Das Private ist politisch - Helmut Konrad - E-Book

Das Private ist politisch E-Book

Helmut Konrad

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Beschreibung

Selten haben zwei Menschen eine Bewegung, ein Land, eine Zeit so sehr geprägt wie die Journalistin Marianne und der Journalist Oscar Pollak. Selten finden sich auch Lebensläufe, in denen das Private so sehr vom Politischen – von politischen Überzeugungen und deren Vermittlung – durchsetzt war. Die beiden prägten den österreichischen Journalismus der Zwischen- und Nachkriegszeit, Marianne Pollak als eine der ersten sozialistischen Nationalratsabgeordneten, die sich nicht nur für die Frauenrechte, sondern auch für das Recht auf Abtreibung engagieren, und als Chefredakteurin der Frau, Oscar Pollak als langjähriger Chefredakteur des Zentralorgans der SPÖ, der Arbeiter-Zeitung. Helmut Konrads Doppelbiografie zeichnet nicht nur das Leben und Wirken der beiden nach, sondern wirft auch einen Blick auf den Umgang der Sozialistischen Partei mit Emigrantinnen und Emigranten. Eine umfassende politische Doppelbiografie zweier wegweisender österreichischer Persönlichkeiten und damit ein Kapitel der Geschichte der frühen Jahre der Zweiten Republik.

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Gefördert von Land Kärnten, Land Steiermark, Stadt Wien Kultur, Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und Zukunftsfonds der Republik Österreich.

Copyright © 2021 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Schweizerisches Sozialarchiv

ISBN 978-3-7117-2108-2

eISBN 978-3-7117-5457-8

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Helmut Konrad, 1948 geboren, war 1993 bis 1997 Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des dortigen Instituts für Geschichte. Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur politischen Geschichte der Ersten Republik und zur Alltagsgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen. Im Picus Verlag erschien 2019 in der Reihe Wiener Vorlesungen als Band 193 gemeinsam mit Gabriella Hauch »Hundert Jahre Rotes Wien«.

Helmut Konrad

DAS PRIVATE IST POLITISCH

Marianne und Oscar Pollak

PICUS VERLAG WIEN

INHALT

Vorwort

Das Ende zweier Leben und einer Epoche

Die gemeinsamen Anfänge

Der Erste Weltkrieg und die Eheschließung

In der jungen Republik

Der Februar 1934 und die Revolutionären Sozialisten

Die Flucht und der Fluchtpunkt

Die Rückkehr nach Wien

Der private Neustart

Eine Partei ringt um ihre Positionierung

Oscar Pollak und die Arbeiter-Zeitung

»Die Zeitung, die sich was traut«

Die Funktion der Leitartikel

Die Frau

Die Zukunft

Marianne Pollak als Parlamentarierin

Viel Feind, viel Ehr

»… Dem Blute nach ein Volksfremder …«

Stützende Netzwerke

Reisen, Ehrungen, Mitgliedschaften

Ein mediales Alternativprojekt im rechtlichen Graubereich

Der unfreiwillige Abgang

Abschied und Nachruhm

Eine etwas andere Periodisierung der österreichischen Zeitgeschichte

Bildteil

Dank

Literatur

Personenverzeichnis

Dann wird in Österreich ein weiterer Schritt getan sein zur Entchristlichung des katholischen Konservativismus und zur Entseelung des Sozialismus.

OSCAR POLLAK (1961)

VORWORT

Der Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung hat seinen Sitz in der Rechten Wienzeile 97, dem alten und denkmalgeschützten Haus des Vorwärts-Verlags, lange Zeit Sitz des Parteivorstands der österreichischen Sozialdemokratie. Hier saßen auch Redaktion, Verwaltung und Druckerei der Zeitungen beziehungsweise Zeitschriften Arbeiter-Zeitung, Der Kampf, Die Zukunft oder Die Frau. Alle erschienenen Exemplare dieser Druckwerke sind im Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, also an ihrem Entstehungsort, aufbewahrt und können uneingeschränkt im Original eingesehen werden.

Im Archiv des Vereins befindet sich auch der Nachlass von Marianne und Oscar Pollak, von Brigitte Lehmann sorgsam geordnet und in sieben Kartons mit insgesamt 25 Mappen abgelegt und durch ein Register im Umfang von 74 Seiten für die Forschung gut erschließbar.1 Diese über zweitausend Einzeldokumente werden ergänzt durch eine Reihe von Fotoalben. Marianne und Oscar Pollak haben an all den genannten Zeitungen und Zeitschriften mitgearbeitet und sie über Jahrzehnte von der Chefredaktion aus geleitet und inhaltlich geprägt.

Marianne und Oscar Pollak haben in diesem Haus wohl mehr Lebenszeit verbracht als an jedem anderen Ort der Welt, die privaten Wohnsitze eingeschlossen. Im alten Zimmer des Parteivorstands, das weitgehend original erhalten ist, kann man erahnen, dass hier österreichische Geschichte geschrieben wurde, und dass es stets um mehr gegangen ist als um die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften. Das spiegelt sich auch im Leben des Ehepaars Pollak.

Ergänzt man diese Bestände durch Materialien, die sich im Österreichischen Staatsarchiv befinden,2 und durch die wissenschaftliche Literatur, die zur österreichischen Zeitgeschichte, zum Pressewesen, zu Widerstand und Verfolgung, zur Emigration, zum Antisemitismus oder auch zur politischen Kultur verfasst wurde, entsteht aus einer Doppelbiografie doch mehr als nur die Geschichte zweier Leben. In den beiden beeindruckend parallel verlaufenden Biografien spiegelt sich der Zeitraum von der Wende vom 19. bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, und zwar nicht nur aus österreichischer Perspektive. Unmittelbar entsteht daraus aber auch eine Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, aus einem Blickwinkel, wie er sich ergibt, wenn in einer Partnerschaft, die ein halbes Jahrhundert lang krisenfest bestehen konnte, immer ein Dritter mit am Tisch sitzt, nämlich die politische Bewegung, die das gemeinsame Leben privat und beruflich prägte.

