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In der bayerischen Kleinstadt Rosenhag: Der Hochzeitstag mit Daniel Fürst, der eigentlich der schönste Tag im Leben von Miriam Stein sein sollte, wurde für sie zu einem Tag dunkelster Verzweiflung: Völlig unerwartet steht ihr ein Mann gegenüber, der sich als Christian Merz vorstellt und der nach seiner verlorenen Liebe sucht. Dieser Christian Merz... ist Miriams seit fünf Jahren verschollener und für tot erklärter Ehemann! In diesem Moment vergisst Miriam, dass Daniel, der seit heute auch ihr Mann ist, voller Liebe auf sie wartet... Mit MEINE EINZIG WAHRE LIEBE legt Erfolgs-Autorin Elisabeth Winterhalder einen ebenso dramatischen wie romantischen Heimat-Roman vor.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
ELISABETH WINTERHALDER
Meine einzig wahre Liebe
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
MEINE EINZIG WAHRE LIEBE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Copyright © 2023 by Elisabeth Winterhalder/Signum-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Umschlag: Copyright © by Unsplash/Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
In der bayerischen Kleinstadt Rosenhag:
Der Hochzeitstag mit Daniel Fürst, der eigentlich der schönste Tag im Leben von Miriam Stein sein sollte, wurde für sie zu einem Tag dunkelster Verzweiflung: Völlig unerwartet steht ihr ein Mann gegenüber, der sich als Christian Merz vorstellt und der nach seiner verlorenen Liebe sucht. Dieser Christian Merz... ist Miriams seit fünf Jahren verschollener und für tot erklärter Ehemann!
In diesem Moment vergisst Miriam, dass Daniel, der seit heute auch ihr Mann ist, voller Liebe auf sie wartet...
Mit Meine einzig wahre Liebe legt Erfolgs-Autorin Elisabeth Winterhalder einen ebenso dramatischen wie romantischen Heimat-Roman vor.
Hunderte von rotgeflammten Tulpen und schwere Dolden weißen Flieders verströmten betäubenden Duft im weiten Schiff der Kirche von St. Oswald. Auf dem Hochaltar brannten die honigfarbenen Kerzen, und in die leisen Orgelklänge fiel der weiche, samtene Ton eines Cellos ein.
Die Bänke waren bis auf den letzten Platz besetzt. In den vorderen Reihen hatte sich der Clan der alteingesessenen Familie Fürst versammelt, der heute zum ersten Mal eine Fremde in seiner Mitte aufnehmen musste.
Dahinter saßen die Honoratioren von Rosenhag mit ihren aufgeputzten Frauen, dann die Geschäftsleute und schließlich das kleine Volk, das aus reiner Neugier zu dieser Hochzeit gelaufen war. Keiner wollte das Schauspiel versäumen.
Daniel Fürst, trotz seiner 41 Jahre noch immer begehrtester Junggeselle der kleinen bayerischen Stadt und Besitzer der Mohrenapotheke, führte die schöne, um zwölf Jahre jüngere, aber arme Miriam Stein zum Traualtar.
Die Braut trug ein elegantes weißes Kleid mit Applikationen aus wertvoller Spitze. Auf ihrem kastanienbraunen Haar war der weiße Schleier mit weißen Blüten festgesteckt. Nur der Brautstrauß leuchtete bunt: zartrosa und blassgelbe Rosen, dazwischen Maiglöckchen und pastellfarbene Gerberas.
»Kaum passend für eine Witwe, die zum zweiten Mal heiratet«, flüsterte Tessa Fürst mit verkniffenen schmalen Lippen ihrer Schwägerin zu.
Franzi Fürsts schöne blaugraue Augen verdunkelten sich ärgerlich, doch ihr Blick war unverwandt auf den Bruder und seine Braut gerichtet. Sie machte nur eine knappe abwehrende Bewegung, als hätte sie Angst, Miriam könnte die hässlichen Worte hören.
