Meister Pippin - Franz Eugen Schlachter - E-Book

Meister Pippin E-Book

Franz Eugen Schlachter

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Beschreibung

Mit großer Freude lege ich dem geneigten Leser heute einen Neudruck des Büchleins „Meister Pippin“ von Franz Eugen Schlachter mit den besten Segenswünschen vor. Wie beim „Resli“ handelt es sich um eine biographische Skizze eines Lebens und zwar diesmal eines Schuhmachergesellen aus dem Schwarzwald. Schlachter erzählt in seiner unnachahmlichen Art die Geschichte dieses Wanderburschen und seinen geistlichen Werdegang, bis er schließlich – nachdem er – zum Glauben gefunden hatte, im 80. Lebensjahr selig in der Anstalt Beuggen heimgehen durfte. Manche Teile mögen uns heute seltsam anmuten – z. B. auch die Begebenheit mit Dorothea Trudel aus Männedorf usw. – aber der Leser möchte doch beachten, dass er es mit einer Zeit zu tun hat, die von der Heiligungsbewegung geprägt war, bzw. die mit manchen – heute kritisch gesehenen – geistlichen Dingen noch eher unvoreingenommen umging. Ein einfältiger Glaube ohne Hintergedanken herrschte vor. Karl-Hermann Kauffmann

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Meister Pippin

Bilder aus einem verborgenen Leben

Franz E. Schlachter

Impressum

© 1. Auflage 2021 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe

1. Neuauflage der Druckausgabe 2005 im Eigenverlag Freie Brüdergemeinde Albstadt

© 2005 Karl-Hermann Kauffmann, Albstadt

Erstmals 1898 erschienen bei: Expedition der „Brosamen“, Kommissionsverlag von P. Kober (vorm. C.F. Spittler) in Basel

Autor: Franz E. Schlachter

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-279-1

Verlags-Seite und Shop: www.ceBooks.de

Kontakt: [email protected]

 

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Inhalt

Titelblatt

Impressum

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Autor

Vorwort

1. Auf der Wanderschaft

2. Ein Besuch in den Cevennen

3. Wenig verloren und viel gefunden

4. Was ein kath. Priester und ein Hagelwetter vermag

5. Wie man ins Zuchthaus kommen kann

6. Eine glückliche Kur

7. Ein Pfahl im Fleisch

8. Ein Kolporteur von Gottes Gnaden

9. „Arzt hilf dir selber!“

10. Ein Meister im Dienen

11. Feierabend

Bohnelied

Chronologische Bibliographie Schlachters Schriften (nur auszugsweise):

Letzte Seite

Autor

Franz Eugen Schlachter war Prediger der Evangelischen Gesellschaft in Bern und Biel bzw. der Freien Evangelischen Gemeinde in Bern. Er war Schriftsteller, Verfasser verschiedenster Bücher und Broschüren, Herausgeber der „Brosamen“, einer erwecklichen evangelischen Volkszeitung und der Übersetzer der „Miniaturbibel.

Das Bild zeigt Franz Eugen Schlachter in jungen Jahren, ca. Mitte 20, als Prediger der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern

Geprägt war er von der Heiligungsbewegung, mit der er in jungen Jahren in Berührung kam und von seiner Ausbildung an der Evangelischen Predigerschule in Basel unter Inspektor Wilhelm Arnold-Rappard, einem Schwager von Carl-Heinrich Rappard. An dieser Schule kam er vor allem mit dem Gedankengut von Johann Tobias Beck in Berührung, dem großen Prediger und Theologen aus Tübingen, der in Balingen, Württ., als Sohn eines Seifensieders geboren wurde.

 

Vorwort

Mit großer Freude lege ich dem geneigten Leser heute einen Neudruck des Büchleins „Meister Pippin“ von Franz Eugen Schlachter mit den besten Segenswünschen vor.

Dieses Werk von Schlachter habe ich fast genauso verzweifelt gesucht, wie den „Resli“, der ja zwischenzeitlich ebenfalls als Neudruck vorliegt.

Wie beim „Resli“ handelt es sich um eine biographische Skizze eines Lebens und zwar diesmal eines Schumachergesellen aus dem Schwarzwald. Schlachter erzählt in seiner unnachahmlichen Art die Geschichte dieses Wanderburschen und seinen geistlichen Werdegang, bis er schließlich – nachdem er – zum Glauben gefunden hatte, im 80. Lebensjahr selig in der Anstalt Beuggen heimgehen durfte.

