Meine Mami ist so krank - Gert Rothberg - E-Book

Meine Mami ist so krank E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Der alte Justus versorgte noch die Kaninchen, dann nahm er seine grüne Arbeitsschürze ab. »Feierabend«, sagte er laut. »Heute ist mir eh nichts von der Hand gegangen.« Justus, der frühere Verwalter von Sophienlust, war mit sich selbst unzufrieden. Aber er wusste auch, warum er den ganzen Tag so benommen umhergegangen war. »Dieser Brief hat mich ganz durcheinandergebracht«, redete er nun wieder vor sich hin. »Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass das stolze Gut Breitenstein unter den Hammer kommen könnte.« Jetzt erklang eine lachende Stimme hinter Justus. »Dass du immer mit dir selbst reden musst, Justus.« Der Alte drehte sich um. Hinter ihm stand Fabian Schöller, ein Schützling von Sophienlust. Justus hatte den stillen Fabian gern und freute sich jedes Mal, wenn er zu ihm kam. Deshalb fragte er auch jetzt: »Kommst du mit zu mir?« »Ja, Justus. Bis zum Abendessen könnte ich bei dir bleiben.« Die graugrünen Augen des Jungen leuchteten. »Vielleicht erzählst du mir wieder eine schöne Geschichte aus deinem Leben? Du weißt doch, ich höre dir so gern zu.«

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 136 –Meine Mami ist so krank

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

Der alte Justus versorgte noch die Kaninchen, dann nahm er seine grüne Arbeitsschürze ab. »Feierabend«, sagte er laut. »Heute ist mir eh nichts von der Hand gegangen.«

Justus, der frühere Verwalter von Sophienlust, war mit sich selbst unzufrieden. Aber er wusste auch, warum er den ganzen Tag so benommen umhergegangen war.

»Dieser Brief hat mich ganz durcheinandergebracht«, redete er nun wieder vor sich hin.

»Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass das stolze Gut Breitenstein unter den Hammer kommen könnte.«

Jetzt erklang eine lachende Stimme hinter Justus. »Dass du immer mit dir selbst reden musst, Justus.«

Der Alte drehte sich um. Hinter ihm stand Fabian Schöller, ein Schützling von Sophienlust. Justus hatte den stillen Fabian gern und freute sich jedes Mal, wenn er zu ihm kam. Deshalb fragte er auch jetzt: »Kommst du mit zu mir?«

»Ja, Justus. Bis zum Abendessen könnte ich bei dir bleiben.« Die graugrünen Augen des Jungen leuchteten. »Vielleicht erzählst du mir wieder eine schöne Geschichte aus deinem Leben? Du weißt doch, ich höre dir so gern zu.«

Als die beiden Justus’ kleine Wohnung betraten, sah der alte Mann den Jungen nachdenklich an und meinte: »Ich glaube, heute fällt mir keine schöne Geschichte ein, Fabian.«

»Hast du Sorgen, Justus?«, fragte der Junge.

»Ja, große Sorgen.« Justus setzte sich. »Aber das ist nichts für dich. Man soll seine Sorgen nicht anderen aufbürden.«

Fabian hatte sich neben den Alten gesetzt. »Warum denn nicht, Justus? Wenn ich Sorgen habe, erzähle ich auch anderen davon. Nick oder Pünktchen. Manchmal auch Tante Isi.«

»Ja, sie weiß jeden zu trösten, unsere Frau von Schoenecker. Sie ist der gute Geist von Sophienlust. Was wäre nur aus uns allen ohne sie geworden.« Justus sah Fabian an. »Meinst du, ich sollte mit ihr sprechen? Sie hat doch mit euch Kindern schon genug zu tun.«

»Aber dich hat sie doch auch gern, Justus.« Fabian neigte sich zu dem Alten. »Was hast du vorhin von dem Gut Breitenstein geredet? Warst du dort nicht früher Verwalter?«

»Das hast du dir aber gut gemerkt, Fabian.«

»Du hast mir doch schon Geschichten von Breitenstein erzählt. Erinnerst du dich nicht daran?«

