Memories of Summer - Janna Ruth - E-Book
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Memories of Summer E-Book

Janna Ruth

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Beschreibung

Mika spendet regelmäßig seine Erinnerungen im NEURO-Institut. Denn was ist schon dabei? Man verdient eine Menge Geld und hilft bei der Behandlung von Depressionen, da die Erinnerungen den Erkrankten eingepflanzt werden. Doch dann tritt Lynn in sein Leben, die so viel über ihn weiß, und plötzlich wünscht Mika sich, er könne sich auch an sie erinnern. Schließlich will er seine Erinnerungen zurückholen – und kommt dabei den Geheimnissen des NEURO-Instituts gefährlich nahe …

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Über dieses Buch

Wer bist du ohne Vergangenheit? Mika spendet regelmäßig seine Kindheitserinnerungen im NEURO-Institut. Denn was ist schon dabei?

Er hilft mit der Spende bei der Behandlung von Depressionen und kann sich mit dem Geld dafür die neusten Gadgets leisten. Doch dann tritt Lynn in sein Leben, die ihn besser zu kennen scheint als er sich selbst, und plötzlich wünscht Mika sich, er könnte sich wieder an sie erinnern. Als dann noch sein Leben gänzlich aus den Fugen gerät, braucht er seine Erinnerungen mehr denn je und will sie zurückholen. Doch er stößt auf Hindernisse. Auf Ungereimtheiten. Und auf menschliche Abgründe. Zum Glück hat er Lynn an seiner Seite. Lynn, die so zart und zerbrechlich ist und so viel mehr kann, als sie sich selbst zutraut. Seine Vergangenheit mag Mika vielleicht nie wieder bekommen, aber die Zukunft ist noch nicht verloren.

Experiment Zukunft: eine spannende Future-Romance über Glück und die Macht der Erinnerungen

Liebe:r Leser:in,

 

wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens.

Unter "Hinweis der Autorin" findest du, wie du in schwierigen Lebenssituationen Hilfe bekommst. Unter "Triggerwarnung" sind die potenziell triggernden Inhalte in diesem Buch aufgelistet. (Um keinem:r Leser:in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)

 

 

 

Für meinen Papa

und all die Sommer,

die wir miteinander verbracht haben

Kapitel 1

Rot glänzend lockt mich das RedPad C zum Schaufenster. Es ist früher Nachmittag, und der Laden platzt bereits aus allen Nähten. Gestern war Release Day. Seit vorgestern haben die Leute vor dem Laden gepennt, um die Ersten zu sein. Natürlich hätte man es sich auch um Punkt Mitternacht liefern lassen können, aber so ein Event zieht immer einige Nostalgiker an.

Eine Schautafel im Fenster listet die Vorzüge des RedPad C auf. Wie immer liegt der Fokus auf der Kamera, die in dem Moment auslöst, in dem man ein geeignetes Motiv gefunden hat. Quasi null Reaktionszeit.

Mich interessiert etwas anderes: Die Machine Learning Engine. Die hohe Lernfähigkeit des RedPad C ist schon jetzt legendär. Nach nur wenigen Wochen Nutzung soll es eine 98-prozentige Genauigkeit haben und immer genau wissen, welche App gerade gewünscht ist.

Nie mehr Langeweile.

So zumindest der Spruch aus der Werbung. Wenn ich an all die Tage denke, in denen ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen soll, bin ich nur zu gespannt, ob das RedPad C hält, was es verspricht. Aber dazu muss ich es mir erst mal leisten können. Immerhin kostet das Ding so viel, wie meine Mutter in einem Monat verdient – vor den Steuern.

Schweren Herzens wende ich mich von dem Schaufenster ab und setze meinen Weg fort. Ich hole mein altes B.2 raus und checke im Laufen meinen Kontostand. Mit etwas Glück kann ich Dr. Rhivani dazu überreden, dass sie mir heute etwas mehr entnimmt als gewöhnlich. Dann könnte es vielleicht schon diesen Monat für das RedPad C reichen. Zumindest, wenn ich das B.2 eintausche. Es ist zwar erst ein Jahr alt, aber zwischen dieser und der neuen Version liegen Lichtjahre.

Die Memory Transfer Clinic, kurz MTC, liegt in der Nähe einer Waldenklave. Viele Großstädte legen Wert darauf, solche grünen Taschen inmitten der Häuserschluchten zu pflegen, um das Stadtklima zu verbessern. So ist der Weg zur Klinik immer wie ein kleiner Ausflug ins Grüne. An diesem Frühsommertag erreicht mich der unverkennbare Geruch von Kiefern und Hitze. Ein eigentümlicher Duft, der mich immer an die Sommerferien erinnert, die in wenigen Wochen beginnen. Eine Waldtaube gurrt hoch oben in den Wipfeln, und zwei Eichhörnchen jagen sich lautstark durch das Geäst. Der ungepflasterte Weg knirscht unter meinen Füßen.

Schon tauchen die verglasten Wände des MTC auf, und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer vor Freude. Beim ersten Mal war ich noch nervös, aber mittlerweile war ich so oft hier, dass ich mich schon fast wie zu Hause fühle.

Kühle Luft empfängt mich, als sich die Türen öffnen, und eine leise Melodie klingt an mein Ohr. Irgendein alter Millennial-Hit. Gemütlich schlendere ich zur Rezeption und lehne mich mit den Ellenbogen auf die Ablage. »Hey, Marleen.«

Ihre Finger tippen in wahnsinniger Geschwindigkeit über die Tastatur, und das, obwohl sie mir längst ihr Gesicht zugewandt hat. »Du schon wieder.«

Ich rolle die Augen, muss aber grinsen. Natürlich bin ich es schon wieder. Man darf nur einmal alle vierzehn Tage spenden, und mein Kalender weist mich mittlerweile schon im Voraus darauf hin, dass der Tag sich nähert. »Ich habe einen Termin mit Dr. Rhivani.«

»Fünfzehn Uhr dreißig«, bestätigt sie mir und streckt lächelnd die Hand aus.

Ein wenig genervt krame ich nach meiner Chipkarte. Man möchte meinen, dass eine so moderne Einrichtung wie das MTC fähig wäre, ihre Spender direkt einzuloggen, statt jedes Mal die Karte zu verlangen. Zum Glück ist Marleen effizient und hat im Nullkommanix die Unzulänglichkeiten des Systems überbrückt. »Na, dann viel Glück!«

Grinsend schüttle ich den Kopf. Als ob ich Glück bräuchte. Dr. Rhivani schaut in meinen Kopf, nimmt sich, was sie braucht, und in einer halben Stunde bin ich wieder raus.

Zumindest, wenn wir pünktlich anfangen.

