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Eine Kurzgeschichtensammlung aus dem Vaerys-Universum Elf phantastische Geschichten erzählt aus der Sicht von Charakteren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Von verruchten Halunken, über Konstruktwesen bis hin zu geheimnisvollen Prophezeiungen ist bestimmt für alle Phantastikleser*innen etwas mit dabei.
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Kuss der Skrupellosen
Eine ungewisse Zukunft
Unverhofft Quartiermeister
Im Dunkel des Waldes
Der Angriff der Schatten
In Zeiten der Not
Böses Erwachen
Von Königen und Wölfen der See
Ein diebisches Dilemma
In der Gunst eines Fremden
Auf Messers Schneide
Anhang
Personenverzeichnis
Glossar
Das vaerysische Zeitprinzip
Danksagung
Zum Schreiberling
DIRION
15. Ambar 15, ZF, 3Z, 12. Stunde Ans
Knistern. Das Blättern von Papier. Gelegentlich, doch stets im selben Rhythmus. Die Ruhe an diesem Ort – dem geheimen Versteck der Schattenlosen 10 – trotzte dem Lärm der Stadt, der über ihren Köpfen durch die Straßen und Gassen Qurta’bars hallte.
Nur das Feuer im Kamin knackte, zerbarst das Holz in seiner wilden Hitze, fraß sich daran satt, und dennoch blieb es unersättlich. Wie dieser junge Mann.
Dirion runzelte die Stirn und legte den Kopf schief, ungläubig, welchen Schandfleck von einem Buch er sich da gerade zu Gemüte führte. Trotz der literarischen Ablenkung bemerkte er zudem die Seitenblicke, die Varios ihm immer wieder vom benachbarten Sessel aus zuwarf. Bisher hatte er sie ignoriert und sich stattdessen auf die leichte Lektüre auf seinem Schoß konzentriert, aber mit jeder weiteren Seite langweilte er sich zusehends. Und wie unrealistisch die Szenen beschrieben wurden! Lächerlich.
»Und, was liest du so?«, fragte er den Nayruni mit seiner dunklen Stimme.
»Heilkunde 101. Aber es ist trocken.« Varios klappte das Buch zu und legte es weg. »In was schmökerst du?«
Er reckte seinen Hals, um einen Blick auf den Buchumschlag zu erhaschen.
Dirion schnaubte, belustigt über die Neugier des jungen Mannes, und schaute zu ihm hinüber. »Das ist nichts Besonderes. Nur etwas leichte Lektüre.«
»Leichte Lektüre?«
»Ja.«
Der Nayruni begann zu zappeln. Dirions kurze, nichtssagende Antworten schienen ihn nicht zufriedenzustellen. »Und was genau?«
Dirion schmunzelte. »So neugierig. Warum möchtest du das wissen?«
»Persönliches Interesse.«
»Ist das so?« Er musterte den Nayruni eindringlich und ruhig, zwinkerte ihm dann unvermittelt zu. Varios’ Wangen nahmen einen dunkleren Ton an und verrieten ihm damit, dass es um weitaus mehr ging als schlichtes Interesse. Der junge Mann unterstrich seine Vermutung, als er auf dem Sessel hin und her rutschte. »Na schön. Es ist ein Liebesroman, aber leider kein sonderlich unterhaltsamer. Zu gekünstelt und zu wenig ausgearbeitet. Hier!« Er reichte Varios das Buch und zeigte mit dem Finger auf den Abschnitt, den dieser lesen sollte. Der Nayruni nahm es aufmerksam entgegen. »Lies das! Es ist schrecklich.«
Konzentriert nahm sich Varios der Szene an, doch Dirion ließ ihn währenddessen nicht aus den Augen.
Offenkundig befremdet von dem Text, den er gerade überflogen hatte, blinzelte der Nayruni in rascher Abfolge und klappte das Buch zu. »Ich weiß, was du meinst.«
»Es gibt bessere.«
»Wirklich?«
»Varios ...« Seine Stimme klang noch tiefer als zuvor und er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Natürlich gibt es in diesem Literaturbereich grandiose Werke. Wenn du möchtest, leihe ich dir eines meiner Lieblingsbücher aus.«
»Gerne!«, erwiderte der Nayruni, so schnell, dass es nicht länger unauffällig wirken konnte. Ihm schien das jedoch nicht bewusst zu sein, denn er lächelte Dirion nur erwartungsvoll an.
