Mercy. Die Stunde der Rache ist nah - Lisa Jackson - E-Book

Mercy. Die Stunde der Rache ist nah E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Rick Bentz, Detective vom New Orleans Police Department, zweifelt an seinem Verstand: Gerade hat er seine Exfrau Jennifer gesehen – doch die ist seit 12 Jahren tot! Bald wird klar, dass dies alles zum Plan eines Psychopathen gehört, der Bentz durch einen raffiniert ausgeklügelten Rachefeldzug zu einer Reise in die Vergangenheit zwingen will. Als Bentz` schwangere Frau Olivia spurlos verschwindet, beginnt eine nervenzerreißende Suche, die Bentz um das Liebste in seinem Leben fürchten lässt …

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Lisa Jackson

Mercy

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelEpilogDankAnmerkung der Autorin
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Prolog

Culver City, ein Vorort von Los Angeles, zwölf Jahre zuvor

Dann kommst du also heute Abend nicht nach Hause – ist es das, was du sagen willst?« Jennifer Bentz saß auf der Bettkante, den Telefonhörer ans Ohr gepresst, und versuchte, die altbekannte, mit Schuldgefühlen behaftete Schlinge der Monogamie zu ignorieren, die sich zuzog und ihr die Luft abschnürte, selbst wenn sie schon ein wenig verschlissen war.

»Vermutlich nicht.«

Ihr Ex, der nie ein Mann der großen Worte gewesen war, schien sich nicht näher äußern zu wollen. Nicht, dass sie ihm einen Vorwurf daraus machte. Auch wenn ihre Beziehung manchmal voller Leidenschaft war, so war sie zugleich doch auf dünnem Eis gebaut. Und sie, dachte Jennifer, war immer »die Böse«, »die Ehebrecherin«. Selbst jetzt stieg ihr in dem zu warmen Schlafzimmer der Geruch nach Sex in die Nase und erinnerte sie an ihre jüngste Eskapade. Zwei halbvolle Martini-Gläser standen neben einem beschlagenen Cocktailshaker auf dem Nachttisch – Beweis dafür, dass sie nicht allein gewesen war. »Wann kommst du dann?«, fragte sie. »Wann lässt du dich mal wieder blicken?«

»Morgen. Vielleicht.« Rick telefonierte per Handy vom Streifenwagen aus. Im Hintergrund hörte sie Verkehrsgeräusche. Sie wusste, dass Ricks Partner am Steuer saß und zumindest eine Seite dieser gestelzten Unterhaltung mit anhörte, weshalb ihr Ex so ausweichend und verschlossen war.

Großartig.

Sie versuchte es erneut. Senkte die Stimme. »Würde es etwas bringen, wenn ich sage, dass ich dich vermisse?«

Keine Antwort. Natürlich nicht. Gott, wie sie das hasste! Die um Mitleid heischende, quengelnde Frau zu geben, die darum bettelt, dass er zu ihr kommt. Das war einfach nicht ihr Stil. Absolut nicht. Für gewöhnlich waren es die Männer, die bettelten, was ihr durchaus gefiel.

Irgendwo ganz hinten in ihrem Bewusstsein vernahm sie ein leises Klicken.

»RJ?«

»Ich hab dich gehört.«

Ihre Wangen brannten. Sie blickte auf die zerwühlten Decken und ließ sich in ein Knäuel pastellfarbener Baumwollbettwäsche am Fußende des Bettes fallen.

O Gott. Er weiß es. Der metallische Geschmack des Betrugs lag auf ihren Lippen, doch sie musste das Spiel weiterspielen, die Unschuldige mimen. Gewiss würde er nicht vermuten, dass sie mit einem anderen Mann zusammen gewesen war, nicht so unmittelbar nach dem letzten Mal. Das hatte sogar sie selbst überrascht.

Möglicherweise bluffte er nur. Und trotzdem …

Sie schauderte, als sie sich seinen Zorn vorstellte, dann spielte sie ihre Trumpfkarte aus. »Kristi wird sich wundern, warum du nicht zu Hause bist. Sie hat schon angefangen, Fragen zu stellen.«

»Und was erzählst du ihr? Die Wahrheit?« Dass ihre Mutter die Beine nicht geschlossen halten kann? Er sprach die Worte nicht aus, aber seine Verachtung hing deutlich spürbar zwischen ihnen. Zum Teufel, sie hasste das. Wäre es nicht um ihre Tochter gegangen, ihrer beider Tochter …

»Ich bin mir nicht sicher, wie lange die Observierung dauert.«

Eine bequeme Ausrede. Langsam, aber sicher begann ihr Blut zu kochen. »Du und ich wissen beide, dass das Department seine Detectives nicht rund um die Uhr einsetzt.«

»Du und ich wissen eine ganze Menge.«

Sie sah ihn vor sich, wie er in der Schlafzimmertür gestanden hatte, das Gesicht in stummer Anklage verzerrt: Sie hatte in ihrem gemeinsamen Ehebett gelegen, schweißbedeckt, nackt, in den Armen eines anderen Mannes, desselben Mannes, mit dem sie schon früher eine Affäre gehabt hatte. Kristis leiblicher Vater. Rick hatte seine Pistole aus dem Schulterholster gezogen, und einen kurzen Augenblick hatte Jennifer echte Angst verspürt. Eiskaltes Entsetzen.

»Raus«, hatte er befohlen und sie beide mit tödlicher Ruhe angeblickt. »Raus aus meinem Haus, verdammt noch mal, und lasst euch nicht mehr hier blicken. Das gilt für euch beide.«

Dann hatte er sich umgedreht, war die Treppe hinuntergestiegen und türenschlagend aus dem Haus geeilt. Sein Zorn war echt gewesen. Greifbar. Jennifer war mit dem Leben davongekommen, doch sie war nicht gegangen. Hatte es nicht über sich gebracht.

Und Rick war nicht zurückgekommen. Sie hatten nicht mal mehr gestritten. Er war einfach fort. Hatte sich geweigert, ihre Anrufe entgegenzunehmen. Bis heute.

Doch da war es schon zu spät gewesen.

Sie hatte sich wieder mit ihrem Geliebten getroffen. Eher aus Rache denn aus Lust. Scheiß drauf. Niemand würde ihr vorschreiben, wie sie zu leben hatte, nicht mal der verdammte Superbulle Rick Bentz, also hatte sie sich wieder mit dem Mann eingelassen, mit dem sie durch Kristi für immer verbunden war.

Schlampe!

Hure!

Die Worte waren ihre eigenen. Sie schloss die Augen und ließ den Kopf hängen, fühlte sich verloren. Verwirrt. Sie hatte nie vorgehabt, Rick zu betrügen. Nie. Doch sie war schwach gewesen und die Versuchung groß. Sie schüttelte den Kopf und fühlte sich verderbt bis auf den Grund ihrer Seele. Wen wollte sie so unbedingt bestrafen? Ihn? Oder sich selbst? Hatte nicht einer ihrer Psychotherapeuten behauptet, sie sei der Ansicht, ihn nicht zu verdienen? Sie neige zur Selbstzerstörung?

Was für ein Müll. »Ich weiß einfach nicht, was du willst«, flüsterte sie matt.

»Ich auch nicht. Inzwischen nicht mehr.«

Sie sah, dass sich in einem der Gläser noch ein Rest Martini befand, und stürzte ihn hinunter. Die Schlinge zog sich enger zu, obwohl der Knoten doch eigentlich gelöst war. Warum konnte nicht alles ganz leicht mit ihm sein? Warum konnte sie nicht treu sein? »Ich versuche es, Rick«, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Eine Lüge. Sie versuchte es zwar wirklich, aber vergebens.

Sie meinte, von unten gedämpfte Schritte zu vernehmen, und horchte auf, auch wenn es sich vermutlich nur um den Widerhall im Telefon handelte. Vielleicht kam das Geräusch auch von draußen. Hatte sie nicht ein Fenster geöffnet?

»Du versuchst es«, schnaubte Rick. »Und was genau versuchst du?«

Da hatte sie’s. Er wusste es. Vermutlich ließ er sie beschatten, das Haus überwachen. Oder noch schlimmer: Er parkte mit einem Wagen, den sie nicht kannte, in ihrer Straße und hatte das Haus persönlich beobachtet. Sie blickte hinauf zur Decke, auf die Lampe, den Rauchmelder, den sich langsam drehenden Ventilator, der die heiße Luft verwirbelte. Waren hier drinnen etwa kleine Kameras versteckt? Hatte er ihr jüngstes Rendezvous gefilmt? War Zeuge geworden, wie sie sich stöhnend auf dem Bett gewälzt hatte, das sie mit ihm geteilt hatte? Hatte er mitverfolgt, wie sie das Kommando übernahm und mit der Zunge über den Bauch ihres Geliebten und tiefer gefahren war? Gesehen, wie sie lachte, ihn scharf machte und verführte?

Mein Gott, wie schrecklich das war.

Sie schloss die Augen. Gedemütigt. »Du kranker Scheißkerl. Ich hasse dich.« Ihr Zorn wurde größer.

»Ich weiß. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du das zugeben würdest. Geh, Jennifer. Es ist vorbei.«

»Wenn du vielleicht mal damit aufhören könntest, ständig irgendwelche Kriminellen zu verhaften und den Superhelden zu spielen, wenn du deiner Frau und deinem Kind auch nur ein kleines bisschen Aufmerksamkeit schenken würdest, würde das jetzt nicht passieren.«

»Du bist nicht meine Frau.«

Klick. Er legte auf.

