Messerscharfes Stift - Peter Lerchner - E-Book

Messerscharfes Stift E-Book

Peter Lerchner

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Beschreibung

Wieder einmal geschieht ein Mord in der sonst so verschlafenen Provinzstadt Mühldorf am Inn. Die alleinerziehende Mutter Moni Beck ermittelt zusammen mit ihrem Schulfreund Werner Huber. Obwohl Werner nicht begeistert darüber ist, dass Moni sich in die laufenden Ermittlungen einmischt und sich dabei in ernsthafte Gefahr begibt, trägt sie durch ihren Scharfsinn dazu bei, wichtige Indizien aufzudecken. Was hat das Seniorenheim Vitus-Stift mit der heimtückischen Ermordung der Altenpflegerin Gerlinde Lehner zu tun? Wer hatte ein Interesse an ihrem Tod und welches Geheimnis konnte sie kurz vor ihrem Tod lüften?Diesen Fragen wollen Moni und Werner auf den Grund gehen. Dabei stoßen sie auf Widerstände, zwielichtige Machenschaften und Vertuschung. Wird noch ein weiterer Mord geschehen, um das Geheimnis nicht an die Öffentlichkeit zu bringen?

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Ähnliche


 

 

 

Messerscharfes Stift

 

Ein bayrischer Provinz-Krimi

 

 

 

von

Peter Lerchner

 

 

 

 

 

 

 

Scholastika Verlag

Stuttgart

 

 

 

Erschienen im Scholastika Verlag

Rühlestraße 2

70374 Stuttgart

Tel.: 0711 / 520 800 60

 

www.scholastika-verlag.com

E-Mail: [email protected]

 

Zu beziehen in allen Buchhandlungen,

im Scholastika Verlag und im Internet.

 

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2022 Scholastika Verlag, 70374 Stuttgart

ISBN 978-3-947233-71-7

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-947233-68-7

Lektorat: Claudia Matusche

Coverbild: Ann-Cathrin Ruatti

Druck: BookPress

eBook-Entwicklung:

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog

1. Max Nachreiner

2. Moni Beck

3 Vitus-Stift

4 Vuran Bekeli

5 Kalle Schmidt

6 War Room

7 Moni Beck

8 Gottfried Staller

9 Hermine Benkert

10 Vuran Bekeli

11 Silvie Gschwendtner

12 War Room

13 Millirahmstrudel

14. Frühlingsfest

15. Vuran Bekeli

16. Hermine Benkert

17. War Room

18. Moni Beck

19. Gottfried Staller

20. War Room

21. Moni Beck

22. Ernst Reichenberger

23. Heinz

24. Heinz Damoser

25. Vitus-Stift

26. Bert Haigermoser

27. Linus Krinner

28. Ernst Reichenberger

29. Moni Beck

30. Werner Huber

31. Vuran Bekeli

32. Moni Beck

33. Matthias (Hias) Weinzirl

34. Werner Huber

35. Das Geheimnis

36. Werner Huber

37. Moni Beck

Epilog

Personenverzeichnis

Rezept für einen Millirahmstrudel

Danksagung

Vorwort

 

Dies ist nun der zweite und, so Gott will, auch nicht der letzte Teil der Krimireihe mit Moni Beck und dem Polizisten Werner Huber, die zusammen schon den Blumentopfmörder entlarvt und zu Fall gebracht haben. Seien Sie unbesorgt, wenn Sie den ersten Teil (noch) nicht kennen. Sie können in diese Geschichte ohne weitere Vorkenntnisse einsteigen.

Als Kulisse dient das oberbayerische Mühldorf mit seinem Charme und seiner Provinzialität und der Kenner des Schauplatzes kann einen möglichen Bezug zur Realität herstellen. Jedoch ist jede Ähnlichkeit der handelnden Personen mit Lebenden oder Verstorbenen natürlich wieder rein zufällig. Nicht nur die Menschen, sondern auch so manches Detail sind frei erfunden.

