Meine Gedanken zur Zeit - Helmut Konrad - E-Book

Meine Gedanken zur Zeit E-Book

Helmut Konrad

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Beschreibung

Mit der Sendereihe "Gedanken zur Zeit" im ORF Radio Steiermark begeistert der Grazer Zeithistoriker Helmut Konrad seit vielen Jahren seine Hörerinnen und Hörer. Eine Auswahl seiner Sendungen aus den Jahren 2008–2016 kommt nun nach Themen geordnet und in gedruckter Form heraus. Nicht nur seine kritische Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit und den Veränderungen in der Gesellschaft, sondern vor allem seine Liebe zum Kochen, zum Kaiser-Josef-Platz und zum Fußball sind es, was seine Hörerinnen und Leserinnen bzw. Hörer und Leser an ihm schätzen.

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Titelseite

Helmut Konrad

Meine Gedanken zur Zeit

2008–2016

Leykam

Gedanken zur Zeit

Historische Gesellschaftsentwicklungen, aktuelle Lebenswelten und individuelle Zukunftskonzepte sind so vielfältig, dass man jede Woche neue Themen, neue Blickwinkel und neue Zugänge für „Gedanken zur Zeit“ finden kann.

Diese Vielfalt unserer Lebenswirklichkeiten darzustellen, Zeitgeist und Strömungen aufzuspüren, Befindlichkeiten wahrzunehmen, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gegenüberzustellen und für wenige Minuten in dieser Sendung von Radio Steiermark publikumswirksam aufzubereiten, bedarf einer besonderen Begabung.

Helmut Konrad gelingt es in exzellent angenehmer Weise, sein humanistisches Wissen und seine Erfahrung, eingebettet in die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, der Öffentlichkeit als Impuls zum Nach- und Weiterdenken zur Verfügung zu stellen und damit kontinuierlich zu einer im Geiste freien, solidarischen und friedlichen Welt beizutragen.

Gerhard Draxler

Landesdirektor ORF Steiermark

Einleitung

Samstags um sieben Uhr in der Früh, wenn ich meine Einkaufsrunde am Kaiser-Josef-Markt drehe, werde ich fast immer auf meine „Gedanken zur Zeit“, auf deren Inhalte, aber auch auf meine Rundfunkstimme hin angesprochen. Auch außerhalb von Graz, von Bad Aussee bis nach Ratsch an der Weinstraße, stoße ich immer wieder auf Menschen unseres Landes, die mir seit Jahren an den Sonntagen um 8 Uhr zuhören.

Das ist für mich, der ich nicht aus der Medienbranche komme, eine erfreuliche Erfahrung. Schreibe ich nämlich einen fachwissenschaftlichen Beitrag, dann dauert es Monate, bis er erscheint. Und er wird vielleicht von ein paar Dutzend Menschen gelesen. Reaktionen darauf gibt es meist erst, wenn ich längst mit anderen Themen und Fragestellungen befasst bin.

Nach den Sendungen klingelt hingegen oft das Telefon, es treffen Mails oder Briefe ein, und Zustimmung oder, wenn auch durchaus selten, Kritik schaffen sich ganz spontan Raum. Es ist ein lebendiger Dialog, in den man eingebunden ist – spannend, bewegend und manchmal auch belastend. Jedenfalls empfinde ich das alles als sehr bereichernd.

Die Sendungen und der Kontakt zu den Hörerinnen und Hörern sind Teil meines Lebens geworden. Immer wieder, nach etwa 250 Sendungen in den letzten 17 Jahren, neige ich dazu, einen Schlusspunkt setzen und aufhören zu wollen. Ich werde dann aber durch das Echo des Publikums und auch durch meine Freude an der knappen Form und der Zeitnähe meiner Sendungen dazu verführt, weiterzumachen. Und wie die Zeiten sich ändern, sind auch die Gedanken dazu stets (oder zumindest meist, da ich mich bemühe) neu.

Klar, manchmal, wenn der berufliche Druck groß ist, wenn ich im Ausland lebe oder wenn mich die Familie auf Trab hält, ist es mühsam, zeitgerecht einen Text zu schreiben und zur Aufnahme in das Studio des ORF Steiermark zu kommen. Aber die Herzlichkeit, mit der man mich dort seit so vielen Jahren aufnimmt und als Teil des Teams akzeptiert, entschädigt mich auch in Stresssituationen.

Aus Anlass meines 60. Geburtstags im Jänner 2008 haben sich zwei enge Freunde von mir, Elisabeth Fiorioli und Wolfgang Muchitsch, die Mühe gemacht, komplett hinter meinem Rücken in Tateinheit mit meiner Sekretärin Edith Wirthler, eine Auswahl meiner Sendungen bis 2007 herauszugeben. Da ich tatsächlich noch als Fossil in einer durchtechnisierten Gesellschaft mit der Feder schreibe (und nur so denken kann), landen fast alle Sendungen im Sekretariat und werden dort auch archiviert. So war es möglich, den Band als gelungene Überraschung zu präsentieren.

Für die Herausgabe hatten Elisabeth Fiorioli und Wolfgang Muchitsch ein Konzept entwickelt. Sie sortierten jene Sendungen, die aus aktuellen Anlässen wie etwa Wahlkämpfen geschrieben wurden, aus und gruppierten die verbleibenden Texte rund um Themen. Dieses Konzept wurde auch für den nunmehr vorliegenden Band beibehalten, da es meine wichtigsten Bereiche, die ich in den Sendungen bespreche, recht gut spiegelt. In der Rückschau ist das möglich, im aktuellen Schreibprozess hat man solche Zuordnungen nicht vor dem Auge. Heute sehe ich auch in diesem Aufbau eine gute Struktur zu den Fragen, die mich bewegen, die in meinem Leben wichtig sind, und die damit wohl auch einen recht umfassenden Einblick in mein persönliches Werte- und Normensystem geben können.