»Mistkerl!« Sie schleuderte den Hörer aufs Bett. Ihr Kopf begann zu pochen. Du hast das angerichtet, Jennifer. Du ganz allein. Du wusstest, dass du erwischt werden würdest, und trotzdem hast du alles, was dir lieb und teuer ist, mit Füßen getreten – Kristi und eine zweite Chance mit deinem Ex-Mann mit eingeschlossen, nur weil du verrückt bist nach Sex! Du hast dich einfach nicht im Griff.

Sie fühlte, wie eine Träne ihre Wange hinabrollte, und wischte sie unwirsch fort. Jetzt war nicht die Zeit für Tränen oder Selbstmitleid.

Sie hatte sich gesagt, dass eine Versöhnung mit Rick unmöglich war, trotzdem war sie bei ihm geblieben, wohlwissend, einen riesigen Fehler zu machen. Genau wie damals, als sie »Ja, ich will« gesagt hatte.

»Dummkopf!«, fluchte sie leise vor sich hin und ging ins Badezimmer, wo sie ihr Spiegelbild über dem Waschbecken betrachtete.

»Nicht gerade sehenswert«, sagte sie und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Doch das stimmte nicht. Jennifer war hübsch. Mit Anfang dreißig fiel ihr das volle mahagonifarbene Haar immer noch in Wellen über die Schultern, ihre Haut war nach wie vor glatt, die Lippen üppig, die Augen von einem schillernden Grün, das die Männer zu faszinieren schien. Die falschen Männer, ermahnte sie sich. Männer, die tabu für sie waren. Doch sie liebte ihre Aufmerksamkeit. Verzehrte sich danach.

Sie öffnete das Medizinschränkchen, nahm das Röhrchen mit Valium heraus und schluckte zwei Tabletten, nur um ein wenig zur Ruhe zu kommen und die sich ankündigende Migräne zu verdrängen. Kristi würde nach dem Schwimmen eine Freundin besuchen und Rick Gott weiß wie lange nicht nach Hause kommen, so dass Jennifer das Haus und den Rest des Abends für sich hatte. Sie würde nicht gehen. Noch nicht.

Wusch.

Ein merkwürdiges Geräusch drang von unten die Treppe herauf. Ein Luftzug? Eine sich öffnende Tür? Ein angelehntes Fenster?

Was zum Teufel ging da vor? Sie zögerte, horchte, war auf der Hut. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf.

Was, wenn Rick in der Nähe war?

Was, wenn er am Telefon gelogen hatte und eigentlich auf dem Heimweg gewesen war, wie vor ein paar Tagen? Dieser Mistkerl hielt sie womöglich zum Narren.

Die »Observierung« konnte genauso gut ein Vorwand sein. Oder wenn er sich wirklich die Nacht damit um die Ohren schlug, jemanden zu beobachten, dann war dieser Jemand vielleicht sie, seine eigene Frau.

Ex-Frau. Jennifer Bentz starrte ihr Spiegelbild an und betrachtete finster die feinen Linien zwischen ihren Augenbrauen. Wann waren diese Fältchen aufgetaucht? Letztes Jahr? Früher? Oder erst vergangene Woche?

Schwer zu sagen.

Doch da waren sie und erinnerten sie nur allzu deutlich daran, dass sie nicht jünger wurde.

So viele Männer hatten sie begehrt – wie hatte es bloß dazu kommen können, dass sie als verheiratete, dann geschiedene Frau eines Cops in seinem durch und durch gewöhnlichen Mittelklassehaus gelandet war? Ihr Bemühen, wieder zueinanderzufinden, hatte nicht lange angedauert, und jetzt … Nun, sie war sich ziemlich sicher, dass es diesmal endgültig aus war.

Weil sie einem Mann einfach nicht treu sein konnte. Selbst einem Mann nicht, den sie liebte.

Mein Gott, was sollte sie nur tun? Sie hatte schon daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Mehr als einmal. Und sie hatte ihrer Tochter bereits einen Brief geschrieben, den diese nach ihrem Tod öffnen sollte.

Liebe Kristi,

es tut mir so leid, mein Liebes. Du musst mir glauben, wenn ich Dir sage, dass ich Dich mehr liebe als mein Leben. Doch ich habe mich wieder mit dem Mann eingelassen, der Dein leiblicher Vater ist, und ich fürchte, das wird Rick das Herz brechen.

Und blablabla …

Was für ein melodramatischer Mist.

Wieder meinte sie, etwas gehört zu haben … das Geräusch von Schritten im Erdgeschoss.

Sie wollte schon rufen, doch sie hielt sich zurück und tappte leise zum oberen Treppenabsatz, wo sie sich am Geländer festhielt und horchte. Außer dem gleichmäßigen Surren des Deckenventilators im Schlafzimmer vernahm sie noch ein anderes Geräusch, ein leises Knacken.

Ihre Haut kribbelte. Sie wagte kaum zu atmen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Das ist nur deine Einbildung – das Schuldgefühl, das an dir nagt.

Oder die Katze des Nachbarn. Das ist es: das zottelige Vieh, das immer die Mülltonnen durchstöbert oder in der Garage Mäuse jagt.

Mit festen Schritten eilte sie zum Schlafzimmerfenster und spähte durch die Scheibe, doch sie sah nichts als einen ganz gewöhnlichen trüben Tag in Südkalifornien, der Himmel grau und verhangen. Sogar die Sonne, eine rötliche Scheibe, die tief über den sich meilenweit erstreckenden Dächern hing, sah aus wie vom Smog verzerrt.

Heute wehte kein Lüftchen vom Meer her, nichts, was irgendein Geräusch hätte verursachen können. Keine Katze, die durch das trockene Gebüsch schlich, kein Radfahrer auf der Straße. Nicht mal ein Auto fuhr vorbei.

Es ist nichts.

Nur deine Nerven.

Beruhige dich.

Sie schüttete die Reste aus dem Shaker in ihr Glas, nahm einen Schluck und ging ins Badezimmer. Schon in der Tür blickte ihr ihr Spiegelbild entgegen, und wieder verspürte sie ein stechendes Schuldgefühl.

»Wohl bekomm’s«, flüsterte sie ihrem Konterfei zu und hob das Glas an die Lippen. Sie schauderte. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Sie dachte an ihre Tochter. »Du dämliche, blöde Schlampe!« Die Frau im Spiegel schien sie auszulachen. Zu verhöhnen. Ohne nachzudenken, schleuderte Jennifer ihren Drink auf das grinsende Spiegelbild. Das Glas prallte dagegen und zerbrach.

Langsam barst der Spiegel, ein Spinnennetz aus Rissen kroch über das zersplitternde Glas. Scherben fielen ins Waschbecken.

»Mein Gott!« Was zur Hölle hast du getan?

Sie versuchte, eins der größeren Stücke aufzuheben, und schnitt sich in den Finger. Blut tropfte über ihre Hand und ins Waschbecken. Schnell holte sie ein einzelnes unverpacktes Pflaster aus dem Medizinschränkchen. Ihre Finger wollten ihr nicht recht gehorchen, doch schließlich schaffte sie es, die Schutzfolie abzureißen und das Pflaster um ihren Zeigefinger zu wickeln. Das Blut hörte nicht auf zu fließen. »Verdammt«, murmelte sie und erblickte flüchtig ihr Gesicht in den Überresten des Spiegels.

»Sieben Jahre Pech«, flüsterte sie, genau wie damals Großmutter Nichols, als Jennifer im Alter von drei Jahren deren Lieblingsspiegel zerbrochen hatte. »Auf dir lastet ein Fluch, bis du zehn bist, Jenny, und wer weiß, wie lange er noch anhält!« Oma, die eigentlich sehr lieb war, hatte ausgesehen wie ein Monster mit ihren gelben Zähnen und den blutleeren Lippen, die sich voller Entrüstung kräuselten.

Wie recht die alte Frau doch hatte! Das Pech schien sie tatsächlich zu verfolgen, bis heute.

Jennifer betrachtete sich in den verbliebenen Spiegelscherben und stellte sich vor, wie sie als alte Frau sein mochte – als einsame alte Frau.

Was für ein Tag, dachte sie benommen und wandte sich zur Treppe, um Besen und Kehrblech zu holen. Das Valium zeigte seine Wirkung, auf dem Treppenabsatz wäre sie beinahe gestolpert. Sie fing sich und ging die Stufen hinunter in Richtung Hauswirtschaftsraum.

Die Außentür stand offen.

Wie war das möglich?

Sie hatte sie nicht offen gelassen, da war sie sich sicher. Und als ihr Liebhaber gegangen war, hatte er den Weg durch die Garage genommen. Also …? Hatte Kristi die Tür auf dem Weg zur Schule nicht richtig zugezogen? Das verdammte Ding ließ sich nur schwer schließen, aber …

Jennifer spürte, wie ihr die Angst das Rückgrat hinunterkroch. Hatte sie nicht vorhin hier unten jemanden gehört? Oder war das nur die Wirkung des Gins? Sie fühlte sich leicht benebelt, ihr Kopf war schwer …

Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und lauschte angestrengt, versuchte, sich zu erinnern. Gütiger Gott, sie war ganz schön daneben. Wieder in der Küche, schenkte sie sich ein Glas Wasser ein und nahm einen Hauch von Zigarettenrauch in der Luft wahr. Ohne Zweifel von ihrem Ex-Mann. Wie oft hatte sie ihn schon gebeten, diese schlechte Angewohnheit abzulegen und draußen zu rauchen? Weit weg vom Haus, nicht auf der Veranda, wo der verdammte Tabakgeruch durch die Fliegengittertür waberte.