Hauptfigur ist wieder Moni Beck, eine alleinerziehende Mutter, die mit ihren beiden Sprösslingen und ihren Alltagssorgen zurechtzukommen versucht. Unterstützt wird sie von ihrem langjährigen Schulfreund Werner Huber. Moni hat ein Faible für Kriminalfälle entwickelt, welches sie gerne, wenn auch unerwünschterweise, in die aktuellen Ermittlungen von Werner einbringt.

Diese spannende Geschichte soll auch – vor dem Hintergrund des Lebens in einer Kleinstadt – das eine oder andere Mal zum Lachen anregen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen!

 

Prolog

 

Der Frühling hatte bereits begonnen, der kahlen, weißgrauen Winterlandschaft einen Hauch von Lindgrün zu verleihen. Und dass der Winter nun endgültig kapituliert hatte, das konnte man nicht nur an den bereits treibenden Knospen der Pflanzen und den vereinzelt blühenden Schneeglöckchen in den Inn-Auen erkennen. Nein, auch daran, dass die Tage wieder länger wurden und die Tagestemperaturen wieder deutlich zweistellige Pluswerte erzielten. Das war auch der Grund, weshalb Gerlinde Lehner ihren Weg zur Arbeit seit ein paar Tagen wieder mit dem geliebten Fahrrad zurücklegte.

Gerlinde übte ihren Beruf als Altenpflegerin aus Berufung aus – wie sie gerne zu sagen pflegte. Sie konnte sich nichts anderes vorstellen, als den Menschen, die ihr ganzes Leben in der Gesellschaft in den unterschiedlichsten Funktionen und Berufen gewirkt hatten, nun ihren Lebensabend so angenehm wie möglich zu gestalten. Denn gerade alte Menschen, die wegen ihrer schlechten körperlichen oder geistigen Verfassung ihr Leben nicht mehr alleine bewältigen konnten, hatten es ihr besonders angetan. Das Vitus-Stift, in dem sie arbeitete, war eine Einrichtung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, alten Menschen mit den genannten Einschränkungen in den letzten Jahren ihres Lebens ein Zuhause zu bieten. Und zwar ausschließlich denjenigen, die keine Angehörigen mehr hatten.

Dr. Alexander Vitus, ein ehemaliger Industrieller der Mühldorfer Stadtgeschichte, hatte einen Großteil seines Vermögens in diese Stiftung eingebracht. Die Idee dazu hatte ihm vor langer Zeit, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, bei einem Spaziergang am Inn-Ufer eine Begegnung mit einem alten Mann geliefert. Dieser hatte aufgrund seines fortgeschrittenen Alters an erheblichen körperlichen Gebrechen gelitten, aber noch in einer alten städtischen Wohnung gehaust, die neben Schimmel- und Ungezieferbefall auch noch im ersten Stock gelegen war. Seine spärliche Rente hatte nur dazu gereicht, sich notdürftig mit Lebensmitteln zu versorgen – ganz zu schweigen von Körperpflege- und Hygieneartikeln. Er hatte keine Verwandten, auch keine Freunde oder Bekannten, die ihm ein bisschen hätten helfen können. Dr. Vitus freundete sich mit ihm an und war von der Geschichte des Mannes so gerührt, dass er in der Folge eine Stiftung gründete, um genau solchen Menschen eine Bleibe und auch die notwenige Versorgung zu bieten. So wurde dann von der Stiftung ein altes Verwaltungsgebäude erworben, saniert und umgebaut, und das Vitus-Stift zwischen den beiden Weltkriegen errichtet.

Seit mehr als fünfzehn Jahren war nun Gerlinde Lehner in dem Stift tätig und hatte sich mit den Bewohnern, aber auch mit den Kollegen und den Mitgliedern des Stiftungsbeirates immer sehr gut vertragen. Diese sehr positive Stimmung war nun leider etwas getrübt. Letzte Woche war sie durch Zufall auf etwas aufmerksam geworden, das ihr Kopfzerbrechen bereitete, und sie konnte nicht so recht glauben, was ihr da in die Hände gefallen war.