Ob manches zu persönlich ist, wage ich nicht zu beurteilen. Aber wie in meiner akademischen Lehre, so bin ich auch hier überzeugt davon, dass es kein Nachteil ist, die eigene Lebensgeschichte, die Erfahrungen und die Lebensweichenstellungen in die Darstellung einfließen zu lassen.

Es ist mir in allen Sendungen ein Grundbedürfnis, mein Selbstverständnis und meine gesellschaftspolitische Grundposition nicht zu verleugnen. Meine Prägung aus der Zeit der späten Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, meine Haltung zu Fragen von Humanität und Menschenrechten, meine Erfahrungen in den etlichen Semestern im Ausland und den vielen Reisen, meine Neugier für alles Neue in Kunst, Kultur oder auch Kulinarik, meine Erfahrungen in der Familie und in der Erziehung meiner Kinder, meine Leidenschaft als akademischer Lehrer, all das darf und soll sichtbar werden. „Das Private ist politisch“, das war einst eine politische Losung, die aber meinen ganz klaren Grundpositionen bis heute entspricht. Daher enthalten die Sendungen auch viele private Botschaften. Eine hochrangige Politikerin hat mir einmal gesagt, sie höre meine Sendungen und wisse dann immer auch, was es im Leben meiner Familie so an Neuigkeiten gebe. Das war durchaus nicht als Kritik, sondern wohl als Kompliment formuliert.

Die Frage, ob sich das gesprochene Wort auch für die Herausgabe in Buchform eignet, hätte ich, wäre ich eingebunden gewesen, beim ersten Band sicherlich gestellt. Das Echo auf das Buch hat hier Zweifel ausgeräumt. Das Lesen wird wohl nicht, wie bei einem Roman, von der ersten bis zur letzten Seite erfolgen, sondern selektiv, nach Interessenslage oder aber nach Stimmung. Man kann weiterblättern, es gibt ja keine durchgehende Geschichte, sondern es werden Gedankensplitter ausgestreut, die man individuell zu kleinen Mosaiken zusammensetzen kann. Klar, ein Hörbuch würde dem ursprünglichen Format eher entsprechen, aber meine nicht geschulte Stimme stört wohl eher. Ein Tondokument aller Sendungen würde zudem auch schon über ٢٤ Stunden ergeben, und ein Abspielen würde wohl einer grausamen Folter gleichkommen.

Ich selbst höre die „Gedanken zur Zeit“ relativ regelmäßig, natürlich auch die meiner Kolleginnen und Kollegen, die ich alle sehr schätze. Derzeit sind wir ein besonders starkes Team, und wenn vier Personen sich abwechseln, ist auch der individuelle Zeitaufwand überschaubar.

Dass der nunmehr vorliegende Band zustande gekommen ist, ist mehreren Personen zu danken. Zu allererst ist Frau Magistra Elisabeth Klöckl-Stadler zu nennen, die mir die Bereitschaft zu diesem Buch abgerungen und die Auswahl der Beiträge vorgenommen hat. Ihr ist auch die gefällige Gestaltung zu danken. Der Dank gilt auch dem ORF, namentlich Frau Sylvia Rauter, die das Entstehen der Sendungen in ihren Händen hat und der es zu danken ist, dass alle meine Versprecher und Holperer sorgsam aus der ausgestrahlten Version verschwunden sind. Und zu danken ist meiner Frau, die jede Sendung vor der Aufnahme gelesen und, wo notwendig, inhaltlich korrigiert hat. Besonders aber danke ich allen jenen Menschen, vorwiegend in der Steiermark, die mir zuhören und deren Zuspruch mir immer wieder den Mut gegeben hat, auch in dem mir eigentlich fremden Milieu weiterzumachen.

Helmut Konrad

Oktober 2016

... zum Leben

Katzenbegleitung

Wenn man wie ich auf dem Land aufgewachsen ist, ist das Zusammenleben mit Tieren eine Selbstverständlichkeit. Selbst bei uns im Schulhaus in St. Gertraud gab es einen Hühnerstall, und wir sammelten Jausenbrotreste, um den Tieren eine Freude zu machen. Meine erste Katze, ein Kater namens Murli, hatte ich im Volksschulalter, und als sie sich an einem ausgelegten Rattenköder vergiftete und starb, begruben wir sie feierlich im Wald, was zwar verboten, inzwischen aber ganz sicher schon verjährt ist.

Und seit vier Jahrzehnten umgebe ich mich nun immer wieder mit Katzen. Das hat einerseits damit zu tun, dass hier für mich ein Stück Kindheit erhalten bleibt, andererseits auch damit, dass Katzen ja sehr dominant sind und daher täglich an unsere Toleranz appellieren. Sie erziehen somit nicht nur unsere Kinder, sondern auch uns selbst zu nicht autoritären Problemlösungen. Freunde haben uns eine kleine Tafel geschenkt, auf der steht: ,,Nur Hunde haben Besitzer, Katzen haben Personal“. Das tut zwar vielen Hundebesitzern unrecht, hat aber einen wahren Kern, denn gegen den Willen einer Katze ist sehr wenig durchsetzbar, und jede Spielregel muss ausverhandelt werden.