Doch Rick war seit zwei Tagen nicht mehr hier gewesen …

Sie erstarrte, ihr Blick wanderte hinauf zur Decke. Nichts … und dann … Oben knarrte eine Diele. Glas knirschte.

O Gott, nein.

Diesmal gab es keinen Zweifel. Diesmal war sie sich sicher. Jemand war im Haus.

Jemand, der nicht wollte, dass sie seine Anwesenheit bemerkte. Jemand, der ihr etwas antun wollte.

Wieder stieg ihr Zigarettenrauch in die Nase. Mein Gott, das war nicht Rick.

Auf leisen Sohlen schlich sie zum Küchentresen, auf dem der Messerblock stand, und zog vorsichtig ein Messer mit einer langen Klinge heraus. Sie musste an all die Fälle denken, die ihr Mann gelöst hatte, an all die Kriminellen, die Rick und seine Familie bei ihrer Festnahme oder Verurteilung mit Hass überschüttet hatten. Viele von ihnen hatten geschworen, es Detective Bentz auf so schmerzhafte Weise heimzuzahlen wie nur möglich.

Er hatte ihr nie davon erzählt, doch sie hatte es von seinen Kollegen erfahren, die bereitwillig die vielfältigen Racheschwüre der Verbrecher wiederholt hatten.

Und jetzt war jemand im Haus. Ihre Kehle wurde staubtrocken.

Mit angehaltenem Atem schlich sie in die Garage und wäre beinahe über die einzelne Stufe gestolpert, als sie feststellte, dass das Garagentor sperrangelweit offen stand: eine unmissverständliche Einladung, die der Eindringling offenbar angenommen hatte. Ohne weiter zu überlegen, glitt sie hinters Steuer. Die Schlüssel steckten.

Sie ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Der Van schoss auf die Auffahrt, wobei er um ein Haar das elende Katzenvieh der Nachbarn überrollt hätte und nur knapp den Briefkasten verfehlte.

Jennifer stellte die Automatik auf D und blickte zum Schlafzimmerfenster hinauf.

Ihr blieb das Herz stehen.

Eine dunkle Gestalt stand hinter der Fensterscheibe, ein Schatten mit einem grausam verzerrten Lächeln im Gesicht.

»Verdammt!«

Das Licht fiel auf die Blendläden, und die Gestalt verschwand – möglicherweise nichts als eine Ausgeburt ihrer Fantasie.

Oder?

Sie wartete nicht ab, um das in Erfahrung zu bringen, sondern drückte das Gaspedal durch und raste über den Asphalt, gerade als sich der alte Mr. Van Pelt dazu entschloss, seinen uralten Panzer von Buick rückwärts auf die Straße zu setzen. Jennifer stieg auf die Bremse, schlitterte mit quietschenden Reifen an ihrem erschrockenen Nachbarn vorbei und gab wieder Vollgas.

»Es war niemand am Fenster. Das weißt du«, versuchte sie sich zu überzeugen. »Niemand war da.«

Eine Hand am Lenkrad, tastete sie auf dem Beifahrersitz nach ihrer Handtasche und ihrem Handy, die, wie ihr jetzt einfiel, oben im Schlafzimmer lagen, wo sie die dunkle Gestalt entdeckt hatte.

»Nur deine Fantasie«, wiederholte sie wieder und wieder, während sie die Trabantenstadt hinter sich ließ, auf die Hauptverkehrsstraße auffuhr und mit dem dichten Verkehr verschmolz. Ihr Herz raste, ihr Kopf hämmerte. Das Blut, das immer noch unter dem Pflaster hervorquoll, verschmierte das Lenkrad. In regelmäßigen Abständen blickte sie in den Rückspiegel, um zu prüfen, ob ihr ein Fahrzeug folgte, ob ein Wagen aus dieser Blechlawine ausscherte und hinter ihr herjagte.

Metall glitzerte im Sonnenlicht, und sie verfluchte sich, weil sie ihre Sonnenbrille nicht mitgenommen hatte.

Sie bemerkte nichts Ungewöhnliches, nur jede Menge Autos, die nach Osten fuhren: silberne, weiße, schwarze Limousinen und Sportwagen, Laster, Geländewagen … Zumindest nahm sie an, dass sie nach Osten fuhr. Sie war sich nicht sicher. Sie hatte nicht auf die Richtung geachtet. Langsam begann sie, sich zu entspannen. Kein potenzieller Verfolger in Sicht. Wenn überhaupt jemand hinter ihr her war.

Nur ein ganz gewöhnlicher Tag in Südkalifornien. Sie entdeckte einen dunkelblauen SUV, der sich mit hoher Geschwindigkeit von hinten näherte, und ihr Herz machte einen Satz. Doch der dunkelblaue SUV zog an ihr vorbei, gefolgt von einem weißen BMW.

Sie stellte das Radio an und versuchte, sich zu beruhigen, doch sie schwitzte. Ihr Finger blutete immer noch. Meile um Meile fuhr sie, ohne dass etwas passierte, und schließlich atmete sie auf … entspannte sich wirklich. Sie kam ein wenig von der Spur ab und hätte beinahe einen Typen gestreift, der auf die Hupe drückte und ihr den Mittelfinger zeigte.

»Jaja, du mich auch«, sagte sie, doch ihr wurde klar, dass sie besser nicht fahren sollte, nicht in ihrem Zustand und bei diesem Verkehr. Bei der nächsten Ausfahrt bog sie ab … Gütiger Himmel, wo war sie? Auf dem Land? Die Gegend mit ihren verstreut stehenden Häusern und den ausgedehnten Wald- und Ackerflächen kannte sie nicht. Sie war irgendwo in der Pampa, und das Valium zeigte seine volle Wirkung. Sie blinzelte gegen die Sonne, dann blickte sie in den Seitenspiegel und sah einen weiteren großen dunkelblauen SUV, der sich ihr mit hoher Geschwindigkeit näherte.

Derselbe wie vorhin?

Nein! Das konnte nicht sein.

Sie gähnte. Der Ford Explorer hinter ihr fiel zurück und folgte ihr in einigem Abstand die zweispurige Straße hinauf, die in die Hügel führte.

Es war Zeit, umzukehren.

Sie war so verdammt müde.

Die Straße vor ihr verschwamm. Sie blinzelte. Ihre Augenlider waren schwer. Sie würde anhalten und eine Pause machen müssen, versuchen, den Kopf frei zu bekommen, einen Kaffee trinken …

Vielleicht war gar niemand im Haus gewesen. Vielleicht hatte ihr ihre Fantasie einen Streich gespielt, hatte sie sich alles nur eingebildet, aufgewühlt, wie sie in den letzten Tagen gewesen war, und voller Schuldgefühle … Ihre Gedanken überschlugen sich.

Sie sah die Kurve und trat auf die Bremse. In dem Moment bemerkte sie, dass der dunkelblaue Explorer direkt an ihrer Stoßstange klebte.

»Fahr schon vorbei, du Idiot«, sagte sie verwirrt, die Augen auf den Rückspiegel gerichtet. Die Fenster des Ford waren dunkel getönt, doch sie konnte einen Blick auf den Fahrer werfen.

O Gott.

Der Fahrer blickte sie direkt an. Sie unterdrückte einen Schrei. Es war dieselbe Person, die sie oben an ihrem Schlafzimmerfenster gesehen hatte.

Vor Angst wie von Sinnen, trat sie aufs Gas. Wer zur Hölle war das? Und warum folgte ihr diese Person?

Die Kurve kam, und sie riss das Lenkrad herum in der Hoffnung, den SUV abzuschütteln, doch ihre Wahrnehmung war getrübt, und eins der Räder kam von der Fahrbahn ab auf den gekiesten Randstreifen. Sie klammerte sich ans Lenkrad, versuchte, den Wagen zurück auf die Straße zu bringen, doch der Van geriet ins Schleudern.

Brach aus.

Geriet außer Kontrolle.

Der Van schwankte. Rutschte. Und dann begann er zu rollen.

Wie in Zeitlupe begriff Jennifer, dass sie sterben, schlimmer noch: dass sie Opfer eines Mordanschlags werden würde.

Vermutlich arrangiert von ihrem verfluchten Ex-Mann, Rick Bentz.

[home]

1.

Sprechen Sie mich in sechs Wochen noch einmal darauf an.« Melinda Jaskiels Stimme klang fest. Unmissverständlich.

Rick Bentz stand auf der Veranda hinter dem Haus, das Gewicht auf das gesunde Bein verlagert. In der Gluthitze des bayou, wie das Sumpfland um New Orleans genannt wurde, blieb ihm fast das Handy am Ohr kleben. Sein Boss würde nicht nachgeben, so viel stand fest. Schweiß tropfte ihm von der Nase. Er schwankte. Die dicke Gummispitze seiner Krücke hatte sich zwischen zwei großen Steinplatten verkantet. Sein Rücken schmerzte, und das Gehen war eine Strapaze, aber das würde er nicht zugeben – vor keiner Menschenseele und schon gar nicht vor Jaskiel. Als Leiterin des Morddezernats beim New Orleans Police Department, kurz NOPD, lag es an ihr, ihn wieder in den aktiven Dienst zu versetzen. Oder auch nicht. Wieder einmal hielt Melinda Jaskiel sein Schicksal – soweit es seine Karriere betraf – in der Hand.