Doch Miriam sah und hörte nichts. Sie kniete mit geschlossenen Augen auf dem rotsamtenen Betschemel. Schmalhüftig und lang fiel ihr Schatten auf den Marmorboden.
Das alles habe ich schon einmal erlebt, dachte sie verwirrt. Auch damals war Frühling. Ein Tag im März, mit stechender Sonne und einem Frühgewitter. Ein paar Tropfen fielen in meinen Kranz. Das soll Glück bringen. Mir hat es kein Glück gebracht...
Sie wandte den Kopf halb zur Seite und schlug die Augen auf, wie zögernd.
Daniel kniete neben ihr. Daniel Fürst, 41 Jahre alt. Er sah gut aus. Dunkles Haar, zu dem die dunkelblauen Augen in seltsamem Kontrast standen. Schmale Lippen. Ein hartes, männliches Kinn. Er trug einen Frack und eine weiße Nelke am Revers. Oh, ja, er sah gut aus.
Liebe ich ihn?
Sie erschrak vor dieser Frage, die sich ihr plötzlich so unerbittlich stellte. Minuten – nein, Sekunden vor der letzten, unwiderruflichen Entscheidung.
Gleich würde Daniel ihr den Ring an den Finger stecken. Ob er ihn auch mithatte? Vielleicht nicht! Er könnte ihn vergessen haben, es würde einen Aufschub geben... Nein, Daniel vergaß nichts.
Sie hatte Angst!
Was, wenn ich ohnmächtig würde? Wenn... Das Netz ihrer Gedanken zerriss jäh, als Daniel nach ihrer Hand griff. Behutsam streifte er den breiten Goldreif mit den eingravierten Daten auf ihren Ringfinger neben den Brillantring, den sie zur Verlobung bekommen hatte.
Zum zweiten Mal ein Ring, der ewig binden sollte.
Sie hatte sich entschieden.
Dichtgedrängt standen die Schaulustigen, als das junge Paar unter rauschenden Orgelklängen die Kirche verließ und die Stufen hinunter auf die weiß ausgeschlagene, mit vier Schimmeln bespannte Kutsche zuschritt, die vor dem Portal wartete.
Miriam setzte den schmalen Fuß im weißen Atlasschuh hastig auf das Trittbrett. Sekundenlang hatte sie das beklemmende Gefühl, sie müsse abgleiten, stürzen – da spürte sie die feste Hand ihres Mannes.
»Danke!«, flüsterte sie mit enger Kehle. Aber ihr Mund wurde weich, und sie dachte: Ich danke dir, Daniel – für alles...
Der große Saal im Goldenen Hirsch war verschwenderisch mit Blumen geschmückt. Blüten umkränzten die Stühle des jungen Paares. Man reichte Portwein. Die Gäste standen noch in Gruppen beisammen, bald würde der letzte Wagen Vorfahren.
Für Miriam flössen die vielen Gesichter zu einem milchigen Nebel zusammen. Ihr Ohr fing Sätze auf, die sie nicht verstand, Namen, die ihr kein Begriff waren. Fremd...
Aber Daniel war bei ihr.
Sie kamen Und stießen mit ihr an, und fast jeder starrte auf den großen Brillantring an ihrer Hand. Sie konnten sehen, wie verliebt Daniel in seine junge Frau war, und wie er sie verwöhnte.
Miriam hielt das schmale, feingeschnittene Gesicht mit der kurzen geraden Nase und dem ausdrucksvollen Mund gesenkt. Es war ein schönes Gesicht, mit klaren Linien und grünen Augen unter der hohen glatten Stirn.
Als sie den Blick hob, sah sie ihren Schwager vor sich stehen. Dr. Erwin Fürst hielt sein Glas empor. »Auf dein Wohl, Miriam – und auf dein Glück!«
»Danke...« Sie spürte selbst, wie steif sie war. Der Schleier behinderte sie, er war zu fest gesteckt und zerrte an ihrem Haar. Sicher war es nur das. Wenn sie die Nadeln lockerte...