Die Dokumente, die in beeindruckender Weise die beiden Leben zeigen, mit Verbindungen und Freundschaften auch zu Personen, die ihren Platz in der Weltgeschichte haben, enthalten jedoch kaum Erkenntnisse über die Beziehung, die Marianne und Oscar Pollak als jahrzehntelange Ehepartner zueinander hatten. Von außen wurden sie als symbiotisch wahrgenommen, und, soweit man das aus Bemerkungen in Briefen an und von Freundinnen und Freunden erahnen kann, waren sie das auch in ihrem Binnenverhältnis. Dadurch, dass man praktisch Tag für Tag Seite an Seite lebte und arbeitete, entstand keine Korrespondenz zwischen den Ehepartnern. Die Ehe blieb kinderlos, aber sie verlief in einem Ausmaß harmonisch, das nur möglich war, weil man einem Ideal gemeinsam verpflichtet war. Das Private war bei den Pollaks immer auch politisch. Die Verbindung der beiden zueinander war so stark, dass Marianne nach dem Tod ihres Ehemanns freiwillig aus dem Leben schied. Mit diesem dramatischen Ende beginnt auch dieser Text, der in der Folge versucht, die beiden Leben im Wesentlichen chronologisch zu begleiten.

1Daneben gibt es einen weiteren Karton mit den persönlichsten Dokumenten und den umfangreichen Fotobeständen, im Folgenden als »Sondermappe« zitiert.

2Die Dokumente zu Oscar Pollaks Militärdienst im Ersten Weltkrieg.

DAS ENDE ZWEIER LEBEN UND EINER EPOCHE

Am 28. August 1963 starb der am 7. Oktober 1893 geborene Dr. Oscar Pollak, langjähriger Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, im oberösterreichischen Hinterstoder völlig überraschend an einem Herzversagen.3 Zwei Tage später nahm sich Marianne Pollak, geboren am 29. Juli 1891, österreichische Nationalratsabgeordnete und Chefredakteurin der Zeitschrift Die Frau, nach der Rückreise nach Wien das Leben. Der gemeinsame Hund Bessy musste sie in den Tod begleiten. Sie war an der Seite ihres Mannes in Hinterstoder gewesen, und in den Stunden nach seinem Tod regelte sie gefasst und kontrolliert, was ökonomisch und praktisch in dieser Situation zu regeln war. Mit klarer Handschrift schrieb sie bis spät in die Nacht hinein, traf Verfügungen und kündigte für ihren Freundeskreis auch ihren geplanten Selbstmord unmissverständlich an. Diese Schreiben zeigen eine entschlussfeste, klar denkende und planende Frau, die, selbst in dieser Extremsituation und unter emotionalen Ausnahmebedingungen, möglichst alles noch zu organisieren versuchte, was es an offenen Verpflichtungen zu erledigen gab. Und sie bieten einen tiefen Einblick in die Grundstruktur der Beziehung, die ein halbes Jahrhundert für beide Partner der sichere Anker gewesen war.

Diese Abschiedsbriefe Marianne Pollaks sind von unterschiedlicher Ausführlichkeit und jeweils für einen anderen Adressatenkreis bestimmt. An einen breiten Kreis richtete sie die Worte:

Hinterstoder, 28. August 1963

Oscar ist um ½ 6 h einem Herzinfarkt erlegen. Er hat nicht

gelitten. Es war ein Tod, wie er ihn verdient hat.

Ich habe seit meiner frühesten Jugend gewußt, daß ich ohne

ihn nicht leben will und daher nicht leben kann.

Ich beklage mich nicht. Ich hatt’ einen Kameraden.

Meine Freunde bitte ich, mich zu verstehen.

Marianne Pollak4

Grete Helfgott, Mitarbeiterin von Oscar Pollak bei der Arbeiter-Zeitung und langjährige enge Vertraute auch von Marianne, die mit in Hinterstoder gewesen war, wurde von ihr mit einem viel ausführlicheren persönlichen Schreiben bedacht, wobei das verschlossene Kuvert den Vermerk trug: »Nur von Dir zu öffnen«. Grete durfte den Brief erst nach der Rückkehr in Wien lesen:

Hinterstoder, 28. VIII.63. ½ 2 h nachts

Liebe Grete,

Dich muß ich mehr als alle anderen um Verständnis dafür bitten, daß ich den vor einem Menschenalter gefaßten Beschluß nun ausführe. Ich danke Dir für Deine Freundschaft und Treue. Oscar wußte, daß er sich ganz und gar auf Dich verlassen kann.

Und nun wirst Du Dich wohl um das kümmern müssen, was man Verlassenschaft nennt. In Banksachen wende Dich und auch in Rechtssachen an Rosenzweig. Wir haben zu Hause 81.000 Schilling, daneben zwei Konten. Genaueres findest Du in der gelben Mappe.

Nimm Dir von meinem Schmuck, was Dir gefällt. Die Goldbrosche habe ich von Oscar zu meinem letzten Geburtstag bekommen. Ich möchte nicht, dass sie jemand anders trägt – Und hättest Du nicht gern unseren Fernsehapparat?

Von dem Bargeld zahl bitte vorerst die Rechnungen. Da kommt in erster Linie die Leichenbestattung und das Krematorium. Dann die Bespannung für Oscars Zimmer und die Kosten für den Belag. Das machen zu lassen hat keinen Sinn mehr. Vielleicht hat jemand Verwendung dafür. Auch die Versicherung dürfte fällig sein, wir haben sie in allerjüngster Zeit erhöhen lassen. Aber da warte ab, bis die Rechnung kommt. Beim Pelzhaus Jovanovic habe ich alle meine Wintersachen. Beim Persianermantel ist auch Kragenreparatur.

Ich werde Frau Hanni, die einfach rührend ist, bitten, den Zins für September zu bezahlen, damit die ganze Angelegenheit in Ruhe geregelt werden kann. Frau Hanni gebe ich drei volle Monatsbezüge, bitte auch das von dem Dir übergebenen Geld. Was von dem Geld übrig bleibt kommt zu den Summen, die auf den beiden Konten liegen und sind, wie an anderem Ort ausgeführt, zweckbestimmt.

Die Zuwendungen für Frau Elsa Foges (New York), 57 Dollar im Monat, und für Else Stiasny (Genf) – 1000 Schilling, laufen unverändert weiter.