»Ich hole es dir gleich.«
Dirion beeilte sich, in sein Zimmer zu gelangen und sein überfülltes Bücherregal nach besagtem Buch durchzugehen. Mit einer teuren, ledergebundenen Ausgabe kam er zurück ins Gemeinschaftszimmer und übergab sie Varios. Schmunzelnd machte er es sich dann erneut in seinem Sessel bequem.
»Warum liest du solche Bücher überhaupt?« Der Nayruni schlug das Buch in der Mitte auf und begann stirnrunzelnd, darin zu blättern.
Dirion zögerte mit seiner Antwort, da er zu sehr damit beschäftigt war, Varios dabei zu beobachten und jede Veränderung seiner Mimik zu erhaschen, die sein Lieblingswerk hervorrief.
»Komm schon!«, bohrte Varios nach, löste den Blick von den Seiten und lehnte sich lässig auf die Sessellehne, näher zu ihm herüber. Seine Stimme verschwamm zu einem Flüstern. »Mir kannst du es sagen.«
»Du willst wissen, warum?« Dirion seufzte, bevor sich ein Grinsen in sein Gesicht stahl, diesmal aber mit einer gewissen Zurückhaltung. »Bisher habe ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen.«
»Mhm.« Der Nayruni musterte ihn intensiv, wich aber seinem Blick aus, als Dirion zu ihm hinübersah.
Das entlockte ihm ein erneutes Schmunzeln. »Vielleicht ist es an der Zeit, mich jemandem zu offenbaren. Also hör zu. Ich lese gerne darüber, wie sich die Liebe zwischen zwei Wesen entwickelt und durch einen Konflikt gestärkt im Glück der beiden endet.« Er hielt einen Moment inne. Auch Varios’ Brustkorb hob und senkte sich nicht länger, als würde er den Atem anhalten. »Solchen Dingen ist im wirklichen Leben schwer beizukommen – Glück und Liebe.«
»Hast du denn noch nie geliebt?« Varios zeigte zu diesem Thema mehr Interesse, als gut für ihn war. Dennoch fühlte es sich für Dirion richtig an, dem Nayruni diese Frage zu beantworten.
»Doch, das habe ich. Allerdings bezweifle ich, dass er noch dieselben Gefühle für mich hegt wie damals. Schließlich bin ich einer der Gründe, weshalb er in einen tiefen Schlaf versetzt wurde.«
Varios blinzelte, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. »Er?«
»Fernis«, entgegnete Dirion.
»Ah ja, stimmt. Du hast mir von ihm erzählt.«
»Tatsächlich? Nun, ich glaube, das Detail mit der Zuneigung habe ich damals ausgelassen.«
Der Nayruni senkte den Blick »Stimmt.«
Die ganze Zeit über hatte Varios den Liebesroman offen in seiner linken Hand gehalten, doch nun legte er ihn beiseite, griffbereit auf den Beistelltisch.
»Und könntest du wieder so lieben? Ich meine, wie damals?«
Dirions Mundwinkel bewegten sich erneut nach oben. »Nur Personen, welche mich beeindrucken.«
Bevor Varios den Mund öffnete, wusste er, dass der Nayruni noch mehr erfahren wollte, jedoch nicht ohne Hintergedanken.
»Gab es denn jemanden, der dich beeindruckt hat?« Varios’ smaragdfarbene Augen richteten sich direkt auf ihn. Sie glänzten voll hoher Erwartung und spiegelten die Aufregung in seinem Innern wider.
»In den letzten Jahrhunderten nicht«, erwiderte Dirion kurz angebunden, seinen Blick nach wie vor auf Varios geheftet. Dessen Lippen formten sich zu einem kleinen O und er wirkte dabei so enttäuscht, dass es Dirion schon fast leidtat, dass sich der junge Nayruni nicht traute, den nächsten Schritt zu wagen. Dieser Enttäuschung wollte er entgegenwirken. »Aber in den letzten Jahrzehnten.«
Varios’ Augen weiteten sich. »Wer?« Hätte er sich noch weiter nach vorne gelehnt, wäre er mit dem Kopf voran über die Sessellehne gestürzt. Die Neugier schien den Nayruni schier zu zerreißen.
