Meines Vaters Straßenbahn - Eberhard Panitz - E-Book

Meines Vaters Straßenbahn E-Book

Eberhard Panitz

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Beschreibung

Liebe, Leid und Zuversicht im zerbombten Dresden – Neuanfang und Aufbau vor einer eiligen Ewigkeit von Jahren. Die autobiographische Erzählung über eine Dresdner Familie, im Jahre 1980 von Celino Bleiweiß für das DDR-Fernsehen verfilmt, widerlegt die Legende, daß 'solche Bücher' in der DDR nicht gedruckt worden wären. Der Vater lebt im engen Kreis der Familie und des Berufs – seiner Straßenbahn. Nach dem verhaßten Krieg und einer langen Gefangenschaft, angesichts der Stadt in Trümmern, findet der Vater trotz aller Anstrengungen und Illusionen nicht in sein gewohntes Gleis zurück. Mühselig und fragend versucht sich der Sohn selbst in dem umgestülpten Leben zurechtzufinden. Dies in einer dramatischen Zeit, als aus der Verwüstung und Verwirrung eine neue Welt entstehen sollte: Träume, Hoffnungen, Freuden und Lasten der DDR-'Gründergeneration'. Die Neuauflage folgt dem Text der DDR-Ausgabe von 1979 und wurde von Eberhard Panitz um ein aktuelles Vorwort und das einstige Echo zu Buch und Film im historischen Dresdner Straßenbahner-Lokal 'Linie 6' ergänzt.

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Seitenzahl: 236

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Eberhard Panitz

Meines Vaters Straßenbahn

Erzählung

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Die Kinder sind in alle Welt zerstreut, aber jedes hat an Stelle der verschwundenen Erbschaft den Atem des Elternhauses wie ein Stück von Vaters Totenhemd mitgenommen.

Bella Chagall: Brennende Lichter

Meines Vaters Straßenbahn,

wie sie einmal war, gibt es nicht mehr. Schon als ich im Jahre 1978 dieses Buch schrieb, gab es kaum noch irgendwo Straßenbahnschaffner, die mit ihrer Schaffnerkasse am Hals, Fahrkarten verkauften. Zum Entsetzen meines Vaters, der zeitlebens Schaffner gewesen war, taten es kleine Boxen auf dem Vorderperron auch, in die man damals zwei Groschen hineinsteckte, mehr kostete die Fahrt quer durch meine HeimatstadtDresdenbis 1990 nicht. Ich schrieb das Buch bei einem längeren Studienaufenthalt im Mittelwesten der USA, wo es ohnehin keine Straßenbahnen gab und gegeben hatte, nur in San Francisco sah ich dann zu meiner Freude die berühmten Cable Cars. Ich fuhr damit über die Hügel und durch China-Town zumFischereihafenund wurde unterwegs erstaunlicherweise noch von uniformierten Straßenbahnschaffnern abkassiert. Das hat mich darauf gebracht, über Verlorenes aus früher Kindheit und der Jugendzeit nachzudenken. Ich begann dort dieses Buch zu schreiben und schrieb es auch in den fünf Monaten, die ich da lebte, zu Ende. Erstaunlicherweise fiel mir in der Ferne und mit dem Abstand so vieler Jahre vieles wieder ein, sogar die Straßen und Wege hatte ich wie den genauen Stadtplan und die Wanderkarten mit den Wäldern, Gewässern und Bergen um Dresden ganz frisch in Erinnerung, sogar in der völlig anderen Welt direkt vor Augen.

Mein Vater war schon tot, als ich dieses Buch schrieb, meine Mutter ist inzwischen gestorben. Über ein halbes Jahrhundert ist es ja her, als geschehen ist, was hier geschildert wird – eine ereignisreiche Zeit, für uns inmitten Europas nach dem furchtbaren Krieg dann trotz allem eine Friedenszeit. Es ließe sich von meinen Schulfreunden erzählen, die sich unlängst fast vollständig und noch quicklebendig zusammenfanden. Sogar eine Lehrerin, die allerjüngste, uns im 9. und 10. Schuljahr nur wenige Lektionen vorauseilende Russischlehrerin, war mit dabei. Immerhin die traurige Kunde vom Tod zweier Mitschüler erreichte uns, dazu die von fast allen älteren Lehrern, die ja heute neunzig, wenn nicht hundert Jahre alt wären. So sind auch fast alle Verwandten, von denen hier erzählt wird, tot – aber bei weitem nicht die lieben Cousinen und Cousins, der jüngere Bruder und die eine oder andere Jugendliebe und somit Beinahe-Verwandtschaft. Doch manche der frühen und späteren Freunde und Weggefährten habe ich aus den Augen verloren. Klein war schließlich der Kreis, als wir uns nach der neuerlichen Zeitenwende noch einmal in dem zauberhaften Dresdner Straßenbahnlokal »Linie 6« versammelten, wo wir einst in großer Runde die Premiere dieses Buches und des Fernsehfilmes gefeiert hatten.

