Mensch Marx - Martin Lohmann - E-Book

Mensch Marx E-Book

Martin Lohmann

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Beschreibung

Reinhard Marx, der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, ist zur Zeit eine der interessantesten und vielschichtigsten Persönlichkeiten der katholischen Kirche. Der Autor, seit Jahrzehnten ein guter Bekannter des Kardinals, zeichnet in seinem umfassenden Porträt erstmals dessen kirchlichen Werdegang nach und stellt Biografie, Profil und theologische Positionen des bedeutenden Kirchenmannes vor. So wird vor allem auch der Mensch Marx mit seiner Lebenslust und seiner theologischen Prägung, mit seiner Fähigkeit, Menschen zu faszinieren und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, vom Autor in den Blick genommen. Jetzt mit den neuen Kapiteln: Römische Ambitionen – Marx und Weltkirche Brüsseler Bühne – Marx und Europa Wahrheit und Dialog – Marx und Menschen Leben in Bayern – Marx und München Skandale und Fehlbarkeit – Marx und Enttäuschungen Benedikt und Franziskus – Marx und Päpste

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Martin Lohmann

Mensch Marx

Der Kardinalim Porträt

Eine Biografie desErzbischofs Reinhard Marx

Impressum

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 2014

Bisheriger Titel: Mensch Marx. Der Münchner Erzbischof im Porträt

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv:© imago/epd

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-31266-3

ISBN (E-Book) 978-3-451-80211-9

Inhalt

Vorwort

Westfälische FamilieMarx und Leben

Sensible EicheMarx über Marx

Freiheit in der LebensfreudeMarx und Kirche

Ins Schwarze treffenMarx und Schützen

Weltverantwortung wahrnehmenMarx und Ritter

Mit Leidenschaft für GerechtigkeitMarx und Marx

Brüssel, Europa und der MenschMarx und Politik

Wir sollten unsere Stärke zeigen!Marx und Zukunft

Anspruch. Qualität. Wahrhaftigkeit.Marx und Medien

Vom Glauben durchglühtMensch Marx!

Credo!Marx und sein Bekenntnis

Krisen und SkandaleMarx und Enttäuschungen

Von Papa Giovanni begeistertMarx im Wappen

Johannes Paul II., Benedikt und FranziskusMarx und Päpste

Curriculum vitaeReinhard Kardinal Marx

Dank und Literatur

Vorwort

Der Münchner Kardinal ist so etwas wie „das“ Gesicht der katholischen Kirche in Deutschland. Er ist Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, gehört zum wichtigsten Beraterkreis des Papstes – und ist vielfach omnipräsent. In Diskussionen, als Gesprächspartner in Kirche und Gesellschaft und als kritischer Experte zu Wirtschaftsfragen. Doch: Wer ist dieser Reinhard Marx eigentlich? Was macht ihn aus? Woraus lebt er? Was bewegt ihn? Welche Stärken, welche Schwächen hat er?

Sicher scheint: Er lacht gern. Er lebt gern. Und er ist gern katholisch. Reinhard Marx ist gern Bischof. Er ist gern Christ. Und er ist gerne mitten im Leben. Er liebt starke Gesten. Er kann aber auch im Gebet versinken. Eine mächtige Stimme ist ihm ebenso wenig fremd wie die tiefe Spiritualität des Frommen. Für ihn ist Frömmigkeit kein Schimpfwort. Er ist spontan und schlagfertig, aber auch sehr zielstrebig. Ob Staatspräsident oder Schulkamerad, ob Wissenschaftler oder kleines Kind: Er vermag es, jedem auf Augenhöhe zu begegnen. Er hört genau hin, und er kann reden. Predigen sowieso. Er mag die Menschen – und auch sich selbst. Man sagt, er sei führungsstark. Man weiß, er nimmt Führung wahr. Und: Er hält sich und andere auf Trab.

