür. Trotz seines schütteren Haares mochte er höchstens fünfunddreißig sein. Er hatte ein freundliches Gesicht und blaugraue Augen, die ihnen beunruhigt entgegenblickten.

»Stimmt es?«, fragte er mit erstickter Stimme.

»Herr Sommer?«

Der andere nickte.

»Moritz Ehrlinspiel, Kriminalpolizei Freiburg.« Er zog seinen Dienstausweis hervor.

»Dann stimmt es also.«

»Können wir vielleicht reinkommen? Es ist ziemlich kalt hier draußen.«

»Ich … meine Kinder sind drin und meine Eltern. Und wenn es stimmt …«

»Wenn was stimmt?«

»Meine Schwester. Elisabeth. Sie war heute nicht da. Und drüben am Wald ist alles voller Polizei. Die Kinder haben’s mir erzählt. Sie streifen so gern draußen umher. Ich hätte nie gedacht, dass das gefährlich sein könnte. Ich dachte …« Hermann Sommer schien völlig konfus und machte keinerlei Anstalten, die beiden Beamten ins Haus zu bitten.

»Wann haben Sie Ihre Schwester denn zuletzt gesehen?«

»Was ist mit ihr? Ist sie verletzt? Oder … ich meine …«

»Wir haben im Wald die Leiche einer Frau gefunden. Ihr Pass weist sie als Ihre Schwester aus. Auch Doktor Brandt hat sie identifiziert. Es gibt also keinen Zweifel. Es tut mir sehr leid.«

Hermann Sommer sah erst Ehrlinspiel an, dann Monika Evers. »Nein«, flüsterte er. »Nein.«

Die Polizeiobermeisterin berührte Hermann Sommers Ellbogen. »Mein Beileid.«

»Wie … wie ist sie gestorben?«

Ehrlinspiel zögerte einen Moment lang und fuhr dann fort: »Können Sie mir ein paar erste Fragen beantworten?« Später würde er mit der ganzen Familie reden.

»Ja … ja sicher. Fragen Sie.«

»Elisabeth war heute nicht hier?«

»Unser Vater hat heute Geburtstag. Den Sechzigsten. Wir wollten mit der Familie feiern.«

Ehrlinspiel musterte den Mann. »Wir wissen, dass Elisabeth vor langer Zeit von hier weggegangen ist. Warum?«

Hermann Sommer lachte bitter auf. »Ja, warum? Das haben wir uns auch gefragt – jeden verdammten Tag. Fast zehn Jahre lang.«

»Was wollte sie denn plötzlich wieder hier? Sie ist doch nicht grundlos zurückgekommen?«

»Sie stand einfach vor der Tür. In der Hand eine Reisetasche. Und hochschwanger. Vor drei Tagen, am Montagabend, war das. Wollte ihre alten Freunde und die Familie treffen. Ich habe zuerst meinen Augen nicht getraut. Dann haben wir uns einfach in den Arm genommen.« Hermann Sommer schluchzte.

»Wo hat sie die letzten Jahre verbracht?« Aus dem Stall drang das Muhen der Kühe.

»Sie wohnt in Berlin. Seit damals. Das haben wir erst jetzt erfahren.« Er schluckte. »Wohnte«, flüsterte er.

»Was hatten Sie jetzt für einen Eindruck von ihr?« Kälte kroch in Ehrlinspiels Ärmel und Kragen.

»Sie war lebenslustig. Früher jedenfalls. Wir haben gestern Abend noch zusammen gegessen. Da hat sie dann von ihrem neuen Leben erzählt. Jetzt schien sie stiller, aber glücklich.« Sommer liefen Tränen über die Wangen. In der Ferne kläffte ein Hund.

»Haben Sie sie bei diesem Essen zuletzt gesehen?«

»Gegen sieben, ja. Ich bin danach gleich nach Hause gegangen. Wir wollten uns ja heute wiedersehen.«

»Nach Hause? War Elisabeth denn nicht hier bei ihrer Familie, auf dem Hof?«

Hermann Sommer hob den Blick. Seine Augen glänzten feucht. »Nein, wir haben uns im Gasthaus getroffen. Sie hat in der Heugabel gewohnt.«

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3

Als er in die Gaststube trat, schlugen ihm dumpfe Wärme und verhaltenes Stimmengewirr entgegen. Jeder Tisch war besetzt, und wie auf Kommando drehten sich all die Köpfe zu ihm um, die eben noch über den Bierkrügen zusammengesteckt hatten. Zahllose Augenpaare fixierten ihn. Es wurde mucksmäuschenstill.

Da sind sie also, dachte Ehrlinspiel. Aufgescheucht aus ihrer Ruhe. Tuscheln beim Bier über Gerüchte und die Tote und lassen derweil das Vieh vor Hunger auf den Höfen schreien.

Der Hauptkommissar grüßte in die Runde. Niemand rührte sich.

Er schlenderte Richtung Tresen, wo ein fetter Mann scheinbar unbeteiligt ein Glas nach dem anderen abtrocknete und über dem Spülbecken auf einem langen Holzregal aufreihte. »Guten Abend, Herr Wirt.«

Gemurmel erhob sich hinter ihm und ebbte wieder ab.

