Meine virtuelle Geliebte - Gunter Woelky - E-Book

Meine virtuelle Geliebte E-Book

Gunter Woelky

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Beschreibung

Die Novelle erzählt von der Liebe zwischen der Bildhauerin Dorothee Russo und dem in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenden PR-Unternehmer Niklas Still, der sich wie aus dem Nichts von Armut bedroht sieht. Meine virtuelle Geliebte erzählt auch von der Macht des Geldes, die keine Beziehung retten, aber jede Liebe zerstören kann. Die Geschichte bewegt sich - abgesehen von der Liebe - auf den Feldern Spiritualität, Natur, Psychologie und Kunst. Dem Leser begegnen die Ideen von spirituellen Lehrern, Philosophen, Komponisten, Regisseuren und Künstlern. Sie alle erweisen sich als erhebliche Einflussfaktoren in Stills Leben.

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Gunter Woelky

Meine virtuelle Geliebte

Novelle

Gunter Woelky

Meine virtuelle Geliebte

Novelle

© 2020 Dr. Gunter Woelky

2. Auflage 2020

Umschlagbild: Autor

Verlag und Druck: Tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

978-3-347-04048-9 (Hardcover)

978-3-347-04049-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und sonstige Veröffentlichungen.

Von diesen zwei, Natur und Kunst, bedenk, wie es

in der Genesis Anfang heißt, soll sich der Mensch

ernähren und sich mehren.

Dante Alighieri

Göttliche Komödie

Inferno, elfter Gesang

Hohe Düne liegt an der Ostsee 17° östlicher Länge, 54° nördlicher Breite, und ist der Landstrich, zu dem jene Reise führte, die unsere kürzeste war, denn sie dauerte von Samstagnachmittag bis Montagvormittag und markierte auf der Terrasse eines maritimen Fünf-Sterne-Hotels unter sonnigem, königsblauem Himmel vormittags gegen elf Uhr das noch unsichtbare, aber fühlbare Ende unserer Liebe, und weder Dorothee noch ich sprachen dieses Ende aus, aber während der für uns ungewöhnlich schweigsamen Autobahnfahrt von Rostock zurück nach Hamburg fühlte ich pure Verzweiflung, und jemand soll geschrieben haben, „Das war´s, und schon vorbei?“, und er meinte wohl das Leben, aber ich denke dabei vor allem an die kurze Liebe zwischen Dorothee und mir und auch an die Zeit vor ihr und könnte damit den Eindruck hinterlassen, vom Leben viel verstanden zu haben, und von der Liebe und von allem, was sich dazwischen hin und her bewegt. Aber ich, Niklas Still, muss sagen, es ist nicht an dem, denn heute begleitet das, worauf ich mit Sicherheit zurückgreifen kann, dieselbe Unsicherheit, die ich schon spürte, als ich damit begann, den Dämon in mir zu erahnen, und da ich ihn zunächst nicht finden konnte, neige ich dazu, zu behaupten, nicht viel verstanden zu haben von der Liebe und vom Leben, außer vielleicht jetzt zum Ende hin eine Idee davon zu bekommen, welche Kräfte hinter einer Tür existieren, von der ich nicht unbedingt alles wissen möchte, was sich jenseits von ihr verbirgt. Die Erinnerung hat mich betrogen. Dabei war ich felsenfest davon überzeugt, es könne nur auf diese Weise gesagt worden sein, aber ich habe es doch noch einmal überprüft. Der Satz „Das war´s, und schon vorbei?“ ging anders, nämlich „Das ging aber schnell / ich meine / das Leben“, ein Haiku von Ron Padgett. Steht auch im Internet und wird gern zitiert. Also doch das Leben. Ich bin beruhigt. Noch so einer wie ich. Aber der stellt keine Frage mehr, der stellt etwas fest, ist einen gehörigen Schritt näher dran als ich. Aber ich, ich bin noch nicht so weit, denn da sind noch einige Fragen, und ich nehme mir die Zeit, alles Wichtige aufzuschreiben, und werde mitteilen, welche Macht das Geld über die Liebe hat, die, so steht es geschrieben, stärker sein soll als der Tod.

Meistens habe ich mich darum bemüht, andere Menschen zu schonen. Gelegentlich ist das Gegenteil dabei herausgekommen. Beschwerden blieben also nicht aus, und nicht selten hat mein gut Gemeintes tatsächlich nicht nur Scherben, die zu kleben und zu kitten gewesen wären, hinterlassen, sondern eben auch irreparable Trümmer, und das tat mir dann aufrichtig leid.