In diesen Jahrzehnten haben mich alle Arten von Katzen begleitet. Es begann mit einem Siamkätzchen aus der Tierhandlung, das sich zu einer prächtigen Katze auswuchs, die schließlich in mehreren Würfen eine ganze Dynastie von kleinen Siamkatzen begründete. Wenn da fünf ganz junge Kätzchen durch die Wohnung tollen, die Vorhänge hinaufklettern, meine Manuskripte zerreisen, mitten in der Nacht den Spieltrieb bekommen und vieles mehr, dann ist es sicher nie langweilig. Fast 20 Jahre hat mich diese Katze begleitet, und als sie schließlich starb, war für mich ein Kapitel abgeschlossen. Aber die Losung „Nie wieder ein Haustier“ hielt nur ganz kurze Zeit, und zwar so lange, bis ich im Grazer Tierheim zwei ganz junge rot-weiße Kater erblickte, die dann für 17 Jahre unsere Familie begleiteten.

Nach ein paar Wochen ohne Katzen ist nun von einem Bauernhof auf der Teichalpe ein Katzenpärchen zu uns gezogen, schwarz und weiß gefärbt und vorläufig ungeheuer lebhaft und vor allem hungrig. Es ist somit wohl klargestellt, dass unser Leben auch in den nächsten Jahren sich dem Rhythmus der Haustiere anpassen wird.

Solche Geschichten werden viele von Ihnen erzählen können. Wer einmal Haustiere um sich gehabt hat, der wird es immer wieder mit Tieren versuchen oder zumindest eine Sehnsucht danach haben.

Die Gründe für die Haustierhaltung sind mannigfach. Dabei stand historisch der Aspekt des Nutzens im Vordergrund. Angeblich wurden schon 13.000 vor Christus, also 15.000 Jahre vor unserer Zeit, Hunde domestiziert. Es ging natürlich um das Sichern des Überlebens, bei den Hunden also um die Begleitung bei der Jagd oder um die Sicherung der Vorräte. Andere Tiere sollten domestiziert einen umfassenderen und gesicherten Zugriff auf Rohstoffe und Nahrungsprodukte ermöglichen. Das stand hinter der Haltung von Rindern, Schweinen, Schafen oder Ziegen.

Domestizierung oder Züchtung zum Vergnügen des Menschen ist natürlich jüngeren Ursprungs. Dazu waren erste städtische Gesellschaften notwendig, in denen dann Tiere eine gewisse Exotik hatten. Wie sich der Ziergarten oder die Topfpflanze von der agrarischen Pflanzennutzung unterscheidet, so unterscheidet sich das Heimtier vom Haustier im breiteren Wortsinn.

Bis heute kann man diese beiden unterschiedlichen Ansätze in der Gesellschaft erkennen, wenn sie sich auch zu mischen beginnen. Auf dem Land hat der Hund meist noch immer Jagd- oder Wachfunktion, und die Katzen am Bauernhof haben diesen mäusefrei zu halten. Wenn auch die Kinder am Hof diese Hunde und Katzen nicht anders behandeln wie es die Altersgenossen in der Stadt tun, so ist doch der funktionale Charakter der Tierhaltung unverkennbar. In der Stadt hingegen verkörpert das Haustier auf der einen Seite den romantischen Wunsch nach einem Stück Natur, eine Sehnsucht, die vor allem die erste Generation von Stadtbewohnern aus der ländlichen Vergangenheit mit ins urbane Leben genommen hat. Auf der anderen Seite sind Haustiere aber auch Zierde, da sie das Erscheinungsbild des Haushaltes bereichern. Sie können aber auch Ersatz für Partnerschaften oder für Kinder sein, und oft sind sie dazu da, Spielgefährten für Kinder zu sein und diesen ein soziales Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln.

In der kleinen Vorortsiedlung, wo ich wohne, gibt es eine Unmenge von Katzen. Die meisten können und dürfen sich frei bewegen, sie gehen durch Klappen in den Haustüren ein und aus. Da es praktisch keinen Straßenverkehr gibt, leben sie ziemlich sicher, und die meisten Bewohner kennen die Tiere und wissen, wohin sie gehören. Sie stellen daher in unserer Siedlung, die langsam überaltert, da wir alle gemeinsam vor etwa 25 Jahren eingezogen sind, ein sozial verbindendes Element dar. Die Kinder sind meist außer Haus, und so halten nun eben die Haustiere die Kontakte aufrecht.

Natürlich bringen zwei kleine Katzen nicht das Land in unser Leben zurück. Aber sie haben zumindest, seit wir ihr Aufwachsen von der Geburt weg auf dem Bauernhof verfolgt haben, uns wieder in engeren Kontakt mit anderen Lebensformen gebracht. Und sie bringen junge Unbekümmertheit ins Haus, zwingen uns auch wieder, genau zu planen, wann wir wegfahren können und welche Bedürfnisse der Tiere es zu befriedigen gibt. Wer kommt wann nach Hause, wer kann Katzenfutter besorgen, wer kann einen Tierarzttermin halten, wer hat Zeit und Lust zu spielen, all das ist nun wieder zu organisieren und zwingt uns in neue, wenn auch altvertraute Muster.

Ein Punkt scheint mir allerdings in der Haustierhaltung besonders wichtig: In unserer hektischen, durchgeplanten, auf Leistung und Geschwindigkeit zielenden modernen Gesellschaft, deren Teil gerade ich durchaus bin, zwingt das Stück Natur in den eigenen vier Wänden zum Brechen des Rhythmus’, zur oftmaligen Zurückstellung der engen Zeitpläne und fremdbestimmten Notwendigkeiten. Es ist ein Stück Widerborstigkeit gegen die allzu glatte Modernisierung, ein Rückgriff und ein Rückhalt, der tief in der Geschichte der Menschheit wurzelt. Und unter diesem Gesichtspunkt ist die Haustierhaltung ein wesentlicher Teil unserer Kulturgeschichte.