Polizeiobermeisterin Monika Evers hatte ihn darauf vorbereitet. Im Dorf sah man Fremde nicht gern. Wer nicht hier lebte, wurde mit Argwohn bedacht. Und wessen Familie nicht seit mindestens drei Generationen hier wirtschaftete, blieb ausgegrenzt. Dass jemand zuzog, kam so gut wie nie vor. Und wenn doch, so war er zu einem einsamen Leben am Rande der Gemeinschaft verurteilt. Ehrlinspiel war nicht nur ein Fremder. Er war mehr als das: ein Polizist. Einer, der nicht bloß durch seine Anwesenheit störte, sondern noch dazu in den Angelegenheiten der Leute herumstocherte. Ein gefährlicher Eindringling.

Evers hatte angeboten, ihn zu begleiten. Doch er hatte sie angewiesen, mit einem zweiten Beamten vom Polizeiposten, der im Nachbarort lag, von Haus zu Haus zu gehen und erste Fragen an die Bewohner zu stellen. Viele würden sie wohl nicht in ihren vier Wänden antreffen.

»Ich suche die Frau, die heute mit Polizeiobermeisterin Evers zu Ihnen gekommen ist.« Ehrlinspiel stützte die Arme auf den Tresen.

Der Wirt betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, nahm einen tropfenden Bierkrug und rieb gelassen mit dem Geschirrtuch darüber.

»Sie hat die Leiche gefunden. Sie wollte hier auf mich warten«, fuhr Ehrlinspiel fort.

Der Wirt deutete mit dem Kopf auf eine Tür. »Hockt im Nebenzimmer. War ihr nicht fein genug hier drinnen.«

Jemand lachte.

»Bringen Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee«, sagte Ehrlinspiel und verschwand im Raum nebenan. Sofort erhob sich hinter der Tür ein gedämpftes Durcheinander.

»Wurde aber auch langsam Zeit«, herrschte ihn im selben Moment eine Frau an, die am einzigen, großen Tisch saß. »Soll ich in dieser Spelunke vielleicht Wurzeln schlagen?«

Verdutzt blickte er sie an. Er hatte eine verstörte Zeugin erwartet, noch unter Schock vom Anblick der Leiche, still grübelnd oder sogar schluchzend. Stattdessen fand er sich einer forschen Brünetten mit zerzaustem Pferdeschwanz und Kratzern im Gesicht gegenüber, die ihn aus dunklen Augen fixierte und mit pinklackierten Fingernägeln auf den Tisch trommelte. Das konnte ja heiter werden.

Die Frau sah auf ihre Armbanduhr. »Halb acht!«

Ehrlinspiel setzte sich ihr gegenüber und schob fünf leere Kaffeetassen beiseite. Geschirr abzuräumen zählte offenbar nicht zum Service der Kneipe.

»Grauenhafte Brühe«, sagte sie.

»Frau Brock, Sie haben eine Tote gefunden. Wie ist es dazu gekommen?«

Außer ihrem Namen, den Evers ihm genannt hatte, wusste er noch nichts über die Zeugin.

Sie lehnte sich vor. »Das habe ich bereits alles Ihrer Kollegin erzählt.«

»Dann erzählen Sie es mir noch einmal.«

»Ich war wandern.« Sie klang gereizt.

Er musterte ihren klimpernden Ohrschmuck und die funkelnden Ringe. »Sind Sie öfter alleine im Wald unterwegs? Die Wege hier im Umkreis sind … ziemlich rustikal.«

»Was hat denn das mit der Leiche zu tun?«

»Stammen Sie aus der Gegend?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Hören Sie, Frau Brock«, er legte die Arme auf den Tisch, »Sie haben eine Tote gefunden. Eine junge Frau, die mit äußerster Brutalität ermordet worden ist. Also müssen Sie mir jetzt ein paar Fragen beantworten. Auch, wenn die Ihnen noch so irrelevant erscheinen. Oder haben Sie einen Grund, sich so unkooperativ zu verhalten?«

Die Tür ging auf, und der Wirt stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch. Ehrlinspiel wartete, bis sie wieder alleine waren.

»Also?«

Hanna Brock trank und verzog das Gesicht. »Ich recherchiere hier. Für einen Wanderführer. Eigentlich komme ich aus Hamburg, wohne aber seit zwei Wochen in der Pension Sylvia in Freiburg. Genügt Ihnen das?«

Nicht gerade eine Luxusadresse, überlegte Ehrlinspiel. Hanna Brock konnte nicht sehr betucht sein – was allerdings nicht so recht zu ihrem Äußeren passen wollte.

»Was machen Sie beruflich?«

Hanna Brock antwortete nicht gleich. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich bin Redakteurin.«

»Und was haben Sie ausgerechnet hier gesucht?«

»Kennen Sie sich hier aus?«

Ehrlinspiel sagte nichts.

»Die Schlucht.«

Er schwieg noch immer.