Zu dieser Uhrzeit ist der Warteraum gut gefüllt, Spender und Patienten unmöglich voneinander zu unterscheiden. Ich lasse mich neben einem Mädchen meines Alters auf einen Stuhl fallen und hole mein RedPad hervor. Während meine Finger schon über die Bedienoberfläche fliegen und das Logikspiel fortsetzen, das ich in der Pause begonnen habe, bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie meine Nachbarin nervös die Hände knetet. Dabei ist ihr Blick starr zu Boden gerichtet.

»Dein erstes Mal?« Das RedPad verschwindet in meiner Hosentasche, während ich das Mädchen genauer mustere. Sie ist definitiv nicht wegen des Geldes da. Dafür sieht ihre Kleidung zu teuer aus. Vielleicht will sie einfach anderen etwas Gutes tun.

Ihre braunen Haare fallen in makellosen Locken über ihren Rücken, und ihre Schuhe erinnern mich an diese eine Filmwerbung. Alles an ihr ist in tadellosem Zustand. Alles, bis auf die angeknabberten Fingernägel, die auf meine Worte hin unter ihren Oberschenkeln verschwinden.

Sie blinzelt, sieht mich aber nur flüchtig an und seufzt, was ich als Zustimmung werte.

»Es tut nicht weh«, versuche ich, ihr die Angst zu nehmen. »Wirklich. Es ist nur ein ganz kleiner Eingriff. Kaum zu sehen. Man verschläft sowieso das meiste.« Sie nickt nur vage, und ich habe das Gefühl, ihr auf die Nerven zu gehen. »Die Spenden sind ziemlich wichtig.«

Mit einem weiteren Seufzen sagt das Mädchen: »Ich spende nicht.«

Das erklärt einiges. Wenn sie nicht zum Spenden hier ist, dann, weil sie eine Spende erhält. Die Prozedur, die sie erwartet, unterscheidet sich kaum von meiner, aber dass das nicht grundlos geschieht, ist selbst mir klar.

Eben noch hatte das Mädchen kaum Interesse an unserer, zugegebenermaßen einseitigen, Unterhaltung. Jetzt starrt sie mich plötzlich mit weit aufgerissenen Augen an. »Mika?«

Stirnrunzelnd schaue ich an mir hinab, ob ich nicht zufällig irgendwo ein Namensschild trage, aber da ist nichts. Sie weiß wirklich, wie ich heiße. »Ja?«

Ein Lächeln verändert das Gesicht des Mädchens und lässt sie regelrecht erblühen. Gut ein Dutzend Sommersprossen fallen mir dabei auf ihrer Nase auf. »Ich bin’s. Lynn.«

Der Name sagt mir nichts. Rein gar nichts, obwohl sie mich anschaut, als wäre ich ihr lange verschollener Bruder. Das höfliche Lächeln kommt mir nur schwer über die Lippen, jetzt, wo sich die Unterhaltung gedreht hat. »Schön, dich kennenzulernen, Lynn.«

Das Strahlen in ihren Augen wird durch meine Worte ein wenig gedämpft. »Kennst du mich nicht mehr?« Im Nu bombardiert sie mich mit Wörtern, die mir irgendwas sagen sollen: »Ottergrund. Der Waldkindergarten. Rinnbachschule?« Ich kenne jeden einzelnen dieser Namen. Es sind die Stationen meiner Kindheit, meine Grundschule und die Wohnsiedlung, in der wir damals gewohnt haben, aber eine Lynn ist mir dabei nicht begegnet.

»Tut mir leid.« Hilflos zucke ich mit den Schultern. Ihre Nervosität hat sie in dem Moment abgelegt, als sie mich erkannt hat, aber mir ist die Situation ziemlich unangenehm. Ich kann sie überhaupt nicht einordnen. »Waren wir in einer Klasse?«

Die Enttäuschung stiehlt ihr das Leuchten in den Augen und das Lächeln. »Ja, schon, aber ich dachte … Du trägst immer noch unser Band.«

Mein Blick wandert hinunter zu meiner rechten Hand. Schon seit einer halben Ewigkeit trage ich ums Handgelenk ein buntes geflochtenes Band. Es ist so lange her, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es dazu gekommen ist. Es gehört einfach zu mir. Dass Lynn davon weiß, lässt meinen Nacken kribbeln.

»Wir haben sie zusammen bei unserem Ausflug in der Werkstatt Kunterbunt geflochten. Du hast mir deins geschenkt und ich dir meins.« Um ihre Worte zu unterstreichen, hebt Lynn ihren viel zu dünnen Arm in die Höhe und zeigt mir das ausgefranste Gegenstück zu meinem. Scheint so, als hätte ich mich damals nicht sonderlich gut angestellt. Ihres zeigt kaum Abnutzungserscheinungen.

So langsam wird mir das Ganze unheimlich. »Ach, wirklich?«, quäle ich mir regelrecht heraus, wobei mein Mundwinkel nur müde zuckt. Ich mustere Lynn genauer, suche irgendeinen Anhaltspunkt dafür, dass ihre Geschichte stimmt. Weder die vielen Sommersprossen noch die karamellfarbenen Augen rufen die geringste Erinnerung in mir wach.

Lynn wirkt nun ebenfalls verunsichert. In diesem Moment wünschen wir uns wahrscheinlich beide, dass das Band nur ein Zufall ist, dass ich gar nicht der Junge sein kann, der ihr das ihrige geschenkt hat. Aber sie kannte einen Mika, und dass ausgerechnet am Ottergrund vor zehn Jahren ein zweiter Mika aufgetaucht ist und Lynn solch ein Band geschenkt hat, ist dann doch etwas weit hergeholt.

»Tut mir leid, ich erinnere mich leider nicht daran. Wahrscheinlich ist es zu lange her.« Es ist zwar schade, aber da kann man nichts machen. Das hindert uns ja nicht daran, uns erneut kennenzulernen. Immerhin scheint sie ganz nett zu sein.

Ein kleines enttäuschtes »Oh« entweicht ihr, und sie beginnt wieder damit, ihre Finger zu kneten.

Dieser winzige Laut liegt mir schwerer im Magen, als er sollte. Ich habe ihr in meinem Unwissen wehgetan, und das Warum nagt an mir.

Noch während ich fieberhaft überlege, wie ich es wiedergutmachen kann, werde ich aufgerufen. Das Signal lässt mich vor Erleichterung geradezu aufspringen. »Das bin ich. Viel Glück mit deinem Termin. War schön, dich kennenzulernen, Lynn. Ich meine, wiederzusehen.«

Hastig wende ich mich ab, bevor mich ihr Stirnrunzeln noch aus der Fassung bringt. Ich kann erst wieder tief durchatmen, als ich das Wartezimmer hinter mir gelassen habe und durch die bebilderten Gänge des MTC gehe. Im Behandlungszimmer empfängt mich Dr. Rhivani bereits mit einem Lächeln. »Hallo, Mika. Wie geht es dir?«

»Gut. Alles super verlaufen beim letzten Mal.« Auch wenn sie das nicht gefragt hat, weiß ich doch, dass die Frage auf ihrem Tablet steht. »Kein Schwindel, keine Kopfschmerzen. Ich habe nicht mal Schmerzmittel gebraucht.« Mit den Zehen streife ich mir die Schuhe ab und schiebe sie unter den Stuhl. Dann hüpfe ich auf die Liege. Automatisch fährt sie auf Behandlungshöhe hinauf.