Sendung vom 3. August 2008

Gesundheitssysteme

Manchmal reichen im Leben ein paar Zehntelsekunden, um sich plötzlich mit einer völlig geänderten Situation konfrontiert zu sehen und mittelfristige Planungen ganz neu vornehmen zu müssen.

Mir ist es vor gut zwei Wochen so gegangen, als ich am letzten Arbeitstag vor dem ge­planten Urlaub mit dem Fahrrad von der Uni nach Hause fuhr. Im Kopf war ich schon weg von der Arbeit, und ich machte gerade Pläne für das Kochen. Da kam mein Rad in die Straßenbahnschienen und ich landete mit voller Wucht auf der Straße. Meine Arbeitsunterlagen lagen verstreut um mich, das Rad war kaputt und mein Körper hatte einiges abbekommen. Vorerst sah ich nur die blutigen Hände, schließlich stellten sich doch Brüche im Handgelenk und an den Rippen heraus. An Urlaub war natürlich nicht mehr zu denken, aber das ist wohl verschmerzbar.

Ich erzähle diese unerfreuliche Geschichte, die von meinem Ungeschick und meiner Unvernunft handelt, aber vor allem deshalb, weil ich an diesem Tag wieder einmal Gelegenheit hatte, unser Gesundheitssystem zu erfahren. Mein Hausarzt schickte mich nach einer Erstversorgung weiter ins Unfallkrankenhaus.

Natürlich war mir diese Institution nicht fremd. Wer Kinder großgezogen hat und in Graz lebt, für den gab es manche Gelegenheit, den einen oder anderen Notfall versorgen zu lassen. Aber nunmehr war ich der Patient.

Im UKH werden pro Tag bis zu 200 Patientinnen und Patienten versorgt, also gut zehn pro Stunde, wohl sehr ungleich über den Tag verteilt. Ich musste mich also in die Schlange der Wartenden eingliedern. Da gab es Schicksale, viel dramatischer als mein kleines Missgeschick. Kinder, Verletzte nach Unfällen, Schlägereien und vieles mehr. Schließlich saß ich einer Ärztin und einer Krankenschwester gegenüber. Obwohl deren Tag schon lang war und obwohl alle zehn Minuten schlimme Dinge und verzweifelte Menschen zu sehen sind, war das Team freundlich, geduldig, ruhig und kompetent. Auch das Röntgen, die Computertomographie und schließlich das Eingipsen wurden mit Routine durchgeführt und mit tröstenden Worten begleitet. Ich verstehe die medizinische Fachsprache nicht, aber sie wurde angemessen übersetzt. Selbst die Ausländerfamilie, die nach mir dran war und deren Kenntnis der deutschen Sprache als eingeschränkt bezeichnet werden kann, wurde mit diesen Informationen gelassener, die Spannung fiel ganz sichtbar von ihnen ab. Dabei stammte die Verletzung des Mannes aus einer gröberen körperlichen Auseinandersetzung.

Es war ein beruhigendes Gefühl, in den Händen des österreichischen medizinischen Systems zu sein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten unter schweren Bedingungen großartige Arbeit. Wohl dauerte der ganze Ablauf über zwei Stunden, aber alle Wartezeiten wurden erklärt und alle Maßnahmen begründet. Und im UKH sind alle Patientinnen und Patienten gleich. Niemand wird vorgezogen, niemand wegen seiner Herkunft oder seiner sozialen Situation schlechter behandelt. Das war für mich in diesen Stunden ein sehr schönes Beispiel, dass dieses Gesundheitssystem einen großen Wert darstellt, der nicht zum Spielball der Politik werden sollte. Hier ist kein politisches Kleingeld zu wechseln, sondern das System ist mit allen Anstrengungen zu sichern.

Ich kenne durch meine Lebensphasen im Ausland auch andere Gesundheitssysteme. In den USA richtet sich die Anzahl der Stiche, mit denen eine Wunde vernäht wird, nach den finanziellen Möglichkeiten der Patienten. Ein Stich kostete damals 10 Dollar. Ob eine entstellende Narbe bleibt, ist also eine Frage der Einkommenssituation. Viele Eltern, die wir bei den Elternabenden im Kindergarten oder in der Volksschule trafen, waren trotz ihrer jungen Jahre schon fast zahnlos, da die einzige kostenlose Zahnbehandlung das Reißen des schmerzhaften Zahnes war. Soziale Differenz schreibt sich so über die Klassenmedizin in die Gesichter der Menschen ein und stigmatisiert die Schwachen ganz nachhaltig.

Kanada war dann etwas besser, das Gesundheitssystem steht in einer europäischen Tradition. Aber insgesamt geht die weltweite Entwicklung in die US-amerikanische Richtung.

Natürlich wird die Medizin immer technisierter und damit teurer. Noch vor zwei Jahrzehnten wäre ich sicher nicht durch einen Computertomographen geschickt worden, um die Frage, ob im Handgelenk ein operativer Eingriff notwendig ist oder ob ein Gipsverband reicht, schlüssig abzuklären. Und die gestiegene Lebenserwartung macht insgesamt den medizinischen Aufwand pro Person im Lebenszyklus sehr viel größer. Viele Krankheiten werden erst jetzt überhaupt diagnostiziert, und der medizinische Fortschritt ist ja selbst eine wesentliche Ursache für die Verlängerung des Lebens.