»Die Rabenschlucht. Sie soll eine alte Gerichtsstätte sein. Ich wollte sehen, ob ich dort etwas für den Wanderführer finde.«

»Und? Haben Sie etwas gefunden?«

»Das ist nicht lustig.«

»Nein. Sie haben recht. Haben Sie also irgendetwas beobachtet oder wahrgenommen, was uns weiterhelfen könnte? Einen Menschen, Stimmen, Geräusche oder einen Geruch vielleicht?«

»Ich weiß nicht recht. Ich hatte das Gefühl, dass noch jemand da war. Aber gesehen habe ich niemanden. Ehrlich gesagt, hatte ich auch keine große Lust, bei der toten Frau zu warten, bis der geisteskranke Typ wieder aufkreuzt und mich auch noch abmurkst.«

»Woher wussten Sie denn, dass die Frau tot war?«

Brock verdrehte die Augen. »Ich wusste es nicht. Aber man legt sich ja wohl kaum zum Vormittagsschläfchen auf eine nasskalte Lichtung.«

»Sie hätte auch nur verletzt sein können.«

»Ja. Hätte sie. Deshalb habe ich auch, so schnell ich konnte, den Notruf verständigt.«

»Kannten Sie die Tote?«

»Auch das habe ich alles schon Ihrer Kollegin auseinandergesetzt.«

»Dann muss sie wohl vergessen haben, mir das zu erzählen.« Ehrlinspiel runzelte gespielt die Stirn. »Schildern Sie’s mir noch einmal?«

»Nein.«

»Nein?«

»Ich kannte sie nicht.«

»Sie sind ihr nie zuvor begegnet, auch nicht rein zufällig?«

»Nein, das sage ich doch.«

Der Hauptkommissar zog seinen Notizblock aus der Manteltasche. »Ihre Handynummer?«

»Wie bitte?« Sie hob die Augenbrauen.

»Sie sind zu Besuch im Schwarzwald. Wohnen in einer Pension. Sind auf Recherchen unterwegs. Wir müssen Sie erreichen können.«

»Ach so.« Sie diktierte ihm ihre Nummer und beantwortete die Fragen zu ihren Personalien.

»Danke, dass Sie hier gewartet haben.«

Hanna Brock stand auf und schlüpfte in ihre Jacke. Ihre Hosenbeine waren schmutzig, die Schuhe schlammverschmiert. »War’s das?«

Ehrlinspiel erhob sich ebenfalls. Er schielte an seiner Jeans hinunter auf seine Dockers. Viel besser sahen sie nicht aus.

»Ja, das wär’s. Wir können Sie in Ihre Pension zurückbringen. Ein paar Kollegen von der Spurensicherung sind auch noch hier im Haus, fahren aber bald nach Freiburg los.«

»Machen Sie sich keine Mühe. Ich komme schon zurecht. Wiedersehen.« Sie stapfte hinaus.

Hoffentlich nicht, dachte er.

Ehrlinspiel sank auf den Stuhl zurück und streckte die Beine aus. Er war seit vier Uhr morgens unterwegs, und die Müdigkeit steckte ihm in den Knochen. Das Dezernat 11 war heute das reinste Tollhaus gewesen. Er hatte einen lange gesuchten russischen Schleuser festgenommen, bei einer Messerstecherei am Hauptbahnhof eingegriffen und seinen Kollegen bei der ersten Ermittlung in einer Brandstiftung geholfen. Der Chef einer beinahe insolventen Werbeagentur hatte das Haus der Schwiegereltern samt dessen Bewohnern angezündet. Beide schwebten in Lebensgefahr. Ein Racheakt: Die Frau des Agenturchefs hatte ihre einflussreichen Eltern wegen der drohenden Insolvenz um finanzielle Unterstützung gebeten. Diese hatten keinen Cent herausgerückt – dafür aber den Schwiegersohn stadtweit an den Pranger gestellt.

Es war dieser eine Tag, dachte Ehrlinspiel. Der Tag, der jedes Jahr die Wochen vor Weihnachten einläutet – die Zeit, in der das Verbrechen, so scheint es, seine schrecklichsten Ausprägungen findet. In der die Dunkelheit die Stunden frisst, Blätter und Blüten ihr Feuer verlieren und das Leben sich in den letzten Winkeln der Natur verkriecht. Die Menschen ziehen sich in die Häuser zurück. Da sitzen sie dicht aufeinander, und in dieser Enge gibt es kein Entrinnen mehr vor den zwischenmenschlichen Abgründen und gärenden Konflikten. Die Leute sehnen sich nach Wärme. Doch viele Seelen frieren, und der Druck steigt, je näher das Fest rückt und je höher die Erwartungen an ein heiles Familienleben und einträchtige Feiertage werden.

Ehrlinspiel, der Weihnachten am liebsten bei seiner jüngsten Schwester feierte, konnte sich an keinen Heiligabend erinnern, an dem ihn nicht ein Mord aus dem fröhlichen Spielen mit Nichten und Neffen gerissen hätte. Und zu dem er nicht schon mit tiefen Ringen unter den Augen erschienen wäre.

Er nippte an dem kalten Kaffee. Die trübe Flüssigkeit schmeckte, wie Hanna Brock sie kommentiert hatte: grauenhaft. Zumindest in diesem Punkt hatte sie die Wahrheit gesagt. Doch auch sonst wirkte sie im Grunde harmlos. Aber was bedeutete das schon? Auch Spatzen wirkten harmlos. Waren es aber nicht. Nicht wenn man selbst ein Insekt war. Auf jeden Fall war so ein geflügelter Genosse deutlich freundlicher als seine Zeugin.

Im Geiste notierte sich Ehrlinspiel, was zu tun war. Oberstaatsanwältin anrufen. Mit den Eltern und Elisabeth Kühns anderen Verwandten sprechen. Ihre Freunde befragen. Dorfbewohner unter die Lupe nehmen. Ergründen, was vor zehn Jahren passiert und was Elisabeth für ein Mensch gewesen war.

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus den Gedanken.