»Es ist möglich, dass ich dir auch schon von Breitenstein erzählt habe. Ja, was man in jungen Jahren erlebt hat, vergisst man nicht. Damals musste ich mich als Verwalter erst bewähren. Später, als ich auf das Gut Sophienlust kam, hatte ich schon viel Erfahrung gesammelt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich noch einmal so sehr mit Breitenstein befassen würde wie heute.« Plötzlich vergaß er, dass er seine Sorgen hatte für sich behalten wollen. »Ein alter Freund hat mir geschrieben. Seine Nachricht hat mich so durcheinandergebracht. Stell dir vor, er schreibt, dass das Gut Breitenstein unter den Hammer kommt. Weißt du, was das bedeutet?«

»Ja«, sagte Fabian eifrig, »dass es verkauft werden muss.«

»So ist es.« Justus nickte. »Und meine ehemalige Herrin, Friederike Hillmann, muss das Gut verlassen. Das überlebt sie nicht. Sie ist zwar noch nicht so alt wie ich, aber fünfundsechzig wird sie inzwischen auch sein. Damals, als ich auf Gut Breitenstein arbeitete, war sie jung verheiratet. Ich sage dir, Fabian, diese Frau konnte reiten. Und von Pferden verstand sie mehr als ich.«

»Aber wieso steht es auf einmal so schlecht um Breitenstein, Justus?«

Jetzt sah das Gesicht des alten Mannes vollkommen vergrämt aus. »Das ist es ja, was ich auch nicht verstehen kann. Mein Freund schreibt, dass Friederike Hillmann an dem Ruin des Gutes selbst schuld sei. Sie habe sich nach dem Tod ihres Mannes die meiste Zeit auf Rennplätzen herumgetrieben und gewettet.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Was wird nur aus ihr werden, wenn sie Breitenstein verlassen muss? Das wird wohl ihr Tod sein.«

»Kann ihr denn niemand helfen, Justus?«

»Allem Anschein nach hat sie niemanden, der ihr unter die Arme greift. Aber das kennt man ja. Freunde in der Not, gehn tausend auf ein Lot.«

»Und du, Justus, kannst du Frau Hillmann nicht helfen?«, fragte Fabian.

Justus sah den Jungen verdutzt an, dann lächelte er traurig. »Wie könnte ich armer Teufel ihr helfen? Ich besitze nur einen Notgroschen auf meinem Sparbuch. Nein, mir sind die Hände gebunden.«

»Aber du könntest sie wenigstens besuchen, Justus. Du hast mir doch erzählt, dass du von Sophienlust aus noch manchmal nach Breitenstein gefahren bist.«

»Das stimmt schon, Fabian, aber in den letzten Jahren wurde das immer seltener. Jetzt habe ich keine Bekannten mehr auf dem Gut. Es ist schon zu viele Jahre her, dass ich dort gearbeitet habe. Da wechseln die Gesichter.«

»Aber Frau Hillmann ist noch in Breitenstein.« Das sagte Fabian mit hartnäckigem Ton in der Stimme. »Hast du sie denn früher nicht auch besucht?«

Justus lächelte. »Frau Hillmann ist eine feine Dame, Fabian, zu der ich nicht so einfach zu Besuch gehen konnte. Freilich, gesprochen habe ich meistens mit ihr, wenn ich ihr auf Breitenstein zufällig begegnete. Sie war immer sehr liebenswürdig zu mir.«

»Aber jetzt solltest du sie besuchen, Justus, da sie sonst niemanden hat, der ihr beisteht. Vielleicht würde sie sich freuen, wenn du kommst, auch wenn du ihr nicht helfen kannst.«

Diese Worte des Jungen gingen dem alten Justus nicht mehr aus dem Sinn. Er dachte darüber noch nach, als Fabian ihn längst verlassen hatte. Und in der Nacht fand er deshalb keine Ruhe.

Am Morgen überlegte Justus noch einmal, ob er mit Denise von Schoenecker sprechen sollte. Aber dann ließ er das bleiben. Dafür zog er seinen Sonntagsanzug an, hinterließ im Kinderheim, dass er verreisen müsse, und fuhr zu dem fünfzig Kilometer entfernten Gut Breitenstein.