Dass dadurch die Kosten explodieren, ist außer Frage, Ursache und Wirkung stehen hier in einem direkten Zusammenhang. Und immer größere Anteile der staatlichen Ausgaben fließen in das Gesundheitssystem.

Fast jede Maßnahme, die diese Kosten senken soll, wirkt aber sozial selektiv. Ab welchem Lebensalter oder ab welcher Steuerleistung hat man keinen Anspruch mehr auf eine künstliche Hilfe oder auf eine Spenderniere? Zwingen hohe Selbstbehalte nicht zur Absage von teuren Eingriffen, wenn die ökonomischen Möglichkeiten überstiegen werden? Ab wann kommt man in den Genuss von Leistungen, wenn man Arbeitsmigrant ist?

Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft misst man am Umgang mit den sozial Schwächsten und den Ausgegrenzten. Gerade deshalb hat mich der Nachmittag im Unfallkrankenhaus so positiv berührt. Es ist bei uns noch eine medizinische Versorgung möglich, die nicht nach dem sozialen Status differenziert. Wenn also etwa eine Steuerentlastung, die ich mir wie wohl fast alle Menschen wünsche, dazu führt, die Leistungen der medizinischen Versorgung in der Grundversorgung zurückzufahren, dann sollten die Verantwortlichen noch einmal gründlich nachdenken. Die öffentliche Hand muss funktionsfähig bleiben, nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Altersversorgung, der Bildung oder der Infrastruktur. Ich bin jedenfalls lieber in Österreich krank als in den USA.

Mein kleiner Unfall hat dazu geführt, dass ich zu Hause Urlaub gemacht habe. Die jungen Katzen und viele gute Bücher haben mir einen großen Erholungswert gebracht, stressfrei, wenn auch nicht schmerzfrei. Die gebrochene Rippe lässt kaum ein Lachen oder Husten zu, und eine angenehme Schlafposition zu finden, ist durchaus mühsam. Aber ich habe einen kleinen Einblick in andere Lebenssituationen erhalten und konnte erfahren, dass bei uns die Ärzte, Krankenschwestern und die medizinisch-technischen Angestellten nicht nur fachlich, sondern auch menschlich gut ausgebildet sind. Da weiß man dann, dass Österreich ein gutes Land ist, um hier zu leben.

Sendung vom 24. August 2008

Gestohlene Erinnerungsstücke

Österreich gilt weltweit als ein sicherer Staat. Wir haben eine geringe Kriminalitätsrate und die relativ wenigen Verbrechen werden in einem hohen Maß aufgeklärt. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Welt ist man bei uns im Regelfall nicht wirklich bedroht, durch kriminelle Aktionen Leben, Gesundheit oder Eigentum zu verlieren.

Auch ich musste über 60 Jahre alt werden, bis ich mit der schmerzlichen Erfahrung, Opfer eines kriminalistischen Aktes zu werden, konfrontiert wurde. Während meine Frau auf Kur und ich selbst im Kosovo war, um bei der Neugestaltung des Universitätssystems zu helfen, wurde in unser Haus eingebrochen. Dabei liegt unser kleines Reihenhaus in einer ruhigen Wohngegend, wo alle Nachbarn, wie in einem Dorf, einander gut kennen und auch wechselseitig auf die Häuser achten.

Die Einbrecher kamen über den Gartenzaun und hebelten die Terrassentür aus. Leider gab es reiche Beute. Der gesamte Schmuck meiner Frau ist weg, und da waren Erbstücke dabei und Geschenke, die ich ihr zur Geburt der Kinder, zu runden Geburtstagen oder zur Silberhochzeit gemacht habe. Für die Kinder haben schon meine Großeltern eine Münzensammlung begonnen, die nun verloren ist. Mich schmerzt vor allem aber, dass mir die Rektorskette, die Erinnerung an eine der prägenden Epochen meines Lebens, gestohlen wurde, und dazu noch der Ehrenring, den mir Bundespräsident Jonas 1973 anlässlich meiner Promotion unter den Auspicien des Präsidenten überreicht hatte und der den Start meiner wissenschaftlichen Laufbahn symbolisiert.

Die materielle Seite ist wohl von geringerem Interesse als die emotionale. So viele Erinnerungen hängen an den Stücken, die für Ereignisse oder Abschnitte des Lebens stehen. Mit der Entwendung hat man das Gefühl, ein Stück der eigenen Geschichte verloren zu haben. Jemand ist in unser Leben eingedrungen, in unsere Intimsphäre und in unsere Erinnerungen. Das schmerzt viel mehr als die Tatsache, dass der materielle Schaden nur zum Teil durch die Versicherung gedeckt ist. Für die Täter sind die meisten Stücke einfach Wertgegenstände, sie bedeuten nicht mehr. Allein die Vorstellung, dass irgendwer nun die Rektorskette trägt, der die Symbolik nicht kennen kann und will, das lässt mich in der Nacht schweißgebadet hochfahren. So ist das Gefühl der Sicherheit, das mich mein ganzes Leben begleitet hat, derzeit nicht vorhanden.

Aber die Geschichte hat auch ihre positiven Seiten. Da gab es mitten in der Nacht freundliche und kompetente Polizisten des Wachzimmers Andritz, die die materielle und emotionale Seite der Situation gut erfassten. Sie fanden die richtigen Worte und setzten die richtigen Schritte, gaben Unterstützung und vermittelten den Eindruck, die Sache auch zu ihrem Problem zu machen.