Heute ging Gerlinde nach Dienstschluss noch schnell Lebensmittel einkaufen, die sie dann in ihrem Fahrradkorb nach Hause transportierte. Mit ihren zweiundvierzig Jahren war Gerlinde eine Frau in der Mitte ihres Lebens. Ihr blonder Pagenkopf umrahmte ihr volles Gesicht und ihre runden Hüften prägten ihre frauliche Figur.

Mittlerweile dämmerte es schon und ein leichter Nebel legte sich in langgezogenen Schwaden um die Häuser der Mühldorfer Altstadt. Als sie etwas später in der Nagelschmiedgasse, einer parallel zum Stadtplatz gelegenen schmalen Seitenstraße, wo sie wohnte, von ihrem Fahrrad abstieg, war es schon richtig dunkel geworden. Mit ein paar geschickten Handgriffen entnahm sie dem Briefkastenschlitz die Einwurfsendungen und ließ sie in ihrem Einkaufskorb verschwinden. Wie immer wollte sie das Fahrrad durch einen Durchgang schieben, an dessen Ende sich ein kleiner Hinterhof und der Hauseingang zu ihrer Wohnung befanden. Aber vorher musste sie noch eine Tür aufschließen, um zum Durchgang zu gelangen. Während sie mit einer Hand mit dem Schlüsselbund hantierte, hielt sie mit der anderen Hand das Fahrrad so geschickt im Gleichgewicht, dass es nicht umstürzte. Aber in dem Moment, als sie den im Schloss steckenden Schlüssel umdrehen wollte, bemerkte sie, dass die Tür nur angelehnt war. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und stieß die Tür ganz auf. Es war gar nicht so leicht, mit dem Fahrrad in den Gang zu gelangen, da die Tür mit einer automatischen Schließvorrichtung versehen war, welche die Tür sehr schnell wieder verschloss. So musste sie die Tür erst weit aufschubsen und dann möglichst zügig durchgehen, damit sie mit dem Fahrrad nicht an der Tür hängen blieb. Aber darin war sie geübt. Dann ließ sie den Schlüsselbund in ihre Jackentasche gleiten und manövrierte das Fahrrad in den Hinterhof, wo sie ihr Gefährt in einen eigens dafür angebrachten Fahrradständer hineinschob. Mit ein paar Handgriffen befreite sie den Einkaufskorb vom Gepäckträger und ging damit in Richtung Hauseingang. Der Korb war randvoll und erst jetzt spürte sie das schwere Gewicht. Sie stellte den Einkaufskorb auf dem Boden neben dem Eingangspodest ab und fischte den Schlüsselbund aus ihrer Jackentasche. Sie bückte sich nach ihrem Korb, und als sie sich wieder aufrichtete, vernahm sie ein Knirschen im Kies hinter sich, so, als ob jemand vom Hinterhof genau auf ihren Hauseingang zuging. Sie achtete nicht weiter darauf. Aber dann, ein paar Augenblicke später, als sie gerade den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, verspürte sie unvermittelt einen Druck, der ihren ganzen Brustkorb durchdrang und gleich darauf einen stechenden Schmerz, der sich von hinten in ihren Rücken bohrte. Ruckartig ließ sie den Einkaufskorb fallen. Metallischer Blutgeschmack breitete sich in ihrem Mund aus und sie sank kraftlos vornüber zu Boden, der sich an ihrem Gesicht kalt und nass anfühlte. Der einsetzende Atemreflex wurde mit einem Röcheln erstickt. Erstaunt bemerkte sie, wie das Blut nun aus ihrem Rachen strömte und an der rechten Wange entlang zum Boden lief. Ein ersticktes, heiseres Gurgeln – und die letzten Lebensgeister entwichen ihrem Körper …

1. Max Nachreiner

 