Ich bin mir nicht sicher, ob es dieses berühmte Straßenbahn-Lokal heute noch gibt – oder ob es auch abgeschafft ist wie so manch Einzigartiges aus unserer versunkenen Welt?

Eberhard Panitz, im August 2006

Meines Vaters Straßenbahn

Es waren fast auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre, die ich in Berlin gelebt hatte, als ich eines Abends, an der Warschauer Brücke, in die Straßenbahn stieg und meinen Vater traf. Ich wollte zuerst meinen Augen nicht trauen; denn soviel ich wußte, war er zeit seines Lebens nie aus Dresden herausgekommen, nur, notgedrungen, im Krieg. Immerhin war es möglich, daß er als Veterinärsoldat irgendwann einmal kurierte Artilleriepferde auf einem Eisenbahntransport quer durchs Land und zur Front begleitet hatte. Warum sollte er nicht auf dem Rangierbahnhof unter der Warschauer Brücke die Tiere getränkt und gefüttert haben, vielleicht zwischen Trümmern und Rauch, in einem seltenen Moment der Ruhe nach einem Bombenangriff?

Aber das war lange her, fast vergessen, ich konnte mir darüber kein rechtes Bild machen, weil ich damals noch ein Kind und von allen ernsten Unterhaltungen ausgeschlossen war. Sicher hatte mein Vater davon erzählt, als er ein paar Monate vor Kriegsende kurz auf Urlaub kam, bedrückt, weil er nun an die Oder mußte, wo schon die Front stand. Ich erinnerte mich, daß von einem Bombardement und dem Tod vieler Pferde die Rede gewesen war, deshalb hatte man Vater einer Flakbatterie zugeteilt, die jedoch keine Flugzeuge, sondern Panzer bekämpfen sollte…

Damals wohnten wir in Dresden-Neustadt, nahe der Heide und dem Schützenhofberg, die Straßenbahn fuhr noch ohne Hindernisse vom Wilden Mann über die Marienbrücke und durch die Altstadt bis nach Plauen und Coschütz. Es war fast wie im Frieden, obwohl mein Vater statt der Straßenbahneruniform nun eine Soldatenuniform trug. Meist kassierten Frauen das Fahrgeld, es gab sogar weibliche Straßenbahnführer, junge Frauen, die den daheimgebliebenen alten Männern Konkurrenz machten und in Rekordzeiten Niedersedlitz erreichten, obwohl sie dadurch den Fahrplan durcheinanderbrachten. »Ein Chaos ist das«, sagte mißbilligend mein Vater bei diesem letzten Urlaub, wenige Tage vor den Bombenangriffen Mitte Februar. Denen folgten noch einige im März und April, bis die Stadt ein Trümmerhaufen war. Viele Triebwagenund Anhänger wurden dabei beschädigt, Oberleitungen zerfetzt, Gleise verbogen und zerstückelt; die meisten Strecken waren wochenlang unpassierbar. Durch Kollegen meines Vaters hörten wir später, daß viele der jungen, eifrigen Fahrerinnen ums Leben gekommen waren, und in mehreren Straßenbahnzügen hatte man Dutzende verkohlter Leichen von Fahrgästen gefunden.

Ich war verwirrt, als ich meinen Vater in der Straßenbahn der Linie 4 an der Warschauer Brücke sah und er zu mir sagte: »Junge, das Fahrgeld, bitte.« Es war immer ein bißchen rauchig in dieser Gegend, die Güter- und Personenzüge rangierten Tag und Nacht auf zwanzig Gleisen da unten hin und her. Die Schwaden zogen über die Brücke, durch die angrenzenden Straßenfluchten, und umwölkten auch die Autos und Fußgänger, die deshalb manchmal in Gefahr gerieten. An diesem Abend war es besonders düster nach einem Regenschauer, der mich erwischt hatte, ehe ich in die Bahn eingestiegen war. Nun wollte mir nicht in den Kopf, daß ich Fahrgeld zahlen sollte, noch dazu meinem Vater. Ich hatte schon meine zwei Groschen in die Zahlbox gesteckt, wie es neuerdings üblich war, und einen Fahrschein in der Hand. »Hier«, sagte ich, brachte jedoch nicht fertig, ihm den Schein zu zeigen, den Beweis, daß sein Erscheinen überflüssig, ja anachronistisch war. »Hier bist du jetzt?« fragte ich verlegen. »Schon lange?«