»Was denkst du?« Dirions Zeigefinger ruhte auf seiner Unterlippe und er ließ es sich nicht nehmen, sein Gegenüber herausfordernd anzusehen.
Plötzlich veränderte sich der Ausdruck in Varios’ Augen. Die Unsicherheit wich Entschlossenheit. Er stand auf, blieb direkt vor Dirion stehen, seinen Mund leicht geöffnet.
Ihre Blicke trafen sich, ehe sich Varios zu ihm hinabbeugte und ihn zum ersten Mal küsste. Es fühlte sich angenehm weich an, zart. Er bewegte seine Lippen etwas unbeholfen, doch das machte Dirion nichts aus. Genussvoll passte er sich Varios’ Bewegungen an, spürte, wie Krallenspitzen sanft über seinen Nacken kratzten. Dirion widerstand dem Verlangen, ihn zu packen und auf seinen Schoß zu ziehen. Stattdessen berührte er Varios’ Kinn ganz leicht. Mit einem schwachen Schaudern löste sich der Nayruni von ihm, so ruhig, als hätte ihm etwas die Sprache verschlagen. Oder jemand.
Dirion schmunzelte, blieb ebenfalls still und zog ihn für einen weiteren Kuss an sich.
SÖREN
34. Alcea 741, ZF, 3Z, 4. Stunde Ans
»Hey! Warte, Sören!«
Lauthals lachend rannte der junge Nayruni über die grünen Auen am Stadtrand von Feldweilen, genoss das warme Gefühl der Morgensonne auf seinem Gesicht.
»Nä, tut mir leid! Ich muss los!«, rief er seinem Verfolger, einem blonden Menschenjungen, über die Schulter zu. Er vermied es, dabei an Tempo zu verlieren. Der Junge hatte zwar ohnehin keine Chance, ihm nachzukommen, so unsportlich wie er war, aber Sören wollte kein Risiko eingehen. Er hatte Besseres zu tun, als sich von ihm bequatschen zu lassen. Seine Mutter hatte ihn gebeten, zur vierten Stunde in ihrem Laden bereitzustehen, doch er war spät dran – wie immer. Zeit war aber auch ein furchtbar abstraktes Konstrukt, welches der Nayruni nicht in vollem Umfang begriff. Vielmehr fragte er sich, warum sich jeder unnötigen Druck bereitete, überall pünktlich zu erscheinen, und einen ganzen Tag danach plante. Stattdessen konnte man doch nach dem Lustprinzip handeln und nur das tun, wonach einem gerade war.
»Sören!«, schrie sein Verfolger ihm hinterher. »Du bist gemein!«
»Ich weiß!« Sören lachte erneut auf, blieb aber nicht stehen. Der Junge würde es ihm nicht übelnehmen, sondern sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder an ihn wenden und dort weitermachen, wo der Nayruni das Gespräch abgewürgt hatte.
»Blödmann!«
»Bis später!« Sören bog um die Ecke der Taverne Zur Sprunghaften Katze und hörte den anderen nicht länger hinter sich schnaufen. Im lockeren Schritt lief er weiter, vorbei am Bordell Blütentanz und einer Reihe von Wohnhäusern. Im drittletzten davon führte seine Mutter, die von allen Einwohnern immer nur Mutter Ingrid genannt wurde, einen kleinen Kräuterladen. Von außen hätte nichts darauf hingewiesen, dass Nayruni das Haus bewohnten. Es sah genauso gewöhnlich aus wie die anderen Gebäude. Seine Mutter hatte es lediglich mit ein paar Blumenbeeten und Kränzen dekoriert und mit dem Ladenschild versehen, welches er auf ihren Wunsch mit Abbildungen von allerlei Heilpflanzen verziert und kunstvoll beschriftet hatte.
Sören trat durch die Holztür und wurde vom Duft einer süßlichen Räuchermischung empfangen, die schwer in der Luft hing.
»Maģhir? Ich bin zu Hause.« Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Er schritt an den Regalen, voll mit Kräutern, Pulvern und Teemischungen, vorbei zu seiner Mutter, die in der hintersten Ecke ihres Ladens an einem Tischchen saß und Karten legte. Ihre hellseherischen Künste bot sie den Leuten hin und wieder gegen einen erschwinglichen Preis an, doch heute schien sie sich nach Ereignissen in ihrer eigenen Zukunft zu erkundigen. Sie schaute nicht vom Ass der Kelche auf, welches sie gerade aus ihrem Tarotstapel ans Licht gebracht hatte, lächelte aber.