Schon häufig wurde er beschrieben als schlagfertig, quirlig, eloquent, diskussions- und kontaktfreudig. Über ihn ist zu lesen und zu hören, dass er jemand sei, der gern mit Menschen zu tun hat und den Glauben mit Freude unters Volk bringt. Der Erzbischof von München und Freising ist bekannt – weit über die Grenzen der Bistümer hinaus, in denen er bisher wirkte. Auch in der Politik, in der Wirtschaft und in der Medienwelt steht sein Name für Profil. Konservativ? Progressiv? Liberal? Reaktionär? Altmodisch? Modern? Wie also ist Marx wirklich? Stimmt etwa auch das weniger schmeichelhafte Etikett eines gelegentlich aufbrausenden, energisch abwehrenden Mannes? Ist die Kritik, die er sich gefallen lassen musste, berechtigt?

Sicher ist nur: Irgendwie werden alle Etikettierungen diesem außergewöhnlichen Kirchenmann nicht wirklich gerecht. Er gilt als romtreu und konservativ, tritt aber modern und unkonventionell auf. Kirchenfest und weltoffen sei er. So sagen viele. Er ist in der Sprache der Kirche zu Hause, spricht aber eine gänzlich schnörkellose Sprache, die von allen verstanden wird. Und: Er ist geradezu unerhört katholisch. Für seinen Glauben schämt er sich nicht. Im Gegenteil. Für ihn hat der Glaube, den er als Geschenk bezeichnet, die Kraft des Mehrwertes. Für ihn bedeutet Christsein, mehr vom Leben zu haben. Wer glaubt, hat mehr – auch mehr Kraft, mehr Freude, mehr Lust. Die Worte „Gott“ und „Kirche“ haben bei ihm noch nie Assoziationen des Zwangs oder der Enge ausgelöst. Im Gegenteil. Sie sind für ihn Inbegriff größter Freiheit. Das strahlt der Mann aus, der offensichtlich die Gabe hat, seine westfälische Bodenständigkeit nahtlos ins barocke bayerische Leben zu überführen. Der einstige Professor für Christliche Gesellschaftslehre liebt Rotwein und Zigarren ebenso wie das bayerische Bier und deftige Speisen.

Und in allem wird erkennbar: Dieser von manchen so bezeichnete „Star“ am Kirchenhimmel, dessen von Selbstbewusstsein und Gottvertrauen gezeichnetes Leben ihn aus dem kleinen Städtchen Geseke bis auf die Kathedra des heiligen Korbinian nach München führte, ist vor allem eins: Mensch. Mensch für Menschen. Und er ist ein freier Mensch. Ein Mensch, der offensichtlich in seinem Glauben und seiner kirchlichen Verankerung das größtmögliche Maß an Freiheit entdeckt zu haben scheint, welches es auf Erden geben kann. Für ihn auf jeden Fall. Mensch Marx – darin steckt auch das Bekenntnis und die Bereitschaft, dem Leben zu trauen und es voll und bewusst zu leben.

Reinhard Marx genießt Ansehen – im doppelten Sinne des Wortes „genießen“. Aber er erfährt auch Ablehnung. Das ist so bei Persönlichkeiten, die klare Ansagen wagen. Bei aller Freundlichkeit und aller Kontaktfreude, auf andere Menschen zuzugehen, redet Marx keinem nach dem Mund. Für manche ist er schon deshalb unbequem.

Dieses Buch will den Menschen Marx und den Kardinal Reinhard ein wenig nachzeichnen, skizzieren. Mehr nicht. Aus vielen Jahren gemeinsamer Begegnungen und zahlreicher Beobachtungen ist diese Skizze entstanden. Es ist das durchaus vorläufige Bild eines Menschen, der als etwas anderer Kardinal in einer für Kirche und Welt schwierigen Zeit dieser Kirche und dieser Welt etwas zu sagen hat. Und das tut er auf eine Weise, die viele Menschen fasziniert und neugierig macht.

Deshalb will dieses Buch versuchen, die Neugier auf einen stets Neugierigen ansatzweise und wenigstens für einen Moment zu stillen. Bei diesem Versuch der Annäherung werden auch Facetten eines Kirchenfürsten sichtbar, die vielleicht überraschen. Seine Sensibilität zum Beispiel. Und seine Melancholie. Hinter dem Kirchenmann, dem Prediger, dem Genussliebhaber, dem Theologen und dem Westfalen sowie hinter dem Begierdebayern und auch nicht unfehlbaren Reinhard Marx schaut eigentlich immer wieder eine Figur hervor, auf die der alles Menschliche zulassende Titel dieses Buches augenscheinlich gut passt: Mensch Marx!