Eigentlich hieß „Meister Pippin“ Anton Hippin. Hansuli Heiniger berichtet in Schlachters Büchlein „Was Vater Heiniger uns erzählt...“ wie er 1852 bei ihm in Bern in der Junkerngasse übernachtete. Er hatte ihn auf dessen Kolportagereisen kennengelernt.

Die Geschichte mit der Krankenheilung in den Cevennen ist natürlich die Geschichte von Cyprien Vignes aus Vialas, die Schlachter in seinen „Brosamen“ bzw. der Broschüre „Frohe Botschaft für die Kranken“ veröffentlicht hat.

Manche Teile mögen uns heute seltsam anmuten – z.B. auch die Begebenheit mit Dorothea Trudel aus Männedorf usw. – aber der Leser möchte doch beachten, dass er es mit einer Zeit zu tun hat, die von der Heiligungsbewegung geprägt war, bzw. die mit manchen – heute kritisch gesehenen –. geistlichen Dingen noch eher unvoreingenommen umging. Ein einfältiger Glaube ohne Hintergedanken herrschte vor.

Danken möchte ich allen, die mitgeholfen haben, damit wir auch diese Broschüre von Franz Eugen Schlachter wieder auflegen konnten. Zuerst Torsten Geiger, der mit das Material in der Schweiz aufgefunden und besorgt hat, aber auch meinem Sohn Peter–Michael, der wieder das Ganze abgetippt und teilweise mit Fußnoten versehen hat und nicht zuletzt Pfarrer i.R. Franz Baumann, dem Enkel von Franz Eugen Schlachter, der mir wiederum die Berndeutschen Ausdrücke „übersetzt“ hat.

Ich wünsche dem Leser Gottes Segen.

Karl-Hermann Kauffmann

1. Auf der Wanderschaft

Im Lichte der goldenen Abendsonne wanderten zwei Handwerksburschen, mit schweren Felleisen1 bepackt, auf der staubigen Landstraße dem Rhein entlang. Die Beiden hatten ein schönes Stück Weges hinter sich. Waren sie doch heute Morgen nach der Frühmesse, der sie als getreue Söhne ihrer Kirche beigewohnt hatten, von St. Blasiens Münster tief im Herzen des Schwarzwaldes drin aufgebrochen, eben als die ersten Strahlen der Juni–Sonne das blinkende Kuppeldach der alten Klosterkirche in Gold verwandelten. Aus Gold bestand freilich die Kuppel nicht, sonst wäre sie wohl noch eher in die badische Münze2 nach Karlsruhe gewandert; aber auch das Kupferblech, das bis vor Kurzem die Kathedrale geschmückt hatte, war für die Armut der damaligen Zeit wertvoll genug gewesen, dass man es vom Kirchendach herunter in die Taschen der Leute fließen ließ. Wenn die Schweden im dreißigjährigen Kriege die protestantische Kirche mit Kugeln verteidigten, die sie aus dem Blei der Kirchenfenster gossen, warum sollte der Großherzog von Baden seinen durch Napoleons Brandschatzungen erschöpften Staatsschatz nicht mit Kreuzern füllen, die man aus dem Kupferdach St. Blasiens schlug? – Statt des wertvolleren Kupfers konnte man ja der Kirche eine minderwertige Blechkappe aufsetzen – denn ist nicht für die Kirche alles gut genug? – und eben weil dies erst kürzlich geschehen war, so glänzte auch die Kuppel im Morgenrot des Tages, an dem unsere beiden Handwerksburschen die letzte Frühmesse in ihrem lieben Schwarzwald feierten.

Sie waren echte Wäldersöhne, die beiden jungen Leute, Kinder jenes kuppenreichen Granitgebirges, das einen großen Teil unseres badischen Nachbarlandes bedeckt und seinen Namen dem düstern Tannenwald verdankt, der seine Höhen krönt. Zwar an ihrem Äußern hätte man die beiden Wanderer nicht als Wälder erkannt; denn für ihre Reise in die Fremde hatten sie sich in städtische Kleidung gehüllt; aber die feuerrote Weste – das charakteristische Unikum der Schwarzwäldertracht – blickte doch verstohlen aus dem Felleisen heraus. Der Wälder besitzt nämlich eine wunderschöne Tracht. Noch heute trifft man hie und da auf den Märkten von Freiburg im Breisgau und sogar in Basel die reckenhafte Hünengestalt eines Holzbauern ab dem Wald, oder sieht ihn den Rhein hinunterfahren auf seinem Floß, die Füße mit silberbeschnallten Schuhen bekleidet, darüber die Waden in weiße Strümpfe gesteckt, die von den schwarzen Kniehosen aus Samt festgehalten werden. Dazu bildet die scharlachrote Weste, wie gesagt, den unveräußerlichen Bestandteil der Tracht, so sehr, dass ein Wälderknabe, der zur Beerdigung seines Großvaters einmal partout seine rote Weste anziehen wollte, zum Vater sagte, wenn er die nicht tragen dürfe, so freue ihn die ganze „Leicht3“ nicht mehr. Zur Vervollständigung seines Anzugs trägt dann der Wälder noch eine schwarze Jacke, aber er ist eitel genug, dass er seine weißen Hemdsärmel nur halb damit bedeckt, indem er – es müsste denn grimmig kalt sein – dieselbe nur leicht und gefällig über die linke Schulter wirft.