Dr. Rhivani macht ihre Angaben und legt dann das Tablet zur Seite. »Das freut mich zu hören. Heute wieder dasselbe?«

Fast hätte ich Ja gesagt, einfach aus Reflex, weil wir das immer so handhaben. »Eigentlich hatte ich vor zu fragen, ob Sie mir ein wenig mehr entnehmen könnten. Ich brauche etwas Kleingeld.«

Mittlerweile kennt Dr. Rhivani mich gut genug, um mich auf der Stelle zu durchschauen. »Was ist es diesmal?«

»Das RedPad C ist gestern rausgekommen.«

»Was willst du denn damit? Hast du nicht schon das vom letzten Jahr?« Mit geübten Handgriffen bereitet sie die Maschine vor.

Ich rolle meine Augen. »Das ist doch schon veraltet. Das neue ist viel besser.«

»Zeitfresser. Allesamt Zeitfresser.«

Für eine Ärztin am MTC ist sie ganz schön altmodisch. Meine Eltern sind auch so. Die haben immer noch ihre Tablets von vor zwanzig Jahren. Kopfschüttelnd kläre ich sie auf: »Eigentlich ist das C genau das Gegenteil.« Auf ein Handzeichen lege ich mich hin und lasse mir den Kopf verkabeln. »Mit der neuen ML-Engine kann ich meine Zeit optimieren. Kein lästiges Überlegen mehr oder Langweilen, weil nichts so richtig Spaß macht …« Dr. Rhivani legt mir eine Atemmaske an, und eine Wolke grüner Apfel beginnt mich einzuhüllen. »Stattdessen registriert es meinen Gemütszustand und präsentiert mir je nach Laune Musik, Filme oder auch mal ein gutes Buch. Aber nicht irgendeines, sondern genau das, wonach mir in diesem Moment ist. Keine Enttäuschung mehr, weil das Buch ebenso öde ist wie das davor.«

Meine Augenlider fallen mir zu, und ich muss gähnen. Der Geschmack von grünem Apfel hat sich schon längst in meinem Mund ausgebreitet. »Das ist unheimlich praktisch.«

Dr. Rhivani schmunzelt und fixiert meinen Kopf. Schon komisch, dass sie so wenig davon hält, obwohl sie selbst mit der neuesten Technik arbeitet.

Die Memospende.

Nutzen für die Behandlung psychologischer Traumata und Depressionen: immens.

Nutzen für mich: jede Menge Dinge, die ich mir eigentlich nicht leisten kann.

Nebenwirkungen: keine.

Der medizinische Durchbruch: sichere, minimalinvasive Entnahme tief vergrabener Kindheitserinnerungen.

Kapitel 2

Fast hätte ich Lynn vergessen, doch als ich aus dem Behandlungsraum rauskomme, springt sie von ihrem Sitz auf. Etwas verdutzt sehe ich sie an und spreche das Erste aus, was mir in den Sinn kommt: »Die Transplantation war erfolgreich. Alles gut verlaufen.«

»Schön.« Ihre Antwort ist knapp, geradezu brüsk. Dann nimmt sie plötzlich meinen Arm und hakt sich bei mir ein. »Ich muss dich etwas fragen.«

Mein erster Instinkt ist, ihr meinen Arm zu entreißen, aber dann werde ich mir der neugierigen Blicke bewusst und halte still. »Wir kennen uns doch kaum.«

»Du meinst, du kennst mich kaum. Ich kenne dich sehr gut, Mika.«

Ihre Worte erfüllen mich nicht gerade mit Zuversicht. Wenn es stimmt, was sie sagt, wenn sie wirklich mehr über mich weiß als ich … Mich schüttelt es bei dem Gedanken. Bisher habe ich nie wirklich über die Erinnerungen nachgedacht, die ich so freigiebig gespendet habe. Allerdings habe ich auch nie erwartet, dass mich eine von ihnen eines Tages zur Rede stellt.

»Hast du nicht einen Termin?«

Lynn seufzt. »Ich will erst mit dir reden.«

»Aber wieso?« Mir will sich nicht wirklich erschließen, warum ihr meine Meinung so wichtig ist.

»Weil du der Einzige bist, der sich damit auskennt und …« Sie beißt sich auf die Lippen. »Bitte. Ich kann da nicht rein. Nicht so unvorbereitet. Ich habe den Termin schon verschieben lassen.«

Im Grunde will ich nur weg von hier und die unheimliche Begegnung abhaken, aber es ist unmöglich, in Lynns Augen zu schauen und nicht die Hilflosigkeit darin zu erkennen. Meine Mutter sagt immer, dass die meisten Menschen nur etwas Zeit brauchen, kein Geld und keine teuren Geschenke. Wenn ich Lynn helfen kann, indem ich ihr einfach etwas länger zuhöre, ist das nur ein geringer Preis.

Ich zucke mit den Schultern. »Von mir aus. Lass mich nur meine Vergütung abholen. Dann können wir meinetwegen spazieren gehen.«

Die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Geduldig wartet sie am Ausgang, während ich Marleen mein RedPad hinhalte, damit sie die Überweisung machen kann. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich die Zahlen sehe. Es reicht, um mir das C zu kaufen.

Aber erst muss ich mit Lynn sprechen. Innerlich seufzend wende ich mich ihr zu und verlasse das MTC. Wieder hakt sich Lynn ungefragt bei mir ein und stupst mich sacht in Richtung Wäldchen.

»Wohin gehen wir?«

»Was meinst du denn?« So unschuldig die Worte auch klingen, so sehr nerven sie mich. Es ist, als wollte Lynn mich verhöhnen, wohl wissend, dass ich nicht die geringste Ahnung habe.

Entsprechend patzig antworte ich: »In den Wald.« Früher hat meine Familie im Ottergrund gewohnt, der Siedlung auf der anderen Seite der Enklave. Mittlerweile sind die Wohnungen dort zu teuer geworden.

Lynn rollt bei meinen Worten nur die Augen und seufzt schwer. Trotzdem gibt sie sich Mühe, freundlich zu bleiben. »Wie lange spendest du schon?«

»Seit ich sechzehn bin.« Im Grunde, seit ich darf. Ich habe sogar meine Volljährigkeit mit der Spende gefeiert, statt mir Geschenke zu wünschen. An dem Tag habe ich mir zum ersten Mal ohne schlechtes Gewissen selbst etwas gekauft. Nur für mich. Ohne dass jemand seinen letzten Cent herauskramen musste.