Dieses Porträt ist übrigens mit Wissen, nicht aber mit einer ausdrücklichen Autorisierung des Porträtierten geschrieben worden. Eine „Zensur“ wollten wir beide nicht. Ob Reinhard Marx, den ich nicht um Erlaubnis für dieses erweiterte und aktualisierte Buch bat, mit jeder Einordnung oder wertenden Beschreibung immer sofort einverstanden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber ein Porträt ist ja stets mehr als eine mit Selbstauslöser gemachte Fotografie. Der Titel ist, so gesehen, Kompliment wie Anspruch zugleich – je nach Betonung: Mensch Marx!

Bonn – Bad Godesberg, im August 2014

Martin Lohmann

Westfälische Familie

Marx und Leben

Daheim sind sie fast alle mächtig stolz auf den größten Sohn der Stadt. Auch deshalb, weil Reinhard Marx als gebürtiger Geseker einer von ihnen geblieben ist. Seine steile Kirchenkarriere hat ihn niemals abheben lassen. Und so ist „unser Reinhard“ auch als Erzbischof im fernen Bayern für die meisten, die ihn persönlich kennen, „unser Reinhard“ geblieben. Auch als Kardinal und enger Papstvertrauter auf höchster kirchlicher Ebene. Nicht nur, weil er auch als Weihbischof, Bischof von Trier und jetzt als Metropolit in München seine heimatlichen Wurzeln niemals vergessen hat, sondern sie vielmehr ganz selbstverständlich durch unspektakuläre Besuche und ein ganz natürliches Bekenntnis zur westfälischen Heimat stets pflegte. Nicht nur, weil er im Vereinsleben der Schützenbrüderstadt Geseke einen festen Platz hat. Und auch nicht nur, weil er zu wichtigen Anlässen – kirchlichen wie weltlichen – ungezwungen auftaucht und einfach da ist. Nicht nur Benedikt Laame, der daheim in Geseke die Öffentlichkeitsarbeit für die Stiftskirchengemeinde St. Cyriakus ebenso stolz wie hilfsbereit leistet, erzählt davon.

Reinhard Marx ist auch „unser Reinhard“ geblieben, weil er stolz ist auf seine kleine große Heimat und die Herzensprägung westfälischer Art, die er mit seinen Gesekern teilt. Schmunzelnd nimmt er zur Kenntnis, wenn diese – im Hinblick auf das in München möglicherweise schon bald anstehende Kardinalspurpur – zu Beginn des Jahres 2008 spaßvoll und mit einem Schuss ehrlicher Hochachtung meinen, angesichts des in Chemnitz frei gewordenen Namens könne man ja Geseke irgendwann in „Kardinal-Marx-Stadt“ umbenennen. Dazu wird es freilich nicht kommen. Aber eine Straße oder einen Platz werden sie ihm sicher widmen, diesem Sohn der Stadt, der das kleine und bodenständige Geseke überall bekannt gemacht hat. Später.

Reinhard Marx wurde hier wesentlich geprägt. Wer sein Wesen, seinen Humor und sein nicht immer ironiefreies Selbstbewusstsein verstehen will, sollte sich einen Besuch in Geseke gönnen. Mächtige Mauern, stabile Kirchenräume, eine Schlossruine im zum Stadtteil beförderten Örtchen Störmede, das ebenfalls eingemeindete Barockschloss Eringerfeld, die Reste einer längst abgetragenen Stadtmauer sowie alte Fachwerkbauten zeugen von der langen Geschichte eines Ortes, in der der Name Marx häufig zu finden ist. Übrigens auch der Name Engels. „Beide, Marx und Engels, kommen von hier und wurden zu Priestern geweiht“, erwähnt der heutige Pfarrer Gerald Haringhaus mit einem Lächeln. „Aber das waren nicht Friedrich und Karl“, spielt er auf den zwischenzeitlich in der Marxstadt Trier wirkenden Marx aus Geseke an. Doch seit der Berufung des „Geseker Jungen“, wie sich dieser gegenüber seiner Heimatzeitung selbst bezeichnet, ist die Stadt an der Mosel wieder Marx-frei. Auch wenn der erzbischöfliche Marx in Anlehnung an seinen Namensvetter viel vom Kapital hält – aber von dem, das aus dem Glauben den Christen zu eigen ist und das sie besser und mutiger einsetzen sollten. Marx und Kapital – das bleibt ein Thema. Auch in München. Auch von München aus.