Und da gibt es die Nachbarn, die zur Stelle waren, mich am Abend ablenken und nicht allein im Haus sitzen lassen. Sie sind Ansprechpartner und gute Freunde, die wirklich aufmuntern können. Und dann ist da die Universität, die seit einem Jahrhundertviertel mein Bezugspunkt ist, und die ja auch geschädigt ist, ist der Stern an der Kette schließlich ihr Eigentum. Da gab es Zuspruch und sogar den Willen, auf Kosten des Hauses die Replik anfertigen zu lassen. So fühle ich mich eigentlich gut eingebettet, und die täglichen Telefonate mit meiner Frau tragen zur Stabilisierung der Situation bei.

All das zeigt, dass wir noch immer in einem sicheren Land leben. Verbrechen sind nicht Alltag, sondern Sondersituationen. So reagieren die Menschen auch – sie sind nicht abgestumpft durch die Alltäglichkeit von Kriminalität, wie dies in anderen Gegenden der Welt der Fall ist. Wenn man in Los Angeles oder irgendwo in einer Großstadt Europas überfallen wird, ist man weit einsamer als hier bei uns im friedlichen und sicheren Österreich.

Natürlich denke ich darüber nach, wie ich mich und meine Familie in Zukunft besser schützen kann. Eine stabilere Tür, vielleicht ein Bewegungsmelder, eventuell eine Kamera. Und ganz sicher eine Anpassung der Versicherungssumme. Aber ich möchte mir das Gefühl nicht nehmen lassen, dass man in der Regel von freundlichen und wohlmeinenden Menschen umgeben ist. Diese Menschen gehen wie ich davon aus, dass der Mensch nicht des Menschen Wolf ist, sondern dass ein gut organisiertes, friedliches und gewaltfreies Zusammenleben von Nutzen für alle ist. Wir haben im Prozess der Zivilisation die physische Gewalt an den Staat delegiert und lösen Probleme nicht mehr selbst durch den Einsatz von Fäusten oder Pistolen. In den Ritualen unseres Miteinander hat Gewalt keinen Platz, und das ist gut so. Der Staat kann Gewalt einsetzen, aber nur entlang genauer Regeln. Auch ein Polizist greift nicht einfach zur Waffe, sondern nur in definierten Situationen. Wir haben also gelernt, friedlich und innerhalb von Regeln miteinander umzugehen. Verbrecher brechen diese Regeln und bedrohen somit das Konzept des Miteinander. Aber wir dürfen nicht überreagieren, sondern wir sollten auf die von uns mitgetragenen und durch unsere Steuern finanzierten Sicherungssysteme vertrauen. Und mein Vertrauen in die Polizei, mit der ich bisher ja wenig zu tun hatte, wurde durch die geschilderten Ereignisse jedenfalls verstärkt. Dafür habe ich zu danken.

Sendung vom 1. März 2009

Muttertag

Seit einem knappen Jahrhundert wird in großen Teilen der Welt am zweiten Sonntag im Mai der Muttertag gefeiert. Und heute ist es wieder einmal so weit. Kinder haben Gedichte gelernt, Geschenke gebastelt. Sie richten Frühstück oder sie führen, wenn sie schon größer sind, die Mütter heute in die sicherlich übervollen Gasthäuser der Umgebung.

In dem Jahrhundert, das die Zeitspanne der Muttertagsfeiern beschreibt, hat das Mutterbild entscheidende Wandlungen erfahren. War meine Mutter noch voll und ganz Hausfrau und Mutter, um sich den vier Kindern und deren Erziehung zu widmen, was neben der Führung eines Haushaltes, der anfangs weder Waschmaschine noch Kühlschrank kannte, genügend Last war, ist heute oft Mutterschaft anders definiert. Familienstrukturen sind nicht mehr zwangsläufig auf Dauer fixiert, jede zweite Ehe scheitert. Und meist ist es die Mutter, der dann als Alleinerzieherin die Verantwortung für die Kinder zufällt. Da müssen dann Beruf und Kindererziehung vereinbar sein, was ohne familiäres oder gesellschaftliches Netz oft wohl nur sehr schwer möglich ist. Väter sind schließlich großteils nicht da, wenn sie gebraucht werden.

Heute haben die Frauen viel selbstbestimmter als in früheren Jahrzehnten die Möglichkeit, sich für oder gegen die Mutterrolle zu entscheiden. Und selbst die Wahl der Lebensform – Ehe, Partnerschaft oder Singledasein – ist heute meist nicht mehr vom Schicksal oder Zufall aufgezwungen, sondern kann auch selbst eingeschlagener Weg, also die eigene Entscheidung, sein. Aber das ändert nichts daran, dass die Mutterrolle noch immer nicht nur die Gegenwart, sondern besonders auch die Zukunft prägt. Hier wird die nächste Generation geformt, hier werden kulturelle Muster eingeübt, Normen und Werte weitergegeben.

Das formt das ganze Leben. In mir ist meine vor 24 Jahren verstorbene Mutter voll gegenwärtig. Sie war der Mittelpunkt für uns. Früh verwitwet, war sie für meine Geschwister und mich und für die Enkelkinder da. Sie hat uns zusammengehalten, ihre kleine Wohnung im Gemeindebau war unser Fluchtpunkt. Und sie hat die so unterschiedlichen Entwicklungen ihrer Kinder, die verschiedenen Temperamente, die unterschiedlichen Überzeugungen und Lebenswürfe in Harmonie verknüpft. Vielleicht verklärt die Erinnerung, aber meine Mutter hat instinktiv immer gewusst, was richtig ist. Oft will ich sie heute noch etwas fragen oder sie teilhaben lassen an den Erfolgen oder den freudigen Ereignissen. Mein Bruder und ich waren die ,,Buben“, wie sie uns im Gespräch mit anderen auch dann noch bezeichnet hat, als wir längst mitten im Berufsleben standen.