Und wieder einmal verlegte er sich aufs Betteln. »Ich muss arbeiten.« Mein Gott, er hasste die Verzweiflung in seiner Stimme.

»Sie müssen erst wieder hundertprozentig auf dem Damm sein, vielleicht sogar hundertzehnprozentig, bevor Sie zurück an die Arbeit können.«

Sein Kiefer verspannte sich. Die intensive Sonne Louisianas brannte ihm in den Nacken, und aus dem bewaldeten Sumpfland, welches das versteckt liegende Cottage umgab, stieg ein feiner Nebel auf. Jaskiel hatte ihm einen Job angeboten, als niemand anderes mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte angesichts des Chaos, das er in L.A. hinterlassen hatte. Und jetzt ließ sie ihn abblitzen.

Er hörte sie leise murmeln, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er, sie würde es sich noch einmal überlegen. »Hören Sie, Rick, ich sehe Sie nicht hinter einem Schreibtisch, wo Sie von acht bis fünf Papiere hin und her schieben.«

»Ich bin mehrere Monate in Physiotherapie gewesen und mittlerweile so fit wie vorher.«

»Fit genug, um einen Verdächtigen festzusetzen? Ihn niederzuringen? Eine Tür aufzubrechen? In Deckung zu gehen, über den Boden zu rollen, die Waffe zu ziehen und Ihrem Partner Feuerschutz zu geben?«

»Das ist doch nichts als Unfug aus dem Fernsehen.«

»Tatsächlich?« Jaskiel klang skeptisch. »Ich hatte den Eindruck, genau dieser Unfug aus dem Fernsehen hat Sie ins Krankenhaus gebracht.« Sie kannte ihn nur zu gut. »Sie wissen, was Sache ist. Bringen Sie mir ein Schreiben vom Arzt, und wir reden über Ihre Rückkehr in den Dienst. Reden. Ich verspreche nichts. Sie wissen, dass der Ruhestand keine schlechte Idee ist.«

Er schnaubte. »Meine Güte, Melinda! Ich habe langsam den Eindruck, Sie versuchen, mich loszuwerden!«

»Sie sind noch immer in Behandlung, und Sie waren wirklich schwer verletzt. Ende der Diskussion. Wir reden später weiter.« Sie legte auf.

»Verdammt!« Rick Bentz schleuderte seine Krücke über die Veranda, wo sie mit einem lauten Klappern über die Steinplatten rutschte und eine Spottdrossel aus dem Magnolienbaum aufscheuchte. »Verdammt, verdammt, verdammt!« Seine Finger schlossen sich um das Handy, und einen Augenblick lang erwog er, es in den Sumpf zu werfen, doch er ließ es bleiben, um keine Erklärungen abgeben zu müssen. Bislang zweifelte das Department schließlich nur an seiner physischen Verfassung. Er wollte nicht, dass sie Einblick in sein Inneres bekamen.

Keine Seelenklempner. Keine Nabelschau. Kein Herzausschütten. Nein danke.

Es fiel ihm schwer, ohne Krücke zu stehen, sein Gleichgewichtssinn war nach wie vor beeinträchtigt, ganz gleich, was er Jaskiel erzählt hatte. Und manchmal schmerzte sein Bein wie die Hölle. Er wusste, dass er vom aktiven Dienst weit entfernt war, aber er würde noch wahnsinnig werden, wenn er länger zu Hause blieb. Sogar seine Beziehung zu Olivia, seiner Frau, begann darunter zu leiden. Ihre biologische Uhr tickte wie verrückt, und sie setzte ihn mit ihrem Kinderwunsch unter Druck. Seine eigene Tochter, Kristi, war schon über zwanzig. Er war sich nicht sicher, ob er noch einmal von vorn anfangen wollte.

Nein, er musste raus aus dem Haus und zurück an die Arbeit. Seit dem Unfall waren fast drei Monate vergangen, und er konnte keine Sekunde länger herumsitzen.

»Also tu was«, befahl er sich selbst.

Er biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt ohne seine Krücke.

Erst ein Fuß, dann der andere.

Nicht dieses verweichlichte Ein-Fuß-nach-vorne mit der Krücke und dann den anderen nachziehen. Auf keinen Fall. Er würde Schritt für Schritt über diese verdammte Veranda gehen, und wenn es ihn umbrächte. Er würde es ihnen zeigen. In einem Monat würde er über diese dämlichen Steine rennen. Eine Krähe hockte auf einem der Dachgiebel, ihr lautes Krächzen schallte durch die Buscheichen und Kiefern. Bentz bemerkte es kaum.

Ein dritter Schritt.

Dann der vierte.

Er schwitzte. Konzentrierte sich. Die Hitze war drückend, die Sonne brannte vom Himmel, der dumpfige Geruch des bayou stieg ihm in die Nase. Die Krähe krächzte höhnisch weiter. Lästiges Vieh.

Ein weiterer Schritt, und Bentz hob den Blick von den unebenen Steinplatten hin zu der Bank, seinem Ziel. Er überquerte die Veranda auf seinen eigenen Füßen. Als wäre er nie verletzt worden. Als wäre er nicht um ein Haar ums Leben gekommen.

Als wäre er nicht gezwungen worden, über eine vorzeitige Pensionierung nachzudenken.

Wieder machte er einen Schritt nach vorn, selbstbewusster. Und dann spürte er es.

Die kalte Gewissheit, beobachtet zu werden.

Mit mulmigem Gefühl blickte er über die Schulter. Trockenes, welkes Laub, das an diesem windstillen Tag raschelte.

Die Krähe war verschwunden, das zeternde Gekrächze verstummt.

Licht zuckte durch die Zweige. Etwas bewegte sich im Dickicht gegenüber der Veranda. Ein Schatten huschte durchs Unterholz.

Gütiger Himmel.

Instinktiv griff Bentz nach seinem Schulterholster und fuhr mit leerer Hand Richtung Bäume herum. Er hatte sein Schulterholster nicht angelegt. Nicht in seinem eigenen Haus.

Was zum Teufel war das?

Sonnenlicht fiel durch den filigranen Baldachin aus Nadeln und Blättern. Sein Herz schlug wie verrückt. Sein Mund wurde trocken.

Es war nur seine Fantasie.

Wieder einmal.

Oder?

Doch die Gänsehaut, die ihn überkam, belehrte ihn eines Besseren. Er spürte, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper anspannte.

Dummkopf! Du bist in deinem eigenen verdammten Garten!

Er wandte sich ein Stück weit um, um nachzusehen, ob es sich bei dem Eindringling um ein Opossum, ein Reh oder gar einen Alligator handelte, der vom Sumpf hier heraufgekrochen war, doch tief im Innern wusste er, dass es kein wildes Tier war, das sich bis zu seinem Haus verirrt hatte.

Die Blätter hörten auf zu rascheln.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Bentz ins Dickicht hinein. Ohne Zweifel würde er sie sehen.

Wieder einmal.

Er wurde nicht enttäuscht. In der flimmernden Hitze stand sie zwischen den bleichen Stämmen zweier Sumpfzypressen, gekleidet in dasselbe sexy schwarze Kleid, und schenkte ihm ihr verführerisches Lächeln.

Jennifer.

Seine erste Frau. Die Frau, der er ewige Liebe geschworen hatte.

Das Miststück, das ihn betrogen hatte … so sinnlich und wunderschön, wie sie es all die Jahre über gewesen war. Der Duft nach Gardenien waberte durch die Luft.

Er schluckte.

Ein Geist? Oder eine Frau aus Fleisch und Blut?

Die Frau, Jennifers Doppelgängerin, stand im Wald und blickte ihn mit aufgerissenen, wissenden Augen und diesem aufreizenden Lächeln an … Mein Gott, ihr Lächeln hatte ihm den Kopf verdreht.

Ihm blieb beinahe das Herz stehen. Eine unheimliche Kälte durchfuhr ihn.

»Jennifer?«, fragte er laut, obwohl er wusste, dass seine Ex-Frau schon lange tot war.

Sie zog eine Augenbraue hoch, und ihm wurde flau im Magen.

»Jen?« Bentz machte einen Schritt nach vorn, blieb mit dem Zeh an einer höher liegenden Steinplatte hängen und stürzte mit den Knien voran zu Boden. Sein Kinn schlug auf Stein und Mörtel, sein Kiefer knackte, und er schürfte sich die Haut auf.

Schmerz explodierte in seinem Gehirn. Die Krähe krächzte, als würde sie ihn auslachen. Sein Handy schlitterte über die Verandaplatten.

»Verfluchter Mist!«, stieß er leise hervor. Für einen kurzen Augenblick blieb er reglos liegen und atmete ein paarmal ein und aus, wobei er sich einen gottverdammten Idioten schimpfte, einen Spinner, der Dinge sah, die gar nicht existierten. Schließlich bewegte er ein Bein, dann das andere und erwog im Geiste den Schaden, den er seinem bereits schmerzgepeinigten Körper zugefügt hatte.

Vor gar nicht langer Zeit war er gelähmt gewesen, Resultat eines eher ungewöhnlichen Unfalls in einem Gewittersturm. Sein Rückenmark war verletzt worden, doch zum Glück nicht dauerhaft geschädigt. Langsam hatte er sich wieder erholt, und er hoffte, dass er sich durch den Sturz keine neuen Verletzungen an Rücken oder Beinen zugezogen hatte.