Als Max Nachreiner vor zwei Jahren als Pensionist aus dem Staatsdienst ausschied, tat sich ihm ein neuer Lebensabschnitt auf, der alles andere als langweilig war. Seine bislang zu kurz gekommenen Hobbys – sei es der Nachmittag im Golfclub Schloss Gutenburg, seine ausgiebigen Spaziergänge entlang des Inn-Ufers oder auch seine wachsende Begeisterung für die Heimatgeschichte – konnte er nun ausgiebig pflegen. Wie viele Stunden und Tage hatte er in seinem Ruhestand schon im Stadtarchiv verbracht, um alte Urkunden und Dokumente zu sichten, die ihm weitere Einsicht in das Leben in Mühldorf vor langer Zeit gaben! Sein Ziel war es, über die Stadtgeschichte Mühldorfs ein Buch zu schreiben. Was ihm aber in seinem neuen Lebensabschnitt genauso wichtig war, waren seine Freunde. Einmal in der Woche, am Donnerstag, gab es den Stammtisch beim Berner-Wirt in Altmühldorf, und mehr oder weniger regelmäßig traf man sich beim Riccardo, dem beliebten Stadtcafé, was zugleich Eisdiele und Kommunikationszentrale war – und was man sonst noch alles an Beschreibungen finden konnte für den Ort, an dem man sich gerne traf und sich gerne aufhielt. Riccardo Beloni war der Besitzer der Eisdiele. Nicht zuletzt wegen seines Charmes war das Lokal so beliebt bei den Mühldorfer Bürgern. So waren heute der Hans Kammergruber, die Silvie Gschwendtner, der Norbert Eisenschink und Max zugegen. Aber das war nichts Außergewöhnliches. Wenn man nachmittags Riccardos Eisdiele besuchte, konnte man fest davon ausgehen, dass man mindestens einen Bekannten dort vorfand, mit dem man einen Cappuccino oder auch ein Gläschen Weißweinschorle trinken konnte. Und so war es heute eben auch. Die vier fingen am Nachmittag mit Kaffee und Kuchen an. Und dann ging’s mit Weißweinschorle weiter. Nach sechs Gläsern dieses Mischgetränks war aber für Max doch Schluss. Auch wenn dann noch der Bert Haigermoser, der Wirt vom Getreidekeller – der „In“-Gaststätte am Mühldorfer Stadtplatz schlechthin und zudem Treffpunkt zur fortgeschritteneren Uhrzeit –, auftauchte. Mit Haigermoser konnte man gut lachen, und seit der Aufklärung des gewaltsamen Todes von Erwin Haderthanner, eines Mühldorfer Geschäftsmannes, war er auch ein wenig entspannter. Haderthanner war heimtückisch ermordet worden und eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als ob auch der Bert zum Kreis der Verdächtigen gehörte. Aber das hatte sich dann doch ganz anders ergeben.

Wenn der Bert in der Runde vom Hans, der Silvie, dem Norbert und dem Max auftauchte, dann gab es – neben ein paar Gläschen – auch sehr viel Neues zu erzählen. Denn wer wusste mehr über die Geschehnisse in Mühldorf, als der Wirt einer beliebten und gut besuchten Gaststätte. Aber für heute war Schluss, zumindest für Max. Auch wenn er mit seiner stattlichen Größe von einem Meter fünfundachtzig und einem Lebendgewicht von fünfundneunzig Kilogramm durchaus genügend Masse hatte, um den Alkohol im Körper gut zu verteilen, war er heute mehr als nur beschwipst.