»Ich bin’s, Paul«, meldete sich Kriminalkommissar Freitag, der sich als Einziger selbst beim Vornamen nannte. Alle anderen bevorzugten seinen Nachnamen, weil er an einem Freitag seinen Dienst angetreten hatte und den Kollegen so treu zur Seite stand wie sein literarischer Namensvetter dem Robinson Crusoe.

»Was herausgefunden?«

»Der Ehemann heißt Alexander Kühn. Die Berliner Kollegen haben mit ihm gesprochen. Er ist gerade erst aus den USA zurückgekommen. Hat dort Niederlassungen seiner Immobiliengesellschaft besucht. Sein Alibi ist wasserdicht.«

»Wie hat er reagiert?«

»Schockiert. Verzweifelt. Wütend. Die ganze Palette. Seit Elisabeth schwanger war, war sie wie ausgewechselt. Es wäre ein Mädchen geworden. Elisabeth hat sich laut Kühns Worten …«, Ehrlinspiel hörte Papier rascheln, »wie eine Königin auf ihre Prinzessin gefreut und endlich ihre latente innere Trauer abgelegt.«

»Mhm.«

»Kühn gibt weiter an, selbst nie im Dorf gewesen zu sein und nicht zu wissen, was der eigentliche Grund für ihre Trauer war. Elisabeth hat nicht viel darüber erzählt, und er hat das akzeptiert. Anscheinend war sie aber plötzlich voller Zuversicht und ist in bester Stimmung in das Dorf gefahren, um irgendeinen Geburtstag zu feiern.«

»Den Sechzigsten ihres Vaters«, sagte Ehrlinspiel nachdenklich.

»Komische Sache.«

»Allerdings.« Der Hauptkommissar fuhr sich mit der Hand über die Nasenspitze. »Die fährt doch nicht so mir nichts, dir nichts hierher, als wäre die letzten zehn Jahre nichts gewesen?«

»Vielleicht war ja wirklich nichts.«

»Was wusste Kühn sonst noch?«

»Nichts Relevantes. Er scheint eher der weiche Typ zu sein, der andere ihr Ding machen lässt und sich selbst zurücknimmt. Hat auch kein bisschen protestiert, als ich ihm angekündigt habe, dass die Berliner Techniker jetzt seine Wohnung auseinandernehmen.«

»Okay.«

»Soll ich Bentley und Bugatti füttern?«

»Du bist unbezahlbar, Freitag.«

»Stets zu Diensten, Meister.«

 

Ehrlinspiel setzte sich auf einen Barhocker. »Ein Pils, bitte.«

»Sie müssen noch fahren.«

»Nicht, wenn Sie mir ein Zimmer vermieten.«

Der Wirt nahm wortlos ein Glas, hielt es schräg unter den Zapfhahn und füllte es zur Hälfte. Dann stellte er es ab, bis er nachzapfen konnte.

Aus der Küche waberte der Geruch nach altem Fett, und in der Gaststube mischte sich das Klirren von Gläsern und Besteck mit rauhen Stimmen. Fast alle Gäste waren Männer. Die meisten trugen Hemden und Wollwesten oder dicke Pullover. Ehrlinspiel schätzte das Durchschnittsalter auf fünfzig bis sechzig, doch es waren auch ein paar junge Burschen darunter. Hatten sie ihn vorhin noch unverhohlen angestarrt, so schien er jetzt überhaupt nicht zu existieren. Es brodelt. Ein Kessel aus Misstrauen unter stiller Oberfläche.

Er ließ seinen Blick durch den weitläufigen Raum schweifen. Dunkle Balken trugen die niedrige Decke, in einer Ecke spendete ein Kamin Wärme. An den Wänden hing neben hölzernen Heugabeln und einer Sense eine Reihe vergilbter Schwarzweißaufnahmen. Sie zeigten das Gebäude während des Umbaus von einem Stall zum Gasthaus, Menschen in Kostümen und lachende Bauern mit riesigen Holzfässern neben geschmückten Tischen. Fastnacht und Dorffeste, typisch Hinterland, dachte Ehrlinspiel. Eigentlich recht heimelig, die Heugabel.

Er wandte sich an den Wirt. »Haben Sie nun ein freies Zimmer?«

»Vielleicht.«

»Wir brauchen keine Polizei hier!«, rief jemand und erntete von mehreren Seiten Zustimmung.

Ehrlinspiel zog seinen Mantel aus und legte ihn über einen Barhocker. Das Brodeln drang an die Oberfläche. Er ging auf die Menge zu. »Das trifft sich gut, meine Herren. Dann wissen Sie ja sicher schon, wer Frau Kühn umgebracht hat, und können mir mit seinem Namen weiterhelfen?« Er sah einen nach dem anderen an.

»Ja?« Er fixierte einen dünnen Kerl, der an ausgeleierten Hosenträgern herumfummelte. »Oder Sie«, fragte er einen vollbärtigen Alten, »wollen Sie vielleicht dafür sorgen, dass der Fall schnell aufgeklärt wird und wir hier wieder abziehen?«

Wieder erhob sich ein Raunen.

»Hau’n Sie ab!«

»Genau. Wir wissen selbst, was zu tun ist.«

»Ja, lassen Sie uns in Frieden!«

Ein Stuhl wurde nach hinten geschoben und kippte um, ein zweiter schrammte über den Boden.

»Ihr Pils ist fertig«, sagte der Wirt laut. »Kommen Sie her und setzen sich hin, verdammt.«

Ehrlinspiel tat, wie ihm geheißen.