Aber auch diese Antwort scheint falsch zu sein, denn Lynn runzelt lediglich die Stirn.

Mittlerweile passieren wir eine Weggabelung zum dritten Mal. »Du weißt schon, wo du hinwillst?«

Sie nickt und sieht sich suchend um. »Das schon, aber es ist so lange her, und sie haben den Wald zurückgeschnitten. Komisch, dass man das eine quasi bildlich vor Augen hat und andere Details total verschwommen sind.«

»Deshalb kann man auf die Kindheitserinnerungen ja so gut verzichten«, erkläre ich gönnerhaft.

Das Stirnrunzeln vertieft sich, als sie mich mit einem Blick bedenkt. »Meinst du?«

Bevor ich antworten kann, hat sie entdeckt, was sie sucht, und zerrt mich geradewegs ins Unterholz. Wäre Lynn nicht einen guten Kopf kleiner als ich und viel zu zierlich, wäre jetzt wohl der Zeitpunkt gewesen, an dem ich mir hätte Sorgen machen sollen.

»Kannst du mir bitte verraten, was das soll?« Genervt zupfe ich mir Zweige und Blätter aus dem Haar. Meine Frisur ist jedenfalls ruiniert.

Ein verzücktes Lächeln huscht plötzlich über Lynns Lippen, und ich komme nicht umhin, zu bewundern, wie sehr es ihr Gesicht verändert. »Hier ist es. Wir sind da.«

Hier ist mitten im Wald. Den Weg sieht man durch den dichten Bewuchs nicht mehr, und der Wind rauscht durch die Blätter und verschluckt jeden Laut. Wahrscheinlich habe ich hier nicht einmal Empfang. Murphy’s Law und so.

Lynn sieht mich erwartungsvoll an, und ich versuche, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der mir verrät, was wir hier machen. Als ich nur hilflos mit den Schultern zucke, erklärt sie geradezu nachdrücklich: »Das ist unser Raumschiff.«

Ein Glucksen entweicht mir, bevor ich mich hastig um eine neutrale Miene bemühe. »Ein Raumschiff, ja?« Vielleicht ist Lynn ja nicht ganz richtig im Kopf. Immerhin war sie nicht wegen einer Spende im MTC. Die knotigen Baumstämme vor uns sehen jedenfalls nicht mal ansatzweise wie ein Raumschiff aus.

Doch davon lässt sich Lynn nicht beirren und geht geradewegs auf die Baumgruppe zu. »Das hier war das Lager, und hier ist das Cockpit.« Trotz ihres sommerlichen Kleids zieht sich Lynn auf einen niedrigen Ast und balanciert bis zu einer Gabel. Von dort zeigt sie auf ein paar höher hängende Äste. »Da oben ist der Antrieb. Den musstest du so gut wie jedes Mal reparieren. Meistens unter Beschuss.«

Wahrscheinlich wäre der Antrieb nicht so oft kaputt gewesen, wenn er sich nicht an einer völlig irrsinnigen Stelle dieses Schiffs befunden hätte. Wer baut den Antrieb schon über seinem Cockpit auf? Die besagten Zweige erscheinen mir jedenfalls viel zu dünn, um darauf herumzuklettern. »Beschuss?«

Ihr Grinsen hätte mich vorwarnen sollen. So trifft mich der Kienapfel geradewegs an der Schulter. »Hey!« Langsam dämmert mir, worauf Lynn hinauswill. Es sind Erinnerungen, von denen sie spricht. Kinderspiele. Fantasievolle Abenteuer. Anscheinend haben wir an diesem Ort öfter miteinander gespielt.

»Du weißt gar nichts mehr davon, oder?« Sie klingt so traurig, dass mir etwas mulmig wird. »Du hast alles verkauft.«

Meine Wangen brennen vor Scham. Lynn lässt es so klingen, als hätte ich mich verkauft und nicht nutzlose Erinnerungen. Gleichzeitig erfasst mich der Zorn. Was bildet sie sich eigentlich ein, einfach in meinem Leben aufzutauchen und ihren Platz einzufordern? »Ich habe meine Erinnerungen für einen guten Zweck gespendet. Ich rette damit Leben.«

Nicht direkt, aber Dr. Rhivani betont jedes Mal, wie großzügig meine Spende ist und wie vielen Leuten ich damit helfe.

Lynn kann darüber nur lächeln. »Du hast recht. Das ist sicher sehr lobenswert. Wenn ich könnte, würde ich wahrscheinlich auch ab und zu spenden.« Ab und zu, auf keinen Fall so oft wie ich.

Sie lehnt sich gegen den Baumstamm und zupft an den Blättern des Efeus, der sich um ihn schlingt. »Ich finde es nur unheimlich schade.«

»Schade?« Nach einem kurzen Zögern trete ich näher. Der Baum ist zwar kein Raumschiff, aber er bietet unendliche Möglichkeiten, seine Fantasie spielen zu lassen.

»Du warst mein bester Freund, Mika.« Sie wird immer leiser, und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie gleich zu weinen beginnt. »Für mich war die Zeit mit dir damals die schönste meines Lebens. Wir waren fast jeden Tag hier, und du hast mich so oft zum Lachen gebracht.« Tatsächlich schimmern ihre Augen verdächtig. »Ich wollte nicht wegziehen, aber du hast gesagt, dass das nicht so schlimm wäre, weil wir ja die Bänder haben und damit für immer verbunden sind.«

In diesem einen Moment wünsche ich mir, dass ihre Worte etwas in mir auslösen würden, eine Erinnerung wachkitzeln, einen Augenblick zurückholen. Doch sie verklingen nur hohl, und alles, was bleibt, ist Mitleid für Lynn, deren schönste Erinnerungen nur noch ihr allein gehören.

Energisch wischt sie sich über die Wangen und blinzelt gegen die Sonne. Es hilft nicht wirklich, und die Tränen scheinen nur noch schneller zu fließen. Bevor ich michs versehe, habe ich die Hand ausgestreckt und streiche ihr die Feuchtigkeit von der Haut. »Es tut mir wirklich leid.«

Meine Worte lassen Lynn aufschluchzen, und plötzlich wirft sie sich vom Ast hinab in meine Arme. Ich kann nicht anders, als die Arme um sie zu schließen und ihr über die Haare zu streichen. Ihre Finger krallen sich in mein Hemd, und ich spüre, wie sich die Nässe auf meiner Brust ausbreitet. Vom Weinen bekommt Lynn Schluckauf, und ich muss ein wenig grinsen.

Als hätte ich es gewusst.

Der Gedanke lässt mich erschrocken zusammenzucken. Es ist keine Erinnerung, kein klares Bild, kaum mehr als ein vages Gefühl, aber ich habe Lynn … – nein, ob es Lynn war, weiß ich nicht, nur dass es nicht das erste Mal ist. Dass ich ihre heißen Tränen schon einmal auf meiner Haut gespürt habe, das zerbrechliche Gefühl, sie in den Armen zu halten.