Ihre Bewegung war ungeschickt. Sie zitterte – das Glas fiel ihr aus der Hand und zerschellte auf dem Parkett.
Schlagartig war es still. Als hätten die Scherben alle Gespräche zerschnitten. Köpfe waren herumgefahren, jetzt hingen die Blicke starr an der Braut, ließen nicht von ihr ab.
»Darauf habe ich gewartet!« Tante Hedwigs Lachen brach den Bann. Die resolute Dame im neuen Grauseidenen, der man ihre 58 Jahre nicht ansah, trat rasch auf Miriam zu. »Scherben bringen Glück, Kindchen!«
Miriam rührte sich nicht. Glück und Glas, dachte sie, Glück und Glas...
»Komm, wir nehmen den Schleier ab, dann ist dir gleich leichter zumute. Wir kommen sofort wieder, Daniel.« Tante Hedwig klopfte ihrem Neffen beruhigend auf den Arm und zog Miriam mit sich in die Garderobe.
»Das ist natürlich ein anstrengender Tag für dich. Aber wenn ihr wollt, könnt ihr nach dem Essen gleich wegfahren. Oder spätestens nach dem hier üblichen Brauttanz. Lass mal sehen!«
Mit flinken Händen nestelte die mütterliche, ein wenig füllige Frau mit dem warmherzigen Lächeln die Blumen und den Schleier los. »Siehst du, jetzt muss es schon besser sein.«
»Vielen Dank, Tante Hedwig.« Miriams Stimme hatte ein leises Flackern. »Du bist – so gut zu mir.«
»Ach was. Ich bin froh, dass du zu uns ins Haus kommst und dass Daniel endlich eine Frau hat. Der Junge zeigte nämlich alle Anlagen zu einem Hagestolz. Jetzt kommt wenigstens Leben in ihn... Aber was hast du denn? Tränen?«
Sie griff nach ihrer Handtasche, ließ sie aufschnappen und hielt Miriam ein blütenweißes, nach Lavendel duftendes Tuch hin.
»Entschuldige, ich – ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.« Miriam versuchte zu lächeln. Sie spürte, dass es ihr nicht überzeugend gelang. »Hoffentlich habe ich das Richtige getan. Ich möchte Daniel nicht enttäuschen.«
»Red keinen Unsinn!«, sagte Tante Hedwig energisch und faltete den Schleier zusammen. »Du hast lange genug gewartet, bevor du Daniel erhört hast. Man kann nicht zeitlebens um jemanden trauern, sondern man muss sich mit dem Unabänderlichen abfinden. Ich bin sicher, dass du glücklich wirst.
Aber jetzt lass uns zurückgehen«, schloss sie das Thema ab. »Daniel und die anderen werden schon warten...«
Man hatte das alte Familiensilber aus der Apotheke herübergebracht und frisch geputzt. Jetzt lag es glänzend neben dem kostbaren Porzellan auf dem schimmernden Damast. Schwere Leuchter und Schalen voller Blüten bildeten den Tafelschmuck.
Daniel führte Miriam an ihren Platz und rückte ihr den Stuhl zurecht. Neben ihrem Teller lag ein längliches Etui aus weißem Leder. »Mein Hochzeitsgeschenk für dich«, sagte er.
Sie öffnete es zögernd – und blickte atemlos auf die Doppelreihe schimmernder Perlen.
Daniel nahm sie aus dem Etui und legte sie Miriam um den schlanken Hals. Sie erschauerte leicht, als die Perlen ihre Haut berührten. Sie wandte sich ihm zu und sah seinen erwartungsvollen Blick. Da lächelte sie. »Ich danke dir, Daniel.«
»Perlen bedeuten Tränen«, sagte Tessa Fürst über den Tisch hinweg, aber ihr Lachen klang nicht echt. »Sicher hast du eine Menge Geld dafür ausgegeben, Daniel. Dann sind sie freilich ein paar Tränen wert.«
»Tessa, ich bitte dich!« Erwin Fürst stieß seine Frau an.