Auf der Fahrt nannte sich Justus einen alten Narren. Was wollte er eigentlich bei Friederike Hillmann, wenn er ihr doch nicht helfen konnte?

Als er den Autobus auf dem Marktplatz des Dorfes Breitenstein verließ, wurde er noch unsicherer. Er brauchte für den Weg zu dem vor dem Ort liegenden Gut viel länger, als nötig gewesen wäre. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb.

Vor ihm stand das große Herrenhaus von Breitenstein, umgeben von den geduckten Wirtschaftsgebäuden. Ja, Breitenstein war eines der schönsten Güter im weiten Umkreis. Es war eine Schande, dass Friederike Hillmann es verlassen musste. Immer war es im Besitz ihrer Familie gewesen.

So viel Unsinn konnte diese Frau doch gar nicht angestellt haben, dass sie nun so schwer bestraft werden darf, dachte Justus. Diese Überlegungen gaben ihm den Mut, nun bis zum Herrenhaus von Breitenstein zu gehen. Ein junges Mädchen öffnete ihm die Tür und sah ihn misstrauisch an. Als er seinen Namen nannte, fragte das Mädchen: »Kommen Sie von Herrn Matausch?«

»Von wem? Von Herrn Matausch?«, fragte Justus verdutzt. »Ich kenne niemanden, der so heißt.«

Das Mädchen schien aufzuatmen, und Justus fuhr fort: »Ich war vor vielen Jahren Verwalter auf Breitenstein und hätte die gnädige Frau heute gern besucht. Wird sie für mich zu sprechen sein?«

»Das nehme ich an. Bitte, warten Sie hier in der Diele. Ich sage Frau Hillmann Bescheid.« Das Mädchen ging die Treppe hinauf.

Justus sah sich um. Es war hier alles noch so wie zu der Zeit, als er hier gearbeitet hatte. Damals, als Friederike Hillmann geheiratet hatte, war das Herrenhaus gründlich renoviert worden. Aber das war schon lange her.

Der frühere Verwalter musste sich lange gedulden, aber er hörte flüsternde Stimmen aus dem ersten Stock. Wagte sich Friederike Hillmann nicht in die Diele herunter? Und warum hatte das Mädchen gefragt, ob er von Herrn Matausch komme? Dieser Mann schien hier nicht sehr beliebt zu sein.

Nun tauchte Friederike Hillmann auf der Treppe auf. Sie war eine kleine, noch immer schlanke Frau. Das ehemals braune Haar war jetzt schneeweiß. Das kleidete sie gut. Jetzt lächelte sie und kam schnell die Treppe herunter. »Justus, Sie sind es wirklich«, sagte sie und streckte dem Alten die Hand entgegen. »Darf ich Sie noch einfach beim Vornamen nennen, wie ich es früher immer tat?«

»Warum nicht, gnädige Frau?« Der alte Justus war jetzt sehr verlegen. Diese herzliche Begrüßung hatte er nicht erwartet. Dazu war er viel zu bescheiden.

»Nun lassen Sie auch die gnädige Frau, Justus. Sie kennen ja meinen Namen. Bitte, kommen Sie mit mir.« Friederike Hillmann öffnete die Tür eines Zimmers. Als Justus ihr gefolgt war, rief sie zurück: »Grete, Sie wissen ja, dass ich nicht zu Hause bin. Wenn es wieder läuten sollte, dann öffnen Sie bitte nicht so leichtfertig die Haustür wie eben.«

Justus setzte sich, nachdem Friederike Hillmann ihm einen Platz angeboten hatte. Sie selbst ließ sich in einen Sessel ihm gegenüber fallen. »Sind Sie zufällig hier vorbeigekommen?«, fragte sie.