Schmerzerfüllt rollte er sich herum und rappelte sich auf die Knie, um von der Veranda auf die Stelle zu starren, an der er sie gesehen hatte.

Jennifer war natürlich verschwunden. Wie ein Gespenst in einem alten Cartoon.

Ohne auf den Schmerz zu achten, stützte er sich an der Bank ab, um auf die Füße zu kommen und das Gleichgewicht zu halten, dann tappte er vorsichtig zum Ende der Veranda. Blinzelnd spähte er in den Wald, der an seinen Garten angrenzte, auf der Suche nach einem Beweis dafür, dass sie dort hinten gestanden und ihn herausfordernd angestarrt hatte. Ihn zum Narren gehalten hatte. Ihn glauben gemacht hatte, dass er langsam den Verstand verlor.

Im Wald bewegte sich nichts. Keine Frau versteckte sich in den tiefen Schatten.

Kein plötzliches Absinken der Temperatur deutete darauf hin, dass er von einem Geist heimgesucht wurde.

Außerdem war Jennifer tot. Begraben auf einem Friedhof in Kalifornien, so wahr er Rick Bentz hieß. Hatte er sie nicht selbst vor über zwölf Jahren identifiziert? Sie war bei dem Autounfall schrecklich zugerichtet worden und kaum zu erkennen gewesen, doch bei der Frau hinter dem Steuer hatte es sich eindeutig um seine schöne, durchtriebene erste Frau gehandelt.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Hoch oben am Himmel waren Kondensstreifen zu erkennen, die die unendliche blaue Weite durchschnitten.

Warum war sie gerade jetzt zurückgekommen – zumindest in seiner Fantasie? Lag das am Koma? Er hatte zwei Wochen bewusstlos im Krankenhaus gelegen und erinnerte sich an nichts aus dieser Zeit.

Als er schließlich aus dem Koma erwacht war, hatte er wie durch einen Schleier ihr Bild vor sich gesehen. Ein kalter Luftzug war über seine Haut gestrichen, und er hatte den schweren Duft ihres Parfüms wahrgenommen, den vertrauten Geruch nach Gardenien. Dann hatte er sie flüchtig in der Tür stehen sehen, das gedämpfte Licht des Flurs im Rücken. Sie hatte ihm einen Luftkuss zugehaucht und so echt gewirkt, als wäre sie tatsächlich noch am Leben.

Was sie natürlich nicht war.

Und trotzdem …

Als er jetzt über den bewaldeten bayou blickte, wo die Schatten immer länger wurden und der dumpfige Geruch des träge fließenden Wassers von den Zypressen und Pappeln gefiltert wurde, kamen ihm im Nachhinein Zweifel an dem, was er bislang für eine unumstößliche Tatsache gehalten hatte – und er zweifelte an seinem Verstand.

Konnte das an den Tabletten liegen, die er nach seinem Unfall genommen hatte, wie seine Tochter – ihre Tochter – behauptete? Oder wurde er schlicht und einfach verrückt?

»Mist.« Er starrte ins Gehölz.

Keine Jennifer.

Natürlich nicht.

Jennifer existierte nur in seiner Fantasie, hervorgerufen vermutlich durch den fast zwei Wochen andauernden Schwebezustand zwischen Leben und Tod.

»Reiß dich zusammen«, sagte er zu sich selbst.

Jetzt hätte er eine Zigarette gebrauchen können. Er hatte schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, doch in Stresssituationen ging nichts über den Kick des sich in seinen Lungen ausbreitenden Nikotins, um einen klaren Kopf zu bekommen und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Ein Hund kläffte. Bentz hörte, wie sich mit einem Klacken die Hundetür öffnete, gefolgt vom Scharren winziger Pfoten, die mit hoher Geschwindigkeit über die Steinplatten sausten, und von schrillem Gejaule. Hairy S., der Terrier seiner Frau Olivia, flitzte über die Veranda und jagte ein laut keckerndes Eichhörnchen den rauhen Stamm einer Kiefer hinauf. Hairy S., der seinen Namen zu Ehren von Harry S. Truman, dem Lieblingspräsidenten von Olivias Großmutter, erhalten hatte, war außer sich. Er jaulte und bellte den Baumstamm an. Sein geflecktes Fell sträubte sich, als ihn das Eichhörnchen von einem sicheren Ast aus verspottete.

Bentz runzelte die Stirn. »Sei still, Hairy!« Ihm stand jetzt nicht der Sinn nach Hairys Gekläffe, sein Kopf fing an zu pochen, und sein Stolz war durch den Sturz schwer angeknackst.

»Was zum Teufel machst du da?«, ertönte plötzlich Montoyas Stimme hinter ihm, und er wäre beinahe erneut ins Straucheln geraten.

»Ich gehe ohne meine verdammte Krücke, wonach sieht das denn sonst aus?«

»Es sieht aus, als wärst du auf die Fresse gefallen.«

Bentz drehte sich um und sah seinen Partner durch das Gartentor an der Seite eintreten. Mit der nervtötenden Geschmeidigkeit eines Sumpfluchses kam Montoya über die Steinplatten auf ihn zu. Um die Schmach der eigenen Unbeweglichkeit noch zu steigern, ließ Olivias rauflustiger Kläffer von dem Eichhörnchen ab und umkreiste temporeich Montoyas Beine, so dass Bentz in aller Ruhe Staub und Stolz abklopfen konnte. Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, doch seine Knie brannten heftig an den Stellen, wo er sich die Haut aufgeschürft hatte. Zweifelsohne bildeten sich bereits blaue Flecken. Er spürte, wie ihm warmes, klebriges Blut die Schienbeine hinunterlief.

»Ich hab dich vom Gartentor aus beobachtet. Hatte den Eindruck, du wolltest einen Kopfsprung auf die Steinplatten machen.«

»Sehr komisch.«

»Fand ich auch.«

Bentz war nicht in der Stimmung, sich von seinem neunmalklugen Partner auf den Arm nehmen zu lassen. Von seinem neunmalklugen jüngeren Partner. Montoya war nicht nur jünger und durchtrainierter als Bentz, mit seinen schwarzen, in der Nachmittagssonne glänzenden Haaren und der Spiegelbrille vor den Augen, die so durchdringend waren wie eh und je, scheute er sich auch nicht, seinen Partner daran zu erinnern.

Montoya ging nicht, er schritt mit raubtierhafter Eleganz. Sein Diamantstecker im Ohrläppchen funkelte. Zumindest trug er heute nicht seine unverkennbare schwarze Lederjacke, sondern bloß Jeans und ein weißes T-Shirt. Er sah so cool aus, dass Bentz am liebsten davongelaufen wäre.

Und er ging ihm höllisch auf die Nerven.

»Ist Olivia bei der Arbeit?«

Bentz nickte. »Sollte in ein paar Stunden zurück sein.« Seine Frau arbeitete nach wie vor ein paar Tage die Woche im Third Eye, einem New-Age-Geschenkeladen in der Nähe des Jackson Square, der den Hurrikan Katrina überstanden hatte. Vor einiger Zeit hatte sie ihren Abschluss in Psychologie gemacht und überlegte, eine eigene Praxis zu eröffnen, aber sie hatte noch nicht den Absprung zur Vollzeit geschafft. Bentz vermutete, dass sie das geschäftige Treiben im French Quarter vermisste.

Montoya entdeckte Bentz’ Handy neben einem riesigen Keramiktopf mit wallenden rosa und weißen Petunien. »Suchst du das hier?« Er klopfte den Staub von dem Mobiltelefon und reichte es seinem Partner.

»Danke«, brummte Bentz und steckte es in die Tasche.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Montoya, plötzlich sachlich.

»Jaskiel ist der Meinung, ich wäre noch nicht fit genug, um wieder zu arbeiten.«

»Das bist du auch nicht.«

Bentz verkniff sich eine scharfe Antwort. Eine Libelle schwirrte vorbei. Angesichts seines gegenwärtigen Zustandes war Widerspruch nicht angebracht. »Gibt es einen Grund dafür, dass du dich hier raus verirrt hast, oder wolltest du mir bloß den Tag verderben?«

»Etwas von beidem«, erwiderte Montoya. Seine Zähne blitzten weiß über dem schwarzen Kinnbart. »Ich bin wieder im Dienst. Zaroster ist mein –« er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft – »vorübergehender Partner.«

Lynn Zaroster war eine junge Kriminalbeamtin, gerade mal zwei Jahre beim Department und noch keine sechsundzwanzig. Zaroster war nicht nur hübsch, klug und sportlich, sondern auch voller Enthusiasmus. Sie war in etwa so idealistisch, wie Bentz abgebrüht war.

»Die Zeiten ändern sich.«

»Ja.« Montoyas Lächeln verblasste. »Manchmal fühle ich mich wie ein gottverdammter Babysitter.«

»Du hast Angst, dass das zum Dauerzustand wird.« Weil Bentz aus dem Department gedrängt wurde.

»Nicht, wenn es nach mir ginge, aber ich dachte, ich sag’s dir lieber selbst. Besser, als wenn du’s von jemand anderem hörst.«

Bentz nickte und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Durch das offene Fenster drang das Krächzen von Olivias Papagei zu ihnen heraus, den sie – genau wie den Hund und dieses kleine Cottage – von ihrer Großmutter Gin geerbt hatte.