Sein Lebenskapital zu sammeln begann der am 21. September 1953 in einem Krankenhaus in Geseke geborene Reinhard Marx hier am Hellweg. Rund 21.000 Einwohner hat diese Stadt inzwischen, einen Autobahnanschluss und drei Kirchen. Der Flughafen Paderborn/Lippstadt ist nur zehn Kilometer entfernt. Bis Paderborn mit seinem mächtigen Dom und seiner katholischen Prägekraft sind es nur rund 20 Kilometer. Von Geseke aus ist man schnell dort, wie auch in Soest oder Erwitte oder gar bei der Muttergottes von Werl. Irgendwie ist hier alles ziemlich katholisch geprägt. Die Kirche und der Jahreskreis der kirchlichen Feste gehören so selbstverständlich zum täglichen Leben wie die Brötchen vom Bäcker und die Geseker Zeitung.

Reinhard Marx im Alter von etwa fünf Jahren auf der Überfahrt nach Norderney.Foto: privat

Der Vater von Reinhard und seinem zwei Jahre älteren Bruder Werner, Franz Marx, ist Schlossermeister. Er stirbt im Jahr 1982 plötzlich an einem Herzschlag. Vor den Augen seines ältesten Sohnes fällt er vom Motorrad. Von ihm, so sagt es Werner Marx, haben die Söhne sowie die 14 beziehungsweise zwölf Jahre jüngere Schwester Eva-Maria das Intellektuelle geerbt. Vater Franz war ein Bücherwurm, las alles, was irgendwie interessant war. Und: Er liebte Gedichte, Lyrik, Poesie. Einer der Favoriten war Heinrich Heine. Reinhard wird später auch als Erzbischof von München noch gerne zitieren, dass Heine die Westfalen „sentimentale Eichen“ nannte. Und in dieser Beschreibung findet der Kirchenmann sich auch selbst gut getroffen. Aber auch Annette von Droste-Hülshoff gehörte zu den gerne Gelesenen. Und die Begeisterung für Rilke und Wilhelm Busch gab der Vater ebenfalls an seine Kinder weiter.

Als Trierer Bischof wird der 50-jährige Sohn später einmal in einem Buchbeitrag von den grundsätzlichen Tugenden erzählen, von Sittlichkeit, Respekt vor dem anderen, von Achtung der Würde aller. Und er wird erklären, dass diese Tugenden eines christlichen Lebens nicht einfach da sind, sondern in einem permanenten Erziehungsprozess je neu im eigenen Leben verwirklicht werden müssen. Wie zufällig fällt ihm dann nicht etwa ein Kirchenlehrer ein – die kennt er zwar auch –, sondern er zitiert Wilhelm Busch: „Gute Tiere musst du züchten, musst du kaufen; die Ratten und die Mäuse kommen ganz von selbst gelaufen.“