Wieder lebe ich allein. Dorothee ist weg. Sie kam vor etwa drei Jahren, je nach Sichtweise, wann und auf welche Art unsere Liebe begann.

Wir hatten nicht viel Zeit für unsere Partnerschaft, und wie man weiß, fühlen Ältere die Zeit von zwei Jahren wie einen Zeitraum nicht etwa von siebenhundertdreißig Tagen, sondern viel mehr wie ein hundehüttengroßes, leichtes Paket, das nach dem Öffnen lauter kleine Päckchen enthält, die sich deshalb als Mogelpackungen erweisen, weil sie leer sind, und ganz unten im Karton findet der ornithologisch vollkommen desinteressierte Empfänger den Umschlag mit einem Gutschein für einen Fotoband über das Brutverhalten des Aptenodytes forsteri in der Antarktis – wo sonst? Damit will ich nicht sagen, die Zeit mit Dorothee wäre leer und absurd gewesen, denn das Gegenteil ist der Fall. „Einen hohen Tempel erkennt man schon an der Pforte“, sagen die Buddhisten. So war sie. Keine Frau in meinem Leben hat mich mehr fasziniert als Dorothee, aber in der Rückschau muss ich feststellen, wir beide konnten das Paket, das uns geschenkt wurde, nicht wirklich aufschnüren und wir brachten es sogar fertig, die vielen kleinen Päckchen, die es enthielt und die unmöglich Mogelpackungen hatten sein können, ungeöffnet liegen zu lassen.

Wir sprechen übrigens nicht mehr so oft von „Liebe“ oder „Liebenden“ oder „Liebesbeziehungen“, sondern mehr von „Partnern“ oder „Partnerschaften“, wohl deshalb, weil es den meisten von uns langsam dämmert, dass wir nicht wissen, was Liebe ist. Obwohl es kaum ein anderes Thema gibt, worüber sich die Menschen von Anbeginn der Kultur und vielleicht schon zuvor so viele Gedanken gemacht haben und worüber hunderte von Bücher geschrieben und ebenso viele Filme gedreht wurden, wissen wir nicht nur nicht, was Liebe ist, sondern es scheint so zu sein, dass wir immer mehr dazu sagen und sie doch immer weniger leben können, diese Liebe. Jedenfalls halten viele unserer Partnerschaften kaum mehr länger als eine Olympiade. Sehr häufig innerhalb von vier Jahren, sagen bundesdeutsche Statistiker, kommt das Aus. Manchmal denke ich, der Liebe wird es am Ende so ergehen wie dem Gott der christlichen Kirchen. Erst wurde der Glaube an ihn wegerklärt, dann begann der langsame Weg in die Gleichgültigkeit, übrig bleibt eine vage Erinnerung an eine große Idee. Vielleicht befindet sich die Liebe auf demselben Weg. Oder sie ist noch im Hoffnungslauf. Ihr wird immer mal wieder eine Chance gegeben, aber sie versteckt sich, Gott ähnlich, gern. Dabei hätten wir dieses Andere so bitter nötig, aber wen interessiert es schon, was wir Menschen brauchen.

Der Mann aus Nazareth lässt in diesem irdischen Verwirrspiel weiter auf sich warten, genauso wie die schon für das vergangene Jahrhundert angekündigte Wiederkehr seines fernöstlichen Kollegen Shakjamuni aus Lumbini. Das ist einerseits verständlich, denn wer betritt schon freiwillig dieses irdische Irrhaus, diesen Hort der Verwirrungen und Verblendungen und monströsen Katastrophen, aber es ist leider auch eine Form unterlassener Hilfeleistung. „Nur ein Gott kann uns retten“, hat Martin Heidegger zu Rudolf Augstein gesagt – ein Gott, nicht Gott, übrigens – und das liegt nun auch schon wieder ein halbes Jahrhundert zurück.

Dorothee ist maßgeblich an meiner Wortmeldung beteiligt; sie ist genau genommen ihr Anlass, obwohl sie nichts davon weiß.