Justus drehte seinen Hut in der Hand. »Eigentlich nicht, Frau Hillmann.« Er stockte. Doch dann nahm er sich ein Herz und fuhr fort: »Ich bin eigens hergekommen, weil ich hörte, dass Sie große Sorgen haben.«

Friederike Hillmann sah ihn verblüfft an. »Das gibt es doch nicht, Justus. Deshalb sind Sie nach Breitenstein gekommen?«

»Ja, obwohl ich Ihnen nicht helfen kann, Frau Hillmann.«

Die alte Dame streckte die Hand aus und legte sie auf Justus’ Arm. »Danke, Justus. So etwas gibt mir wieder etwas Lebensmut. Seit Wochen warte ich vergeblich darauf, dass einer meiner Bekannten kommt und das sagt, was ich eben aus Ihrem Munde gehört habe. Aber alle haben mich vergessen. Freundschaften halten allem Anschein nach nur so lange, wie es einem gut geht.« Das hörte sich sehr verbittert an. Trotzdem warf Friederike Hillmann jetzt den Kopf in den Nacken. »Aber ich lasse mich nicht so schnell unterkriegen. Sie wissen, dass Breitenstein in Gefahr ist, unter den Hammer zu kommen, Justus?«

»Ja, das hat mir ein alter Bekannter geschrieben«, entgegnete er sehr bedrückt.

»Im Augenblick sieht es so aus, als könnte ich Breitenstein noch halten. Die Bank will mir noch eine Hypothek einräumen. Wenn ich das erreiche, dann werde ich klüger sein als vorher.« Friederike Hillmann senkte den Kopf. »Ich allein bin schuld daran, dass ich in diese Misere gekommen bin.«

Sie sah jetzt wieder auf.

»Justus, eine entsetzliche Leidenschaft hat mich seit dem Tod meines Mannes beherrscht – das Wetten. Wer so gesündigt hat wie ich, der muss seine Schuld auch ehrlich eingestehen, sonst kann er nicht neu anfangen.«

»Aber wie konnte das passieren, Frau Hillmann?«, fragte Justus. »Früher kannten sie nur eine Leidenschaft, die für rassige Pferde.«

»Ja. Aber von dieser Leidenschaft führte der Weg zu der anderen. Ich habe zuerst nur kleine Beträge verwettet. Doch als mein Mann vor drei Jahren starb, kam ich vollkommen aus dem Gleichgewicht.« In ihrer Stimme schwangen jetzt verhaltene Tränen. »Sie haben ihn gekannt, Justus. Damals, als Sie bei uns waren, hatte ich gerade erst geheiratet. Es war meinem Mann und mir nicht vergönnt, Kinder zu haben. Umso mehr schlossen wir uns aneinander an. Sein Tod war für mich kaum zu überwinden. Ich suchte einen Ausweg – und wählte den Falschen. Die Zerstreuung, die ich auf den Rennplätzen fand, kostete mich ein Vermögen. Als ich schließlich damit begann, das verlorene Geld zurückholen zu wollen, ging es erst recht bergab. Ich setzte immer höher, und das war mein Verhängnis.«

Justus konnte sich nicht genug darüber wundern, wie schonungslos sich Friederike Hillmann anklagte. »Und wenn Ihnen die Bank noch einmal hilft, Frau Hillmann«, warf er ein, »werden Sie es dann schaffen, das Gut wieder hochzubringen?«

Lange sah Friederike Hillmann ihren ehemaligen Verwalter an. »Ich bin nicht viel jünger als Sie, Justus. In unserem Alter kann man sich nicht mehr viel vornehmen. Für jedes Jahr, das uns der Herrgott noch schenkt, müssen wir ihm danken. So muss ich es auch ihm überlassen, ob er mir die Gelegenheit gibt, meine Sünden wiedergutzumachen. Aber es ist mein Traum, dass Breitenstein in der Familie bleibt. Ich habe keine Kinder, aber in Australien lebt ein junger Cousin von mir. Er ist erst zweiundvierzig Jahre alt und mein einziger Verwandter. Er heißt Andreas von Bruck. Sie wissen ja, das ist der Name meiner Familie, die Breitenstein gegründet hat. Bis zu meiner Heirat gab es hier keinen anderen Namen, aber ich hatte keinen Bruder. Es ist mein Wunsch, dass Breitenstein nach meinem Tod wieder einem von Bruck gehört. Andreas will auch gern nach Deutschland kommen. Er hat mich vor zwei Jahren besucht.«

»Aber wenn er jetzt schon zurückkäme, könnte er Ihnen doch helfen, Frau Hillmann«, meinte Justus.