Dass der Vater ein Verehrer des großen Sozialethikers und Nestors der Christlichen Gesellschaftslehre, des Jesuitenpaters Oswald von Nell-Breuning, war, wirkt im Nachhinein fast wie eine stille Vorhersage. Den diskussionsfreudigen und politisch hellwachen Vater beeindruckten Lehre und Gedankengebäude des alten Meisters, dem zu begegnen ihm Sohn Reinhard später im Rahmen einer Vortragsveranstaltung in der Dortmunder Kommende ermöglichte. Der Vater sei über diese Begegnung sehr glücklich gewesen, weiß man in der Familie Marx zu berichten. Freilich: Vorhersehbar war Reinhard als Sozialethiker nicht unbedingt. Ihn interessierte eher die Dogmengeschichte der Kirchenväter. Ein Leben als Pfarrer irgendwo auf einem Dorf, wo er sich mit diesem Teil der Kirchengeschichte hätte befassen können – das konnte er sich gut vorstellen. Sein Bischof hingegen, der spätere Kardinal Johannes Joachim Degenhardt, brauchte einen Sozialethiker für seine Akademie in Dortmund – und setze Reinhard Marx auf die entsprechende Spur. Auf die richtige Spur, muss man heute wohl zugeben.

Zurück nach Geseke. Daheim im Hause Marx wird gerne und munter diskutiert. Politische Debatten sind schon dem kleinen Reinhard nicht fremd. Dabei lernt er vom Vater, wie wichtig Gerechtigkeit und Solidarität sind. Von der Mutter, die den Vater lange überlebt und erst wenige Wochen vor der Berufung des Sohnes auf den Stuhl des heiligen Korbinian im Alter von 88 Jahren stirbt, erbt er wie seine Geschwister das Gefühl, die Redegewandtheit und die faszinierende Umgänglichkeit mit Menschen. Es ist auch eine erst bei genauem Hinsehen erkennbare Sensibilität, die sich mit einer nur vordergründig dick wirkenden Schale aus dokumentierter Lebensfreude schützt. So wächst Reinhard Marx in einer für ihn selbstverständlichen Mischung aus Intellekt und Herz auf, einer Mischung aus konkret gelebter Bodenständigkeit und erfahrbarem mentalen Weitblick.

Zur Normalität seiner Kindheit, aus der es keine wirklichen Streiche des jüngeren Sohnes zu berichten gibt, gehört auch die ganz normale Lebensrealität der Familie Marx, die sich von anderen Familien in Geseke nicht unterscheidet. Mit seinem Bruder Werner teilt er sich ein Zimmer. Im Etagenbett, das sie hier Stockbett nennen, schläft Reinhard unten, Werner hingegen oben: „Reinhard war schon immer der völlig Unsportliche, hielt nicht allzu viel von allzu viel Bewegung.“ – „Warum Sport? Muss man das?“, fragt er schelmisch und mit der bereits mitklingenden unausgesprochenen Antwort seinen Gesprächspartner 2008 in München. Aber ganz selbstverständlich habe er nicht deswegen unten geschlafen: „Ich war unten, weil ich schwerer war.“ Zwei Brüder, zwei Deutungen. Vielleicht stimmen beide.

Bereits im Kindergarten wusste er seine Kräfte einzuteilen – und wartete lieber eine Weile auf die Ordensschwester, Schwester Beate von den Heiligenstädter Schulschwestern, von der er wusste, dass sie ihm die wenigen Stufen hinunterhalf. Reinhard machte nie etwas Sportliches, erzählt man sich in seiner Familie. Dafür hatte er sehr früh zu erkennen gegeben, dass es für ihn nichts anderes gibt als den Priesterberuf. „Ich kenne nichts anderes“, so der Bruder Werner, „Reinhard war immer infiziert von Kirche.“ Erst später entstand das schöne Wort über ihn: „Er hatte bereits im Mutterleib die Soutane an.“

Seine Mutter Berta, die ausgerechnet an ihrem 88. Geburtstag eine Hirnblutung bekam, wurde auch hinsichtlich der katholischen Selbstverständlichkeit des jetzigen Münchner Oberhirten prägend für ihn. Ein geistlicher Freund aus Geseke-Mönninghausen beschreibt sie als mit einem „gesunden katholischen Sinn“ ausgestattet, eine Frau, die mitten im Leben stand und mit einer „beeindruckenden Nüchternheit einfach klipp und klar wusste, was katholisch ist“.