Seit sie weg ist, arbeite ich wenig. Eigentlich arbeite ich gar nicht. Was nicht heißt, ich wäre nicht beschäftigt. Immerhin schreibe ich. Auch das ist Arbeit. Jenseits dieser Arbeit will man mich nicht mehr, weil ich unpassend geworden bin. Man sagt mir nicht, »Sie sind zu alt«. Aber ich weiß, man denkt es, denn ich sehe die Ergebnisse meiner Andersartigkeit. Die Ergebnisse sehen aus, als hätte ich fast nichts unternommen, denn als ich mich noch auf dem mir vertrauten Parkett der Auftragsakquisition bewegte, kam wenig zurück, fast gar nichts. Wie oft ich schon darüber nachgedacht habe, warum Menschen plötzlich zu alt sein sollen, oder sogar zu alt? Wofür zu alt? Angeblich gibt es einen Jugendwahn und der besagt, die Menschen seien davon besessen, so jung wie möglich auszusehen. Darüber ist viel diskutiert worden und ein paar Gedanken dazu müssen mir erlaubt sein, denn sie haben mit dem zu tun, was ich innerhalb der nächsten Wochen mitteilen werde.

„Ich werde immer zu jung sein für grau“, sagt die Werbewelt, aber das ist noch nicht alles, was an Absurdität zu reklamieren wäre. Längst vergessen ist die Weisheit Salomos, wonach das graue Haar eine Krone ist, die sich ein Mensch auf dem Weg zur Weisheit erwirbt. Weit verlockender als Weisheit ist der Spaß. Aber ältere Menschen erinnern durch ihr graues oder erkennbar gefärbtes Haar die jüngeren daran, auch sie werden eines Tages sterben, nur eben ein bisschen später. Ein echtes Ärgernis, diese Alten, Störfälle der Kulturindustrie. Das Ärgernis Tod ist aber nicht der Tod. Vielmehr fürchten sich die meisten davor, die Zeit nach diesem Leben vermutlich ohne Geld verbringen zu müssen. Das hört sich lustig an, aber selbst bei oberflächlicher Betrachtung dürfte nichts unser Leben so sehr beeinflussen wie das Geld. Die Gesundheit? „Was nützt mir die Gesundheit, wenn ich ansonsten ein Idiot bin?“ Ist nicht von mir, gefällt mir aber. Wenn du getauft werden willst, musst du Mitglied einer Kirche sein. Die Mitgliedschaft in einer Kirche kostet Geld. Das Geld für diese Kirche zieht der Staat ein. Wenn du für deine Taufe nur wenig Geld ausgeben willst, kannst du dich einer Freikirche anschließen. Die erwartet dann von dir eine Spende, und dafür brauchst du Geld. Wenn du auf die Taufe verzichten willst, aber doch die Schrift, die Heilige, mit dir führen möchtest, dann brauchst du Geld für die Schrift, die du dir natürlich auch schenken lassen kannst, aber wo und wann und wie willst du die lesen, wenn du weder ein Dach über dem Kopf noch einen Stuhl zum Sitzen dein Eigen nennst, weil du nämlich auch dafür Geld benötigst?

Kürzlich stellte mein Freund Jo mir zum ersten Mal diese Frage: »Wie soll es denn aussehen, dein Ende?«

»Schiebe mich nach draußen, damit ich den freien Himmel sehen kann, wenn es so weit ist«, sagte ich zu ihm.

»Wieso schieben? Wird es so schlimm? Ich meine nur, willst du einen Sarg oder eine Urne?«

»Eine Seebestattung.«

»Särge gibt es jetzt im Spitzendesign. Futuristisch sozusagen, als kämen die aus einer Fabrik des nächsten Jahrzehnts«, sagte Jo. Ich sagte: »Futuristisch scheint mir ein gewisser Widerspruch zu sein. Ein Sarg vom SargDiscount ist viel passender. Und weitaus günstiger.«

Der Tod kostet mehr als nur das Leben. Beerdigungen oder Urnenbeisetzungen sind teuer. Und fast alles, was zwischen Geburt und Tod passiert, wird völlig unsentimental vom Geld mitbestimmt.

In meinem Web-Blog schrieb ich:

„Geld ist einer der präzisesten Indikatoren über Sie und Ihre Beziehung zur Umwelt. Die Art und Weise, wie Sie mit Geld umgehen, sagt mehr über Sie als jedes Glaubensbekenntnis oder tausend verbale oder geblümte oder vergoldete Liebesbeweise für Ihren Partner. Es gibt sehr unterschiedliche Formen, die Geld annehmen kann, Scheine, Münzen, Zertifikate, Aktien usw. Diese verschiedenen Arten von Geld sind hier nicht gemeint. Dass Geld ein Wert ist, wissen nur wenige. Nicht die Welt hängt am Geld, sondern das Geld hängt an Ihnen. Besonders, wenn Sie zu wenig oder zu viel davon haben. Es stimmt nicht, dass Reiche Gesundheit nicht kaufen können. Es trifft auch nicht zu, man könne mit Geld sein Leben nicht verlängern. Es trifft aber immer noch zu: Wenn du arm bist, musst du früher sterben, mindestens irgendwie schäbiger beerdigt werden. Ich weiß von jemandem, der sich auf dubiosen Wegen ein lebenswichtiges Organ gekauft hat, ohne dessen Transplantation er gestorben wäre. Solche Fälle gehören nur zu den krassen Ausprägungen des Themas Geld, aber es gibt sie. Im Normalfall ist die Sache mit dem Geld viel weniger offensichtlich. Wenn Sie kurz vor der Insolvenz stehen, schrumpft Ihr Gehirn auf Erdnussgröße und hat ausschließlich Raum für eine einzige Frage: „Woher kriege ich neues Geld?“ Wenn Sie so viel Geld haben, dass Sie weder ein noch aus wissen, um zu klären, was Sie damit machen sollen, wird Ihr Gehirn zu einem Idiotenhügel, der darüber jammert, dass der Berg zu flach ist, um auf Skiern eine anständige Schussfahrt hinzulegen. Der Fluch, der auf dem Geld liegt, ist der, entweder zu wenig oder zu viel davon zu haben. Die einen, die zu wenig vom Geld haben, sagen, es müsse mehr sein, und die anderen, die zu viel Geld haben, sagen, es muss mehr werden, am besten immer mehr. Die Frage entzündet sich daran, was Sie zu tun gedenken, wenn Sie genug davon haben. Und was ist genug? Vor ein paar Jahren hörte ich in einer Talkshow den Regisseur und Drehbuchautor Dieter Wedel einen seiner Filmhelden zitieren: „Ich gebe Geld aus, das ich nicht habe, um Dinge zu kaufen, die ich nicht brauche, um Leute zu beeindrucken, die ich nicht mag.“ Im Publikum brach lautes Gelächter aus, denn die meisten Zuschauer hielten die Idee für urkomisch. Ich fand das nicht vorbehaltlos lustig, denn es trifft auf unerhört viele Menschen im kapitalistischen Abendland zu. Warum? Die erste simple Antwort scheint zu sein, man könne sich mit Geld Sicherheit und Ansehen erkaufen. Ganz dumm ist dieser Gedanke nicht. Die gesamte Versicherungs- und Immobilien- und Investment-branche lebt von dieser Idee. Und das nicht schlecht – falls in Ihrem Wertesystem materielle Sicherheit vorkommt. Die Gemeinheit am Geld liegt in dessen Totalitarismus. Wenn Sie es haben, hat es Sie. Wenn Sie es nicht haben, hat es Sie auch. Wenn Sie knapp bei Kasse sind oder arm, ist das keine Schande. Passieren kann das fast jedem. Das Dumme daran ist, das Thema Geld nimmt im Falle dauernder Abwesenheit einen dauerhaften Raum ein, Raum, der Sie ansaugt wie ein schwarzes Loch. Bei fast allem, was Sie tun, und noch mehr bei dem, was Sie sich nicht leisten können, schleicht auf gespenstische Art das nichtvorhandene Geld neben Ihnen her. Es kann Ihnen nicht nur Lebensfreude nehmen, sondern auch Ihre Lebensqualität rauben. Sie brauchen eine unerhört große Portion Selbstachtung und Selbstliebe, um nicht in dieses schwarze Loch gezogen zu werden. Geld macht abhängig, also unfrei. Kein Geld auch. Die Alternative ist, aus der Mittellosigkeit einen Kult zu machen. Das können Sie tun, indem Sie zum Beispiel Nonne oder Mönch werden und ein Armutsgelübde ablegen. Oder Sie entdecken ein Stück Schönheit darin nichts zu besitzen. Ich habe vor einer derartigen Haltung enorm viel Respekt. Aber eins ist klar: An der Unterhaltungskultur unserer so genannten modernen Gesellschaft können Sie dann nicht teilhaben. Entscheiden Sie selbst, ob das ein Verlust ist. Sie haben die Wahl, und eine Wahl zu haben bedeutet Freiheit.“

„Freiheit“ ist ein schönes, altes Wort. Seit Jahrhunderten verdichtet sich die Tendenz, den Wert eines Menschen an dessen Einkommen zu messen. Erfolg orientiert sich am Kontostand. Aber der Streit zwischen Haben und Nichthaben ist eigentlich kein Streit um die Frage, wer hat oder wer nicht hat, wer oben und wer unten ist, wer reich oder wer arm ist, sondern es geht um die Entscheidung, wer lebt oder wer mitten im Leben schon tot ist.