Friederike Hillmann wehrte entsetzt ab. »Nein, nein, Justus. Ich kann Andreas nicht zumuten, dass er ein so verschuldetes Gut übernimmt. Bitte, verstehen Sie, dass ich vor ihm meine Sünden nicht so unbeschwert eingestehen könnte wie vor Ihnen. Ich habe Andreas vor zwei Jahren in dem Glauben gelassen, dass er Breitenstein ohne Lasten übernehmen könne. Dabei stand es damals schon nicht gut um den Besitz. Aber ich hatte mir vorgenommen, meiner Wettleidenschaft zu entsagen.« Sie ließ die Schultern sinken. »Leider habe ich das nicht vermocht. Der Teufel hatte mich in den Krallen.« Sie stand auf. »Kommen Sie mit, Justus. Ich will Ihnen zeigen, wie schlecht es bereits um Breitenstein bestellt ist.«

Sie verließ das Zimmer, und Justus folgte ihr sehr niedergedrückt. Erstaunt sah er, dass sie nicht zum Haupteingang ging, sondern zu einer Hintertür. Als sie im Freien war, sah sie sich ängstlich um. Dann griff sie nach Justus’ Hand und erklärte: »Auch wenn unsere Beine nicht mehr so jung sind, müssen wir jetzt ganz schnell gehen. Ich möchte nicht erwischt werden. Ich fürchte, dass einer meiner Gläubiger bald wieder auf Breitenstein auftaucht.«

»Herr Matausch?«, fragte Justus.

Nun blieb Friederike Hillmann doch stehen, obwohl sie es eben so eilig gehabt hatte. Sie sah erschrocken aus. »Sie kennen Anton Matausch, Justus?« Misstrauen flammte in ihren Augen auf.

»Nein, ich kenne ihn nicht, aber das Mädchen fragte mich, ob ich von Herrn Matausch käme.«

Friederike Hillmann atmete erlöst auf. »Ach so.« Sie ging nun wieder weiter.

Auf dem großen Gutshof war sehr wenig Betrieb. Er machte den Eindruck, als sei hier alles zum Sterben verurteilt. Friederike Hillmann schien Justus’ Gedanken zu erraten. »Wir arbeiten nicht mehr voll«, berichtete sie leise. »Nur die Allertreuesten sind geblieben, obwohl ich Ihnen zurzeit keinen Lohn bezahlen kann.« Sie öffnete die Tür des großen Pferdestalles und ging schnell hinein.

Justus blieb auf der Schwelle stehen. Er biss sich auf die Unterlippe. Friederike Hillmann sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Ja, der Stall ist leer. Mein ganzer Stolz, unsere vielen Pferde …« Ihre Stimme erstickte.

Justus stand unbeholfen vor ihr. Was sollte er ihr zum Trost sagen? Er war entsetzt. So groß hatte er sich das Ausmaß der Misere, die über Friederike Hillmann hereingebrochen war, nicht vorgestellt.

Jetzt hatte sich die Gutsherrin etwas gefasst. »Das wollte ich Ihnen nur zeigen. Es tut mir selbst am meisten weh, dass ich die Pferde verloren habe. Ich weine keinem Traktor eine Träne nach und auch keinem Stück Grund, aber die Pferde waren das Herz von Breitenstein. Bitte, kommen Sie wieder mit ins Haus zurück, Justus. Grete muss uns einen Imbiss herrichten.«

Friederike Hillmann verließ den Pferdestall nun sehr schnell. Justus hatte Mühe, ihr zu folgen. Er war noch wie gelähmt. Doch als sie an einer Scheune vorbeigingen, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er blieb stehen, weil er gemeint hatte, ein Pferd wiehern zu hören. Aber hatte Friederike Hillmann ihm nicht eben erzählt, dass sie kein einziges Pferd mehr besitze?

Auch die Gutsherrin war stehen geblieben. Jetzt sah sie Justus schuldbewusst an. »Ich war eben nicht ganz aufrichtig zu Ihnen, Justus. Ich wusste nicht, ob ich mir das leisten kann.« Sie zögerte noch einige Sekunden, dann öffnete sie die kleine Tür in dem großen Scheunentor. Sie winkte Justus, ihr zu folgen, und führte ihn hinter eine hohe Barriere von Heu. Justus hätte dahinter keinen Hohlraum vermutet. Jetzt aber sah er, dass das Heu künstlich aufgestapelt worden war. Dahinter stand ein Pferd. Es war ein arabisches Vollblut, das ihn an den Hengst Sandor vom Rosshof erinnerte.