Sosehr ich mich über die Begegnung mit meinem Vater an diesem Ort und zu dieser Stunde wunderte, sein Äußeres war mir vertraut. Er trug wie vor dem Krieg seine dunkelgrüne Straßenbahneruniform; die Knöpfe, Abzeichen und Kragenspiegel blitzten, besonders die kleine goldene Straßenbahn an der Schirmmütze. An einem Lederriemen hing die blankgeputzte Wechselkasse, mit der ich als Kind spielen durfte, wenn er vom Dienst nach Hause kam. Die Geldscheine und Markstücke hatte er ordnungsgemäß auf dem Trachenberger Depot abgerechnet, Fünfpfennig- und Groschenstücke zu Rollen verpackt, doch die abgerissenen Fahrscheinblocks und die Ein- und Zweipfennigstücke überließ er mir. Ich rückte die Stühle zusammen, setzte Teddybären und Kasperpuppen darauf, lief wie in einem Straßenbahnzug von Fahrgast zu Fahrgast, drückte auf die Hebel, kassierte, wechselte, ließ das Geld herauskullern, steckte es wieder hinein und kannte nichts Schöneres, keinen anderen Beruf, den ich eines Tages wählen wollte. Es war auch immer selbstverständlich gewesen, daß Vater von Mutter und mir Fahrgeld verlangte, wenn wir einmal in seinen Straßenbahnwagen stiegen. »Es muß alles seine Richtigkeit haben«, sagte er. »Falls ein Kontrolleur kommt, möchte ich nicht als Betrüger dastehen, zu allerletzt vor euch.«

Doch an diesem trüben Abend war es anders, ich hatte meine Meinung in manchem geändert, mich für einen anderen Beruf entschieden und an die neuen Verhältnisse gewöhnt, die im Stadtverkehr herrschten. In Berlin fuhr ich meist mit der S- oder U-Bahn, die Straßenbahnen kamen im Autogewühl zu langsam voran, außerdem waren auf den Perrons wegen des Personalmangels Zahlboxen angebracht worden, und den Beruf des Schaffners gab es überhaupt nicht mehr. Irgend etwas in mir sträubte sich dagegen, das meinem Vater zu sagen, der ja zeitlebens Schaffner und gewiß dabei glücklich gewesen war, wenn man von dem geringen Lohn, 120 Mark im Monat, und dem unregelmäßigen Dienst absah. Manchmal verwünschte er die Nachtfahrten, bei denen die Züge so gut wie leer waren, oder den Sonntagsdienst, wenn er gern mit uns Spazierengehen oder in Tante Lottes Garten Stachel- oder Johannisbeeren pflücken wollte, die er gern aß. Er aß überhaupt sehr gern, reichlich und mit Genuß; alles, was Mutter auf den Tisch brachte, lobte er überschwenglich. In der Not-Zeit nach dem Krieg dagegen kam es wegen der Esserei zu Zank und Streit, als er ausgehungert, abgemagert zu einem Skelett aus der Kriegsgefangenschaft hinterm Ural zurückgekehrt war und oft über das letzte Brotstück herfiel.

Das hatte mich und meinen kleinen Bruder Achim, der kurz nach Kriegsbeginn geboren wurde, unseren Vater also nur als Soldaten kannte, nicht als Straßenbahnschaffner mit der Wechselkasse, die leider vor der Einberufung abgeliefert werden mußte, erschreckt. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft warteten wir beide darauf, auch Mutter, daß Vater wieder seine Straßenbahneruniform anzog und die Kasse umschnürte, sie dann mit nach Hause brachte, damit alles wie früher war. Es hätte sogar noch schöner sein können, weil mein Bruder mitspielen und schon das Geld zählen konnte, er kam bald zur Schule und begriff sehr schnell, was ich ihm beibrachte. Aber Vater hockte erst einmal monatelang zu Hause, weil er einfach keine Kraft und Lust zur Arbeit hatte, sprach kaum ein Wort mit meinem Bruder und mir. Und Mutter war dauernd unterwegs, sogar am Wochenende, um irgendwo auf dem Land ein paar Bettlaken, Kopfkissen oder Handtücher gegen Kartoffeln, Brot oder wenigstens Haferkörner einzutauschen, die ich dann mit dem Hammer zu Flocken zerklopfte. Nicht einmal dazu raffte sich Vater nach seiner Heimkehr auf.