Sosehr ich es auch versuche, es will sich kein Bild zu dem Gefühl einstellen, geschweige denn ein Zusammenhang. Ich bin überfordert, damals wie heute, und wahrscheinlich ist das der einzige Grund, warum mir dieses Gefühl noch geblieben ist. Es erfüllt die Kriterien der Positivspende einfach nicht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit löst Lynn sich von mir und wischt sich die Wangen trocken. »Mir tut es leid.« Sie atmet tief ein, noch sichtlich um Fassung kämpfend. »Du kennst mich im Grunde nicht einmal, und ich setze dich so unter Druck.«

Eigentlich spricht sie nur aus, was ich die ganze Zeit über gedacht habe, aber jetzt schmecken mir die Worte nicht mehr. Ich weiß nun, dass Lynns Erinnerungen real sind, dass ich ihr etwas bedeute und sie einst mir.

Den Arm mit dem Freundschaftsband in die Höhe gestreckt, setze ich ein möglichst überzeugendes Grinsen auf. »Hallo? Wir sind miteinander verbunden, schon vergessen? Es ist quasi Schicksal, dass wir uns wiedergetroffen haben.«

Mein Tonfall zaubert ihr ein Lächeln auf die Lippen, das ihre feuchten Wangen rot schimmern lässt. »Meinst du wirklich?«

»Klar, ich kann mich zwar nicht an das erste Mal erinnern, aber das heißt ja nicht, dass es kein zweites Mal geben kann.« Wahrscheinlich ist es ein Fehler; ein Anflug von Sentimentalität oder eine Reaktion auf ihre Tränen. Ich strecke meine Hand einladend aus. »Wir schaffen uns eben neue schöne Erinnerungen.«

Lynns Augen strahlen, als sie meine Hand nimmt. »Sehr, sehr gern«, haucht sie, und mein Kopf fühlt sich plötzlich viel zu leicht an.

»Aber vielleicht können wir das in einem Café tun, statt dabei auf Bäume zu klettern.«

Meine Worte bringen sie zum Lachen. Es fängt mit einem Kichern an und wird dann immer lauter, bis sie sich die Hand vor den Mund hält und mich nur noch anstrahlt. Das Funkeln in ihren Augen sorgt dafür, dass sich ein wohliges Gefühl in meinem Bauch ausbreitet. So gefällt sie mir deutlich besser als eben noch. Hand in Hand schlagen wir uns erneut durch das Dickicht und kehren auf die ausgetretenen Pfade zurück. Ich möchte lieber nicht wissen, wie wir gerade aussehen.

»Darf ich dich trotzdem wegen der Memospende ausfragen?«, fragt Lynn leise, während wir den Wald hinter uns lassen und uns wieder in die Zivilisation begeben.

»Klar, schieß los!«

Trotz meiner Aufforderung braucht Lynn etwas Zeit, bis sie sich die Worte zurechtgelegt hat. »Wie fühlt sich das an? Eine Erinnerung zu verlieren?«

Prima. Die erste Frage, und ich weiß keine Antwort. »Es juckt ein wenig, aber da gewöhnt man sich schnell dran«, sage ich schließlich und widerstehe dem Drang, mich am Hinterkopf zu kratzen, wo das kleine Loch in meinem Schädel ist.

Lynn mustert mich schräg von der Seite, die Augenbrauen erhoben. »Es juckt?«

»Na ja, sie müssen immer noch in dein Hirn rein«, versuche ich zu erklären. »Aber das Loch ist winzig. Sobald der Zugang liegt, geht alles ganz schnell.«

Falsche Antwort. Lynn rollt die Augen. »Ich meine nicht die Prozedur, sondern das Gefühl, eine Erinnerung verloren zu haben. Von Blut wird einem schwummrig, aber wie fühlt man sich nach einer Memospende?«

»Genauso wie vorher?« Hilflos zucke ich mit den Schultern. »Es sind nur Erinnerungen.«

»Ja, aber …« Lynn winkt ab. »Und psychisch? Wie ist das, etwas von sich selbst wegzugeben?«

Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Über dreißig Spenden, und ich habe nie nachgefragt, welche Erinnerungen ich da eigentlich verloren habe. »Ich vermisse sie nicht, wenn du das meinst. Mir fehlt nichts.«

Wieder dieser prüfende Blick, als würde ich sie anlügen. »Es ist für eine gute Sache. Die Menschen, die meine Erinnerungen erhalten, sind erleichtert.« So ein bisschen komme ich mir gerade vor, als wäre ich zur Werbung abgestellt worden, aber ich stehe wirklich hinter der Memospende.

»Hast du denn schon mal einen von ihnen getroffen?«

Verdutzt halte ich inne und zwinge Lynn, ebenfalls stehen zu bleiben. »Das ist alles verschlüsselt.«

»Ja, aber ist es nicht komisch, wenn, sagen wir …« Suchend sieht sie sich auf der Straße um. »Der da drüben.« Lynn zeigt auf einen alten Mann, der gerade den Mülleimer auf der Suche nach Pfandflaschen durchwühlt. »Was wäre, wenn der deine Erinnerung an das Raumschiff hat?«

Irgendwie bezweifle ich, dass der Mann mit Erinnerungen behandelt wurde und immer noch freiwillig im Müll sucht. »Dann geht er vielleicht ab und zu durch den Wald und freut sich.«

Lynn runzelt die Stirn. »Und das wäre dir nicht unangenehm?«

»Warum sollte es? Erstens bekomme ich es nicht mit, und zweitens erinnert er sich doch nur daran, als Kind mal in den Bäumen gespielt zu haben.«

»Mit mir.«

»Was?«

Lynn seufzt schwer, und in ihren Augen spiegelt sich die Verzweiflung. »Er erinnert sich daran, mit mir dort gespielt zu haben.«

Prüfend beobachte ich den alten Mann, der endlich fündig geworden ist und nun den Weg entlangschlurft. »So funktioniert das nicht.« Glaube ich zumindest.