Hatten aber auch die beiden jungen Wanderer für ihre Reise in die weite Welt eine gangbarere Tracht gewählt, so trug doch jeder von ihnen etwas bei sich, woran man den Wälder weit und breit erkennt. Seppli, so hieß der eine von ihnen, hatte eine große Schwarzwälderuhr über den Rücken heruntergehängt, offenbar weil seine Westentasche zu klein war für das respektable „Zyt4“. Im Schwarzwald werden nämlich keine Taschenuhren, sondern eben Wälderuhren fabriziert. Daran ist alles, so viel wie möglich, aus Holz geschnitzt – natürlich das Schlagwerk und die Kette nicht. Aber das Zifferblatt mitsamt den Zahlen, die Zeiger und sogar der Kuckuck, der bei jedem Stundenschlag aus dem oberen Stübchen herausspringt und das heitere Knarren der Kette mit seiner hellen Stimme begleitet, sind bei der echten Wälderuhr aus urwüchsigem Material geschnitzt, an dem das waldige Gebirge noch niemals Mangel gelitten hat.

Die Wälderuhren sind darum auch, Dank ihrer unverdorbenen Originalität und Dauerhaftigkeit, in der ganzen Welt bei Jung und Alt beliebt, wenigstens so weit die deutsche Zunge klingt und der Kuckuck schreit. Und zu der Zeit, von der wir reden, als noch kein Dampfross die Erzeugnisse ländlichen Gewerbefleißes zentnerweise ins Ausland beförderte, trug nicht selten der breite Rücken des Sohnes der Berge, der sich während des Winters über der Schnitzelbank gekrümmt, im Sommer den gesuchten Artikel hinab in die Städte der Niederung. Aber nicht nur die Uhren waren gesucht, sondern auch die Künstler, welche sie verfertigten und sich auf deren Reparatur verstanden, und darum verließen nicht selten die Söhne solcher Uhrmacherfamilien auf kürzere oder längere Zeit den heimatlichen Herd, um in der Fremde ein schönes Stück Geld zu verdienen, das ihnen bei der Rückkehr die Gründung eines eigenen Hausstandes ermöglichte.

In dieser Absicht hatte auch Seppli sein Bündel geschnürt und wanderte heute mit Toni, seinem Vetter, der nächstgelegenen Grenzstadt zu. Toni war freilich kein Uhrmacher seines Zeichens, sondern die hübschen, strohgeflochtenen Körbchen, die er auf dem Rücken neben dem Felleisen trug, verrieten, dass in seiner Familie eine andere Schwarzwälderindustrie, die Strohflechterei, zu Hause sei. Auf dem Walde gedeihen nämlich nicht nur schwarze, grobe Tannen, sondern auch feines, gelbes Stroh. Es ist eben dort auch, wie gar oft in der Welt, dass das Feinste sich neben dem Gröbsten findet, da, wo man´s am wenigsten vermutet hätte, und gewiss hat der Schöpfer in Seiner Weisheit nicht umsonst es so gefügt, dass oft

„Das Strenge mit dem Zarten, Dass Hartes sich und Mildes paarten.“

Freilich trägt der „grobe“ Wälder auch sein gut Teil bei zur Verfeinerung seines Strohs, so dass seine Geflechte nur von den feinsten Florentinerarbeiten übertroffen werden.

Toni war nun allerdings selbst kein Strohflechter; was er auf dem Rücken bei sich trug, war die Arbeit der feineren Finger seiner Schwester, denen er als dienstfertiger Bruder die Frucht ihres winterlichen Fleißes in Geld zu verwandeln versprach. Er brauchte ja nur nach Basel herunter zu kommen, so ward er seiner hübschen Körbchen schon los; oder sollten die Basler Frauen mit ihrem bekannten Sinn für das Feine und Ausgetüftelte ihn und seine niedlichen Sächelchen von der Türe weisen?