Friederike Hillmann ging zu dem Pferd und klopfte ihm den Hals. »Das war immer mein Lieblingspferd. Die Stute Sheila«, sagte sie erschüttert. »Bis jetzt konnte ich sie retten, aber sie gehört mir eigentlich nicht mehr. Sie ist beliehen. Ich müsste sie hergeben oder das Geld, das mir Anton Matausch gegeben hat, zurückzahlen.«

»So ist das also«, sagte Justus. »Deshalb haben Sie so viel Angst vor diesem Mann.«

»Ja. Ich fürchte jede Stunde, dass er Sheila abholen lässt. Ich könnte dagegen nichts tun, weil ich das Geld, das ich ihm schulde, nicht aufbringen kann. Dabei hat er mich mit einem üblen Trick dazu verleitet, Sheila zu beleihen. Er hatte es schon lange auf die Stute abgesehen. Aber ich habe sie für alles, was er mir bot, nicht hergegeben. Auch dann nicht, als ich Geld schon bitternötig brauchte.«

»Und wie hat er es dann geschafft, dieser Anton Matausch, dass er jetzt doch ein Recht auf das Pferd hat, Frau Hillmann?«

Friedericke Hillmann seufzte. »Auf dem Rennplatz hat er es geschafft. Ich wusste damals noch nicht, dass er Geldverleiher war. Er führte sich bei mir als seriöser Häuslermakler ein. Als ich ihn damals auf dem Rennplatz traf, hatte ich seit Wochen nicht mehr gewettet. Da redete er mir ein, dass ein bestimmtes Pferd dieses Rennen gewinnen würde. Er wollte das genau wissen. Meine klaren Gedanken ließen mich noch einmal im Stich. Plötzlich hatte ich wieder die Hoffnung, hoch zu gewinnen. Also musste ich auch hoch setzen.« Friederike Hillmann ging von ihrem Pferd weg. »Ich habe sehr hoch gesetzt.« Ihre Stimme zitterte. »Ich nahm das Geld, das mir Anton Matausch bot, und unterschrieb, dass er entweder das Geld zurückbekomme oder Sheila in seinen Besitz übergehe. Ich habe damals nicht gewonnen. Jenes Pferd, dem Anton Matausch so große Chancen gegeben hatte, lief als Letztes ins Ziel. Ich hatte alles verloren. Seitdem bedrängte mich Anton Matausch, das Pferd abholen zu dürfen.«

»Und deshalb haben Sie es hier versteckt«, ergänzte Justus. Seine Stimme klang verständnisvoll. »Aber Sie werden ihm Sheila ausliefern müssen. Er besitzt Ihre Unterschrift.«

»Er soll aber Sheila nicht haben. Ich bekäme sie nie mehr zurück, aber ich hoffe doch, hier neu anfangen zu können, wenn mir die Bank hilft.« Das Gesicht der Gutsherrin hatte sich gerötet. »Ich hatte mir vorgenommen, Anton Matausch vorzuschwindeln, Sheila sei mir entlaufen. Alle, die noch auf Breitenstein leben, würden diesen Schwindel mitmachen. Sie wissen, dass Anton Matausch ein übler Mensch ist. Er genießt den schlechtesten Ruf, den man sich denken kann. Alle wussten das, nur ich nicht.«

»Aber mit diesem Schwindel werden Sie nicht lange durchkommen, Frau Hillmann.« Justus sah auf die Barriere von Heu.

»Das fürchte ich auch, und diese Angst lässt mich kaum noch Schlaf finden. Gewiss wiehert und schnaubt Sheila gerade in dem Augenblick, in dem Anton Matausch hier an der Scheune vorbeigeht. Dann ist der Traum, dass ich Sheila solange retten kann, bis ich das Geld aufbringe, um meine Schulden bei Anton Matausch zu begleichen, vorbei.«