Der Wirt funkelte ihn aus Schweinsäuglein an. »Idiot!«

Der Hauptkommissar umfasste den Bierkrug. Er hatte die Situation unterschätzt. Ohne Partner im Dienst sollte man sich nicht mit einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft anlegen.

»Was ist also mit dem Zimmer?«, fragte er nach.

Eine Gruppe Gäste verließ die Kneipe. »Schreib’s an.« Der Wirt nickte ihnen zu. Nach einigen Minuten gingen die Nächsten.

»Sie sollten vorsichtig sein«, sagte er zu Ehrlinspiel.

»Das Zimmer?«

Der Wirt schob ihm einen Schlüssel hin. »Ich mochte Elisabeth.«

Ehrlinspiel musterte ihn. Er senkte die Stimme. »Und wer mochte sie nicht?«

»Haben Sie Hunger?« Die Männer taxierten sich schweigend.

»Sehr«, sagte Ehrlinspiel schließlich.

Erst jetzt merkte er, dass sein Magen knurrte. Außer einem Käsebrötchen am frühen Morgen hatte er noch nichts gegessen. Das war untypisch für ihn. Er liebte regelmäßige Mahlzeiten und versuchte, durch sie einen gesunden Rhythmus in sein Leben zu bringen. Er war beileibe kein Gesundheitsfanatiker, aber ein bisschen konnte man ja schon auf sich achtgeben. Außerdem wollte er nicht wie einer dieser depressiven Fernsehkommissare enden, die nie Zeit zum Essen fanden, zu Hause allerhöchstens eine vergammelte Pizza im Kühlschrank beherbergten und sich morgens entweder ausgehungert oder mit Magenkrämpfen zum Dienst schleppten. Freitag amüsierte sich regelmäßig darüber und hielt in seinem Schreibtisch stets zwei Tafeln Schokolade für den Notfall parat. Die ersetzten so manches Mal das Mittagessen, wenn die beiden zu einem Einsatz mussten. Ehrlinspiel schmunzelte. Gut, dass er alles in sich hineinstopfen konnte. Seine Waage zeigte nie ein Gramm zu viel, und seine schlanke Figur kam bei den Frauen gut an. Allerdings würde ihm das hier nicht viel nützen.

»Elisabeth hat doch auch hier gewohnt«, begann er, als wenig später ein Braten mit dunkler Soße und Kartoffeln vor ihm dampfte.

Der Wirt warf einen Blick auf die verbliebenen Gäste, nahm Salz und Pfeffer aus einem Schrank und blieb gegenüber von Ehrlinspiel stehen.

»Warum hat sie nicht bei ihrer Familie übernachtet?« Der Hauptkommissar schnitt ein großes Stück Fleisch ab.

»Haben Sie die Sommers schon kennengelernt?« Der Wirt sprach leise.

»Nur den Bürgermeister, Hermann.« Er schob die Gabel in den Mund.

»Hermann ist in Ordnung. Hat seine Schwester gemocht. Genauso wie der Bruno. Das ist der jüngere Bruder. Ein Schlaufuchs. Dem macht keiner was vor, wenn’s um Pflanzen geht. Ein lieber Kerl«, er fuchtelte mit der Hand ein paarmal vor seinem Gesicht hin und her, »aber etwas durchgeknallt.«

»Hey, Willi, was wird ’n das?«, kam es aus einer Ecke.

»Schon gut, Anton. Noch ’n dunkles Hefe?«

»Immer her damit.«

Der Wirt schenkte das Weizenbier ein. »Der Bruno, der hat eine eigene Bibliothek. Lauter Bücher voller Formeln. Chemie und Biologie. Mit dem sollten Sie sich mal unterhalten. Da können Sie Ihre Klugheit testen.« Er grinste feist und trug das Bier zu Anton.

Ehrlinspiel spießte derweil eine Kartoffel auf und wendete sie in der Soße. »Und die Eltern?«, fragte er, als der Wirt wieder zurückkehrte.

»Der Vater ist ein schüchterner Kauz. Aber die Mutter …«

»Was ist mit der?«

»Wegen ihr kam Elisabeth zu mir. Sie hat die eigene Tochter der Tür verwiesen. Frieda Sommer ist eine von denen, die Elisabeth nicht mochten.«

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4

Das Wasser schwappte über ihrem Gesicht zusammen. Sie ließ sich sinken, spürte, wie ihr Haar den Kopf umspielte und sanft an die Oberfläche trieb. Sie fühlte sich leicht, körperlich und gedanklich, losgelöst von all den Dingen, die ihr in den letzten Monaten begegnet waren. Wohltuende Wärme durchflutete sie, floss vom Nacken den Rücken hinab, breitete sich in ihren Beinen und Armen bis in ihre Fingerspitzen aus. Dann bekam sie keine Luft mehr.

Hanna schoss nach oben. Sie prustete, und kleine Flocken weißen Badeschaums stoben davon. Sie strich sich die Haare nach hinten und atmete ein paar Mal tief durch.

Ihre Gedanken drehten sich. Sie war auf einen ruhigen Nachmittag eingestellt gewesen. Nach der anstrengenden Wanderung ein bisschen arbeiten und den Auftrag voranbringen, ihre Freundin anrufen, ein paar E-Mails schreiben. Wieder auf den Boden der Realität zurückkommen und nach neuen Zielen suchen. Und jetzt das. Eine Leiche. Eine heruntergekommene Kneipe. Und ein Bulle, der sie erst stundenlang warten ließ und dann taxierte wie ein Jäger seine Beute. Na, danke!