Sein Sinn stand freilich noch weiter als nach Basel hin. Er hatte das Schuhmacherhandwerk gelernt bei einem Meister, der seine Wanderjahre in Frankreich drüben zugebracht. Dieser hatte mit seinen Erzählungen von den Wundern der französischen Städte Toni´s Wandertrieb mächtig erregt, und besonders wünschenswert ließen dem Lehrling die welschen Brocken, welche der Meister so geschickt unter das Wälderdeutsch zu mengen verstand, die Kenntnis der französischen Sprache erscheinen. Tönten doch des Meisters Flüche noch einmal so kräftig, wenn er sie mit einem französischen diable5 würzte, und je weniger Toni den Sinn dieser und ähnlicher Ausdrücke verstand, desto größere Geheimnisse ahnte er dahinter, so dass ihn nach der französischen Bildung immer stärker verlangte, je näher das Ende seiner Lehrzeit kam. Galt doch auch damals noch im badischen Land französische Mode für das Schönste in der Welt, und wer der Mamsell so und so ihr Hofschuhmacher werden wollte, musste wissen, wie hoch man den französischen Dämchen die Absätze an den Stiefelchen macht.

Die beiden Jünglinge lenkten ihre Schritte von der staubigen Landstraße, wo wir sie getroffen haben, links dem Rheine zu, der dort seine smaragdgrünen Wellen in eiligem Laufe an Rheinfelden vorbei Basel zutreibt. Der wilde Geselle stürzt sich, durch sein erfrischendes Bad im Bodensee gestärkt, unterhalb Schaffhausen über hohe Felsen hinab. Dies gefällt ihm so gut, dass er auf der ganzen Strecke vom berühmten Rheinfall bis fast nach Basel hinunter den Purzelbaum zu wiederholen versucht. Bei Laufenburg gelingt das Kunststück ihm nahezu, aber wie er weiter unten bei Rheinfelden noch einmal einen Anlauf dazu nimmt, schlägt er sich den mutwilligen Kopf an dem „Stein“, der dort aus seinen Fluten hervorragt, so empfindlich auf, dass ihm die Luft für weitere Seiltänzerkünste vergeht, und bei seiner Ankunft in der „frommen Stadt“ macht er eine so entschiedene Wendung, dass von da an alle Tücke seines Herzens verschwunden ist und er wie ein ehrbarer Basler fortan gemessenen Schrittes seiner Wege geht.

Schwerbeladene Handwerksburschen laufen aber nicht so schnell wie der Rhein, und unsere beiden Kameraden waren nach zwölfstündigem Marsch müde genug, sich an den Ufern des schönen Stromes nach einem Nachtquartier umzusehen, um so mehr, als es eben sieben Uhr schlug, nicht auf Sepplis Wälderuhr, die ja auf ihres Meisters Rücken nicht gehen konnte, wohl aber an der alten Turmuhr des Schlosses, auf welches die beiden müden Wanderer ihre Schritte lenkten.

Auf dem rechtsseitigen Rheinufer – nur ein halbes Stündchen oberhalb Rheinfelden, der aargauischen Stadt, aber auf der andern, der badischen Seite des Flusses – erhebt sich, dicht an dem Strom, ein großes Schloss, das mit seinen Umfassungsmauern, Gräben und Tortürmen den Eindruck einer kleinen Festung macht. Sein ältester Teil, eine Burg, die ihr ergrautes Gestein in den Wellen des Rheines spiegelt, datiert aus mittelalterlicher Zeit. Neben dieselbe wurde um die Mitte des vorigen Jahrhunderts von den damaligen Besitzern der Burg, den Rittern des deutschen Ordens, ein geräumiges, vierstöckiges Haus gestellt, an das eine schöne Schlosskirche stößt. Ein ausgedehnter Park mit schattigen Lindenalleen zieht sich hinter dem Schloss den Rhein hinauf. Einst hatte in diesen Räumen ein üppiges Treiben geherrscht. Einer der Comthurn6 des deutschen Ritterordens, der in der Umgebung große Ländereien besaß, residierte hier. Ehemals ernsten und heiligen Zwecken geweiht, geriet dieser ritterliche Bund, als er reich und mächtig geworden war, in bedenklichen Verfall. Auch die letzten Comthurn von Bukein oder Beuggen, wie das Schloss, von dem wir reden, hieß, versanken in die wüsteste Schwelgerei. Bälle und Schmausereien, die in wahre Orgien ausarteten, entweihten das ehrwürdige Schloss. Man verprasste die Abgaben, welche die Bauern von ihrem mühsam erworbenen Gut aus Tenne und Keller zu liefern hatten. Drehte sich der Braten am Spieß und wollte das Feuer darunter nicht helle brennen, so warf der Koch einen Butterweck7 in die Flamme und schürte damit.