»Bist du mir noch böse?« fragte mein Vater, als sich der Rauch verzogen und die Bahn schon weit von der Brücke entfernt hatte – in welcher Richtung, darauf achtete ich jetzt nicht. Ich saß da und starrte ihn an, stumm wie ein Fisch, doch böse oder nachtragend war ich nicht, obwohl ich mich deutlich an alles erinnerte, was sich damals bei uns zu Hause zugetragen hatte. Er schien zu wissen, wo die Schuld zu suchen war, daß schließlich Mutter vollends ihre eigenen Wege ging und immer öfter von Hinauswerfen, Scheidung, von Schluß und Ende sprach. Sie war achtunddreißig Jahre, eine schöne, dunkelhaarige Frau, der viele Männer nachliefen, ihr auch manchmal Geschenke brachten, Kostbarkeiten wie Schokoladentafeln, Pralinen oder Biskuits, die sie uns beiden Jungen heimlich zusteckte. Einmal riß mir Vater ein dick mit Butter und Leberwurst bestrichenes Brötchen aus den Händen, das sie mir gegeben hatte, und aß es gierig auf. »Sei still!« schrie er Mutter an, die so entsetzt war, daß sie gar keine Worte fand. »Ihr hättet mal erleben müssen, was ich erlebt habe, seid bloß still.«

Vor dem Krieg tranken wir abends Tee, am Sonntag mit einem Schluck Rum und viel Zucker, ich bekam auch eine Tasse eingeschenkt. Wenn ich ins Bett mußte, bat ich darum, die Schlafzimmertür offen lassen zu dürfen. Ich hörte dann noch eine Weile, wie sich meine Eltern leise unterhielten. Vater sprach bedächtig, meist über ein und dasselbe: »Wir haben´s wirklich gut mit unsrer Laterne vorm Fenster, dadurch sparen wir viel Strom.« Die Stubenlampe wurde ausgeschaltet, es war hell genug, um lesen zu können, ohne sich die Augen zu verderben. Meine Mutter hatte eine Menge Bücher mit in die Ehe gebracht, Memoiren von Fürstentöchtern, Liebesgeschichten, auch zerlesene Romane, die sie oft hervorholte, sonst erfolglos vor mir versteckte, darunter vieles von Zola, auch »Moll Flanders«, »Die Kameliendame«, »Anna Karenina«, meine Lieblingsbücher. Es fiel immer genug Licht ins Schlafzimmer, daß ich unter der Bettdecke schmökern und die wenigen Worte aufschnappen konnte, die meine Eltern nebenan wechselten. »Jetzt mach die Tür zu, der Junge schläft längst«, sagte Vater nach einer Weile. Er hörte Radio, Musik oder den Bericht von einem Boxkampf. Für die Nachrichten, die er »Gequatsche« nannte, interessierte er sich nicht, auch nicht für Zeitungen oder Mutters Bücher, deshalb kam er nie auf die Idee, daß ich mit der »Kameliendame« ins Ehebett hinüberkletterte und die Nachttischlampe einschaltete und stundenlang brennen ließ. »Wie das bloß kommt, wir haben so gespart«, sagte er verwundert, wenn die Stromrechnung höher als erhofft ausfiel. »Ob sie uns da reinlegen, oder bezahlen wir am Ende die Laterne mit?«