Sie ließ warmes Wasser nachlaufen und rieb ihre helle Haut mit Lavendelseife ein. Hanna war waschechte Hamburgerin und mit Leib und Seele Großstadtkind. Ihr Temperament aber ähnelte durchaus dem einer Südländerin. Und normalerweise fürchtete sie sich vor gar nichts.

Heute aber hatte Panik sie ergriffen. Sie hätte schwören können, dass sie oben auf der Lichtung beobachtet worden war. Doch sicher war das nur ein Hirngespinst gewesen, ausgelöst durch den ersten Schrecken. Wenn aber nicht … War sie dann in Gefahr? Vielleicht glaubte der Mörder, sie habe ihn gesehen? Blödsinn, beruhigte sie sich, ich bin zu ängstlich.

Ihr Vater wäre natürlich derselben Meinung. Mädchen, würde er mit herausgedrückter Brust erklären, du bist zu weich. Du hättest die Stellung halten sollen, dem Mörder ins Gesicht sehen und ihn niederstrecken! Mit Schwäche kommst du nicht weit! Feigheit geht unter! Zeige Schneid, du bist schließlich eine Brock!

Dann würde sie ihm zum hundertsten Mal darlegen, dass sie Waffen verabscheute und schon gar keine bei sich trug, sich mit ihm über die Werte der Erziehung und Gesellschaft streiten. Ihre Mutter würde dem Vater schon aus Prinzip zur Seite stehen, und Hanna würde frustriert die Tür hinter sich zuschlagen. Er hätte nichts verstanden.

Wie immer.

Hannas Vater war mit äußerster Härte auf einer Militärschule erzogen worden. Seine Ausbilder prophezeiten ihm eine glänzende Zukunft im Dienste des Verteidigungsministeriums. Doch ein Hüftleiden machte seine Offizierskarriere zunichte, und so wurde er Oberstudiendirektor an einem privaten Eliteinternat. Was er einem nie gezeugten Sohn an Drill hätte beibringen wollen, trichterte er nun tagsüber seinen Schülern und abends seiner Tochter ein. Seine Schmerzattacken ließ er an der Familie aus. Er schrie. Tobte. Und kommandierte, wenn die Medikamente ihn genügend benebelt hatten, die Mutter und Hanna wie Dienstbotinnen durch die Villa. Ehrfurcht hatte er nur vor hochrangigen Staatsbeamten und Militärangehörigen. Niemand wagte es, sich gegen seine Schikanen zu wehren. Die Mutter sagte zu allem ja und schloss sich seinen Vorschriften kritiklos an. Wir tun, was Vater sagt!

Das kleine Mädchen folgte brav. Ging morgens adrett gekleidet in den Kindergarten und später zur Schule, paukte täglich zwei Stunden Latein und Geschichte. Hanna brachte Spitzennoten in Mathematik und Physik nach Hause, ging zum Ballett, zur Klavierstunde und hielt sich von Kindern aus sozial schwächeren Schichten fern. Bis sie sich zum ersten Mal verliebte.

Bis heute war dies eine Konstante in Hannas Leben geblieben: Ihre Partner waren immer sanftmütige und wenig ehrgeizige Männer gewesen, mit einem Charakter, der von dem ihres Vaters so weit entfernt war wie der Nord- vom Südpol. Es war ihre Art der Rebellion gewesen. Sie hatte Schläge dafür hingenommen, war verstoßen und wieder aufgenommen worden und hatte sich schließlich zum großen Zorn ihres Vaters in ein Publizistikstudium gestürzt. Er wollte sie als Chefärztin oder Richterin sehen. Sie wollte schreiben.

Heute war die Beziehung zu ihren Eltern ein Balanceakt. Sie hatten sich zusammengerauft. Aber erwachsen war sie in deren Augen nie geworden. Für die beiden war Hanna eine Versagerin geblieben. Das Leben ihrer Eltern … Hanna hatte Jahre damit zugebracht, nach dem Warum zu fragen. Eine Antwort hatte sie nicht bekommen.

Sie stieg aus der Badewanne und wickelte sich in ihren flauschigen Frotteemantel. Sauber, duftend und aufgewärmt, fühlte sie sich schon viel besser. Barfuß tapste sie aus dem Bad. Ihr Blick fiel auf das Saxophon, den Kleiderhaufen und ihren Rucksack, den sie achtlos auf den Boden ihres Pensionszimmers geworfen hatte. Als sie ihn aufhob und den Inhalt auf das Bett leerte, klingelte das Handy. Sven, zeigte das Display. Wer sonst. Sie zögerte. Sollte sie ihm von der Leiche erzählen? Er war ein hervorragender Zuhörer und stets verständnisvoll. Nein. So schlimm war es dann auch wieder nicht.

Sie drückte den Anruf weg und setzte sich mit dem Notizbuch und der Kamera an den kleinen Tisch. Dann öffnete sie den Laptop, verband ihn mit dem Fotoapparat und lud die Bilder herunter. Die wenigen Aufnahmen vom Vormittag waren gut gelungen. Das Notizbuch enthielt nur vereinzelte Stichworte: Rabenschlucht;Hinrichtung, was für eine?;glitschiger Weg, nicht gesichert;keine Ausschilderung;Quelle? Sie dachte kurz nach und schrieb dann Leiche auf Lichtung ans Ende der Liste. Dann strich sie den letzten Eintrag durch und notierte: Leiche an alter Gerichtsstätte?