Natürlich, heute haben Mütter auch andere Aufgaben, als nur Mütter zu sein. Sie müssen den Lebensunterhalt verdienen, müssen sich in einer Welt behaupten, die nicht immer Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse einer Frau, deren Lebensrhythmus auch von Bedürfnissen eines oder mehrerer Kinder geprägt ist. Der Weg zum Kindergarten oder zur Schule, zum Zahnarzt, zum Sport, zum Musikunterricht, all das muss organisiert werden. Und hat ein Kind noch spezielle Bedürfnisse durch eine Behinderung, eine Krankheit, eine Allergie, oder hat es Schwierigkeiten in der Pubertät, dann wird der Spagat zwischen der Mutterschaft und den Anforderungen von außen manchmal dramatisch.

Natürlich gibt es zumindest drei ansprechbare Hilfen: erstens den Vater des Kindes, der sich aber nur allzu oft aus der Verantwortung verabschiedet; dann die vorherige Generation, also Eltern, die bei der Betreuung helfen. Und dann gibt es die öffentliche Hand, die langsam lernt, dass nur ausreichende Betreuungseinrichtungen und materielle Sicherungen Beruf und Familie vereinbar machen. Und das ist ja ein großes politisches Ziel.

Mutterrollen haben sich vielfach im Lauf der Zeit gewandelt. Aber ein Kern ist geblieben: Stärker als die Väter sind die Mütter noch immer die wichtigsten Bezugspersonen für die meisten Menschen. Mütter trösten und trocknen die Tränen der Kleinsten, Mütter verteidigen ihre Kinder in den Konflikten von Schule und Alltag, Mütter sind für die Begleitung ins Erwachsenenleben mit all den Ecken und Kanten zuständig, Mütter sind als Großmütter die Stützen in der Bewältigung von Alltag und von Sondersituationen.

Dabei ist es zweitrangig, ob die Mutter in einer traditionellen Ehe lebt, ob sie eine ledige oder eine geschiedene Mutter ist. Sie kann wiederverheiratet sein oder in einer neuen Partnerschaft leben. Von der Patchwork-Familie bis zur gleichgeschlechtlichen Beziehung: eine Mutter ist immer auch und vor allem Mutter, der Schutz für ihre Kinder und die Ursache für Geborgenheit. Das gilt am Land und ebenso in der Stadt, in traditionellen Verhältnissen oder in postmodernen. Und obwohl ich selbst etwa eine partnerschaftliche Beziehung lebe und wir uns die Haushaltspflichten teilen, ist das Verhältnis unserer Kinder zu meiner Frau doch noch durch Elemente gekennzeichnet, die sich mir als Vater verschließen.

Heute aber sollten wohl alle den Tag nutzen, um ihren Müttern zu danken. Meine Generation kann das meist nur mehr im stillen Gedenken tun. Die etwas Jüngeren werden wohl ihre Mütter besuchen, ausführen, mit ihnen feiern. Und die ganz Kleinen sind wohl schon sehr aufgeregt, was denn Mama zum Gedicht, zum Blumenstrauß, zum Billett oder zum Frühstück sagen wird. Aber wir alle sollten nicht nur am heutigen Tag dankbar für das sein, was unsere Mütter für uns getan haben und tun. Ein wenig von dieser Dankbarkeit sollte auch das Jahr über spürbar sein.

Sendung vom 9. Mai 2010

Grundnahrungsmittel Brot

Obwohl unsere Gesellschaft viele arme Menschen kennt, und obwohl das Ausmaß der Armutsgefährdung erschreckend hoch ist, leben wir in einem der reichsten Länder der Welt. Österreich ist im Durchschnitt also Teil der Wohlstandsgesellschaft, wenn das auch nur ein ganz schwacher Trost für jene ist, die sich am unteren Ende der Skala befinden und die ohne fremde Hilfe ganz ernsthafte Probleme haben würden.

Wohlstandsgesellschaften sind Wegwerfgesellschaften. So war vorige Woche in der Kleinen Zeitung zu lesen, dass uns das Ende der Brot-Zeit ins Haus steht. Brot landet zu 20 Prozent im Müll, also einer von fünf Brotlaiben wird nicht gegessen, sondern entsorgt. Mich hat der Artikel ziemlich nachdenklich gemacht. Meine Generation ist überwiegend mit der von den Eltern vermittelten Überzeugung groß geworden, dass man keine Lebensmittel und vor allem kein Brot wegwirft. Wir verarbeiten heute noch altes Weißbrot zu Knödelbrot oder Brösel und heben altes Schwarzbrot für die Pferde einer Freundin auf. Im Müll landet Brot nur dann, wenn es schimmlig geworden ist, was aber selten vorkommt.

Stärker als die meisten anderen Nahrungsmittel ist Brot symbolisch aufgeladenes Kulturgut. Es spielt seine Rolle im religiösen Ritus, und die wundersame Brotvermehrung ist eine der schönen biblisch überlieferten Legenden. Brot hat zudem starke regionale Zuschreibungen. Wer in Amerika gelebt hat, der weiß, dass man nichts vom alten Kontinent so vermisst wie gutes Brot. Und schon in Wien ist es nicht einfach, ein Brot zu finden, das den Vorstellungen des Auges, der Nase, des Gaumens und manchmal auch des Ohres, wenn es so schön knacken soll, entspricht. Und in der Erinnerung an die Kindheit und Jugend spielt Brot eine größere Rolle als alle Fleischspeisen oder Geburtstagstorten.