Freilich zu der Zeit, von welcher wir reden, war solche Üppigkeit aus den Mauern des Schlosses längst verbannt. Der deutsche Ritterorden war schon unter Napoleons Herrschaft aufgehoben worden und die Staaten zogen seine Güter ein. Das Schloss am Rhein war in der Folgezeit lange dagestanden wie ein ausgeraubtes Nest, die kurze Zeit, bevor unsere beiden Handwerksburschen demselben ihren Besuch abstatteten, eine Armen–Erziehungsanstalt darin untergebracht worden war. Da wurden denn keine Butterwecken mehr ins Feuer geworfen; es hat sich kaum hie und da einer in die Kaffeetassen verirrt, wenn auch keineswegs Meister Schmalhans, sondern christliche Nächstenliebe der Anstalt den Speisezettel schrieb.

Das Vesperglöcklein8 auf der alten Schlosskirche kündigte eben mit heller Zunge Betzeit an, als unser Wälderpaar durch den Torweg schritt. Die Kirche war nämlich, trotzdem die Anstalt unter protestantischer Leitung stand, dem alten Glauben treu geblieben, denn in ihr waren und sind bis auf den heutigen Tag die beiden benachbarten katholischen Dörfer eingepfarrt. Seppli erinnerte sich beim Ton der Betglocke an die Ermahnung, welche ihm seine Mutter gegeben, als er den Wanderstab ergriff. „Geh´ an keiner Kirche vorbei“, hatte sie ihm gesagt, „ohne dass du ein Vaterunser betest, und an keinem Kreuze vorüber, ohne dass du den Hut abnimmst und ein Ave-Maria sprichst.“

Diesen mütterlichen Rat hatten die beiden Wanderer bis jetzt treulich befolgt und es war ihnen eigentümlich, was für ein heimatliches Gefühl sie bei jedem Kirchlein und Kapellchen, dessen sie auf ihrem Wege ansichtig wurden, beschlich. Bleibt doch auch der wanderlustige Bursche, der pfeifend und singend seine Straße zieht, von dem sonderbaren Gefühl, das man Heimweh nennt, nicht verschont, und mancher wäre schon gerne, wie der Peter in der Fremde, gleich am ersten Abend wieder zum mütterlichen Herd zurückgekehrt. Da ist es denn gut, wenn ein Mensch eine Heimat kennt, die er überall wieder finden kann. Und zu solcher Heimat hat uns der liebe Gott auf Erden die Kirche gemacht, und damit wir überall eine Heimat finden können, die Kirchen und Kapellen in der ganzen Welt zerstreut. Glücklich der Mensch, heiße er nun Katholik oder Protestant, der im Hause Gottes seine Heimat gefunden hat! Ihn decket der Herr in Seiner Hütte zur bösen Zeit, Er verbirgt ihn heimlich in Seinem Gezelt.

Allerdings gilt den meisten Handwerksburschen von heutzutage nicht die Kirche, sondern das Wirtshaus und die Kneipe als ihr Heimatort, aber so war es bei Seppli und Toni nicht. Ehe sie sich nach dem Wirtshaus umsahen, betraten sie die Schlosskirche, tauchten ihren Finger ins Weihwasser, bekreuzigten sich ehrfurchtsvoll und knieten andächtig nieder, während der Priester am Altar das Tedeum9 sang, und Seppli wischte sich verstohlenerweise eine Träne ab, denn er dachte an die Mutter, neben welcher er so oft des Abends knieend in der Dorfkirche der Heimat seine Abendandacht verrichtet hatte. Toni konnte sich freilich an das nicht mehr erinnern, denn er hatte sein Mütterlein kaum gekannt, und auch als der Vater von seinen dreizehn Kindern hinwegstarb, war er erst ein kleines Büblein gewesen. Aber als ein guter Katholik schickte er in der stillen Abendstunde einen Seufzer für die Seelen seiner frühverstorbenen Eltern zum Himmel empor, und war es ihm nicht, als winke jener Engel hoch oben an der Kirchendecke ihm freundlich zu: „Deine Mutter denkt in dieser Stunde an dich vor Gottes Thron!“