Abrupt werde ich mir bewusst, wie viel für Lynn von meinen Antworten abhängt. Entschlossen ziehe ich sie weiter zu einer Bank und hole mein RedPad heraus. Im Nu habe ich die Skizzen und Schemata der Memospende aufgerufen und präsentiere sie Lynn. »Einzelne Erinnerungen sind nicht halb so viel wert, wie du glaubst. Sie sind miteinander verzahnt. Sagen wir mal, unser Patient erinnert sich daran, mit einem Mädchen im Wald gespielt zu haben.«

Ich markiere eine der Zellen und lösche die Verbunde. »Ihm fehlen aber alle anderen Infos, die normalerweise damit verbunden sind. Dein Name, dein Aussehen, deine Stimme.« All das, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. »Wahrscheinlich wüsste er nicht einmal, wo er das Raumschiff genau findet oder dass der Antrieb immer kaputt war. Es ist nur ein winziger Teil des Gedächtnisses, der bei der Spende transplantiert wird. Genau genommen wird die Erinnerung sogar verfälscht, weil sie ja beim Patienten eingesetzt wird.« Mit ein paar flinken Bewegungen zeichne ich neue Verbindungen ein. »Das Mädchen erinnert ihn jetzt an seine Schwester oder verliert sogar völlig an Bedeutung. Was bleibt, ist das Gefühl. Und wann immer ihm etwas begegnet, was dem Wald ähnelt, oder er zwei Kinder spielen sieht, spürt er dieses tiefe Gefühl der Zufriedenheit.«

Ich schließe die App und sehe Lynn erwartungsvoll an. Ihr ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass sie wieder ihre Hände knetet. »Also läuft niemand wirklich mit deinen Erinnerungen herum?«

»Nicht so, wie du denkst, jedenfalls. Theoretisch ja, aber es sind seine oder ihre. Deshalb wäre es auch unmöglich, sie wiederzufinden.« Gut gelaunt ziehe ich Lynn wieder hoch, und wir setzen unseren Weg fort. Ein bekanntes Schild springt mir ins Auge.

Der RedPad-Shop, und noch ist kein Ausverkauft-Schild zu sehen.

Kurzerhand ziehe ich Lynn mit mir hinein. Vor dem Tisch mit den Neuerscheinungen lasse ich sie wieder los. Das RedPad C ist hier, ich bin hier, und Geld habe ich auch. Die prüfenden Blicke der Angestellten sind mir egal. Ich weiß selbst, dass ich nicht aussehe, als hätte ich genug Geld dafür.

»Was tun wir hier?«, fragt Lynn reichlich verwirrt.

Geradezu feierlich erkläre ich: »Wir kaufen das neue RedPad C.«

»Ist das nicht furchtbar teuer?« Ihre Bedenken lassen mich innerlich die Augen rollen.

Behutsam lege ich ihr die Hände auf die Schultern und sehe ihr tief in die Augen. »Ich habe dafür gespart, seit sie es angekündigt haben. Erinnerungen.« Ich tippe mir gegen den Schädel und strecke dann die Hand aus. »Geld.« Ein liebevoller Blick auf das Objekt meiner Begierde folgt. »Mein neues RedPad.«

Zeit, das hübsche Stück zu kaufen. Lynn folgt mir notgedrungen zur Theke. »Du verkaufst deine Erinnerungen dafür?«

»Wofür sonst? Klamotten? Außer dass sie schick aussehen, haben sie doch nicht mehr Nutzen als die, die ich habe.« Ich lasse den Verkäufer meine Kontodaten scannen und lehne mich lässig gegen die Theke, Lynn zugewandt. »Was würdest du denn kaufen?«

Lynn sieht mich mit leerem Blick an und zuckt die Schultern. »Ich würde es wahrscheinlich anlegen.«

Bei so viel Voraussicht kann ich nur schnauben. »Kauf dir lieber ein RedPad. Damit kannst du dann dein Geld richtig investieren und an der Börse spielen oder so.« Mit dem nötigen Kleingeld kann man schon einiges bewegen, wenn man die Algorithmen kennt. Aber so viel Geld habe ich dann doch wieder nicht.

»Sind dir deine Erinnerungen denn gar nichts wert?« Lynn ist fassungslos. Das Konzept, dass man auch etwas opfern muss, wenn man im Leben vorankommen will, scheint ihr völlig fremd.

Ein Piepton verrät mir, dass mein Geld gerade den Besitzer gewechselt hat. Ich versuche, gar nicht erst daran zu denken, wie groß die Summe ist, die da so schnell verschwunden ist, und konzentriere mich auf Lynn. »Zum dritten Mal, ich tue damit etwas Gutes. Warum sollte ich nicht auch davon profitieren und mir ein Mal im Leben etwas kaufen, was ich wirklich will?«

Liegt das Geräusch meines verschwindenden Geldes auch schwer im Magen, so fegt das Gefühl, als ich die brandneue Box in meinen Fingern halte, alles weg. Endlich ist es da. Ich weiß jetzt schon, dass ich heute Nacht kein Auge zumachen werde.

»Aber du gibst so vieles weg. All diese kleinen Erinnerungen. Für immer verloren.« Wenn man Lynn so reden hört, könnte man meinen, dass ich lebenswichtige Organe verkauft hätte.

Der Verkäufer nimmt derweil mein altes RedPad in Empfang und baut den Chip aus, der in einem edlen kleinen Tütchen direkt wieder in meine Hände wandert. Mein neues RedPad unter dem Arm, lasse ich das Tütchen vor Lynns sommersprossiger Nase baumeln. »Sie sind nicht verloren. Bilder, Texte, Videos. Alles hier drin gespeichert und auf Abruf zu konsumieren.«

Wer braucht da noch lückenhafte, schwammige Erinnerungen im Kopf?

Kapitel 3

Mein Hochgefühl hält keine halbe Stunde. Die Wohnungstür klemmt etwas beim Öffnen, und ich höre, wie sich etwas Schweres zur Seite schiebt, als ich mich dagegenstemme. Eine Wand von Kartons erwartet mich linker Hand, und ein ungutes Gefühl beschleicht mich.

»Mama? Papa?«

Die gesamte Wohnung ist bereits zusammengepackt. Nur mein Zimmer ist noch unberührt. Allerdings stehen auch davor drei Kartons. Meine Mutter weiß, wie sehr ich es hasse, wenn jemand durch meinen Kram geht.

Bevor ich meine Eltern finde, rennt mich fast meine Schwester um. Anni ist zwölf und in dieser merkwürdigen Phase zwischen Kindheit und Pubertät, was bedeutet, dass sie mir nur einen genervten Blick zuwirft, als ich nicht auf der Stelle Platz mache. »Wo willst du hin?«, frage ich sie. Es ist immerhin gleich Zeit fürs Abendbrot.

»Weg« ist die einzige Antwort, die ich erhalte, bevor sie sich an mir vorbeidrückt und zur Tür hinaus ist.

Den tatsächlichen Grund erfahre ich von meinem kleinen Bruder Lasse, der gerade sein Schulzeug in eine Kiste auf dem Flur wirft. »Sie will sich von Miri verabschieden.«

»Verabschieden?«

»Wir ziehen um«, antwortet er mir lapidar und verschwindet in seinem Zimmer.

Wir ziehen um. Dass das alles ein wenig plötzlich kommt, wäre untertrieben. Es wird höchste Zeit, dass ich erfahre, was hier los ist.