Lass Dir noch einmal die Hand drücken für alles. Und versuch, mich zu verstehen

Marianne

Was Dir von den Büchern gefällt, nimm Dir. Das übrige an eine sozialistische Bücherei.5

Vor diesem persönlichen Brief an die Freundin fand Marianne Pollak noch die Zeit, in einem weiteren Schreiben allgemeine Verfügungen zu treffen, was nach ihrem Tod zu geschehen hatte:

Hinterstoder, 28.VIII.63

Ich möchte neben Oscar bestattet werden. Wir wollen verbrannt werden. Das wenige, das er über den Tod sprach, galt einem würdigen Platz für unsere letzte gemeinsame Stätte.

Was von den Ausgaben noch übrig bleibt, möge so verwendet werden, dass sozialistisch gesinnte Mädchen oder Frauen für ihre Berufsausbildung oder ihr Studium daraus Nutzen ziehen. Die Zuwendungen an Frau Elsa Foges, New York und Frau Else Stiasny, Genf, gelten für Lebensdauer, laufen also weiter. Über Kleider, Bücher etc. bitte ich Dr. Grete Helfgott zu verfügen. Sie wird dabei auch an jene Menschen denken, die uns beiden nahegestanden sind.

Marianne Pollak

Oscar hat bei Schaller eine ganze Reihe Postformatvergrößerungen bestellt, bitte bezahlen.

Wegen Konzertkarten wende Dich bitte an das Bezirkssekretariat Rudolfsheim.

Ich erinnere mich gerade, daß ich für Frau Elsa Foges und Frau Else Stiasny Die Frau abonniert habe und auch die Arbeiter-Zeitung. Sie beide würden das Aufhören schmerzlich vermissen.6

Und auch das Begräbnis wurde noch rasch geplant:

Hinterstoder, 28. VIII.63, nachts

Oscar wollte immer nur EINEN Redner. Ein Kollege von der Arbeiterzeitung (Scheu?, Magaziner?)

Obgleich unmusikalisch, hatte ihn seinerzeit die musikalische Umrahmung bei der Kremation von Bendel Kautsky tief beeindruckt. Wenn es sich nicht eruieren lässt, dann bitte den süßen Teil von Mozarts Kleiner Nachtmusik.

Gebt uns auch jetzt zueinander, wir wollten das immer so.

Marianne Pollak7

Diese in der Nacht nach dem Tod ihres Mannes verfassten Briefe und Anweisungen geben uns gute Hinweise auf das Selbstverständnis und den Lebensentwurf des Ehepaars. Kein Wort deutet auf irgendeine religiöse Bindung hin, beide waren fünfundvierzig Jahre zuvor aus der Kultusgemeinde ausgetreten. Daher wurde auch das Begräbnis ohne irgendeine religiöse Zeremonie geplant. Ihre Orientierung und ihren Lebenssinn fanden sie in der politischen Arbeit in und für die österreichische Sozialdemokratie, der beide gleichermaßen verpflichtet waren. Obwohl Marianne zwei Jahre älter war und obwohl ihr politisches Wirken dem ihres Mannes nicht nachstand, empfand sie doch eine Hierarchie, die manchmal sogar offen ausgesprochen wurde. Er war Akademiker, sie »nur« Sprachlehrerin. Er war der Nachfolger von Friedrich Austerlitz in der Chefredaktion der Arbeiter-Zeitung, seine Schreibmaschine ist bis heute Ausstellungsobjekt, und auf seinem Sessel wagten es die Nachfolger lange nicht, ungezwungen Platz zu nehmen. Er konnte autoritär sein, während sie stets freundlich und verbindlich blieb. Sie war die langjährige Chefredakteurin der Zeitschrift Die Frau, führte das Haus, hielt die nationalen und internationalen Kontakte auch zu seinen Freunden, die über die ganze Welt verstreut waren. Sie führte die meiste Korrespondenz und organisierte das gemeinsame Leben. Sie entschuldigte ihn oft, weil er so beschäftigt war, und nahm ihm Verpflichtungen ab.

Diese innerfamiliäre Hierarchie kam sogar in den Testamenten, die ein gutes Jahrzehnt vor dem August 1963 verfasst worden waren, zum Ausdruck. Oscar Pollaks in Wien verfasstes Testament trägt das Datum 10. September 1950, eigenhändig geschrieben und unterschrieben:

Im Falle meines Todes gehört alles, was ich besitze, meiner Frau, der allein ich verdanke, dass ich ein glücklicher Mensch gewesen bin.

Falls meine Frau mich nicht überlebt, vermache ich meine Bücher der Sozialistischen Partei Österreichs, der ich alles andere verdanke, das mein Leben reich gemacht hat. Sie sollen für eine sozialistische Bücherei verwendet werden.

Alles übrige Vermögen vermache ich unserer Haushälterin Rosa Schuhmaier, der ich für ihre Treue danke. Sie soll unseren Hund Billy bis an sein Ende erhalten. Unsere persönlichen Freunde sollen Andenken erhalten, wenn sie es wünschen.

Oscar Pollak

Falls es möglich ist, soll mein Körper verbrannt werden und die Asche im Wiener Krematorium bestattet werden. Bei der Bestattung soll als einziger ein Vertreter der Arbeiter-Zeitung sprechen. O. P.8

Marianne Pollak rang sich erst zwei Jahre später und sichtlich schwerer zu dem Entschluss durch, ihren letzten Willen schriftlich zu formulieren:

28. Juni 1952

Mein letzter Wille

Ich danke meine ganze Entwicklung Oscar. Ein Leben ohne ihn ist undenkbar. Ohne ihn erlischt meine Arbeitsfähigkeit. Der Partei schulde ich das Glück, daß Arbeit zum Inhalt unseres Lebens wurde. Dieses Glück wird ganz wenigen zuteil.

Unsere Haushälterin Rosa Schuhmaier hat unseren Alltag sorglos gemacht. Wir haben sie lieb gewonnen als persönlichen Freund. In allen Bestimmungen der Verfügung über das, was wir haben, gilt Oscars Testament.

Eigenhändig geschrieben und unterschrieben.