Es war daher, wie normalerweise in solchen Grenzfällen des Lebens, besonders schmerzlich für den damaligen Trierer Bischof, dass Mutter Berta am eigenen Geburtstag ins Krankenhaus musste und wenige Tage später verstarb. Aber es war auch normal. Schließlich hatte sie ein „langes Leben gelebt“. Und es sagt etwas über das Verhältnis vom Sohn zur Mutter aus, dass dieser Bischof sich sofort im selben Zimmer mit der Mutter einquartiert. Um bei ihr zu sein, wenn sie heimgeht. Aber die Trauer über den irdischen Verlust der alt gewordenen Mutter vermischt sich rasch mit der tröstlichen Gewissheit des Glaubens, sie nicht wirklich verloren zu haben. Im Gespräch für die Bild-Zeitung sagt er mir nur wenige Wochen später, nachdem sein Wechsel nach München bekannt geworden ist, es sei schön zu wissen, dass die Mutter jetzt überall hin mitgehen könne: „Ja, sie geht mit!“

Von ihr spricht auch noch der Erzbischof und Kardinal Reinhard mit großem Respekt und geradezu zärtlicher Liebe. Seine Augen strahlen dann sehr viel Dankbarkeit aus, Zufriedenheit und Zuneigung. Er ist froh, eine solch gute Mutter gehabt zu haben. „Mutter zu sagen, ist immer etwas Emotionales“, gesteht er. Nicht zuletzt deshalb ist die Marienverehrung ihm besonders kostbar. Denn „die Mutter des Herrn dürfen wir ja ebenfalls Mutter nennen“. Und als sich der Bischof von Trier – nach einer Romreise, bei der ihm der Papst liebe Grüße für die Mutter aufträgt – als Sohn bei seiner Mutter im Krankenhaus einquartiert, träumt er intensiv. Er sieht im Traum, wie die Mutter wieder ganz gesund ist, er alle Ärzte ruft und man gemeinsam ein Fest feiert. Natürlich mit Champagner. Ein Traum, der Sehnsüchte verrät – und Nähe.

Weil es noch andere Verpflichtungen gibt, muss er wenig später fahren. Und genau dann erreicht ihn der Anruf des Bruders: Mutter ist gestorben. Natürlich ist er traurig. Aber auch sehr dankbar. Und am Totenbett spürt er: Sie geht jetzt, dann werde ich auch noch mal gehen müssen. Am Leichnam der Mutter spürt er eine Gewissheit: „Ich muss noch mal gehen. Ja.“ Von München ist damals noch keine Rede. Gerüchte hatte er gehört. Marx ahnt vielleicht etwas. Aber er weiß noch nichts. Jedenfalls nichts Konkretes. Er spürt damals und später nur: „Ich erlebe keine Trennung von der Mutter. Denn wenn Gott uns liebt, dann kann er uns nicht trennen, dann kann der Tod nicht das Letzte sein. Entweder oder. Da bin ich konsequent.“

Seit seinem dritten Lebensjahr, als er wohl das erste Mal selbst gebetet hat, ist er sich sicher: Gott existiert, er liebt mich ganz fest. Als junger Weihbischof in Paderborn nennt er seine ersten Gebetsübungen erste kindliche Versuche, „auf den Ruf Gottes zu antworten“. Und diese schlichten, noch kindlichen religiösen Erfahrungen prägen ihn ein ganzes Leben. Selbstbewusst formuliert er: „Diese Wahrheit ist ja die entscheidende, ob im Alter von drei oder von 80 Jahren: Gott existiert, und er liebt mich!“ Seit damals, als er drei Jahre alt war, hat ihn „das Geheimnis Gottes nie mehr losgelassen“. Und er ist dankbar und froh, dass der Gebetsfaden niemals abriss.

Er sagt, von der Mutter habe er das „Gemüthafte“. Und sicher auch das Fromme. Aber das gab es auch in der väterlichen Linie. Großvater Anton Marx war Bauer und wohl sehr fromm. Bereits als Kind habe man dem kleinen Reinhard gesagt, er sei wie „Onkel Anton: immer ein Kirchenlied auf den Lippen“. Aber was heißt schon „fromm“? Reinhard wuchs nicht etwa in einer – wie man das gerne etwas kommentierend und auch gelegentlich abwertend bezeichnet – streng katholischen Familie auf. Religion gehörte zwar ganz normal zum Alltag, erst recht zum Sonntag. Aber es wurde eigentlich nichts übertrieben. Bei Tisch wurde gebetet, sicher.