War das ein Zufall? Hanna steckte den WLAN-Stick in den Rechner, loggte sich ins Internet ein und rief Google auf. Irgendetwas musste doch zu finden sein. Sie spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihr vernachlässigter Recherche-Instinkt und die Freude am Aufdecken alter Geschichten wieder erwachten.

Hanna klickte sich durch Hunderte von Webseiten, studierte Fotos, stöberte in Ortsbeschreibungen und Sagen. Nichts. Auch andere Suchmaschinen lieferten nur Einträge, die sie entweder schon kannte oder die sich in ellenlangen geologischen Abhandlungen verloren. Ihre Augen tränten, und sie gähnte. Es war bereits nach Mitternacht. Als sie gerade den Rechner zuklappen wollte, erinnerte sie sich an eine Reportage, die sie vor längerer Zeit für ein Geschichtsmagazin redigiert hatte. Hexen, Henker, Scharlatane war der Titel des Beitrags gewesen, der sich mit frühneuzeitlichen Folter- und Hinrichtungsmethoden beschäftigt hatte. Hm. Auf gut Glück googelte sie nacheinander erhängen und enthaupten ein, versuchte es dann mit vierteilen, rädern, ertränken, ausweiden und ausdärmen. Wieder nichts Hilfreiches. Sie ergänzte verschiedene Jahrhunderte als Suchwörter. Schließlich kombinierte sie alle Begriffe mit Hinrichtung, Gerichtsstätte, Halsgerichtsordnung, Rabenschlucht und dem Namen des Dorfes. Treffer! Zwei Links erschienen als Ergebnis.

Sie brachte ihr Gesicht dicht vor den Monitor und kniff die Augen zusammen. Jemand hatte einen alten Zeitungsartikel aus einem Lokalblatt eingestellt. Die Schrift war klein und ließ sich nicht größer zoomen. Hanna hatte Mühe, den Text zu entziffern:

Der Geist in der Rabenschlucht.

Südbaden. Im 18. Jahrhundert erlangte die Rabenschlucht im mittleren Schwarzwald traurige Berühmtheit: Eine Hinrichtung erschütterte damals das kleine Dorf an ihrem Fuße. Die Faktenlage ist indes dürftig, und so weiß heute niemand mehr, wer der Henker und wer das Opfer war. Angeblich wurde ein Mann bei der Quelle gehängt, dem höchsten Punkt der Schlucht. Diese gilt deswegen als Gerichtsstätte. Gerüchten zufolge soll es sich jedoch um ein Verbrechen jenseits von Recht und Gericht gehandelt haben. Ein Mord? Die älteren Mitbürger jedenfalls fürchten sich bis in unsere Tage: Sie erzählen vom Geist des Opfers, der seit der Tat durch die Schlucht spukt. Ein 83-jähriger Landwirt berichtete gegenüber unserem Reporter von einem schaurigen Heulen und Rufen und beteuerte, dass der Geist Rache fordere. Leibhaftig begegnet ist dem Gespenst allerdings noch niemand.

Hanna war mit einem Schlag hellwach. Natürlich war die Sache mit dem Geist Humbug. Aber ein längst verjährter Mord genau dort, wo sie selbst heute eine Leiche gefunden hatte … Das konnte ein echter Knüller werden!

Sie öffnete ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Aus dieser Sache musste sie etwas machen! Hanna zurrte den Frotteegürtel des Bademantels fester und blickte auf die spärlich beleuchtete Straße hinunter. Eine dicke Frau watschelte mit einem Dackel vor der Pension auf und ab.

Sie würde eine Reportage schreiben und diese an ein renommiertes Magazin verkaufen. Würde das Dorf porträtieren, Interviews mit geschichtlichem Hintergrund liefern und … Sie ließ eine Hand auf das Fensterbrett fallen. Das würde nicht hinhauen. Sie konnte noch so brillant sein, ihre Artikel würde niemand mehr veröffentlichen. Verfluchtes Walross!

Der Hund hob ein Bein und pinkelte an eine Laterne.

Nun gut. Dann würde sie die Story eben anders verwerten – für ihren Wanderführer.

Mit der Schnauze am Boden umkreiste der Dackel einen Baum.

Einen Mordweg würde sie einbauen. Eine Tour um die Rabenschlucht herum. Sozusagen als Extra-Anreiz neben den üblichen Wanderrouten und Sehenswürdigkeiten. Alter Mord – neuer Mord. Dorf damals – Dorf heute. Die Idee erschien Hanna immer besser, je länger sie darüber nachdachte. Und sie liebte es, sich verrückte Dinge auszumalen. Man konnte ja nie wissen, was daraus wurde. Sie könnte mögliche Zusammenhänge der Verbrechen aufzeigen, die Motive der Mörder analysieren und die Opfer literarisch auferstehen lassen. Das Ganze würde sie Schwarze Route nennen und das Konzept nicht nur mit Worten vermarkten. Hanna sah schon alles vor sich: die Wegweiser, gesponsert und aufgestellt von den Gemeinden, die Schilder an den entscheidenden Wegknotenpunkten und die Touristenmassen, die dank ihres Buchs endlich Leben in die langweilige Provinz brachten. Ihr Wanderführer würde ein Bestseller werden!