Als er kurz nach sieben das Lokal verließ, bemerkte er nicht erst an der frischen Luft, wie sehr ihm die Weinschorlen zugesetzt haben. Gott sei Dank hatte er bis zu seiner Wohnung in der Nagelschmiedgasse nur ein paar hundert Meter zu gehen. Dennoch fiel es ihm schwer, diesen Weg geradlinig zu bewältigen. Zudem hatte die Dunkelheit schon eingesetzt und nebelig war es außerdem. Als er dann endlich vor der Tür zum Durchgang zu seiner Wohnung stand, kramte er auf der Suche nach dem Schlüsselbund umständlich in seinen Taschen. Als er ihn dann endlich in der Hand hatte, versuchte er, von den vielen Schlüsseln den richtigen zu finden. Mit angestrengtem Blinzeln und Tasten konnte er ihn dann identifizieren. Sodann nahm er diesen Schlüssel und peilte das Schlüsselloch an. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bis er den Schlüssel direkt am Schlüsselloch hatte. Lag es am alkoholbedingten Schwanken seines Oberkörpers oder auch an der Gefühllosigkeit seiner Finger – der Schlüssel entglitt ihm und flog mitsamt dem Schlüsselbund klirrend zu Boden. Reflexartig bückte er sich und griff danach, verlor jedoch dabei das Gleichgewicht und kippte mit dem Kopf voran nach vorne. Der erwartete harte Zusammenprall mit der Tür blieb aus, weil die Tür gar nicht verriegelt, sondern nur angelehnt war. Und so gab die Tür durch den Druck seiner Körpermasse nach, Max Nachreiner flog in den Durchgang und blieb ausgestreckt dort liegen. Mühsam rappelte er sich wieder auf und musste dann feststellen, dass die Tür wieder zugefallen war. Da der Schlüsselbund aber noch draußen lag, öffnete er die Tür nochmals und ging hinaus, um ihn zu holen. Als er sich abermals danach bückte, fiel die Tür, ausgelöst durch den automatischen Schließmechanismus, wieder ins Schloss. Nachreiner stand da und das Glücksspiel „Finde das Türschloss!“ ging erneut los. Nach etlichen Anläufen gelang es ihm, es endlich aufzusperren und in den Durchgang zu torkeln. Seine Kinnpartie brannte und auch an der Schläfe spürte er ein kleines Rinnsal. An seiner Hand blieb ein Rest von Blut, nachdem er es weggewischt hatte. Den Blick immer noch auf seine Handfläche gerichtet, wankte er weiter Richtung Hauseingang, musste dann aber abrupt stehen bleiben. Was war das? Lag da vor ihm jemand mit einem Messer im Rücken? „Scheiß Alkohol! Ich trink ab jetzt keinen Tropfen mehr!“, sagte er zu sich, schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um das Bild, das er vor sich gesehen hatte, aus seinen Gedanken zu verbannen. Langsam öffnete er die Augen wieder, doch das Bild war immer noch da.

Im Nu war er stocknüchtern.

Er bückte sich mit schlotternden Knien, was aber dieses Mal mehr dem Anblick der vor ihm liegenden, offenbar toten Person als dem Alkohol geschuldet war. Er tastete sich vor und musste feststellen, dass das, was er sah, Realität war. Nun waren seine Sinnesorgane geschärft und er erkannte, dass die vor ihm liegende Person keine andere als seine Nachbarin, die Gerlinde Lehner, war. Und in ihrem Rücken steckte ein mittelgroßes Küchenmesser!

Ein Griff zur Halsader und das Fehlen von etwaigen Atemgeräuschen verrieten ihm, dass Gerlinde Lehner mausetot war.

Er sah sich um. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Sein Puls raste, seine Atmung war schnappartig, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er jetzt funktionieren musste. Ein Blick nach oben verriet ihm, dass im zweiten Stock, bei der Frau Hoffmann, Licht brannte. Er rappelte sich auf, ging zur Haustür und läutete bei Frau Hoffmann Sturm. Nachdem diese – der Gehörsinn von Frau Hoffmann war bekanntlich nicht mehr so gut ausgeprägt – ihn dann endlich gehört hatte, nahm sie seine Anweisung, nämlich sofort einen Notruf abzusetzen, gar nicht mehr wahr und kam stattdessen heruntergerannt. Die Neugier hatte sie dann doch zuerst in den Hof geführt. Beim Anblick der Toten fiel sie sofort in Ohnmacht – und Max hatte nun zwei Frauen vor seinen Füßen liegen. Er fluchte. Ein paar unsanfte Schläge ins Gesicht von Frau Hoffmann brachten sie wieder ins Bewusstsein zurück. Aber mit ihr war trotzdem nichts anzufangen. Geschockt saß sie nur da und wimmerte.