»Wie war dein Ausflug, men’zliuch?«
»Kurz und leider erfolglos.« Sören runzelte die Stirn und ließ sich auf der anderen Seite des Tischchens nieder. »Eine Teillieferung wird gerade noch im Handelskontor bearbeitet, aber Ingwer war keiner dabei.«
Er beobachtete seine Mutter, wie sie die Karte der Sonne und die des Urgezeitenbaumes legte. Diese Konstellation sagte ihm nichts, und bevor er sich einen Reim darauf hätte machen können, sammelte sie alle Karten wieder zusammen und mischte sie neu.
»Du und dein Ingwer.« Sie sah auf. »Aber keine Sorge, men’zliuch. Du findest noch einen kleinen Vorrat im Schrank neben der Kasse.«
»Wirklich?« Vor Freude zuckte der Schweif des jungen Nayruni. Er sprang auf und lief zum eben beschriebenen Möbelstück. Er öffnete die Schranktür und fand in einem kleinen Glasbehälter tatsächlich drei kleine Knollen Ingwer, die er bisher immer übersehen hatte.
»Aber sei sparsam damit. Es sind die letzten«, ermahnte sie ihn.
»Natürlich!« Rasch huschte er zu ihrem Zubereitungstisch und zog den Korken vom Glas. Er schnitt ein Drittel einer Knolle ab, warf den Rest zurück zu den anderen. Als Nächstes setzte er Wasser über dem Herd auf, bevor er den Ingwer in kleinere Stücke zerhackte.
»Und wann geht die Lehrstunde los?«, fragte er beiläufig.
»Bald. Ich muss nur noch etwas erledigen.«
Er hielt inne. »Warte ... Du hast gesagt, ich soll zur vierten Stunde wieder zurück sein, damit wir sofort beginnen können.«
»Dann bist du immerhin hier, sobald die Lehrstunde wirklich stattfindet«, meinte sie mit einem vergnügten Grinsen.
Sören verdrehte die Augen. »Haha! Also hätte ich mich gar nicht so sputen müssen.«
Sie zuckte bloß die Achseln.
Er stieß daraufhin ein leichtes, jedoch nicht ernst gemeintes Knurren aus. »Na schön. Dann warte ich.«
»So ist es gut. Ich brauche nicht lange.« Und mit diesen Worten warf sie sich ihre vollgestopfte Umhängetasche über die Schulter und verließ den Laden.
Mit einem Seufzen sah sich der Nayruni um. Während er überlegte, womit er die Zeit totschlagen konnte, bereitete er sich erst einmal eine Tasse Ingwertee zu. Es lohnte sich nicht, an der Statue weiterzuarbeiten, die im Garten stand. Wenn er sich in dieser Tätigkeit einmal vertiefte, vergingen die Stunden wie im Flug, ohne dass er es merkte. Und er bezweifelte, dass seine Mutter erst am Abend zurückkehren würde.
Mit Stift und Notizbuch, die er stets in einer kleinen Seitentasche am Hosenbund bei sich trug, setzte er sich hinter den Verkaufstresen und begann, auf einer leeren Seite herumzukritzeln. Kunden kamen keine herein, und so fragte er sich, ob seine Mutter das Schild an der Tür umgedreht hatte. Als er nachschauen ging, lachte ihm jedoch das OFFEN entgegen. Er sah sich auf der Straße um, beobachtete die wenigen Leute, die vorbeispazierten, aber niemand machte Anstalten, auf ihn zuzukommen, weil er etwas im Laden kaufen wollte.
Da es nichts brachte, draußen herumzustehen, kehrte er an seinen Platz hinter dem Tresen zurück und rieb sich dabei die Hände. Sie waren trocken und kleine Risse zogen sich über seine Handflächen. Sie schmerzten nicht, aber es würde nicht schaden, etwas Balsam aufzutragen, damit er sich am nächsten Tag wieder der Arbeit an der Statue widmen konnte.
Sören genehmigte sich den letzten Schluck Ingwertee und suchte dann in den Schränken und Schubladen unterhalb des Zubereitungstisches nach einem Feuchtigkeitsbalsam. Vor wenigen Tagen hatte er ein Döschen davon im linken Schrank verstaut, aber da fand er es nicht. Genauso wenig im rechten oder in den Schubladen.