Doch das war es dann auch schon im gewöhnlichen Familienleben der Marxens. Messbesuche waren selbstverständlich, aber Reinhard kann sich nicht erinnern, dass man „als Familie jemals gemeinsam zur Kirche gegangen wäre“. Es galt noch das Geschlechter- und Altersprinzip, wie er es nennt: Die Frauen gingen in die Frühmesse, die Jungen in die Kindermesse oder die heilige Messe, in der sie als Ministranten eingeteilt waren. Der Vater, ein eher kritischer Katholik, der „während der sonntäglichen Messe nicht einen Schritt vom Weihwasserbecken am Portal“ wich, sich also nicht in die Bank setzte, musste seinen Kirchbesuch nach seinen Wechselschichten im Arbeitsleben ausrichten.

Geseke. Reinhard wächst im Schatten der ehrwürdigen Stiftskirche St. Cyriakus auf, die mit ihrem breitquadratischen Turm aus dem 12. Jahrhundert an typisch westfälische machtvolle Türme wie in Paderborn oder Erwitte erinnert. Es ist dieser Kirchenraum, der den späteren Kirchenfürsten anzieht. Hier ist er Messdiener, hier geht er schon als kleiner Junge häufiger hin als seine Eltern, hier findet seine Seele Heimat. Hier träumt er sich in die bunten Fenster rein. Hier fühlt er sich geborgen, hier ahnt er etwas vom großen Geheimnis der Eucharistie, das ihn später nicht mehr loslassen wird.

Hier, wo romanische und gotische Bauelemente Jahrhunderte verbinden, ist er Lektor und trägt in der Liturgie, die ihn als heiliges und geheimnisvolles Spiel vor Gott, als theatrum sacrum regelrecht in Bann zieht, das Wort Gottes vor. Es ist zwar nicht seine Taufkirche, weil er dieses Sakrament des Christen in der Stadtkirche, in deren Pfarrei die Familie damals noch zur Miete wohnte, empfing. Aber hier sind seine eigentlichen heimatlichen Wurzeln. Hier lernte er als Ministrant noch in der vorkonziliaren Liturgie die Lebendigkeit der lateinischen Sprache kennen, erlebte sie mit ihrer buchstäblichen Schlüsselgewalt zum Denken der weltweiten Kirche wie auch als Zugangscode in den Reichtum der Geschichte. Selbst beim Silbernen Priesterjubiläum im Juni 2004 bekennt er freimütig, dass ihm „keine Station so wichtig wie diese Kirche“ sei. Hier sind seine Wurzeln, hier habe er das erste Mal gebetet, die erste heilige Kommunion empfangen und später seine Primiz als frisch geweihter Priester gefeiert. Daher sei dieser Ort für ihn ein „ganz besonders kostbarer“.

Primizsegen bei der ersten Messfeier des Neupriesters Reinhard Marx in der Stiftskirche in Geseke am 3. Juni 1979.Foto: privat

Irgendwo hier in der Gegend um Geseke hat Reinhard beim eigentlich verbotenen Probefahren und Üben am Steuer eines Autos den Wagen in den Graben gesetzt. Bruder Werner saß daneben, hatte schon den Führerschein. Es war – natürlich – ein VW-Käfer. Irgendwie, so erzählt man sich, passe das zu Reinhard, dessen handwerkliche Geschicklichkeit trotz der Begabung des Vaters und des Bruders von Anfang an etwas unterentwickelt war. Und wenn er mit seinem Bruder als Kind Messe spielte, dann übernahm er selbstverständlich die Predigt. Einen Nagel gerade in die Wand zu schlagen, das überließ er gerne anderen in der Familie.