»Jaskiel hat angedeutet, ich solle mich zur Ruhe setzen.« Bei dem Gedanken daran verzog Bentz die Lippen. »Das genießen, was mir vom Leben noch bleibt.«

Montoya schnaubte. »Du bist noch keine fünfzig. Da bleibt noch ganz schön viel. Dreißig, vielleicht vierzig Jahre angeln, Fußball gucken und auf dem Hintern sitzen.«

»Das scheint keine Rolle zu spielen.«

Montoya griff nach Bentz’ Krücke und sagte: »Vielleicht könntest du in Ruhestand gehen, Pension kassieren und Privatermittler werden.«

»Ja … vielleicht. Und du kannst weiterhin babysitten.« Bentz ignorierte die Krücke, die sein Partner ihm hinhielt, und machte sich auf den Weg ins Haus, der kleine Hund voran. »Komm schon, ich spendier dir ein Bier.«

»Bist du rückfällig geworden?« Montoya, die Krücke in der Hand, folgte ihm auf dem Absatz.

»Bislang nicht.« Bentz hielt ihm die Tür auf. »Aber der Tag ist ja noch nicht vorbei.«

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2.

Bentz war dabei, sich von ihr zu entfremden.

Das spürte Olivia.

Es machte sie stinkwütend. Und es macht mich traurig, dachte sie, während sie mit ihrem alten Ford Ranger – ein Erbstück mit beinahe zweihunderttausend Meilen auf dem Buckel, das sie bald in Zahlung würde geben müssen – nach Hause raste.

Sie liebte ihren Mann, und als sie geschworen hatte, ihm in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite zu stehen, hatte sie das aufrichtig gemeint. Er auch, davon war sie stets ausgegangen, aber seit dem Unfall …

Sie stieg auf die Bremse, als die lange Landstraße, die sich durch diesen Teil des Sumpflands wand, eine Kurve machte. Einst hatte sie das kleine, abgelegene Cottage mit Großmutter Gin geteilt und nach dem Tod der alten Dame ein paar Jahre allein darin gewohnt. Als sie und Bentz geheiratet hatten, war er aus seinem Apartment in New Orleans zu ihr in die waldige Sumpfgegend des Mississippi-Deltas gezogen.

Eine Weile lang hatte seine Tochter bei ihnen gelebt, doch das war nicht sonderlich gut gelaufen. Kristi war eine erwachsene Frau und hatte ihren Freiraum gebraucht. Trotzdem waren sie in den vergangenen Jahren glücklich gewesen.

Bis zu dem verfluchten Unfall.

Ein merkwürdiges Ereignis.

Ein Blitz hatte eine Eiche gespalten, und Rick war von einem dicken Ast getroffen worden, der ihn zu Boden warf und beinahe sein Rückgrat verletzte. Sogar jetzt überkam sie noch ein Schauder, wenn sie an jene düsteren Tage zurückdachte, in denen sein Überleben am seidenen Faden gehangen hatte.

Er hatte überlebt. Gerade noch. Damals hatten sie und ihre Stieftochter eine gewisse Verbundenheit verspürt, hatten einander im Krankenhaus an den Händen gehalten, als die Ärzte Bentz eine katastrophale Diagnose stellten.

Sie hatte gedacht, sie würde ihn verlieren, hatte damit gerechnet, dass er sterben würde. In jenen herzzerreißenden Tagen bedauerte sie, dass sie kein Kind hatte, einen Teil von ihm, der ihr bleiben würde. Vielleicht war das selbstsüchtig, aber das war ihr egal.

Im Rückspiegel tauchte ihr Spiegelbild auf. Besorgte Augen in der Farbe von Bernstein blickten ihr entgegen. Es behagte ihr gar nicht, was da passierte.

»Dann tu was dagegen«, sagte sie. Sie war nie ein zurückhaltender Mensch gewesen, und bei mehr als einer Gelegenheit hatte man sie »äußerst temperamentvoll« genannt. Hatte Bentz sie »äußerst temperamentvoll« genannt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihm ohne Umschweife ihre Vision von einem Mord geschildert, der sich kurz darauf tatsächlich ereignete. Das hatte ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht, und er glaubte ihr zunächst nicht. Aber sie hatte ihn überzeugt.

Und irgendwie musste sie ihn jetzt wieder überzeugen.

Sie schaltete und versuchte, sich nicht mit der Tatsache zu befassen, dass sich ihre Beziehung abgekühlt hatte, seitdem Rick aus dem Koma erwacht war. Er war ein anderer Mann geworden. Nicht ganz und gar, natürlich nicht, aber irgendwie hatte er sich verändert. Zunächst hatte sie sein mangelndes Interesse an ihr damit abgetan, dass er sich Sorgen machte. Er musste sich auf seine Genesung konzentrieren. Doch die Dinge waren nicht so gelaufen wie erwartet. Als er nach Wochen wieder zu Kräften gekommen war, hatte sie eine gewisse Desillusioniertheit an ihm festgestellt. Sie hatte sich eingeredet, seine Laune würde in der Minute umschlagen, in der er seinen Job wieder aufnehmen und das tun könnte, was er so liebte: Mordfälle aufklären.

Doch mit den Wochen wurde sie unruhig. Obwohl sie darüber gesprochen hatten, ein Kind miteinander zu bekommen, konnte davon keine Rede mehr sein. Bentz war immer ein leidenschaftlicher Mann gewesen, nicht so heißblütig wie sein Partner Montoya, aber ausdauernd, zielstrebig und couragiert.

Im Bett war er ein aufmerksamer Liebhaber gewesen, der seine Lust nicht zuletzt aus ihrem Genuss gezogen hatte.

Doch das alles hatte sich geändert.

Sie zweifelte nicht daran, dass er sie liebte, nicht eine Sekunde. Doch anstatt im Alter reifer zu werden, war ihre Beziehung … schal geworden, ein besseres Wort fiel ihr dafür nicht ein. Und genau das passte ihr nicht.

Sie klappte die Sichtblende herunter. Das Sonnenlicht tüpfelte das warme Asphaltband, das sich durch die Niederung schlängelte. Ein Hase hoppelte am Straßenrand ins Gebüsch.

Olivia bemerkte es kaum.

Irgendwie musste sie ihre Beziehung mit Rick neu ankurbeln. Vielleicht musste sie ihrem Ehemann auch einfach einen wohlplazierten Tritt in seinen süßen Allerwertesten verpassen.

Sie bog in die Einfahrt. Ihre Reifen ließen das Pfützenwasser aufspritzen, das von einem Schauer in den frühen Morgenstunden stehengeblieben war. Sie parkte den Wagen in der Garage und ging ins Haus, wo ihr ein Bryan-Adams-Song aus den Achtzigern entgegendröhnte. Ihr Mann, in Shorts und T-Shirt, schwitzte an einer kleinen Kraftstation, die er ins Arbeitszimmer gequetscht hatte. Er blickte kurz zu ihr herüber, als sie sich an den Türrahmen lehnte. »He, Rocky«, sagte sie, und er lachte sogar.

Was momentan selten vorkam.

Mit angestrengtem Gesicht absolvierte er eine Reihe von Beinzügen, so dass die Muskeln an den Oberschenkeln hervortraten. In den letzten drei Wochen, seit seine Vorgesetzte ihm den Vorschlag gemacht hatte, in den Ruhestand zu treten, hatte Bentz seine Anstrengungen verdoppelt und legte sich gehörig ins Zeug, um zu alter Form zurückzufinden. Er verzichtete größtenteils auf seine Krücke und stützte sich auf einen Gehstock, und manchmal ging er auch ganz ohne Hilfe, obwohl der Arzt ihm geraten hatte, sich nicht zu überanstrengen. Große Schritte, aber nicht groß genug für ihn.

Olivia kam nicht umhin, sich Sorgen um ihn zu machen, da das Krafttraining zu einem der wenigen Dinge geworden war, mit denen er seinen Stress abbauen konnte. Er schlief unruhig. Seine einzige Verbindung zum Department, sein ehemaliger Partner Montoya, war mit dem Job und seiner eigenen Familie ausgelastet. Selbst Ricks Tochter Kristi war voll und ganz mit ihrem eigenen Leben beschäftigt – sie plante soeben ihre Hochzeit. »Was hältst du davon, wenn ich dich zum Abendessen ausführe?«, fragte sie.

»Es ist Montag.«

»Genau deshalb feiern wir.«

Er schnaufte, lächelte jedoch, als er von der Kraftstation kletterte und sein Gesicht mit einem Handtuch abrieb. »Das Leben muss ziemlich langweilig sein, wenn Montag schon ein Grund zum Feiern ist.«

»Ich dachte, es täte dir gut, mal rauszukommen.«

Fragend zog er eine Augenbraue in die Höhe. Ja, er war in den Vierzigern, und ja, er hatte in den Jahren, die sie ihn kannte, mehr als eine lebensbedrohliche Verletzung davongetragen, aber er war immer noch ein Bild von einem Mann. Ein echter Hingucker. Er brachte sie immer noch um den Verstand, wenn er sie liebte, was seit dem Unfall leider nur noch sporadisch vorgekommen war. Sie erwog, ihn hier an Ort und Stelle zu verführen, doch sie wusste, dass er ihr dann unterstellen würde, schwanger werden zu wollen. Was nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt war.

»Wie wär’s mit Chez Michelle?«, schlug er vor.