Ergänzung 24.IV.1957:

Auch ich wünsche, verbrannt zu werden. Ich bitte um einen stillen Abschied. Es möge ein persönlicher Freund sprechen.9

Es scheint offensichtlich, dass Marianne der Entschluss, verbrannt werden zu wollen, schwer fiel und sie daher ein paar Jahre brauchte, ehe sie bereit war, diese Ergänzung ihrem Testament hinzuzufügen. Und während er sich testamentarisch bei ihr bedankte, ihm ein glückliches Leben bereitet zu haben, ging ihre Sicht auf die Beziehung deutlich weiter. Sie interpretierte ihr Leben und ihre Entwicklung ausschließlich über ihren Mann. Schon mehr als ein Jahrzehnt vor den dramatischen Ereignissen in Hinterstoder sprach sie von der Undenkbarkeit eines Lebens ohne ihren Mann und vom Erlöschen ihrer Fähigkeiten, sollte er nicht mehr da sein. Das ist umso bemerkenswerter, als Marianne Pollak in all ihren Schriften und Reden stets die Gleichberechtigung der Geschlechter als eines ihrer zentralen politischen Arbeitsfelder ansah.

Alles, was in diesen früh verfassten Testamenten angesprochen wurde, kam in den späten Augusttagen 1963 zum Tragen. An diesem 28. August 1963 hatte Oscar Pollak einen Herzanfall. Marianne und Grete Helfgott riefen die befreundete Ärztin Anneliese Hitzenberger, die in Laakirchen Urlaub machte, telefonisch zu Hilfe. Als diese kurze Zeit später in Begleitung ihres Sohnes in Hinterstoder eintraf, war es schon zu spät. Oscar war tot zusammengebrochen.

Grete Helfgott erinnerte sich zehn Jahre später an diese letzten gemeinsamen Stunden und schrieb darüber in jener Gedenknummer der inzwischen auf AZ umbenannten Arbeiter-Zeitung:

Oscar und Marianne Pollak waren gern in Hinterstoder. Wir verbrachten dort miteinander bereits den zweiten Urlaub. … Wenn Marianne, manchmal nicht ohne Bitterkeit, auf die Gegenwart zu sprechen kam, dann schwieg er. Der Abschied von der Arbeiter-Zeitung war ihm schwergefallen, die Diskussionen über eine eventuelle Änderung des Namens auf AZ taten ihm weh; auch mit der Neugestaltung der Zeitung war er nicht ganz einverstanden. Aber er enthielt sich weitgehend der Kritik. Nur die Sprachschnitzer, die jetzt häufiger vorkamen als zu seiner Zeit … korrigierte er gelegentlich und sandte die rotangestrichenen Seiten nach Wien. Sehr selten schrieb er auch einen kurzen Kommentar zu einer Notiz oder einer Titelzeile, die er mißbilligte.

… Am Morgen des 28. August kamen Oscar und Marianne, wie gewöhnlich, um 8 Uhr zum Frühstück. Vor dem Frühstück pflegte Oscar immer mit dem Hund auf der großen Wiese hinter dem Hotel Ball zu spielen. Diesmal hatte Bessie vergeblich auf ihr Morgenspiel gedrängt. Oscar saß merkwürdig still beim Frühstückstisch und sagte mit einem eigenartigen Lächeln: »Na, heute nacht hat es mich gehabt. Ich glaube, es war ein Herzanfall.« Es war das gleiche, ein wenig bittere Lächeln, mit dem er mir etwa zwei Jahre vorher mitgeteilt hatte, er werde wahrscheinlich als Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung in Pension gehen. …

Marianne und ich drängten ihn, sich niederzulegen. …Oscar legte sich jedoch nicht nieder. Während wir auf Dr. Hitzenberger warteten, die in Laakirchen auf Urlaub war …, saßen wir zu dritt im Hotelzimmer und spielten Typ-Dom. … Da kam gerade der Wagen mit Dr. Hitzenberger und ihrem Sohn, dem Internisten Doktor Gerhard Hitzenberger, an. Ich lief ihnen entgegen, um sie ins Zimmer zu holen, aber als wir zusammen hinaufkamen, war Oscar bereits tot.10

Grete Helfgott fuhr am Folgetag mit Marianne nach Wien. Sie kannte den Entschluss ihrer Freundin bereits. Marianne zögerte, ob sie Bessy, die geliebte Hündin und die Nachfolgerin von Billy, nicht doch an Grete übergeben sollte, entschied sich aber letztlich dagegen. Am 30. August 1963, also zwei Tage nach Oscars Tod, setzte Marianne die geplante Tat in der Wiener Wohnung um. Sie klebte die Küche luftdicht ab, nicht ohne vorher außen die Warnung »Achtung, Gas!« anzubringen, um ihre Haushälterin nicht zu gefährden. Dann gab sie der Hündin und sich ausreichend Schlafmittel, bereitete sich und dem Hund ein Lager und öffnete sodann den Gashahn. Ihre Sterbeurkunde, ausgestellt am 2. September 1963 von der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien (mit dem Vermerk, dass sie ohne religiöses Bekenntnis war), bestätigt, dass sie am 30. August 1963 um acht Uhr morgens tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war. Der Tod war durch eine Kohlenmonoxidvergiftung eingetreten.11

Die Verabschiedung im Hof des Wiener Krematoriums verlief letztlich doch anders, als es das Ehepaar geplant hatte. Der Wiener Bürgermeister Franz Jonas sprach und Vizekanzler Bruno Pittermann hielt die Trauerrede, eine große Menge an Freunden, Weggefährten und politisch interessierten Menschen war anwesend. Die beiden Urnen liegen in einem Ehrengrab. Die politische Zeitenwende, die sich gerade in diesem Jahr 1963 zu beschleunigen begann (abgezeichnet hatte sie sich schon mit Oscars Abschied aus der Chefredaktion der Arbeiter-Zeitung) und die die politische Kultur der Zweiten Republik grundlegend verändern sollte, konnten oder mussten sie nicht mehr erleben, obwohl die großen Änderungen ab dem Beginn der sechziger Jahre bereits spürbar waren. Symbolisch steht dieser gemeinsame Abschied vom Leben für ein Ende der aus der Ersten in die Zweite Republik herüberreichenden Traditionen klassischer sozialdemokratischer Politik. Ihr ganzes gemeinsames Leben kann als Spiegelbild der Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelesen werden.