Ich finde meine Eltern in der Küche. Mein Vater sitzt auf dem Küchenstuhl und schreibt eine Liste, während meine Mutter das Geschirr zusammenpackt. Statt Abendbrot sehe ich die Reste einer Tiefkühlpizza.

»Du bist schon zurück?«, fragt meine Mutter überrascht.

Etwas säuerlich bemerke ich: »Wärt ihr sonst schon weg, wenn ich später gekommen wäre?«

»Der Umzugswagen kommt morgen«, erwidert mein Vater und fährt mit seiner dämlichen Liste fort.

»Morgen schon. Und warum erfahre ich das erst heute?« Ich verschränke die Arme und lehne mich gegen die Ablage.

Meine Eltern wechseln einen Blick, der mir ganz und gar nicht gefällt. Vor allem passt er nicht zu dem bemüht fröhlichen Tonfall, den meine Mutter nutzt, als sie erklärt: »Das hat sich kurzfristig ergeben.«

Mein Blick muss Bände gesprochen haben, denn sie wendet sich betreten ab und öffnet den nächsten Schrank. Viel ist nicht darin.

Entnervt widme ich meine Aufmerksamkeit meinem Vater. »Erklärt mir irgendjemand, was hier vor sich geht?« Ich zögere. »Bitte.«

Er versucht, meinem Blick auszuweichen, aber ich bemerke den Schmerz in seinen Augen, und das ungute Gefühl in meinem Bauch vertieft sich. Schließlich atmet er tief ein und erklärt: »Es geht mir nicht gut.« Er zögert einen Moment und fügt schließlich hinzu: »Ich bin krank. Lupus.«

Das Blut weicht aus meinen Gliedern, und eine Taubheit ergreift von mir Besitz. Hätte es nicht ein neuer Job sein können? Eine günstigere Wohnung? Irgendwas? »Heißt?«, höre ich mich selbst sagen und frage mich zugleich, wann ich so kalt geworden bin.

Mir fällt auf, dass mein Vater seine Hände genau wie Lynn knetet, wenn er nervös ist. Nur sind seine fleckig und knöchern. Er war schon immer ziemlich hager, kaum ein Gramm Fett an seinem Körper.

»Die Behandlung hat uns eine Menge Geld gekostet. Mehr, als wir uns leisten konnten.« Dumpf frage ich mich, wie lange er schon in Behandlung ist. »Wir müssen bis Ende der Woche aus der Wohnung raus.«

Geld. Am Ende läuft alles wieder aufs Geld hinaus.

Ich nicke und schlucke den dicken Kloß in meiner Kehle herunter. »Und wohin ziehen wir?«

»Hertford«, antwortet meine Mutter und versucht, mit ihrem aufgesetzten Optimismus die Stimmung zu retten. »Die Wohnung ist ein wenig kleiner, aber wir machen sie uns schön.«

Ich kann nicht anders, als die Augen zu rollen. Wer in Hertford wohnt, gehört zum Bodensatz der Gesellschaft. Kann sein, dass es dort auch schöne Ecken gibt, aber mir fallen nur die Obdachlosen und Junkies ein, welche die Straßen bevölkern. Niemand dort hat viel Geld. Genau wie wir.

Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, mich zu verweigern und mir alleine eine Bleibe zu suchen. Alt genug bin ich ja, auch wenn mir noch einige Module zum Abschluss fehlen. Aber dann schleicht sich der Gedanke ein, dass mein Vater krank ist und sicher Hilfe braucht.

»Und wie schlimm ist es?«, frage ich möglichst lässig. Na toll, jetzt klinge ich schon wie meine Mutter.

Wieder wechseln meine Eltern einen Blick, und meine Mutter schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Eliana, er ist kein Kind mehr«, bittet mein Vater, und ich würde mich am liebsten irgendwo übergeben.

Einen Moment lang ringt meine Mutter um Fassung, dann schiebt sie sich an mir vorbei und schließt die Tür zum Flur. Unwillkürlich verkrampfen sich die Finger meiner rechten Hand um die Küchenplatte. Warum musste ich nur fragen?

»Mika.« Mein Vater klingt so furchtbar ernst, dass ich kein weiteres Wort aus seinem Mund hören will, doch dafür ist es zu spät. »In den letzten Jahren hat sich mein Zustand verschlechtert. Die Medikamente schlagen nicht mehr an, und wirklich wirkungsvolle Antibiotika können wir uns nicht leisten. Ich habe immer öfter Ausbrüche.«

»Woah, stopp, warte mal!« Es ist zu viel auf einmal. Die Informationen prasseln auf mich ein, aber sie ergeben keinen Sinn. Als hätte jemand die Verbindungen gekappt, die sie mit dem Rest von mir vernetzen. »Was heißt in den letzten Jahren? Ich dachte, du hast gerade erst die Diagnose erhalten. Deshalb ziehen wir doch um, oder? Damit du dir die Behandlung leisten kannst und wieder gesund wirst.«

Das Mitleid in seinen Augen bringt mich fast um. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, und es wird nahezu unmöglich, zu schlucken.

»Ich habe es vor neun Jahren erfahren. Damals warst du noch zu klein, und wir hatten gehofft, dass wir diese Krankheit in den Griff bekommen würden.«

Die Bruchstücke drehen sich in meinem Kopf. Vor neun Jahren sind wir aus dem Ottergrund in diese Wohnung gezogen. Weil das Geld zu knapp war. Weil der Weg zur Arbeit dann kürzer war. Nein, nicht zur Arbeit. Zum Krankenhaus. Fahrig reibe ich mir übers Gesicht. Neun Jahre lang haben meine Eltern jeden Cent in die Behandlung gesteckt und uns Kindern nichts davon erzählt.

»Neun Jahre, und ihr habt nicht einen Ton gesagt?« Allein diese Worte auszusprechen, bereitet mir unendliche Qualen.

»Mika …« Meine Mutter legt ihre Hand auf meinen Arm, doch ich schlage sie reflexartig weg. Seufzend zieht meine Mutter sich wieder zurück.

Mein Vater hat wenigstens den Anstand, betreten auszusehen. »Du warst noch ein Kind.«

»Aber jetzt nicht mehr.« Ich schnaube. »Ihr hättet nichts gesagt, wenn ich nicht zufällig gefragt hätte.« Es fällt mir zunehmend leichter zu sprechen, jetzt, wo ich die Wut in mir gefunden habe. »Wann hätte ich es denn erfahren? Zu deiner Beerdigung?«

Dass das ein Schlag unter die Gürtellinie war, weiß ich selber, aber ich kann nicht anders. Es ist die einzige Möglichkeit, nicht an diesen Informationen zu ersticken.