»Wo hast du es hingetan, maģhir?«, murmelte Sören vor sich hin. Als er die unterste Schublade aufschob, kam ihm ein beißender Geruch entgegen. Er wich davor zurück und landete unsanft auf seinem Hintern, während er sich den linken Handrücken gegen Mund und Nase presste. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hielt die Luft an, doch es stank so penetrant, dass es ihm Übelkeit bereitete. Trotz des Würgereizes kroch er auf allen vieren langsam näher, um zu sehen, was so abartig roch.
Zwischen Phiolen und Dosen klemmte eine angeschnittene Wurzel, die aussah wie ein winziger, unförmiger Arm. Etwas Schimmel hatte sich an der offenen Stelle gebildet. Daher kam wohl der Gestank.
Trotzdem wagte es Sören, nach der Wurzel zu greifen und sie genauer in Augenschein zu nehmen. Er drehte sie um, erkannte auf der größten Fläche ein verzerrtes Gesicht mit einem weit geöffneten Mund, fast so, als hätte die Pflanze geschrien, als sie geerntet worden war. Nichts Ungewöhnliches für eine Alraunwurzel, gemeinhin Mandragora genannt.
Er rappelte sich mit der Alraune zwischen den Fingern hoch und legte sie auf die Arbeitsfläche. Sie bewegte sich nicht, obwohl seine Mutter ihm früher viele Schauergeschichten über diese mystische Alchemiezutat erzählt hatte. Also stupste er sie an – nichts geschah. Sie schrie nicht, rannte nicht davon, sprang ihn nicht an. Dennoch hatte sie Sörens Neugier geweckt. Seine Mutter hatte ihm verboten, auch nur darüber nachzudenken, die Mandragora für ein Elixier oder eine Tinktur zu verwenden. Er wusste trotzdem, wozu sie benutzt wurde – insbesondere für die Tränke, die es ihrer Art ermöglichte, in die Vergangenheit anderer zu sehen oder die Zukunft vorherzusagen.
»Was soll schon Schlimmes passieren?« Der Nayruni schob die mahnende Stimme seiner Mutter beiseite und suchte die Zutaten zusammen, die er für das Elixier benötigte. Da sie der Meinung war, dass Wissen Sicherheit und Kenntnis über Gefahren brachte, hatte sie ihren Sohn das Rezept gelehrt – allerdings nur mitsamt einer Menge Warnungen.
Doch die Risiken, die sie ihm aufgezählt hatte, rückten in den Hintergrund. Er wollte selbst erleben, wie sich eine Vision anfühlte, welche zukünftigen Ereignisse ihm bevorstanden. Gleichzeitig wollte er seiner Mutter den Beweis erbringen, dass er alt genug für solche Rituale war.
Auf einem Holzbrett trennte er mit einem frisch geschärften Messer den halben Arm von der Wurzel, wickelte den Rest sorgfältig in ein Stofftuch und begann, das Stück zu zerhacken. Ohne dass etwas danebenging, schüttete er die Einzelteile in eine Marmorschale. Ein getrocknetes Lorbeerblatt, drei Tropfen Zimtöl, zwei Kirinschuppen und eine Messerspitze Gezeitenharzpulver folgten. Auch beim Letzteren hatte seine Mutter ihn um höchste Vorsicht gebeten. Eine minimale Dosis zu viel führte zu einem sofortigen Tod.
Bedächtig zerstieß er die Zutaten mit einem Stößel, gab darauf acht, dass sie sich gleichmäßig zu einer festen Paste vermischten. Der beißende Geruch nach etwas Verrottendem drang trotz der Mandragora nur sanft an seine Nase, was dem scharfen Duft nach Zimt zu verdanken war. Zu guter Letzt füllte er die Schale bis zur Hälfte mit dem heißen Wasser auf, das noch von der Teezubereitung übriggeblieben war. Mit einem Löffel rührte Sören so lange, bis sich alles gänzlich in der Flüssigkeit aufgelöst hatte. Appetitlich sah das Gebräu mit seiner dreckig grünen Farbe nicht gerade aus, aber es gab kein Zurück mehr. Seine Mutter sollte die Masse schließlich nicht im Abfall finden und denken, er hätte ihr etwas zu verheimlichen.