Nein, wir waren Vater nicht böse, daß er sparsam und sogar geizig war. Meine Eltern hatten beide mit jedem Pfennig rechnen müssen, seit sie zusammen waren, obwohl auch Mutter immer arbeiten ging. Zuerst war sie Lehrling und Mädchen für alles bei der Firma Döring gewesen, einer Seifengroßhandlung am Bahnhof Mitte, die selber nie recht auf einen grünen Zweig kam. Meine Mutter zog mit einem Handwagen in der Stadt umher und belieferte kleinere Läden mit Waren, kassierte Rechnungen, bekam wenig Trinkgeld. Während der Inflation war manchmal ihr Wochenlohn am nächsten Tage auch nicht mehr als ein Trinkgeld wert. Später fand sie eine Aushilfsstellung im Kaufhaus Renner am Altmarkt, gleich rechts im Erdgeschoß, neben der Windflügeltür, in der Parfümerie. Es roch gut dort, die vielen hübschen Verkäuferinnen waren nett zu mir, wenn Vater mit mir hinkam, um Mutter abzuholen. Ich lief gleich hinter den Ladentisch und drängelte, daß sie Schluß machte und mit mir die Rolltreppe zur Spielzeugetage hochfuhr, zu den Dingen, die ich hier in den Regalen bestaunen konnte: all diese schießenden, kämpfenden Indianer- und Soldatenfiguren, galoppierenden Pferde, Fuhrwerke, Häuser, Zelte, Eisenbahnen – und wenn es kurz vorm Geburtstag oder Weihnachtsfest war, mußte ich mit Vater beiseite gehen, und Mutter kaufte etwas, irgendeinen Cowboy auf springendem Pferd mit einem Lasso, das man auswerfen und festziehen konnte. »Hat er so was nicht schon?« fragte Vater kopfschüttelnd, wenn Mutter ihn um Geld bat. »Er braucht viel nötiger was zum Anziehen.«

Auf ordentliche Kleidung achtete Vater sehr, seine Straßenbahneruniform war immer adrett, gebügelt und gebürstet, die Schuhe, Taschen und Riemen glänzten, auch an diesem regnerischen Abend in Berlin, als wäre er von der Haustür weg mit der Bahn gefahren und niemals ausgestiegen, um älteren Leuten beim Einsteigen zu helfen und »Fertig!« zu rufen und auf seiner Trillerpfeife zu pfeifen. Er war in den vielen Jahren nicht gealtert, sein Gesicht glatt, faltenlos, sorgfältig rasiert, das schwarze Haar gescheitelt, straff nach hinten gekämmt, ohne eine Spur von Grau. Wie immer trug er ein weißes Hemd unter der Uniform, das wechselte er jeden Tag. Nach Feierabend zog er eine ausrangierte Uniformhose an und die braune Hausjacke darüber, legte sich auf die Couch und sagte: »Laßt mich meine Fuffzehn machen«, schlief eine halbe oder dreiviertel Stunde fest und mit leisem Schnarchen, kleidete sich dann erst richtig an: Anzug, einen Schlips zum weißen Hemd und Staubmantel, Hut, sobald er das Haus verließ. Er besaß nur ein, zwei Anzüge und diesen eleganten Mantel, doch der war vom Schneider, der Stoff beste Qualität, die Schuhe wie lackiert, stets von ihm selbst »geflimmert«, wie er sagte, und repariert, sobald die Sohlen oder Absätze schiefgelaufen wären. »Du mußt deine Schuhe genauso pflegen, alle deine Sachen«, predigte er mir fast jeden Tag, doch machte sich meist gleich selbst darüber her. Am liebsten hätte er sich auch jetzt, bei dieser Straßenbahnfahrt, noch darum gekümmert; denn er blickte mich prüfend von oben bis unten an und schien mit meinem Äußeren nicht zufrieden zu sein. »Wie kommst du zurecht?« fragte er, und ich glaubte, er überlegte, welche von seinen Hemden, Jacken, Hosen und Schuhen für mich in Frage kämen; denn ich war nun genauso groß und auch ziemlich breitschultrig wie er. Sicher war alles noch wie neu, was er damals schon besessen oder sich in den letzten Jahren angeschafft hatte. Ich überlegte, wie es ihm in der Zeit ergangen war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Es kam mir so vor, als sei eine Ewigkeit seitdem vergangen, obwohl ich keine Spur einer Veränderung an ihm sah, nur ein seltsam starres Lächeln, das wohl Verlegenheit ausdrückte, weil ich schwieg und auch er nichts mehr zu sagen wußte. Nur die alte Floskel, die ich allzugut kannte, brachte er wieder vor: »Ordnung muß sein« und tippte auf seine alte, blankgeflimmerte Wechselkasse. »Ich kann da keine Ausnahmen machen, Dienst ist nun mal Dienst.«