Ihre Augen wurden schmal. »Sie versteht es, ihn richtig zu nehmen«, murmelte sie. »Du bist dir wohl klar darüber, dass unsere Jungen nicht mehr auf das Erbteil deines Bruders zu hoffen brauchen?«
»Wenn dich jemand hört!« Der Arzt rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
Sie lachte leise. »Denkst du, die anderen hätten einen besseren Gesprächsstoff? Schau sie dir doch an – am liebsten würden sie Miriam vergiften. Und allen voran die liebe Ruth Schneeberger.«
Fürst blickte sich suchend um. »Wo ist sie überhaupt? Ich habe sie noch gar nicht gesehen...«
»Konntest du auch nicht«, sagte Tessa verkniffen. »Sie macht Dienst in der Apotheke, damit sie der Peinlichkeit enthoben ist, bei dieser Hochzeit anwesend sein zu müssen. Wo sie doch seit Jahren Daniel bekniet hat, sie zu heiraten.«
Fürst sah seine Frau verblüfft an. »Ruth? Daniel hätte sie nie genommen.«
»Hör mal...« – Fürsts Stimme kam leise, aber scharf – »...ich rate dir, stell dich gut mit Miriam. Sie ist jetzt am Zuge, und du musst dich damit abfinden. Ich will keinen Streit in der Familie. Tante Hedwig und Franzi haben sie akzeptiert, also tu du's auch!«
»Na, wer weiß. Wenn eine Frau sich was in den Kopf setzt, kriegt sie es meistens auch. Ruths Pech war, dass Miriam ihr zuvorgekommen ist.«
Tessa Fürst begriff. Schweigend löffelte sie die eisgekühlte Bouillon aus ihrer Tasse. Aber ihre Blicke hefteten sich immer wieder an Miriams Perlenkette. Tessa verstand etwas von Schmuck. Das Ding hatte bestimmt seine achttausend gekostet. Sie durfte nicht daran denken...
Aber sie dachte unentwegt daran.
Erwins Praxis ging gut, er hatte eine kleine, moderne Klinik, aber Rücklagen hatten sie keine machen können. Daniel war nicht kleinlich gewesen, das Studium der Jungen hatte er fast allein finanziert, und später wäre ihnen der Reichtum der Mohrenapotheke zugefallen – doch damit war es vorbei.
Perlen... Die Perlen waren da, jetzt fehlten nur noch die Tränen. Nun gut, was sie dazu tun konnte, wollte sie tun...
Die Halle des Hotels Steirerkreuz in München war fast leer. Merz durchquerte sie langsam. Er sah sich nicht um. Sein tiefgebräuntes Gesicht wirkte hart und verschlossen. Der graue Anzug schien ihm zu groß zu sein, er ließ die Schultern nach vorn hängen, als sei er erschöpft.
Die sehnige braune Hand hielt dem Portier den Zimmerschlüssel entgegen. »Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme. Ich denke, heute Abend.«
»Sehr wohl, Herr Förster.« Der Portier hängte den Schlüssel an den Haken. »Wenn Anrufe kommen – soll ich sie notieren?«
»Es kommen keine... Ich bin ja erst seit gestern hier. Oben im Zimmer liegen Hemden, lassen Sie sie bitte in die Wäscherei bringen, ja?«
»Wird erledigt.« Der Portier notierte auf seinem Block: 208, Merz – Wäsche. Er nickte noch einmal, als der Gast sich zum Gehen wandte, und sah ihn, den Regenmantel lose über den Arm gehängt und den Hut noch in der Hand, durch die Glastür ins Freie treten.
Christian Merz schlug die Richtung zum Hauptbahnhof ein. Sein Blick war starr nach vorn gerichtet, als sehe er weder die Menschen, die ihm begegneten, noch die Auslagen. Nichts schien ihn zu interessieren.