Um sich die Finger nicht zu verbrühen, wickelte er sich ein Tuch um die Hände und trug die kleine Schale in die Ecke, wo seine Mutter sich zuvor die Karten gelegt hatte. Dort stellte er sie auf dem Tischchen ab und klopfte sich einige Kissen zurecht. Je weiter er mit seinen Vorbereitungen kam, desto zittriger wurden seine Hände. Um sicherzugehen, dass ihn niemand bei seiner Vision störte, drehte er das Schild an der Außenseite der Ladentür von OFFEN auf GESCHLOSSEN und sperrte danach die Tür ab. Die Hände aneinanderreibend huschte er zu den Kissen, ließ sich nieder und nahm die Schale. Mittlerweile stieg kein Dampf mehr auf und so setzte er sie an, trank Schluck um Schluck bis zum letzten Tropfen. Es schmeckte angenehm nach Zimt, besaß aber einen bittersauren Nachgeschmack.
»War zu erwarten«, murmelte er, doch schon im nächsten Moment glitt ihm die Schale aus den Fingern. Scheppernd kam sie auf dem Tischchen auf, hinterließ eine Kerbe im glatten Holz. Sörens Hände verkrampften sich, sein Herz schlug doppelt so schnell wie sonst. Mit aufgerissenem Mund japste er nach Luft und kippte zur Seite, wo ihn weiche Kissen auffingen. Er zog seine Arme ganz nah an seine Brust, blinzelte, um dem schwarzen Flackern am Rand seines Sichtfelds entgegenzuwirken.
Alles um ihn herum verschwamm. Die Dunkelheit raubte ihm den Atem und zerrte ihn mit sich in eine endlose Tiefe. Er verlor jedes Körpergefühl, schwebte, fiel, taumelte – er konnte es nicht in Worte fassen, wie es sich anfühlte. Schwerelos vielleicht. Leicht wie eine Feder in einem leeren Raum, ohne Zeit und Weltengesetze.
Bis er in der Finsternis gegen etwas krachte. Es tat nicht weh, der Aufprall nahm ihm trotzdem jegliche Orientierung. Unter ihm spross Gras in einem violetten Ton aus der Erde, doch als er darüberstrich, war da nichts. Nur die Illusion einer Wiese.
Jemand lachte vor ihm, glockenhell. Ein Junge, womöglich sogar zwei.
Die Dunkelheit waberte, als Sören hochsah. Sie brachte Nebelgestalten hervor, die sich zu zwei jungen Männern formten, einer mit schwarzem, der andere mit silbernem Haar. Beide richteten ihre Augen, dunkelbraun und eisgrau, auf ihn und streckten je eine Hand nach ihm aus. Sie lächelten ihn an, warteten geduldig, bis er ihre Geste annahm und sich hochziehen ließ. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart, aber der blasse Junge hatte es ihm besonders angetan. Seine langen, spitzen Ohren und das silberne Schimmern seiner Haare entlarvten ihn als Silberelfen. Wer auch immer er war, er gefiel Sören auf den ersten Blick. Sachte entzog er sich dem Griff des braungebrannten Jungen, um mit dieser Hand die Wange des Elfenjungen zu berühren. Ehe er ihn erreichte, löste er sich in Schatten auf. Der andere verblasste ebenfalls.
Sören öffnete den Mund, um ihnen hinterherzurufen, doch kein Ton kam heraus. Stattdessen wirbelte aus dem Nichts Wind um ihn herum, formte sich zu einem Sturm. Blitze zuckten über ihm. Donner grollte. Von den Böen hin und her gerissen, schaute er sich um, erblickte Gestalten, die über ihm ragten und mit Augen aus Edelsteinen auf ihn herabsahen. Sie standen im Kreis, mit ihm in der Mitte, und erhoben alle ihre linke Hand in seine Richtung. Schmerz ergriff ihn, zwang ihn in die Knie, doch seine Schreie wurden vom Sturm erstickt. Sein Rücken brannte auf einmal wie Feuer.
»Teg’ra seyundri a’ Vaerys.«
Das Getose ebbte ab und wurde von Stille unterbrochen.
»Teg’ra seyundri a’ Vaerys.«
Erneute Stille.
»Teg’ra seyundri a’ Vaerys