3Sterbeurkunde von Oscar Pollak, im Nachlass Oscar und Marianne Pollak, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (folgend als »Nachlass Pollak« zitiert), Karton 1, Mappe 1.

4Brief im Nachlass Pollak, Sondermappe.

5Brief ebenda.

6Brief ebenda.

7Brief ebenda.

8Testament Oscar Pollak ebenda.

9Testament Marianne Pollak ebenda.

10Helfgott, Grete: Die letzten Tage mit Oscar und Marianne. In: Arbeiter-Zeitung, Gedenkausgabe zum 10. Todestag von Marianne und Oscar Pollak, 25. August 1973.

11Sterbeurkunde Marianne Pollak, im Nachlass Pollak, Karton 1, Mappe 1.

DIE GEMEINSAMEN ANFÄNGE

Gut sieben Jahrzehnte vor den dramatischen Ereignissen in Hinterstoder und in Wien war die politische Situation in Wien und in Österreich noch eine völlig andere. Wien war Weltmetropole, eine der größten Städte der westlichen Welt, die Hauptstadt eines riesigen multiethnischen Reiches, und die Habsburgermonarchie war dabei, ihre Modernisierungsrückstände aufzuholen. In den gut zwei Jahrzehnten, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch vergehen sollten, nahmen auf der politischen Ebene vor allem die nationalen Spannungen gewaltig zu. Unter »Nation« verstand man damals »Sprachnation«, aber biologistische Sichtweisen verkomplizierten gerade in dieser Zeit die Diskussionen. Die Definitionen von »Nation«, die Theorien dazu und die Lösungsvorschläge zur »Nationalen Frage« nahmen in der Habsburgermonarchie großen Raum ein. Auch die junge Sozialdemokratie sah sich dadurch herausgefordert. Was sie zur Nationalen Frage an Theorie und Lösungsvorschlägen erarbeitete, sollte im ganzen 20. Jahrhundert den weltweiten Diskurs mit prägen. Auf diesen theoretischen Arbeiten fußt der »Austromarximus«12.

Anderseits machte aber die demokratische Mitsprache im Staat Fortschritte. 1896 schuf die Badenische Wahlrechtsreform eine allgemeine Wählerkurie. Nun waren alle Männer über vierundzwanzig, die seit mindestens drei Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und eine Sesshaftigkeit von zumindest einem Jahr nachweisen konnten, wahlberechtigt. Dieses Wahlrecht galt für die 5. Kurie, in der zwar fast alle Männer wählen durften, in der aber nur 72 der insgesamt 425 Sitze im österreichischen Reichsrat zu vergeben waren. Immerhin zogen vierzehn Sozialdemokraten ins Parlament ein, allesamt Vertreter der Industrieregionen außerhalb der Hauptstadt.

Die junge Arbeiterpartei hatte allerdings gerade erst ihre Häutungen hinter sich. Gut anderthalb Jahrzehnte rangen verschiedenste politische Positionen um den Führungsanspruch, Anarchisten, Syndikalisten, Lassalleaner und manche Splittergruppierung. Die Einigung war erst 1889 in Hainfeld gelungen, und die politische Feuerprobe wurde 1890 beim sogenannten »ersten Ersten Mai«13 bestanden, als man den öffentlichen Raum vor allem in Wien gewaltfrei und stolz besetzen konnte. Man war nicht länger staatsgefährdend, sondern eine konstruktive Kraft, die, viel stärker als alle anderen, den multiethnischen Charakter der Monarchie akzeptierte, sah sie sich doch als internationalistisch agierende Bewegung, zumindest in ihrem theoretischen Anspruch und in der Selbstdarstellung.

Da die ehemals liberalen politischen Strömungen der Monarchie zunehmend nationalistisch und vor allem antisemitisch geworden waren, fand sich vor allem der emanzipierte Teil des Judentums bald in der Nähe oder sogar in den Reihen der Sozialdemokratie. Im Biotop einer kulturell und politisch wachen Weltmetropole, in der Welt der Musik, der Theater und der hitzigen politischen Debatten, fanden vor allem junge Menschen, die Zugang zu Bildung hatten, leicht ihren Platz in der als modern und aufgeschlossen interpretierten jungen politischen Bewegung. So wurde die Sozialdemokratie rasch auch zur Partei der Intellektuellen, der politischen Denker und der Kulturschaffenden, sie blieb aber auch die Partei der Menschen, die in der Industrie oder im Gewerbe oft sehr schlecht bezahlte Arbeit gefunden hatten. Arbeiter und auch schon Arbeiterinnen bildeten die Massenbasis der Partei, die freien Gewerkschaften waren sehr bald das materielle Rückgrat der Bewegung. Geführt wurde sie aber von Intellektuellen aus dem großstädtischen Lebensraum. Es gelang der Gewerkschaftsbewegung, die Lebensverhältnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter zumindest schrittweise zu verbessern, was diesen die Möglichkeit bot, die politischen Diskussionen mitzuverfolgen und manchmal sogar an diesen teilzunehmen.

Aber die Metropole Wien war mehrfach aufgefaltet.14 In der Ringstraße, die mit ihren Prachtbauten durchaus den Geschmack der alten Eliten treffen konnte, da sich in den Gebäuden ausreichend historische Zitate fanden, zeigt sich die erste Faltung. Die an ihr angesiedelten kulturellen Einrichtungen, Ikonen der Kulturstadt Wien bis heute, waren auch für das aufstrebende Bildungsbürgertum aus den Bezirken innerhalb des Gürtels offen, also nicht nur Sehnsuchtsorte, sondern durchaus erreichbare Orte, Eintrittsmöglichkeiten in die damals in der Stadt herrschende kulturelle Hochblüte. Dann aber war da die zweite Auffaltung, die der Gürtel, der zweite Wiener Ring, bildete. Die Gegenden außerhalb des Gürtels waren zum kleineren Teil ländlich, zum überwiegenden Teil aber proletarisch. Auffangbecken für die meist nicht deutschsprachigen Zuwanderer waren vorerst die Bezirke Favoriten und Simmering. Die tschechischen Ziegelarbeiter am Wienerberg waren, vor allem durch die Aufmerksamkeit, die sie bei Victor Adler erregten, symbolisch jene Zuwanderergruppe, an der das Elend der Arbeiterschaft am Stadtrand festgemacht werden konnte. 1904 wurde Floridsdorf eingemeindet, ein weiterer Arbeiterbezirk. In der Überformung der ehemals ländlichen Gebiete herrschte das Chaos des industriellen Konkurrenz- und Überlebenskampfes, mit unvorstellbar schlechten Wohnverhältnissen und oftmals bitterer Armut. Das schreckliche Bild, das diese Armut vermittelte, brachte viele humanistisch gesinnte Menschen in die Nähe der Sozialdemokratie, von der man mit gutem Recht annehmen konnte, dass nur sie gegen dieses Elend auftreten und dieses zumindest mittelfristig überwinden konnte. Architektonische Pläne für großflächige Umgestaltungen, wie sie etwa Otto Wagner für Floridsdorf vorlegte, mit denen ein zweites Zentrum mit großen Freiflächen den Vorort komplett neu erscheinen lassen sollte, waren allerdings für jene, die ökonomisch von den schlechten Situationen der arbeitenden Bevölkerung profitierten, wie dies etwa die »Hausherren« taten, die die Partei Luegers symbolisch repräsentierten, nicht attraktiv.