Wegen seiner Ordnungsliebe und pedantischen Sorgfalt, mit den Dingen umzugehen, kam es zu den ersten Streitereien zwischen Mutter und ihm, an die ich mich erinnerte. Er konnte keine unaufgeräumten Schubfächer und Schränke ertragen, nörgelte an dem Nähkästchen herum, in dem Wolle, Zwirn, Stoffreste, Nähnadeln und Knöpfe wirr durcheinandergerieten, wenn Mutter etwas suchte. Nie fand sie die Schere, weil Vater sie dahingelegt hatte, wohin sie seiner Meinung nach gehörte. Genauso war es mit dem Schuhputzkasten, der Wäschetruhe, aus der auf geheimnisvolle Weise die Klammern oder die Leinen verschwanden, und mit den Schlüsseln zum Keller, Boden und für sein Fahrradschloß, die er zu seinem Zorn nie am rechten Platz wiederfinden konnte. Sein Fahrrad war mindestens fünfzehn Jahre alt, als er in den Krieg mußte. »Da hängt der Schlüssel«, sagte er beim Abschied zu mir, ernst und gewichtig, so daß ich mir vorkam, als wäre ich schon erwachsen. »Ich hab´s aufgehängt, damit die Reifen nicht leiden.« Er führte mich zu dem Rad im Keller, das er noch einmal geputzt und eingeölt hatte. »Bitte, achte darauf, daß kein Rost ansetzt, und benutze es nur im Notfall. Du weißt, was ich meine.«

Ich war siebeneinhalb Jahre und hatte nur einen einzigen Notfall erlebt, einen blutenden Mann auf der Straße am Friedhof, der vom Fahrrad gestürzt und unter einen Wehrmachtswagen geraten war. Mein Vater hielt meine Hand fest, sie war schweißnaß, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Er versuchte auch Mutter zurückzuhalten, die sich jedoch losriß und zu dem Verunglückten lief und aufgeregt den herumstehenden Leuten zurief: »Helft doch!« Sie kniete sich neben den Mann hin, mitten auf der Straße, preßte ihr Taschentuch auf die Platzwunde am Kopf, verband ihn, nachdem irgend jemand Tücher gebracht hatte, und blieb so lange bei ihm, bis ein Krankenwagen kam und den Verletzten wegbrachte. »Mein Gott, Gerdi«, sagte Vater, bleich im Gesicht und zittrig am ganzen Körper auf einmal. »Ich kann so was nicht, nicht einmal mitansehen.«

Ein paar Leute stiegen in die Straßenbahn ein, bald wieder aus, ich nahm es kaum wahr. Auch mein Vater kümmerte sich nicht darum und blieb bei mir, obwohl er sonst seine Pflichten sehr genau nahm. Mich bat er nochmals ums Fahrgeld, zwinkerte mir zu und sagte: »Du hast mir nie ernstlich Schwierigkeiten gemacht.« Immerhin hatte ich sein Fahrrad geölt, geputzt und später mit Decken verhängt, als er Jahr um Jahr weggeblieben war. Ich hatte es nicht benutzt, sooft Mutter auch sagte, ich könne es gut gebrauchen und getrost nehmen, sie würde damit ohne weiteres fahren, wenn es nicht ein Herrenrad und der Sattel zu sperrig für sie sei. Denn bald nach der Geburt meines Bruders, vier Jahre bis zum Bombenangriff, mußte sie jeden Tag zur Arbeit in die Stadt, in die vollen Straßenbahnen, die sie haßte, noch als Vater Schaffner war. »Das Geratter, Gedränge, die schlechte Luft, und überhaupt«, stöhnte sie abends, am Trachenberger Depot, wo ich sie mit meinem Bruder abholte, nachdem wir tagsüber bei der Großmutter gewesen waren. »Ich möchte bloß wissen, ob ich in meinem Leben noch einmal mit einem Auto oder Flugzeug in der Welt herumkomme.«

Einen Urlaub, eine Reise irgendwohin gab es nie. Nur Mutter fuhr einmal im dritten oder vierten Kriegsjahr nach Lemberg, um einen Feldwebel zu treffen, den sie im Kaufhaus Renner kennengelernt hatte. »Ich habe ihm die beste Seife gegeben, die versteckt in einer Ecke lag«, erzählte sie später, als die Nachricht kam, daß er noch im letzten Moment an der Oderfront gefallen war. »Er liebte feine, teure Sachen, er war ein gebildeter Mensch.« Tagelang weinte sie, wochenlang schrieb sie an Vater keine Zeile, von dem regelmäßig Feldpostbriefe kamen, die immer mit dem Satz endeten, daß es ihm den Umständen entsprechend gut ergehe, was er auch von uns hoffe nebst allen Verwandten und Bekannten, die wir freundlichst grüßen sollten. »Freundlichst«, ereiferte sich Mutter, wenn sie das las. »Was denn noch?«