Wenn im oberen Lavanttal die Tante auf ihrem kleinen Bauernhof die Laibe aus dem Holzofen holte, war die ganze Umgebung von einem Duft erfüllt, der unbeschreiblich gut war. Noch lange Jahre fuhren wir dort hin, um einen Laib mitnehmen zu können in die großen Städte. Damit war ein Stück von zu Hause bei uns, wurde guten Freunden angeboten, um sie teilhaben zu lassen an der kulinarischen Erinnerung. Mich treibt es zumindest jeden zweiten Samstag auf den Markt am Kaiser-Josef-Platz, wo es Brot zu kaufen gibt, das dieser Erinnerung an alte Zeiten zumindest nahe kommt. Und das wird aufgegessen, es hält auch locker zehn Tage, ohne an Qualität zu verlieren. Und es steht so für mich symbolisch für die ganze Angebotspalette an naturnahen Produkten, die der Markt bietet. Wir essen nur Eier, die wir dort kaufen, das Gemüse der Saison, die prächtigen Hühner und die Beeren, die Früchte und die Pilze. All das wird regional produziert, geerntet und in der Region verkauft. Die Fische kommen aus der Weizbachklamm, die Äpfel aus Eggersdorf, das Brot aus Hitzendorf und das Gemüse aus Hausmannstätten.

Und da schreckt die Nachricht auf, dass wegen der großen Brände in Russland auch bei uns das Brot teurer werden soll. Das wird wieder die Armen besonders treffen. Sicher, es gibt den Weltmarkt, und die Getreidebörsen waren schon historisch Orte der sozialen Konflikte, an denen sich, wie früher vor den Getreidespeichern der Wucherer, die Wut der Hungernden entladen konnte. Und es ist auch verständlich, dass bei allen regionalen Bemühungen manche Rohstoffe nur am Weltmarkt zu erhalten sind. Die Versuche, diesen durch soziale Projekte und spannende Initiativen zu unterlaufen, sehen sich mit ganz anderen Problemen konfrontiert. So droht gerade ein Vorzeigeprojekt, nämlich Kakaobohnen fair zu produzieren und in Lateinamerika Kleinbauern zu helfen, von der Kokainmafia loszukommen und ein gesundes Produkt wie Kakao selbstbestimmt zu erzeugen, an der Gewalt vor Ort zu scheitern. Da ist viel Geld im Spiel und natürlich auch einfach sehr viel Spekulation. Der Weltmarkt ist ja nicht nur ein realer Ort des Austausches von Waren oder Dienstleistungen gegen Geld, er ist Ort von fiktiven Geschäften, künstlich erzeugten Verknappungen, von Umtrieben im Graubereich von Seriosität und Moral. Der Wächter mit dem Schwert vor den Getreidelagern im alten China, der Schieber der Dreißigerjahre, der den Schwarzmarkt bediente, haben längst den anonymen Anzugträgern Platz gemacht, die mit Produkten handeln, die sie nie gesehen haben.

Die Globalisierung ist Realität und das ist auch der Weltmarkt. Aber wir sind nicht gezwungen, uns all den Regeln, die er vorgibt, zu unterwerfen. In vielen Punkten unseres Konsumverhaltens sollten wir einfach regionaler agieren. Man muss nicht das ganze Jahr Paradeiser essen. Aber jetzt wachsen sie in meinen eigenen Töpfen und die Bauern am Markt haben Steigen voller prächtiger Früchte. Man kann die heimischen Erdäpfel im Frühjahr abwarten und der Salat ist bei uns ohnehin besser als überall sonst und nicht vergleichbar mit den in Plastik eingeschlossenen Importwaren. Regionale Lebensmittel zu kaufen ist meist gesünder, ökologisch sinnvoller und nicht teurer, als hier auf das globale Angebot zu setzen. Die Glitzerwelt eines amerikanischen Supermarktes mit Lebensmittelabteilungen, die oft die Gesamtgrößen unserer größten Einkaufsmärkte übertreffen, gaukeln 24 Stunden lang an 365 Tagen im Jahr die Verfügbarkeit aller Produkte vor. Die Ökobilanz ist dann vernichtend, und der Geschmack ist großteils beim Transport entwichen.

Regional zu handeln ist kein Gegensatz zum globalen Denken. Man kann die Weltzusammenhänge sehen, man kann die Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten nutzen und trotzdem nicht nur aus sentimentaler Erinnerung an die eigene Jugend, sondern aus durchdachter Entscheidung regional agieren. Ich freue mich jedenfalls über die wenigen Produkte im eigenen Garten und über die erfreuliche Vielfalt, die es derzeit auf dem Markt gibt. Und ich genieße es, den Jahreszeiten entsprechend die Bandbreite unseres Landes auch auf meinem Teller zu finden.

Sendung vom 29. August 2010

Miteinander leben

Als ich mit meiner Familie vor fast 28 Jahren nach Graz übersiedelt bin, um hier an der Universität zu arbeiten, hatten meine Frau und ich recht klare Vorstellungen von einer optimalen Wohnumgebung. Grün sollte vorhanden sein, die Stadt aber gut erreichbar. Luftqualität, Verkehrsberuhigung und Schulen waren wichtige Entscheidungskriterien.

So landeten wir im Jänner 1985 in einer kleinen Reihenhaussiedlung am nördlichen Stadtrand, ohne jeden Durchzugsverkehr und mit einem riesigen Spielplatz direkt neben den Häusern. Die 28 Häuser waren rasch alle bezogen, fast durchgängig von Jungfamilien wie uns. Und weil die Wohnqualität hoch und das Nachbarschaftsklima gut war, zog auch fast niemand weg, sodass bis heute zumindest drei Viertel zu den Erstbewohnern zu zählen sind.