In der Bahnhofshalle studierte er die Zugverbindungen. Er trat an den Schalter, löste eine Fahrkarte und kaufte dann am Kiosk noch eine Zeitung.
Auf den Bahnsteigen herrschte dichtes Gedränge. Merz schob sich mit seltsam unbeteiligtem Blick durch die Menge. Sein Zug ging in acht Minuten. Er suchte sich einen Fensterplatz, warf die Zeitung achtlos neben sich auf den Sitz und steckte sich eine Zigarette an.
Die Flamme des Streichholzes zitterte.
Er ließ sie weiterbrennen, bis er den Schmerz an seinen Fingerkuppen spürte. Dann blies er sie aus. Er warf den Rest in den Aschenbecher und blickte aus dem Fenster. Seine Augen schienen ein unerreichbar fernes Ziel zu suchen.
Draußen flog das Land vorbei, das unter dem ersten Kuss des Frühlings zu lächeln begann. Durch das eintönige Braun waren schimmernd das helle Grün der Knospen und das warme Gold der Sonne geflochten, der sich Fenster und Türen in den Häusern weit öffneten.
Die blausilbernen Schatten der Berge hoben sich empor. Noch lag Schnee auf ihren Gipfeln, aber in den Tälern blühten die frühen Krokusse. Wildenten flogen von einem spiegelnden See hoch. Merz' Blick folgte ihnen weit, bis sie im gleißenden Licht des Mittags mit der Ferne verschmolzen.
Es war kurz nach eins, als er in Rosenhag den Zug verließ und langsam, wie mit tastenden Schritten, die Bahnhofsstraße entlang zur Stadt ging.
Jetzt erst schien Merz, anders als in München, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Doch wenn er sich umsah oder die Straßenschilder las, tat er es seltsam verstohlen, als fühlte er sich beobachtet.
Als er an einer Apotheke vorbeikam, begegnete sein suchender Blick dem einer Frau mit dunklem Haar und braunen Augen. Sie stand hinter der Glastür und beobachtete die Straße. Ihr Gesicht leuchtete blass und schmal unter der Pagenfrisur.
Schräg gegenüber, vor dem Hotel, standen auffällig viele Wagen. Merz sah die Girlanden über der Eingangstür. Wohl eine Hochzeit. Aßen vermutlich gerade. Nein, speisten oder dinierten – nun ja.
Er blieb kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Dann ging er weiter, mit hängenden Schultern und den seltsam zögernden Schritten. Er hätte auch etwas essen sollen. Aber der Gedanke daran widerstrebte ihm.
Die Schwäche in seinen Gliedern kam nicht vom Hunger.
An der Ecke war ein Tabakgeschäft. Er ging hinein und kaufte Zigaretten. Erst als er wieder an der Tür stand, fragte er: »Können Sie mir sagen, wo Doktor Sailer wohnt?«
»Sailer? Der ist doch gestorben. Die Praxis hat jetzt...«
»Ja, ich weiß. Aber das Haus...«
»Akazienstraße 8, in der Siedlung. Die Frau Doktor wohnt noch dort, wenn Sie zu der wollen. Aber sie wird...«
»Wie komme ich hin?«
»Links rauf, dann über die Brücke, und dann rechts...«
»Vielen Dank.« Er zog rasch die Tür hinter sich zu und ging mit schnellen Schritten in die bezeichnete Richtung. Er sah sich jetzt auch nicht mehr um.
Das Haus war nicht schwer zu finden, es war das vierte auf der rechten Seite, ein kleines, sauberes Einfamilienhaus mit grünen Fensterläden in einem kleinen, noch kahlen Vorgarten.
Merz las den Namen auf dem Messingschild an der Gartenpforte im Vorbeigehen. Er blieb nicht stehen. Erst am Ende der Straße tat er es. Er drehte sich um und sah nach dem Haus zurück. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet. Er nahm sein Taschentuch heraus und wischte sie fort.