Gerne hört der Kirchenfürst solch familiäres Reden nicht. Aber sein leiser Protest endet im eigenen Lächeln. Reinhard war halt zuständig für die Geradlinigkeit – man möchte fast sagen: die Stabilität – des Wortes. Und gleichsam von Natur aus richtig fromm. In der Welt, aber nicht von der Welt. Das ist, so hört man in Geseke gelegentlich, bis heute so geblieben. Geld zum Beispiel hat ihn nicht interessiert. Er hatte – und hat – auch selten Geld bei sich. Es scheint, als sei diesem wahrlich ganz anderen Marx eine ganz besondere Sorglosigkeit zu eigen, jedenfalls seine eigene Person betreffend.

Familienfoto anlässlich der Primiz am 3. Juni 1979 in Geseke.Foto: privat

Später, bei der Abschlussfeier als Abiturient 1972 am Gymnasium Antonianum in Geseke, verblüfft er mit der Realisierung einer zuvor abgeschlossenen Wette, eine Abiturientenrede auf Latein zu halten. Selbst die Lateinlehrer seien schwer beeindruckt gewesen, heißt es. Es war wohl eine der wenigen Reden, die der lebensfrohe und von einer beneidenswerten Sicherheit des Geborgenseins in Gott gekennzeichnete Marx nicht frei halten konnte. Nicht nur in seiner Familie hört man gelegentlich, er sei besonders stark, wenn er „mit dem Herzen“ predige.

Und das tut er gerne. „Man muss sich gut vorbereiten und immer das Beste geben wollen, ja, schon“, sagt er, wird er auf seine Begabung der freien Rede angesprochen. Und er sei dann „schon etwas nervös“ und stehe „unter Anspannung“. Und wie so häufig in solchen Fällen, schiebt der so selbstsicher und unerschütterlich wirkende Reinhard Marx auch diesmal ein „– das schon!“ hinterher. So, als wolle er sich selbst bestätigen. Wenn Marx über sich redet, dann autorisiert auch niemand anders als eben Marx Marx.

Sensible Eiche

Marx über Marx

Wer ihn fragt, wie er sich selbst sieht, erlebt zunächst einen Moment der Stille und der kurzfristigen Sprachlosigkeit. Da wird der wortgewaltige und so sprachsichere Marx für einen Augenblick stumm. Nachdenklich wirkt er dann. Man nimmt ihm ab, dass er nicht gerne über sich selbst redet. Jedenfalls nicht so. „Wer ich bin?“, scheint er sich selbst zu fragen, indem er die Frage wiederholt. Leise. Halblaut. Selbstverständlich fällt ihm dann ziemlich rasch etwas ein, jedoch nicht, ohne darauf zu verweisen, dass das eigentlich besser andere beschreiben sollten. Freilich: Das, was er dann sagt, kann nun auch wieder nur er selbst sagen. Und so folgt einem „Das ist gar nicht so einfach“ ein entschiedenes „Lebensfroh“. Ja, er sei wirklich lebensfroh, nicht oberflächlich fröhlich und stets gut gelaunt – vielmehr im Grunde seines Herzens dankbar, „dass ich leben darf“. Mitten im Leben – und verankert in einer tiefen Dankbarkeit.

Das, was dann aber rasch kommt und mit einer gedämpften Stimmlage aus ihm sich mitteilt, überrascht jeden, der Reinhard Marx nur oberflächlich beobachtet hat und irrtümlich meint, dieser Mann sei durch nichts zu erschüttern. Die „sensible Eiche“ aus Westfalen verrät eine Vielschichtigkeit – bis hin zur Melancholie. „Ja, ich bin auch hin und wieder melancholisch“, gesteht er – um sofort wieder auch aus diesem Bekenntnis einen Gewinn zu formulieren. Er habe halt eine „breite Möglichkeit des Empfindens und des Denkens“ mitbekommen. In seinen Augen spiegelt sich derweil die Sensibilität der Seele, seine Empfindsamkeit. „Ich bin empfindlicher, als manche meinen.“ Aber es gibt auch jene, die sagen, er sei eigentlich härter und strenger, als er gemeinhin scheine. An ihm scheiden sich gelegentlich die Geister, auch, weil er es ja nicht allen recht machen kann und will.