»Oh, wie vornehm. Ich dachte eher an etwas Schlichtes, wo wir Pommes-Spiralen und scharfe Cajun-Shrimps in Eimern kriegen.«

Seine Augen leuchteten auf bei der Erinnerung an ihr erstes »Date«. Mit einem leisen Lachen sagte er: »Das ist es, was ich an dir mag, Livvie, du bist eine echte Romantikerin.« Er schlug im Vorübergehen mit dem Handtuch nach ihr und verschwand im Bad.

Zwei Stunden später saßen sie an einem Tisch in einem gepflasterten Hof. Tauben gurrten und pickten nach Krumen, während langsam die Sonne unterging und Schatten über die Töpfe mit blühenden Kräutern krochen, deren Duft die Luft erfüllte.

Das Restaurant selbst war eng und dunkel, Fischernetze hingen an den Wänden, die Tische stießen an riesige Kübel mit zerstoßenem Eis, welche randvoll mit Bierflaschen gefüllt waren. Zum Glück war dieser Ort von der Wucht des Hurrikans verschont geblieben.

Olivia nippte an ihrem Eistee und griff herzhaft bei den scharfen Cajun-Shrimps mit knusprigen Pommes zu. Die Luft summte von Gesprächen, Tellerklappern hallte durch den Hof. Es war ihr Lieblingslokal, und sie waren oft hier zu Gast. Bentz war ohne Stock in den Hof gegangen, seine Bewegungen waren jetzt sicherer, entschlossener. Doch da war nach wie vor etwas, das ihn bewegte, etwas, das er ihr verheimlichte.

Sie hatte es satt, darauf zu warten, dass er davon anfing, denn da hätte sie lange warten können.

»Also«, begann sie deshalb, schob ihren Teller zur Seite und säuberte sich die Finger mit einer Zitronenspalte und der dafür vorgesehenen Serviette, »was ist los mit dir?«

»Was meinst du damit?«

»Hör auf, Rick.« Sie begegnete seinem Blick. »Wir beide wissen, dass du ziemlich angespannt bist. Ich schätze, das ist zum Teil auf den Unfall zurückzuführen. Du hast Gott weiß was durchgemacht, aber es steckt mehr dahinter.«

»Versuchst du, deine übersinnlichen Fähigkeiten an mir zu erproben?«, fragte er und nahm einen Schluck alkoholfreies Bier.

»Ich wünschte, das könnte ich.« Sie wollte nicht verärgert klingen, doch sie kannte ihn gut genug, um zu spüren, wenn er ihr mit Absicht auswich. »Du verschließt dich mir.«

Eine seiner buschigen Augenbrauen zuckte. »Findest du?«

»Ich weiß es.«

»Verstehe … Das liegt sicher an diesen besonderen Kräften, deinem erweiterten Wahrnehmungsvermögen …«

»Wir wissen beide, dass diese ›Kräfte‹, worum auch immer es sich dabei gehandelt haben mag, schon vor Jahren ihren Dienst eingestellt haben.« Sie mochte nicht an die Zeit zurückdenken, in der sie durch die Augen des Killers eine grauenhafte Serie von Morden mit angesehen und sich damit an Bentz gewandt hatte. Zunächst hatte er ihre Visionen unverhohlen abgetan, doch er war eines Besseren belehrt worden. Woran er sie ständig erinnerte.

»Versuch nicht, das Thema zu wechseln. Das funktioniert nicht.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Du leidest nicht nur an den körperlichen Folgen deiner Verletzungen. Irgendetwas nagt an dir. Etwas Großes.«

»Du hast recht. Ich halte es nicht aus ohne die Arbeit.«

»Tatsächlich?« Das kaufte sie ihm nicht ab. Dass ihm die Arbeit fehlte, erklärte nicht die Distanz, die sie zwischen ihnen spürte. Außerdem war die Antwort auf ihre Frage zu schnell gekommen. »Sonst noch was?«

Er schüttelte den Kopf. Mauerte.

»Du würdest mir doch sagen, wenn etwas wäre?«

»Natürlich.« Er bedachte sie mit dem trägen Grinsen, das sie so anziehend fand, griff über den Tisch und drückte ihre Hand. »Hab Geduld mit mir, okay?«

»War ich etwa nicht geduldig?«

Er wandte den Blick ab.

»Liegt es daran, dass ich ein Baby möchte?« Sie war immer schon geradeheraus gewesen und sah keinen Grund dafür, das Thema, das sie bislang vermieden hatten, unter den Tisch zu kehren. In den ersten Wochen nach seinem Unfall war Bentz impotent gewesen. Er hatte kaum laufen können, wie sollte er da mit ihr schlafen? Doch das Problem hatte sich von selbst erledigt.

»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, was ich darüber denke. Ich gehe auf die fünfzig zu, bin momentan arbeitslos, benutze die meiste Zeit einen Gehstock und habe eine erwachsene Tochter, die bald heiraten wird. Ich will kein … Nein, es ist nicht so, dass ich kein Kind mit dir haben will, ich bin mir nur nicht sicher, ob es der richtige Zeitpunkt ist oder ob ich wirklich noch einmal von vorn anfangen möchte.«

»Aber ich möchte es. Ich bin Ende dreißig. Meine biologische Uhr tickt nicht, Bentz, sie dröhnt wie Donnerschläge in meinen Ohren. Ich glaube nicht, dass mir noch viel Zeit bleibt, darüber nachzugrübeln. Wenn ich ein Kind haben möchte – und das möchte ich –, müssen wir es jetzt versuchen.«

Er verzog den Mund und nahm einen Schluck aus der Bierflasche, dann blickte er schräg nach oben, als wäre er auf einmal fasziniert vom Dach des Restaurants. Olivia fühlte, wie die Kluft zwischen ihnen breiter wurde, und als sie sah, wie der Kellner ein junges Paar mit ihrem etwa dreijährigen Kleinkind zu einem Tisch führte, machte ihr Herz einen schmerzhaften Satz.

»Was zum Teufel passiert bloß mit uns?«

Sie sah seine Kiefermuskeln zucken. Er kämpfte mit etwas, schien zu überlegen, ob er ihr die Wahrheit anvertrauen konnte. Ihr wurde flau im Magen.

»Was steckt dahinter?«, fragte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Neue Sorge packte sie, grub sich tief in ihr Herz. Sie glaubte, dass er sie liebte, aber …

Und dann mauerte er wieder, schloss sie aus. »Ich muss mich momentan mit einer Menge Dinge auseinandersetzen.«

Übersetzung: Hör um Gottes willen auf, mich zu nerven, und setz mich nicht mit deinem Babywunsch unter Druck.

»Ich bin Psychologin. Ich fühle es, wenn du dich mir verschließt.«

»Und ich bin ein Cop. Ein Detective. Zumindest war ich das. Ich muss mir einfach noch über ein paar Dinge klarwerden.« Mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen blickte er sie an und griff nach ihrer Hand. Diesmal ließ er sie nicht los. »Vertrau mir.«

»Das tue ich. Doch ich denke, du bist deprimiert, wofür dir niemand einen Vorwurf machen kann. Vielleicht brauchen wir einen Tapetenwechsel, einen neuen Anfang.«

»Und ein Baby? Sieh mal, ich glaube nicht, dass das die Lösung ist. Man kann vor Problemen nicht davonlaufen, Livvie. Du weißt das. Früher oder später holen sie einen ein. Fehler lassen sich nicht einfach ausradieren. Auch nicht solche, die man vor langer Zeit begangen hat.«

»Das steckt also dahinter«, stellte sie fest, und ihre Gedanken kreisten um die vagen Andeutungen, die er in letzter Zeit gemacht hatte. »Deine Vergangenheit in L.A. hat dich eingeholt?« Sie zog ihre Hand fort.

»Ich weiß es nicht. Aber ich versuche, es herauszufinden. Das ist im Augenblick das Beste, was ich tun kann.« Er bedeutete einem vorbeikommenden Kellner, dass sie zahlen wollten, womit das Gespräch beendet war. Sie standen auf, und Bentz ging steif, aber ohne Gehstock durch das düstere Restaurant zur Straße, wo er seinen Jeep geparkt hatte. Er bestand darauf, dass er fuhr, was ihm auf dem Hinweg auch ziemlich gut gelungen war. Doch jetzt, auf dem Weg nach Hause, flüsterte Olivia ein paar Ave Marias, als er mit Höchstgeschwindigkeit über den Freeway preschte und sie ihm vorwarf, wie Montoya zu fahren.

Er grinste sie an und legte noch einen Zahn zu.

Schweigend rasten sie nach Hause, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Das Radio spielte, der Motor brummte gleichmäßig.

Am Cottage angekommen, ging er ihr voran die Vordertreppe hinauf, hielt ihr die Tür auf und wirkte nach außen hin aufmerksam. Sogar liebevoll.