Mit hastigen Bewegungen steckte er sich erneut eine Zigarette an und sog den Rauch gierig ein, als sei es die erste seit Tagen. Dann ging er auf das Haus zu.
Diesmal blieb er an der Gartentür stehen. Er klingelte.
Es rührte sich nichts.
Er versuchte es noch einmal, aber auch jetzt blieb im Haus alles still. Er wandte sich zögernd ab und überquerte die Straße. Auf der anderen Seite, in einer Heckennische, stand eine Bank, von der aus er das Haus eben noch sehen konnte.
Merz setzte sich hin. Er saß vornübergebeugt, als müsste er in der nächsten Sekunde wieder aufspringen... Seine Lippen waren fest zusammengepresst, wie wenn sie nur mit Mühe einen Schrei zurückhalten könnten.
So saß er da – ein Mann, der zu warten gelernt hatte...
Die Apothekerin Ruth Schneeberger sah den Fremden Vorbeigehen, aber ihr Blick erfasste ihn nicht mit Bewusstsein. Dieser Blick aus ruhelosen braunen Augen war hartnäckig auf die Fenster des Hotels gerichtet.
Mitunter sah sie einen grauen Schatten hinter den Gardinen, aber sie konnte nicht erkennen, wer es war.
Die Türglocke schlug an. Ruth Schneeberger fuhr zusammen und sah die Bezirkshebamme eintreten, die ihre übliche wöchentliche Bestellung aufgab. Und der nichts entging, was in der Stadt geschah.
»Was sagen Sie dazu, Fräulein Ruth – ein Perlenkollier! Soll das teuerste Stück aus Wieders Laden sein. Na ja, wenn die Liebe halt so groß ist bei dem Herrn Apotheker...«
Ruth gab keine Antwort. Mit zusammengepressten Lippen sah sie auf den Bestellzettel: Zellstoff, Höllensteintinktur, Hansaplast...
»Die Miriam hat schon Glück. Heiratet in eine wahre Goldgrube hinein. Wird sie denn jetzt hinterm Ladentisch stehen?«
»Natürlich nicht!«, sagte Ruth scharf und spürte selbst, wie gereizt sie war. Sie versuchte sich zu beherrschen. »Dazu müsste sie Pharmazie studiert haben. Die Approbation...«
»Freilich. Sie waren ja schon Apothekerin, als Sie aus Berlin zu uns kamen, vor... ja, vor vier Jahren. Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Ich hab' immer gedacht, der Herr Apotheker hätt, gar nicht erst die Miriam zur Buchführung herholen müssen, um eine Frau zu finden, die zu ihm passt.«
»Bitte!« Ruths Stimme war heiser, und die Falte zwischen ihren Brauen hatte sich vertieft.
»Na, ist doch wahr!« Die Hebamme ließ sich nicht beirren. »Die alte Frau Fürst, Gott hab sie selig, hat schon gewusst, weshalb ihr bei Lebzeiten nicht so schnell eine Schwiegertochter ins Haus kam. Und jetzt die Miriam – was weiß man denn schon von diesen Sailers.«
»Ihr Vater«, sagte Ruth widerwillig, »hatte immerhin eine gute Praxis in Schleswig-Holstein. Als Miriam dann in München studierte, zogen sie nach hier um und...«
»Nur wegen der Universität?« Es klang spöttisch. »Nachher hat die Miriam ja doch diesen Stein geheiratet und ist nach Frankfurt gegangen. Da hatten sie auch nichts von ihr.«
»Aber sie ist wiedergekommen.«
»Ja, weil ihr Mann ausgerechnet im Kongo Geschäfte machen wollte. Zwei Jahre, dann war sie Witwe, und noch dazu mit einem Sack voll Schulden. Das weiß doch jeder...«
Die Hebamme blickte sich gewohnheitsmäßig nach unerwünschten Zeugen um und beugte sich dann flüsternd über den Ladentisch.