Von Lemberg war sie wie verwandelt zurückgekommen, ernst, trotzdem übermütig und entschlossen. Die Fahrt war langwierig und gefährlich gewesen, mit einem Hotelzimmer hatte es nicht geklappt, doch dann war sie mit diesem Feldwebel am Stadtrand bei Bauern untergekommen. Nachts war etwas explodiert, es hatte eine Schießerei gegeben, zwei Tage war die Vorortbahn wegen der Partisanengefahr gesperrt. »Seitdem weiß ich, was los ist, niemand soll mir mit dummem Gerede kommen«, sagte sie und ging abends immer häufiger weg. Sie hatte sich vorgenommen, aus dem vertrackten Kriegsleben das Beste zu machen, rackerte sich nicht mehr bei der Arbeit ab, unterhielt sich mit Kunden, die bißchen mehr Geist hatten, wie sie sagte. »Sieh her, was mir jemand geschenkt hat«, sagte sie und zeigte mir ein Lederetui mit einem winzigen Füllfederhalter. »Wenn ich Zeit hätte, würde ich mich hinsetzen und damit einen Roman über mein Leben schreiben.« Oft war ihre Tasche voller Parfüm- und Kölnischwasserflaschen, Seife, Haarwäsche, die in den Lagerecken verstaubten, weil im letzten Kriegsjahr fast nur noch Einheitsseife und Scheuersand auf Marken verkauft wurden. Vieles von den Luxusdingen schickte sie dem Feldwebel nach Lemberg, manches tauschte sie gegen Zigaretten, Kaffee und Kognak ein, dafür wieder erwarb sie Kartoffeln, Mehl oder Zucker. »Es ist möglich, daß uns noch Bomben zerfetzen oder das Haus abbrennt, aber hungern werden wir nicht«, sagte sie und gab uns Jungen das Beste, aß selbst reichlich und brachte auch noch etwas der Großmutter und ihrer kränkelnden Schwester Lotte. »Ich kann Leidensmienen nicht ausstehen, man muß sich durchbeißen und seine Zähne zeigen, solange man welche hat.«

Wir hatten längst das Frankfurter Tor hinter uns gelassen, die Hochhäuser mit den runden Türmen, die abends angestrahlt wurden, Berlins Pracht aus den fünfziger Jahren. Auch mein Vater schien dafür blind zu sein und rief nicht einmal die Haltestellen aus, was er in Dresden niemals versäumt hatte. Bei guter Laune wies er Fremde auf Sehenswürdigkeiten hin: »Die Katholische Hofkirche, das Schloß mit dem Fürstenzug, einhundertundzwei Meter lang, auf Kacheln original Meißner Porzellan.« Er erzählte mir die komischsten Geschichten von der alten Stadt, an die er offenbar selber glaubte: »Die Kuppel der Frauenkirche ist aus Quark gemauert, weil es früher noch keinen Mörtel gab. Und August der Starke fuhr im Sommer mit dem Schlitten vom Schloß nach Moritzburg, sechzehn Kilometer, überall war Salz gestreut.« Er zeigte mir die Stelle im Geländer der Brühlschen Terrasse, die einem Daumenabdruck ähnlich war. »Da hat der König kurz draufgedrückt, als er einmal hier stand.« August habe dreihundertsechzig Kinder und so ungeheuer viel Kraft gehabt, daß er mit der linken Hand einen Trompetenbläser, mit der rechten einen Trommler zum Fenster hinausstrecken konnte. »Die mußten trompeten und trommeln, und er freute sich, wenn die Leute vorm Schloß zusammenliefen und ›Hoch lebe der König‹ riefen.« Den letzten König hatte Vater noch selbst gesehen, in einem einfachen Anzug und offenen Auto, das hatte man nach dem ersten Weltkrieg erst beschlagnahmt, dann aber freigegeben, damit der Monarch schnell und ohne Aufsehen verschwinden konnte. Vater wies auf die zerschossenen Sandsteinmauern des Dresdner Blockhauses am Neustädter Markt, wo sich in den Revolutionsjahren heftige Kämpfe abgespielt hatten. »Zeiten waren das«, sagte er, »es ging alles drunter und drüber, nur die Straßenbahn und ich blieben immer im selben Gleis.«