Es half nichts, Max musste nun selbst den Notruf absetzen und dazu in seine Wohnung hochgehen. Dort lag sein Handy, das er heute in der Wohnung hatte liegen lassen. Er schleppte sich mit seinem Alkoholpensum in seine Wohnung in den zweiten Stock und rief die Notfallnummer an. Nach Beantwortung aller Fragen legte er auf und wartete auf das Eintreffen von Polizei und Notarzt.

Als der Polizeichef von Mühldorf, Klaus Keilhofer, mit den Herren Huber und Brucker eintraf, war Max sehr erleichtert. Im Gefolge hatte Keilhofer auch noch die Kollegen der Spurensicherung. Obwohl der Polizeichef ein sehr arroganter und selbstverliebter Zeitgenosse war, war Max trotzdem sehr froh, dass jetzt jemand hier war und er mit den beiden Frauen – die eine tot, die andere hysterisch – nicht alleine war.

Mit seinem stattlichen Bauch und seiner sonoren Stimme war Keilhofer mehr als präsent. „Brucker, jetzt sperrn’s doch amoi den Tatort ab!“, bellte Keilhofer seinen Mitarbeiter, den Eberhard Brucker, an. Das tat er zum einen, weil er der anwachsenden Zahl an Schaulustigen zeigen wollte, wer hier das Sagen hatte; zum anderen war es wirklich notwendig, das immer näher herandrängende Publikum vom Tatort fernzuhalten.

Der Huber war da der Ruhigere von den dreien; er betrachtete die Tote ausgiebig. Danach inspizierte er die Umgebung und schritt alle möglichen Winkel des Hinterhofes ab. Wozu er das tat und welche Schlüsse er daraus zog, das behielt er aber für sich.

Keilhofer dagegen war sehr laut. Jeden einzelnen Vorgang zur Sicherung des Tatortes kommentierte er so selbstbewusst, dass die umstehenden Anwohner und Passanten sofort wussten, wer hier was zu sagen hatte. Schließlich wurde ihm aber das Publikum doch zahlenmäßig zu groß, sodass er beschloss, dieses aus dem Hinterhof zu entfernen. Besser gesagt, entfernen zu lassen. In militärischem Befehlston trug er dem Brucker auf, den Hinterhof von Schaulustigen zu räumen.

Max beobachtete die Szenerie und der Brucker tat ihm fast schon leid, so wie er von seinem Vorgesetzten angeblafft wurde.

Als dann die Tote abtransportiert wurde, die Spurensicherung ihre letzten Tätigkeiten vollbracht hatte und der Tatort und die nahe Umgebung in digitaler Qualität abfotografiert worden waren, kehrte endlich wieder Ruhe in den Hinterhof ein. Lediglich ein zwei Handteller großer Blutfleck vor dem Eingangspodest erinnerte noch an das schreckliche Bild, das Max so schnell nicht vergessen würde. Nicht nur einmal war er gebeten worden zu schildern, wie er die Tote aufgefunden hatte und ob ihm irgendetwas Verdächtiges aufgefallen war. Ob der vielen Fragen und der Antworten, die er zu liefern hatte, war Max mehr als geschafft, als er dann zu später Stunde endlich in seine Wohnung hinaufgehen konnte.

Trotz Alkohol und Müdigkeit machte er die ganze Nacht kein Auge zu. Die Bilder des Tatortes, der Anblick der toten Gerlinde Lehner, die vielen Fragen, die sich ihm auftaten – all das ließ ihn nicht los. Wie konnte jemand solch eine schreckliche Tat vollbringen? Und vor allem: Wer war dazu imstande?

Fragen über Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Die ganze restliche Nacht ging er immer wieder sein furchtbares Erlebnis durch, bis ihm die Morgendämmerung signalisierte, dass er aufstehen musste.