So war Wien einerseits die glänzende Weltmetropole, die damals drittgrößte Stadt der Welt und der Hotspot der Kultur15, anderseits aber die Stadt mit den tristen Lebensverhältnissen in den Vorstädten, der multilingualen Situation unter den Zuwanderern aus allen Teilen der Monarchie und der ungelösten sozialen Frage.

Diese Widersprüche griff die junge österreichische Arbeiterbewegung auf. Der Liberalismus hatte die sozialen Problemlagen bewusst übersehen, die Armut lag außerhalb des Blickfelds der Handlungsträger. Karl Lueger, der als christlichsozialer Bürgermeister 1895 erstmals gewählt wurde und, nach anfänglicher Verweigerung der erforderlichen kaiserlichen Zustimmung, ab 1897 Bürgermeister war, kanalisierte die kleinbürgerlichen Ängste der weniger begüterten deutschsprachigen Stadtbewohner bewusst in Vorurteilsbahnen. Der Antisemitismus war sein politisches Instrument, und so prägte er die Stadt zwar durch kommunale Infrastrukturmaßnahmen, wirkte aber ausgrenzend und bot sich für das jüdische Bildungsbürgertum wohl nur als Feindbild an. Luegers Klientel war eher kleinbürgerlich, er sprach weder die arbeitenden Massen noch die intellektuellen Zirkel an.

In dieser Stadt voller Widersprüche verbrachten Marianne Springer und Oscar Pollak ihre Kindheit und Jugend. In der Matrosengasse 3 im 6. Wiener Gemeindebezirk wurde am 29. Juli 1891 Marianne Springer geboren. Ihr Vater war ein kleiner Vertreter, es gab eine ältere Halbschwester aus der ersten Ehe des Vaters und ein weiteres Kind. Eine fünfköpfige Familie mit einem bescheidenen Einkommen zu ernähren, war nicht einfach. Dennoch litt man keine Not, die Aufstiegschancen der Kinder waren aber begrenzt. Die begabte Marianne musste statt der Mittelschule die Bürgerschule besuchen, ein Weg an die Universität war ihr damit verwehrt. Aber sie bildete sich in Englisch und Französisch weiter, absolvierte die Staatsprüfung als Sprachlehrerin und legte damit den Grundstein für ihr späteres Wirken in den internationalen Organisationen der Sozialdemokratie. Eine Frau mit diesen Qualifikationen war gesucht.

Das Geburtszeugnis Oscar Pollaks16, ausgestellt vom Matrikelamt der Israelischen Kultusgemeinde Wien, vermeldet, dass Oscar als Sohn des Markus Pollak und dessen Frau Rosa, geborene Fried, am 7. Oktober 1893 das Licht der Welt erblickte. In der Urkunde ist aber auch vermerkt, dass Oscar Pollak am 17. Dezember 1918 aus der israelitischen Religionsgemeinde ausgetreten ist. Seine Eltern waren wohlhabend, und so konnte Oscar ohne finanzielle Notlage nach der Matura ein Jusstudium beginnen, das er nach der Unterbrechung durch den Kriegsdienst 1919 beenden konnte. Seine Jugend und sein Bildungsweg waren sorgloser und vordefinierter als jener Weg, den Marianne zu gehen hatte. Oscars Vater stammte ursprünglich aus Ungarn, die Familie hatte allerdings in Wien gut Fuß gefasst. Söhnen aus solchen jüdischen Familien stand der Weg zum Studium der Medizin oder der Juristerei offen. Dass sie politisch zur Sozialdemokratie tendierten, war durch die in Wien herrschenden Rahmenbedingungen naheliegend. Dass der junge Oscar begann, sich für Politik zu interessieren und an den Ideen der Linken Gefallen fand, löste also keinen Generationenkonflikt aus.

Marianne war schon in ihrer Jugend begeisterte Leserin und auch leidenschaftliche Besucherin von Theater und Oper. Ihr Geschmack war dabei breit gefächert, von eher trivialer Mädchenliteratur, etwa die Bücher von Eugenie Marlitt, bis hin zu den Klassikern der Moderne. Und sie trieb auch Sport, vor allem im Sommer bei einer Tante in Pressbaum, wo sie auf dem Tennisplatz den damals erst siebzehnjährigen Oscar kennenlernte. Obwohl sie zwei Jahre älter als er war, schien er ihr doch nicht nur sozial, sondern auch an Bildung und Belesenheit überlegen. Jedenfalls verband sie bald viel, privat und durchaus auch rasch politisch. Gemeinsam führten sie erste politische Diskussionen, und so war es nicht verwunderlich, dass für Marianne der erste Internationale Sozialistische Frauentag, der am 19. März 1911 in Wien stattfand, zum politischen Erweckungsmoment wurde. Sie sah und hörte Victor Adler, Adelheid Popp und Therese Schlesinger und sah an die zwanzigtausend Mädchen und Frauen, die sich von der Sozialdemokratie eine bessere Zukunft versprachen, die für das Frauenwahlrecht und für Gleichberechtigung eintraten.