Mit Schwung warf sie die Zigarette nach draußen, schloss das Fenster und zerrte ihre Koffer unter dem Bett hervor.

Sie musste der Geschichte auf den Grund gehen!

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5

Freitag, 20. November

Die klamme Morgenluft schlug ihm entgegen, und Moritz Ehrlinspiel fröstelte unwillkürlich. Doch er genoss die Milliarden winziger Tropfen, mit denen der Nebel kühl sein Gesicht benetzte. Sie vertrieben die Müdigkeit aus seinem Kopf, und er hoffte, dass bei einem kurzen Fußmarsch auch der Rest seines Körpers vollends erwachen würde. Die Kissen, auf denen er die Nacht verbracht hatte, schienen mit Kieseln gefüllt zu sein, und die Stahlfedern der dünnen Matratze hatten sich in seinen Rücken gebohrt wie Korkenzieher. Zusammen mit den wirren Grübeleien hatten sie ihn an einem erholsamen Schlaf gehindert. In seinem linken Ellbogen fühlte er schwach das Reißen, seit vielen Jahren sein treuer Begleiter bei nasskaltem Wetter.

Der Kriminalhauptkommissar blickte die Straßen entlang. Gegenüber der Heugabel mit ihrem kleinen Parkplatz lagen eine kleine Kirche und der Friedhof, ein Platz mit großen Bäumen und zwei Bänken schloss sich rechts an. In den anderen Richtungen reihten sich ältere Häuser aneinander, allesamt mit großzügigen, vorwinterlich brachliegenden Gärten und Stallungen. Die Fassaden wirkten trostlos unter den schweren Regenwolken, die ihre Last jeden Moment auszuschütten drohten. Die Jalousien der Häuser waren hochgezogen, und Ehrlinspiel stellte sich vor, wie die Menschen nach der Frühfütterung des Viehs mit dampfenden Tassen und knusprigem Brot beim Frühstück saßen, den trüben Tag ausgesperrt. Doch vermutlich war die Stimmung der Einheimischen heute alles andere als gemütlich, und wie ihm würde auch manchem von ihnen das Brötchen schal und der Kaffee bitter schmecken. Ehrlinspiel sehnte sich nach frischem Toast und einem Cappuccino bei Idris, der – von Haus aus eigentlich Syrer – die beste italienische Cafébar Freiburgs betrieb. Und der einen Milchschaum zauberte, der seinesgleichen suchte.

Sein Zimmer in der Heugabel war gerade einmal so groß wie das Badezimmer seiner heimischen Loftwohnung. Ein Waschbecken in der Ecke, ein Stuhl mit Minitisch in der anderen und in der dritten ein eintüriger Spind. Zur Straße hin gab es ein kleines Fenster. Die Dusche, ein lauwarmes Rinnsal, lag auf dem Flur, zur gemeinsamen Nutzung mit einem Gast aus dem Nebenzimmer – das nach der Freigabe durch die Spurensicherung jetzt leer stand und in dem Elisabeth die beiden letzten Nächte ihres jungen Lebens verbracht hatte.

Ehrlinspiel nahm die Kirchstraße rechter Hand. Nun konnte er genauer in Augenschein nehmen, wohin es ihn am Abend zuvor verschlagen hatte. Trauerweiden und kahle Birken säumten die Straße, als wollten sie dem frühen Morgen noch einen zusätzlichen Hauch Düsternis verleihen.

Ein Ladengeschäft lag geschlossen, doch aus einer kleinen Bäckerei duftete es verlockend, und innen herrschte bereits reges Treiben. Ein Traktor dröhnte an ihm vorbei, er sammelte die großen Milchkannen vor den Häusern ein. Ehrlinspiel lief bis zu der Kreuzung, an der er gestern aus südlicher Richtung ins Dorf gekommen war. Dort zweigte er rechts in den Wiesenbruch ab, passierte einige Häuser und erreichte nach dem Straßenknick den freien Feldweg, der ihn zum Sommerhof führte.

Um das Anwesen herum schoben sich Bänke von Frühnebel über sanft gewölbte Obstbaumwiesen und Weiden. Jetzt, bei Tageslicht, fiel Ehrlinspiel auf, wie gepflegt die Gebäude waren und wie hübsch sich der Außenbereich selbst zu dieser Jahreszeit zeigte. Die Fassade war leuchtend weiß, die obere Hälfte bis zum Dach mit dunklem Holz verkleidet. Die blauen Klappläden waren mit Lamellen durchsetzt, und vor den Fenstersimsen hingen Blumenkästen im selben Farbton. Der Hauptkommissar kannte sich mit Pflanzen nicht aus, doch die Blumen, die das Haus und den Weg zum Eingang schmückten, deuteten auf Besitzer hin, die das Schöne zu schätzen wussten. Kugelig getrimmte Grünsträucher trennten den Hofbereich vom Garten, und die Beete waren sorgfältig mit Zweigen und Mulch abgedeckt.

Hermann Sommer öffnete ihm.

Der scharfe Geruch von Putzmittel stach Ehrlinspiel in die Nase, und noch während ihm der abwegige Gedanke durch den Kopf schoss, die Familie habe die Tragödie über Nacht quasi wegwaschen wollen, fragte der Bürgermeister: »Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Der Bruder der Toten war unrasiert, tiefe Ringe unter den Augen verrieten, dass er kaum besser geschlafen hatte als der Hauptkommissar selbst.