Entweder mein Vater hat nicht mehr die Energie, um zu streiten, oder er hat den längsten Geduldsfaden der Welt. Ruhig erklärt er mir: »Es war mir wichtiger, die Zeit, die ich habe, mit euch zu verbringen. Ich mag das nicht, wenn sich alles nur noch um die Krankheit dreht. Es ist schon schlimm genug, was es diese Familie gekostet hat.« Kurz lächelt er meine Mutter an. »Aber sie hätte nicht zugelassen, dass ich die Behandlung ausschlage.«

Mit einem leichten Schmunzeln fügt meine Mutter mehr für ihn als mich hinzu: »Das war ja auch die dümmste Idee, die ich je gehört habe.«

»Aber das hat sich gelohnt, oder? Du wirst wieder gesund und … Ich meine, viele Menschen leben mit Lupus.« Nicht dass ich mich groß damit auskenne.

Der Kloß ist wieder da, und diesmal brennen meine Augen. Mein Vater schweigt lediglich und weicht meinem Blick aus. »Man stirbt nicht daran. Oder?«, krächze ich.

Er seufzt schwer. »Meine Nieren beginnen zu versagen.«

 

In dieser Nacht mache ich kein Auge zu. Aber nicht wegen des RedPads. Das liegt immer noch eingepackt in meinem Rucksack. Meine Sachen habe ich inzwischen zusammengeräumt. Nur das Bett steht noch.

Ich kann nicht einmal die Stille genießen, dabei weiß ich, dass es ab morgen damit vorbei ist. Meine Geschwister und ich werden uns ein Zimmer teilen müssen. Wie ich so die komplizierten Abschlussmodule bearbeiten soll, die ich noch vor mir habe, will sich mir nicht erschließen. Aber das ist mein geringstes Problem. Irgendwie werde ich aus diesem Sumpf schon rauskommen. Ich hätte nur wirklich gern meinen Vater dabei.

Die bloße Möglichkeit, dass er nicht mehr da sein könnte, wenn ich mein Zertifikat erhalte, schnürt mir die Luft ab. Meine Finger krallen sich in das Bettzeug, und meine Gedanken springen weiter. Falls er stirbt, muss ich meiner Mutter helfen, die Familie zu versorgen. Keine Jobshoppingphase, wie die meisten meiner Mitschüler sie vorhaben, sondern direkt das Erstbeste nehmen und hoffen, dass ich mich irgendwie hocharbeiten kann. Dabei hatte ich immer davon geträumt, ein Praktikum bei einer der großen Techfirmen zu ergattern. Unbezahlt bringt mir das jetzt aber auch nichts.

Stöhnend reibe ich mir die Schläfen und versuche, aus der Gedankenspirale auszubrechen. Die hilft nun wirklich niemandem weiter. Ein Blick auf meinen Wecker sagt mir, dass es schon nach vier ist. Jetzt noch zu schlafen, lohnt sich auch nicht mehr, also ziehe ich meinen Rucksack hervor.

Die Aufregung von heute Nachmittag ist verflogen. Meine Hände und vor allem mein Kopf brauchen nur etwas Beschäftigung, und da kommt mir das Einrichten des RedPad gerade recht. Im Dunkeln sieht man von dem warmen Rot nichts, doch allein das Gefühl der glatten Hülle wirkt beruhigend. Es ist wie Samt und damit nicht so rutschig wie das alte.

Ich angle nach dem Chip in meiner Hosentasche und setze ihn ein. Schon begrüßt mich der Willkommensbildschirm. Eine Weile beschäftige ich mich mit den verschiedenen Einstellungen und aktiviere die ML-Engine. Die meisten Leute schalten sie erst viel zu spät ein, dabei hilft es, wenn sie schon beim Set-up aktiv ist.

Einige neue Apps leuchten mir entgegen, die ich flüchtig durchgehe und mental kategorisiere. Vieles ist Kleinkram, aber zusammen mit den anderen Apps kann man ziemlich erfolgreich sein Leben managen. Die Foto-App braucht natürlich am längsten, um vollständig zu laden.

Plötzlich kommt mir eine Idee, und ich scrolle zwölf Jahre zurück, ins Jahr 2031. Mit der Gruppensuche finde ich das Bild vom Kindergarten relativ schnell und zoome näher. Da stehe ich, und neben mir … Sommersprossen. Auch wenn sie bedeutend kleiner ist, erkenne ich Lynn sofort. Für das Foto wurde sie ziemlich herausgeputzt: das Kleid blütenrein und ein buntes Schleifchen im Haar. Ich hingegen habe Löcher in der Hose, und mein Shirt berührt kaum den Bund, so viel bin ich schon wieder gewachsen. Selbst ohne die Krankheit meines Vaters haben wir nie viel Geld gehabt.

Ich markiere Lynn und lasse die Bildersuche laufen. Es sind wirklich eine Menge Bilder, auf denen sie drauf ist. Meine oder ihre Eltern haben offensichtlich viel fotografiert. Es gibt sogar ein paar Bilder vom Wald. Am ungünstigen Bildausschnitt erkenne ich, dass die Bilder von mir oder Lynn sind. Zum Raumschiff durfte keiner der Großen mit.

Ein Bild nimmt mich völlig gefangen. Ich bin mit der Kamera so dicht an sie herangegangen, dass nur ihre Augen auf dem Bild sind. Schon damals waren sie karamellbraun und scheinen bis auf den Grund meiner Seele zu sehen.

Noch etwas anderes stelle ich fest. Die Bilder sind da, aber in mir regt sich nichts. Es sind die Kinderfotos zweier Fremder. Süße Ausschnitte, keine Frage, aber selbst in den Videos unendlich weit entfernt.

 

Lynn hat meine Nummer gespeichert und mich wie versprochen einige Tage später ins Café eingeladen. Ich bin zu früh und studiere mit einem flauen Gefühl im Magen die Karte draußen am Fenster. Um die Ecke bei unserer neuen Wohnung kriegt man den Kaffee förmlich nachgeschmissen, hier kostet er mehr als ein gutes E-Book.

Sie kommt pünktlich, unter dem Arm eine Mappe aus dem MTC. Bei meinem Anblick wandert sogleich ein Lächeln über ihr Gesicht. Ein wenig hilflos mache ich eine einladende Geste, und wir betreten das Café. Sofort zieht sie mich zu einer kleinen Bucht am Fenster und gleitet in den Sitz. Anscheinend ist das ihr Lieblingsplatz.

Erneut studiere ich die Getränkekarte. Schon komisch, dass ich mir so viele Gedanken über eine kleine Tasse Trinken mache, aber noch vor Tagen Unmengen für das RedPad ausgegeben habe. Als der Kellner kommt, bestelle ich einen Tee.

»Hast du keinen Hunger?«, fragt Lynn, die sich ein Stück Kuchen und einen Kaffee mit Haselnussnote bestellt hat.

Mein Magen hält zum Glück die Klappe, und ich versuche, nicht an die Käsestulle in meinem Rucksack zu denken. »Momentan nicht.«

Erneut fällt mir die MTC-Mappe ins Auge. »Hast du es jetzt durchgezogen?«