Und wenn wir dann am Ende angekommen sind, am Großen Nichts, und feststellen, dass wir entweder nichts feststellen und dass auch niemand mehr da ist, der feststellen könnte, es ist nichts festzustellen, dann, denke ich, wie es der Teufel eingerichtet hat, wird noch ein herumzerrendes und gequältes restwinziges Etwas da sein, das zetert und sich sorgt und sich fragt, wo der Aktienindex steht und wie sich der Zinssatz für das Tagesgeld entwickeln wird.

Es fühlt sich an, als würde ich sterben, denn ich habe meine Auftraggeber verloren und finde keine neuen, weil mein Haar grau wird und ausfällt, oder erst das eine, dann das andere. Manche halten die Interpretation, man würde beim Verlust des gewählten Berufes seine Würde verlieren, für übertrieben. Ich nicht. Jedenfalls gilt diese Art von Tod für jene, die keine Energiereserven mehr haben, etwas Neues zu beginnen. Ich kann nichts Neues mehr beginnen und unter anderem schreibe ich das auf, weil man wissen sollte, warum das so ist und was – abgesehen vom Geld – mein eigener Anteil ist an meinem frühen Tod mitten im Leben. So fühlt es sich nämlich an, wenn man abhängig wird von den Zuwendungen anderer, von denen man Geld ohne Arbeit bekommt, ein Umstand, der vielleicht schlimmer ist als der Umstand, an einer Grippe zu sterben: Man fühlt sich entmündigt, gedemütigt, wertlos. Unattraktiv? Ja, das auch. Sex soll, so wird behauptet, ein unverzichtbares Gegengewicht zur Arbeit sein. Die Medien sagen uns, noch bevor wir selbst Erfahrungen auf diesem Gebiet machen, was Sex ist, wie er aussieht oder besser noch, wie Sex aussehen sollte und wie er sich anzufühlen hat. Und wenn wir dann mitten im ersten zärtlichen Getummel den Duft der Frauen oder den Geruch der Männer wahrnehmen, sind wir mehr erschrocken als verführt ob dieses Unterschiedes zwischen Sex im Kopf und Sex im Leben und können nicht spüren, was sich da abspielt, weil zu viele Bilder und noch mehr Geschichten abgespeichert sind, Bilder und Geschichten, die den Zugang zum erotischen Inneren mit flimmernden medialen Vorhängen versperren. Sex wird gern mit Liebe verwechselt.

Mir, dem Melancholiker, fällt es leicht, darauf aufmerksam zu machen, wie uns durch diese Verwechslung ein gefährliches Quantum an Ernsthaftigkeit und gegenseitigem Respekt verloren geht. Liebe und sinnvolle Arbeit sind die Voraussetzungen für Glück, und wenn beides fehlt, bleibt als letzter Gesellschafter nicht etwa das kleine Nichts übrig, sondern nur noch Unterhaltung. Und selbst in der Unterhaltungsbranche genügen die Themen selbst schon längst nicht mehr, denn das Auge quotet mit. Ohne Erotik fällt sie, die Quote. Ich sage das als Mann, der nicht weiß, ob Frauen ebenfalls mit erotischem Blick ihre Talkshow auswählen. Es mag viele Ältere ohne Arbeit geben, deren hohe Qualifikation ihnen deshalb nichts mehr nützt, weil sie zu erotischen Neutrinos mutiert zu sein scheinen.

Ich habe Zeit; Zeit, die mir nicht mehr neu entsteht, weil alles irgendwie schon einmal stattgefunden hat in meinem Leben. Alles, bis eben auf den tödlichen Umstand. Das ist wie ein Automatismus, fast so als würde der vom zerwühlten und zerzausten Nervensystem eines Getriebenen gesteuert werden.

Leben bedeutet, Luftschlösser auf Treibsand zu setzen. Aber selbst die Illusionen sind in die Jahre gekommen, denn es ist schon fast alles vorbei, längst schon ist zu viel misslungen. Man sagt mir nach, neuerdings, ich hätte zu wenig gegeben, oder das Falsche gegeben, oder zu spät gegeben, oder zu wenig Verantwortung übernommen. Und was nicht noch alles über