Drinnen gingen sie ihrer täglichen Routine nach: Olivia versorgte die Tiere und ging anschließend nach oben, um im Bett noch zu lesen. Er sah die Nachrichten, bevor er hinauf ins Schlafzimmer kam. Sie sprachen nicht viel, Unsicherheit und Spannung hingen nach wie vor zwischen ihnen in der Luft.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Olivia, wie sich Bentz bis auf seine Boxershorts auszog. Ihr entging nicht, dass er leicht zusammenzuckte, als er ins Bett schlüpfte. Sie knickte ein Eselsohr in die Seite, die sie gelesen hatte, klappte das Buch zu und legte es auf den Nachttisch. »Ich will nicht mit dir streiten«, sagte sie und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. Einen Augenblick lang blieb sie ruhig liegen, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. »Ich will nicht sauer einschlafen.«

»Bist du denn sauer?«

Vom bayou wehte ein Luftzug durchs Fenster und hob die Gardinen. »Ja, ein bisschen. Und enttäuscht und … besorgt. Ich habe den Eindruck, du bist hier, doch ich kann dich nicht finden.«

Die Matratze quietschte, als er sich zu ihr drehte. »Dann such weiter«, flüsterte er ihr ins Haar, sein warmer Atem strich über ihre Haut. Eine große Hand strich über die Biegung ihrer Taille. »Gib mich nicht auf.«

»Gib uns nicht auf«, sagte sie und spürte Tränen, die in ihren Augen brannten.

»Niemals.« Seine Arme umschlangen sie, und er zog sie in der Dunkelheit an sich. Seine Lippen fanden ihre. Er küsste sie mit einer Intensität, die ihr Blut zum Kochen brachte.

Sie sollte das nicht tun, in die Sex-Falle tappen, wenn sie voller Angst wegen ihrer gemeinsamen Zukunft war. Doch seine Berührung war verführerisch wie immer, und es war tröstlich, seinen Körper zu spüren. Seine Zunge drängte sich durch ihre Zähne und spielte mit ihrer.

Tu das nicht, Livvie. Es ist nicht gut, miteinander zu schlafen, statt miteinander zu reden.

Er begann, ihr Nachthemd nach oben zu schieben, seine Finger strichen über ihre Haut. Ohne seinen Kuss zu unterbrechen, fuhr er mit seiner warmen Hand über ihre Schenkel, ihre Hüften hoch bis zur Taille.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, flüsterte sie.

»Das ist es auch nicht. Es ist eine großartige Idee.« Er zog ihr das Nachthemd über den Kopf und warf es auf den Fußboden, dann schob er sich auf sie. »Glaub nicht eine Sekunde, ich würde uns aufgeben«, sagte er und streifte seine Boxershorts ab. Ihre Fingerspitzen glitten über seine festen Pobacken und die sehnigen Oberschenkel.

Sie wollte ihm glauben. Von ganzem Herzen.

»Lass dich verwöhnen«, sagte er, und sie schloss die Augen und gab sich mit Leib und Seele seinen Berührungen hin.

Später lag sie noch lange wach. Der Deckenventilator surrte über dem Bett und wühlte die unbewegte Luft auf.

Gott, sie liebte diesen Mann. Ihr Herz schmerzte von dem Gewicht ihrer Liebe. Doch sie würde nicht zulassen, dass diese Liebe sie zerstörte.

Sie fuhr mit den Fingern durch sein struppiges Haar und lauschte seinem leisen Schnarchen. Seine Augäpfel huschten hinter den geschlossenen Lidern hin und her, sein Körper versteifte sich, seine Muskeln waren angespannt. »Nein«, sagte er laut. »Nein … oh … Gott. Stopp!«

»Schsch«, flüsterte sie. »Es ist alles in Ordnung.«

»Aufhören! Bitte! Nicht!« Er war panisch, sein Atem ging heftig. »Jennifer!« Er schrie ihren Namen, ohne aus seinem unruhigen Schlaf zu erwachen.

Olivia tat kein Auge zu.

Sein Schrei hallte in ihrem Kopf wider. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging nach unten, hüllte sich in eine flauschige Decke und streckte sich auf dem Sofa aus. Der Hund rollte sich auf ihrem Schoß zusammen, während sie aus dem Fenster auf den aufsteigenden Mond blickte.

Olivia wusste nicht, was in ihrem Mann vorging, doch sie wusste instinktiv, dass Ricks erste Ehefrau dabei war, einen Keil zwischen sie zu treiben.

Das war lächerlich. Sie hatte Bentz lange nach Jennifers Tod kennengelernt, und obwohl sie vermutete, dass er sich einen Teil der Schuld an dem tödlichen Unfall seiner jungen Frau gab – dafür, dass er lebte, während sie ihr Leben hatte lassen müssen –, schien er doch gut damit umgehen zu können.

Bis er die zwei Wochen im Koma gelegen hatte.

Irgendetwas war in diesen verlorenen Tagen vorgefallen. Rick Bentz hatte sich verändert. Was nicht ungewöhnlich war, wenn man die Umstände bedachte. Er wäre um ein Haar gestorben.

Niemand stand ein solches Trauma durch, ohne emotionale Narben davonzutragen. Es war normal, dass man sich danach zurückzog und auf sich selbst konzentrierte. Der Mann hatte dem Tod ins Auge geblickt, und Olivia hatte ihm reichlich Zeit zur Genesung gegeben, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.

Doch was zur Hölle hatte Jennifer Nichols-Bentz damit zu tun?

Sie musste eingedöst sein, denn sie stellte überrascht fest, dass am Horizont der Morgen dämmerte. Tiefe magentafarbene und lila Schatten zeigten sich am östlichen Himmel, und sie schaffte es nicht, auch nur eine Sekunde länger auf dem Sofa liegen zu bleiben. Sie hatte Kopfschmerzen und beschloss, Kaffee zu machen. Koffeinfrei, ermahnte sie sich, als sie ins Badezimmer ging und den kleinen Abfalleimer unter dem Waschbecken hervorzog.

Auf einem Haufen zusammengeknüllter Taschentücher lag ihr letzter Schwangerschaftstest, die unverkennbare Verpackung, der Test mit der rosafarbenen Linie, die ein positives Ergebnis anzeigte, denn ja, in der Tat, Olivia Bentz war schwanger.

[home]

3.

Hilf mir!« Jennifers Stimme klang so deutlich wie beim letzten Mal, als er sie lebend gesehen hatte. »Rick … hilf mir.« Sie lag im Auto, das Gesicht blutüberströmt, reglos. Und trotzdem hatte er ihre Stimme gehört.

»Das wird schon wieder«, sagte er und versuchte, zu ihr zu gehen, aber seine Beine waren schwer wie Blei, als stecke er in Treibsand fest. Je mehr er sich anstrengte, an sie heranzukommen, desto weiter entfernt war sie. Ihr Gesicht löste sich vor ihm auf.

Plötzlich öffnete sie die Augen.

»Es ist deine Schuld«, sagte sie, während sich das Fleisch von ihrem Schädel abschälte und nichts übrig blieb als nackter Knochen und Augen, die ihn vernichtend anblickten. »Deine Schuld.«

»Nein!«

Bentz riss die Augen auf und stellte fest, dass er im Bett lag. Allein. Sein Puls galoppierte dröhnend in seinem Kopf. Draußen, am Ende der Zufahrt, hörte er das Rumpeln eines Geländewagens, dann das Klappern von Mülltonnen.

Wie viel Uhr war es?

Die Sonne brannte durch die Fenster, und er blickte auf die Uhr. Nach neun. Endlich hatte er mal geschlafen. Unruhig, aber lange. Er rieb sich das von Bartstoppeln übersäte Kinn und versuchte, den Alptraum von Jennifer aus seinem Hirn zu verbannen.

Olivia war bereits aufgebrochen.

Weil sie noch ein Leben hat.

Er ballte zornig die Faust, dann streckte er die Finger langsam wieder aus.

Zum Teufel mit deinem Selbstmitleid, Bentz. Diese Armer-bemitleidenswerter-Kerl-Masche wird langsam langweilig.

Er gab sich einen Ruck, ging zur Toilette, dann humpelte er nach unten, wo noch Kaffee auf der Warmhalteplatte stand. Olivia hatte keine Nachricht hinterlassen, aber er wusste, dass sie sich mit einer Freundin traf, einer Frau, die mit ihr im Laden arbeitete. Olivia und Manda hatten eine feste Verabredung zu Milchkaffee, Beignets und einem Schwatz im Café Du Monde in der Decatur Street. Sie lasen die Zeitung und beobachteten die Passanten, während sie an einem der Tischchen draußen saßen und an ihren dampfenden Tassen nippten.

Bentz schenkte sich einen Kaffee ein, ließ Hairy S. raus, der schnuppernd am Rand der Veranda entlanglief, und starrte ins Dickicht hinter dem Garten, wo ihm vor wenigen Tagen Jennifer erschienen war.

Er hatte sie gesehen, da war er sich sicher, zumindest aber jemanden, der ihr so sehr ähnelte, dass es ihm den Atem verschlug.

Natürlich war sie nicht wirklich dort draußen gewesen. Er hatte die Stelle, an der sie zwischen den bleichen Stämmen zweier Sumpfzypressen gestanden hatte, überprüft. Auf dem Boden hatte er keine Fußabdrücke gefunden, nicht die kleinste Spur, die darauf hindeutete, dass tatsächlich jemand dort gestanden hatte, obwohl er beim Leben seiner Tochter hätte schwören können, seine erste Frau dort gesehen zu haben. Ex-Frau. Zum Zeitpunkt ihres Todes waren sie nicht mehr verheiratet gewesen.

Wenn sie wirklich bei diesem merkwürdigen Unfall ums Leben gekommen war.

Bentz hatte immer vermutet, dass der »Unfall« für Jennifer eine Art Flucht bedeutet hatte, obwohl ein Selbstmord eine verdammt unschöne Weise war, auf eine schwierige Situation zu reagieren.