»Dieser Stein, das war doch ein Filou. Betrügerischer Bankrott, ich bitte Sie! Der kann doch fast von Glück sagen, dass er vor fünf Jahren da unten vor die Hunde ging. Hier hätt' er sich ja nicht mehr blicken lassen dürfen.«
Ruth war vor diesem hämischen Flüstern zurückgewichen. »Es wird viel geredet«, sagte sie abweisend.
Die andere schwenkte rasch auf ein anderes Thema um. »Die Hochzeitsreise soll nach Sizilien gehen, hab' ich gehört. Sie wollen noch heute wegfahren. Stimmt das?«
»Ja«, sagte Ruth knapp. Sie hatte sich den Regalen zugewandt und suchte die bestellten Sachen zusammen.
»Die hat's jetzt gut. Arbeiten braucht sie auch nicht mehr, ihr habt ja fürs Büro eine Neue. Da spielt sie dann nur noch die Gnädige. Schlau hat sie's angepackt, die Miriam. Bis zuletzt hat kein Mensch was geahnt...«
Ein Lauern lag in der Stimme, als erwartete die Hebamme einen Widerspruch. Doch sie sprach rasch weiter.
»Erst als ich vor sechs Wochen die Verlobungsanzeige las, wusst' ich Bescheid. Aber diese unanständige Eile mit der Hochzeit – ist da vielleicht was?«
Ruths Hände zitterten. Sie zwang sich gewaltsam zur Ruhe, als sie sich an die Hebamme wandte. »Könnten Sie vielleicht in einer Stunde wiederkommen? Ich habe noch ein paar dringende Rezepte zu machen...«
Mit übermenschlicher Anstrengung wartete sie, bis sich die Tür hinter der Frau geschlossen hatte. Dann war sie mit ihrer Kraft am Ende. Sie lief nach hinten, ließ sich taumelnd auf einen Stuhl fallen und warf sich mit dem Oberkörper über den Tisch.
Eine Porzellanschale fiel herunter und zersprang knallend.
Sie achtete nicht darauf. In wildem Schmerz überließ sie sich dem Ansturm ihrer verworrenen, zwischen blindem Verlangen und glühendem Hass schwankenden Gefühle. Ein trockenes, würgendes Schluchzen schüttelte sie. In dem Stöhnen, das aus ihrer Kehle kam, lag alle Bitterkeit der zutiefst enttäuschten Frau.
Nebenan ging die Ladenglocke.
Sie zuckte zusammen und fuhr mit einem Satz hoch. Über ihr Gesicht, das Schmerz und Scham und Hass eben noch entstellt hatten, legte sich eine starre Maske.
»Ruth?«
Sie prallte in der Tür mit Franzi Fürst zusammen, deren große blaugraue Augen sich verwundert auf die Scherben am Boden richteten. Dann hob sich das kluge Gesicht unter dem dichten aschblonden Haar fragend der anderen entgegen.
»Was ist denn hier passiert?«
Ruth hatte sich wieder in der Gewalt. »Oh, das kommt schon mal vor«, sagte sie gleichgültig.
»Drüben auch«, sagte Franzi und stellte das große Stück Hochzeitstorte, von dem sie das Papier zurückschlug, auf den Tisch. »Aber Scherben bringen ja Glück, obwohl Daniel den Eindruck macht, als könnte er mehr davon gar nicht verkraften. Er ist überglücklich. – Hier, Ruth, lassen Sie es sich schmecken. Ich will gleich wieder 'rüber. Wenn sie zu tanzen anfangen, darf ich nicht fehlen!«
Sie winkte Ruth zu und verschwand im Laden. Gleich darauf war die Glocke zu hören.
Ruth wartete nicht, bis sich die Tür hinter Franzi geschlossen hatte. Die Flamme heißer Wut schoss jäh in ihr hoch, ein roter Nebel schien sich vor ihre Augen zu legen. Wie blind griff sie nach der Torte, riss das Paket mit beiden Armen hoch und warf es auf die Erde.