Die beiden jungen Menschen, damals zwanzig beziehungsweise achtzehn Jahre alt, hatten den Weg in die Politik gefunden, die ihr weiteres Leben bestimmen sollte. Politik wurde zum gemeinsamen Lebensinhalt, zur Ersatzreligion und zum Auftrag. Die Sozialdemokratie in Form des Austromarxismus schuf den Rahmen, in dem die beiden ihr gesamtes Leben gestalteten. Zweifel daran, dem »Bauvolk der kommenden Welt«17 eventuell nicht anzugehören, lassen sich auch in den persönlichsten Dokumenten nicht finden. Zwischen dem Privaten und dem Politischen verlief für die beiden keine Trennlinie. Das Private war auch politisch, und die Politik bestimmte auch das Privatleben, den Freundeskreis und die Diskussionen.

Oscar begann Jus zu studieren, das schien der Politik näher als die Medizin, und Marianne begann sich politisch zu bilden, mit Otto Bauer als der prägenden Leitfigur, nicht nur für sie, sondern für eine ganze Generation junger und engagierter Menschen. Bauer, nur ein Jahrzehnt älter als Marianne, hatte schon 1907 die theoretische Zeitschrift Der Kampf mitbegründet und war fast zeitgleich mit seinem Schlüsselwerk »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie«18 zu einem der auch international führenden Theoretiker der Arbeiterbewegung aufgestiegen. Seine theoretisch fundierten politischen Analysen galten für die begeisterungsfähige Jugend als richtungsweisende Vorgaben. Er war vor allem aber auch ein Redner, der die Menschen überzeugen konnte.

Zwei Jahre älter als Bauer war Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers Victor Adler19. Der Vater, der die psychische Labilität und die Hochbegabung seines Sohnes erkannte, wollte ihn eher von der Politik fernhalten und schickte ihn zum Studium der Physik nach Zürich in die Schweiz, wo Friedrich 1902 promovierte, dann aber zugunsten seines engsten Freundes Albert Einstein auf die Stelle eines Extraordinarius für Theoretische Physik verzichtete. Als Einstein 1911 nach Prag wechselte, wünschte er sich in Zürich Adler als Nachfolger, dieser hatte sich aber schon für eine politische Laufbahn in Österreich entschieden. Dennoch hielt die Freundschaft ein Leben lang. Friedrich Adler, in Wien einer der Parteisekretäre und einer der leitenden Redakteure der Zeitschrift Der Kampf, wurde neben Otto Bauer zu einer zentralen menschlichen und politischen Bezugsperson für das junge Paar Marianne und Oscar. Er konnte den Lebensweg der beiden Pollaks an mehreren Stellen entscheidend beeinflussen.

In einem kurzen Lebenslauf, den Marianne Pollak 1947 verfasst hat,20 gibt sie für sich ihren Parteieintritt mit Dezember 1914 an. Es ist anzunehmen, dass Oscar ebenfalls schon Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie war, als er zum Dienst mit der Waffe eingezogen wurde, obwohl sich in den Unterlagen dafür kein Beleg findet. Marianne begann, den Aufbau der Kinderfreunde-Organisation in Wien-Mariahilf mit zu organisieren. Sie verstand sich daher zumindest ab 1914 als Funktionärin der österreichischen Arbeiterbewegung. Und Oscar hatte zwar in der Zeit vor 1918, also in den Jahren des Ersten Weltkriegs, keine Funktion, aber er war Abonnent der Arbeiter-Zeitung. Ein Abonnement galt ja als Mitgliedsbeitrag.

12Zum Zusammenhang von Nationaler Frage in der Habsburgermonarchie und Austromarxismus siehe: Konrad, Helmut: Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Wien 1976.

13Eine Darstellung dieses Ereignisses und der Folgefeiern findet sich bei: Troch, Harald: Rebellensonntag. Der 1. Mai zwischen Politik, Arbeiterkultur und Volksfest in Österreich (1890–1918). Wien 1991.

14Das Bild der doppelten Auffaltung der Metropole wurde übernommen von: Maderthaner, Wolfgang und Musner, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Wien 1999.

15Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Frankfurt 1979. Mit diesem Buch startete der Boom an Untersuchungen zur österreichischen Moderne.

16Geburtszeugnis von Oscar Pollak, Israelitische Cultusgemeinde in Wien, 26. Oktober 1893, im Nachlass Pollak, Karton 1, Mappe 1.

17Die Liedzeile »Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt« wurde auch titelgebend für: Neugebauer, Wolfgang: Bauvolk der kommenden Welt. Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung in Österreich. Wien 1975.

18Bauer, Otto: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien 1907.

19Eine umfassende und auch psychologisch erklärende Biografie zu Friedrich Adler hat Rudolf Ardelt verfasst: Ardelt, Rudolf G.: Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende. Wien 1984.

20Lebenslauf im Nachlass Pollak, Sondermappe.

DER ERSTE WELTKRIEG UND DIE EHESCHLIESSUNG

Der österreichischen Sozialdemokratie blieb es 1914 erspart, sich im Österreichischen Reichsrat für oder gegen den Krieg durch eine Abstimmung über Kriegskredite positionieren zu müssen. Das österreichische Parlament war zu dieser Zeit sistiert. Für die deutsche Schwesterpartei war die Abstimmung über die Kriegskredite der Beginn der Spaltung der Arbeiterbewegung, mit all den verhängnisvollen Auswirkungen in den Folgejahren und -jahrzehnten.

Auch in Österreich war die Mehrheit der führenden Sozialdemokraten an der Seite der Kriegsbefürworter. Genaue Angaben dazu sind nicht leicht zu machen, neuere Arbeiten zeigen aber auch ein erhebliches Protestverhalten an der Basis. Friedrich Austerlitz, der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und bis dahin Pazifist, schrieb am 5. August einen Leitartikel mit dem Titel »Der Tag der deutschen Nation« und sprach von einem »Weltkrieg der Entente gegen Deutschland«. Die deutsche Kultur als die überlegene zu sehen, das entsprach dem Zeitgeist auch oder sogar gerade unter dem emanzipierten Judentum der Vorkriegsjahrzehnte. Und ein Leitartikel in der Arbeiter-Zeitung dokumentiert zumindest die offizielle Parteilinie. Der Gegner, den man als Feindbild aufbauen konnte, war das zaristische Russland.