Nun setzte er sich zu mir, ohne vorerst weiter darauf zu dringen, daß ich das Fahrgeld bezahlte. Er holte sich aus der Uniformjacke einen Apfel, den er mit dem Messer schälte, zerschnitt und gerecht mit mir teilte. Auch das hätte er früher nie unterwegs auf einer Fahrt riskiert, nicht einmal in einer leeren Bahn. Nur an der Endhaltestelle ließ er es sich schmecken, am liebsten auf der Bank unter der Eiche am Wilden Mann, wo ich manchmal auf ihn wartete, wenn die Schule zeitig zu Ende war. Er fragte mich nie nach Schulaufgaben oder was ich gelernt hatte. Niemals brauchte ich ihm Hefte vorzulegen oder etwas auswendig Gelerntes aufzusagen. »Weißt du, diese Lehrer wissen gar nicht, was Arbeit heißt, und haben trotzdem die längsten Ferien«, sagte er, »diese Sesselfurzer!« Jeden, der in seinem Beruf nicht von früh bis spät auf den Beinen war, ließ er seine Verachtung spüren, sogar den freundlichen Herrn Pietzsch aus unserem Haus, einen Buchhalter, der im Winter den Schnee von der Straße schippte. »Weil der eben Bewegung braucht, sonst verkalkt der total«, sagte Vater und lachte sich ins Fäustchen, wenn die Schippe oder der Schaufelstiel brachen; er dachte nicht daran, ihm zu helfen. Noch weniger gut war er auf die Leute von Arbeitsfront, SA oder Partei zu sprechen, die er niemals grüßte. »Bonzen«, flüsterte er mir zu, »darfst du aber nicht laut sagen, weil die gefährlich sind.« Tiefer weihte er mich nicht in seine Urteile und Vorurteile ein. Er saß mit mir auf der Bank und sagte: »Pst!«, wenn ein Vogel zwitscherte. Außer seiner Dienstpfeife hatte er noch ein kleines, rundes Pfeifblättchen, das er zwischen Zunge und Zähne schob, um Vogelstimmen nachzuahmen. Er konnte damit trällern, meckern und sehr komische Laute hervorbringen, ohne daß man´s ihm ansah. Sobald jemand vorüberkam, den er nicht leiden konnte, zwitscherte er schrill und nervtötend, sah wie verträumt ins Blätterdach der Bäume hoch, doch beobachtete genau und ahmte später nach, wie sich die »Bonzen« und »Sesselfurzer« benahmen.

Einen von Mutters Brüdern, den Leipziger Onkel Hans, konnte mein Vater auf den Tod nicht leiden, weil er mit Figuren und Reliefs aus einer merkwürdig riechenden Kunststoffmasse handelte: Soldaten im Kampf, SA-Männer auf dem Marsch, bekannte Jagdflieger und U-Boot-Kommandanten und Hitlerjungen mit wehenden Hakenkreuzfahnen, alles braungefärbt. »Dieser Dieb und Halunke, jetzt macht der solchen Mist zu Geld«, sagte er zu Mutter und geriet heftig mit ihr aneinander. Sie entgegnete: »Sei still!« und verbat es sich, so von ihrem Bruder zu sprechen, noch dazu in meiner Gegenwart. Der Hans habe es schwer genug im Leben gehabt und endlich einen festen Halt gefunden. »Du hast ja keine Ahnung«, ereiferte sie sich, »wie schwer es ist, nach einem Fehltritt in der Jugend wieder hochzukommen.« Am Abend, hinter der angelehnten Schlafzimmertür, hörte ich, daß der Streit noch lange weiterging. Denn Mutter wollte das mit dem »Dieb und Halunken« um keinen Preis auf ihrem Bruder sitzenlassen. Sie behauptete, ihn besser zu kennen als jeder andere Mensch auf der Welt, er habe nie Schlechtes getan, nur immer Pech gehabt, alles sei nur eine unglückliche Verkettung von Umständen gewesen, aus der er sich endlich gelöst habe. »Wäre er denn der erste, den sie unschuldig eingesperrt hätten?« rief sie empört. »Du kümmerst dich um nichts, liest keine Zeitung, hörst keine Nachrichten, redest mit niemandem, der was zu sagen hat, sondern rümpfst nur die Nase, wenn dir was nicht paßt.« Sie schwor darauf, daß ihr Bruder die Schmucksachen und Pelze damals nicht aus der Altstädter