Austerlitz, 1862 in Böhmen geboren, hatte sich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet und war ab 1895, also im Alter von dreiunddreißig Jahren, Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung geworden, die zu diesem Zeitpunkt von wöchentlichem auf tägliches Erscheinen umgestellt wurde. Autodidakt, ungeheuer belesen und fleißig wurde er bald zu einem der führenden Journalisten des Landes. Seine Stimme wurde gehört, seine Kritik gefürchtet. Bis zu seinem Tod 1931 waren es seine Leitartikel, die den politischen Diskurs nicht nur innerhalb der Sozialdemokratie bestimmten und die Themen vorgaben. Er genoss über die Parteigrenzen hinaus Ansehen vor allem als das wortgewaltige publizistische Sprachrohr der Bewegung. Er galt zudem als Bindeglied zwischen der Sozialdemokratie und Karl Kraus, widmete diesem einen ausführlichen Beitrag zum 50. Geburtstag.

Aber nicht alle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten teilten die Kriegsbegeisterung des Chefredakteurs. Darunter waren vor allem jene Personen, die in internationalen Netzwerken standen, die sich Jean Jaurès, dem französischen Pazifisten, verbunden fühlten und deren Bindung an die deutsche Sozialdemokratie nicht allzu eng war.

Die Zweite Internationale, die 1898 gegründet worden war und die sich auf ihren regelmäßigen Kongressen gegen Aufrüstung und Nationalismus aussprach, konnte den für 1914 in Wien unter der Leitung von Friedrich Adler geplanten Friedenskongress nicht mehr abhalten. Jean Jaurès, die Leitfigur der französischen Sozialisten, war am 31. Juli 1914 in einem Pariser Kaffeehaus ermordet worden, und viele Sozialdemokraten in den meisten Ländern schwenkten auf die Kriegsbegeisterung ihrer Landsleute ein. Die Zweite Internationale war mit der Absage des Kongresses zerfallen, hatte sie doch einerseits durch den Tod von Jaurès eine Leitfigur verloren und sah sie sich anderseits mit der Mehrheitsmeinung ihrer Mitglieder, die den Krieg befürworteten, konfrontiert. »Lieber mit den Massen irren, als gegen sie Recht behalten«, so brachte es Victor Adler auf den Punkt. Für viele der österreichischen Sozialdemokraten von Otto Bauer bis Oscar Pollak bedeutete dies, aktiv an der Front am Kriegsgeschehen teilzunehmen. Und sie verweigerten sich nicht. Vielleicht ist es ein Zufall, sehr wahrscheinlich hat es aber mit der Eheschließung zu tun, jedenfalls ließ Oscar sich am 9. Dezember 1915 einen Heimatschein ausstellen21, mit dem das Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien bestätigte, dass er in Wien das Heimatrecht besaß. Dieses Dokument garantierte nach 1918 automatisch die Staatsbürgerschaft in Deutschösterreich.

Oscar Pollak kam, so vermerkt es seine »Verwendung im Kriege«, die seinem Vormerkblatt für die Qualifikationsbeschreibung22 im Kriegsarchiv beigefügt ist, schon am 9. August 1914 zur Traindivision 2, zugeteilt dem Landsturmkommando 21, vorerst als 2. Offizier, später als Kommandant. In diesen Funktionen nahm er am Vormarsch bis Zamość, 110 Kilometer nordwestlich von Lemberg, teil. Es folgte der Rückzug bis Tarnow, dann wieder der Vormarsch an den San, gefolgt von einem Rückzug bis Preußisch-Schlesien. 1916 gelang ein Vormarsch an die Nida. Dann an die Weichsel und bis Dubno in der Ukraine. Am 1. September 1915 erhielt er die allerhöchste belobende Auszeichnung »Signum Laudis«. Seine Vorgesetzten beschrieben ihn als »diensteifrig und verläßlich«, allerdings »zur Führung einer Kompanie nicht erprobt«. Er »wirkt auf die Untergebenen günstig ein«. 1918 wurde er als »tüchtiger Offizier und guter Kamerad« beschrieben, der »fürsorglich, sehr wohlwollend und angemessen streng« agierte. Sein Charakter wurde als »gediegen« beschrieben. Er galt als »sehr intelligent«, hatte »gute Fähigkeiten und ebensolche Auffassung. Kennt seine Dienstobliegenheiten. Guter Instruktor. War im Felde.«23

Im März 1916 besuchte er in Wien und St. Pölten einen Infanterie-Instruktionskurs, um dann wieder an die Front abkommandiert zu werden, erst als Zugskommandant, dann als Gefechtstrainkommandant und schließlich als Trainkommandant. Als solcher nahm er an der Südfront an der 11. Isonzoschlacht und am Vormarsch bis Udine teil. Seine militärische Laufbahn endete als Instruktionsoffizier. Kein einziger Vermerk in seinen Akten bezieht sich auf irgendeine Form der Subordination oder der politischen Agitation. Oscar machte zwar keine wirklich bemerkenswerte militärische Karriere, galt jedoch als verlässlicher und durchaus loyaler Offizier der Armee des Habsburgerreichs. Von Verwundungen berichtet die Militärakte nichts. Die Ereignisse von 1916 in Wien, das Attentat von Friedrich Adler und der folgende Prozess, haben in Oscar Pollaks Militärakten keine Spuren in Form einer Verhaltensänderung hinterlassen, zumindest nicht solche, die sich in seiner militärischen Beurteilung niederschlugen. Dennoch, Friedrich Adler sollte eine der wichtigsten Bezugspersonen für das Ehepaar Pollak werden.

Als Friedrich Adler am 21. Oktober 1916 im Wiener Hotel Meißl & Schaden den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh erschoss, war dies ein Fanal gegen die Sistierung des Parlaments, aber auch, oder vielleicht vor allem, gegen die Haltung der Sozialdemokratie, den Krieg noch immer mitzutragen. Für Friedrich Austerlitz war diese Tat zumindest vorerst »der ganzen sozialistischen Ideenwelt unbegreiflich«, er schrieb in der Arbeiter-Zeitung von »Wahn« und »Selbstzerstörung«. Das Bild wandelte sich aber im Prozess gegen Friedrich Adler