2. Moni Beck

 

„Lisa, jetzt trödel nicht so lange im Bad herum und komm endlich zum Frühstückstisch“, fauchte Moni ihre kleine zehnjährige Tochter Lisa an. Das, was Tom, der um zwei Jahre ältere Bruder, zu wenig an körperlichem Hygieneaufwand betrieb, war bei Lisa ganz besonders zeitintensiv ausgeprägt. Wie immer werktags so früh am Morgen musste Moni Beck ihre beiden Kids antreiben, um den engen Zeitplan von Aufstehen, Morgentoilette und Frühstück so hinzubekommen, dass beide rechtzeitig den Schulbus um sieben Uhr dreißig schafften. Nicht selten war es schon vorgekommen, dass Moni dann die Kinder mit ihrem Auto zur Schule fahren musste, weil der vorgegebene Zeitplan dann doch nicht eingehalten werden konnte.

Moni und ihre beiden Sprösslinge wohnten in Mössling, dem nordöstlichen Stadtteil von Mühldorf. Dort lebten sie in einem Zweifamilienhaus, das dem kinderlosen Ehepaar Wastl und Emmi Reichgruber gehörte. Die Reichgrubers wohnten im Erdgeschoss und Moni im ersten Stock darüber. Zu Beginn des Mietverhältnisses war alles ganz harmonisch gewesen und Moni hatte sich mit den Reichgrubers sehr gut unterhalten können. Oft war sie in einer lauen Sommernacht auf der Terrasse der Reichgrubers gesessen und hatte so herrlich über die Mühldorfer „Prominenz“ gelästert. Und weil Moni durch ihre berufliche Tätigkeit am Stadtplatz auch sehr viel Kontakte hatte, war sie häufig in die aktuellen Geschehnisse und Skandale aus erster Hand eingeweiht und konnte den entsprechenden Gesprächsstoff in die Terrassenabende einbringen. Dieses gute Verhältnis zu ihren Vermietern hatte sich allerdings in letzter Zeit sehr stark verändert. Weil die heranwachsenden Geschwister in ihrem Verhalten nicht immer den Vorstellungen der Vermieter entsprachen, gab es immer wieder Diskussionen und Vorwürfe um Monis Erziehung. War es die Lautstärke der Musik, die nicht ordnungsgemäß abgestellten Fahrräder oder aber das zurückhaltende Grußverhalten von Tom und Lisa – es gab häufig Beschwerden, die Moni schon sehr an die Substanz gingen.

Und jetzt musste sie Lisa zum wiederholten Male ermahnen, doch zum Frühstück zu kommen. Tom hatte längst sein Müsli vertilgt und las WhatsApp-Nachrichten auf seinem Handy.

„Lisa, wenn‘st jetzt ned sofort kommst, dann kannst dei Frühstück vergessn!“, kam die ultimative Aufforderung von Moni.

Nun kam Lisa aus dem Bad. Ihre dunkelblonden Zöpfe sahen deshalb so zerpflückt aus, weil nach jedem zweiten Knoten Haarsträhnen heraushingen. Da Lisa Locken hatte, sah man mehr Gestrüpp als geflochtene Knoten.

Als Tom kurz aufblickte, konnte er ein Lachen nicht unterdrücken und auch Moni musste beim Anblick von Lisas selbst gestylter Haarkreation schmunzeln.

Lisa fing zu heulen an und machte sofort wieder kehrt in Richtung Badezimmer.

„Halt, hiergeblieben, Lisa! Komm, jetzt setz‘d dich erst mal hin und frühstückst. Und ich mach mich derweil mal an deine Haare und werd‘ dein Kunstwerk zu Ende zu bringen“, versuchte Moni die Situation in den Griff zu bekommen.

Es brauchte ganze fünfzehn Minuten, bis die Haare den Zustand hatten, dass Lisa – ohne Gefahr zu laufen von ihren Mitschülerinnen verspottet zu werden – in die Schule gehen konnte.

Als dann Lisas Frisur saß und Tom seine Handy-Nachrichten gelesen und teilweise schon beantwortet hatte, machten sich die beiden auf zur Schulbushaltestelle.

Für Moni begann nun ein Zeitfenster, das ihr ein kurzes Durchatmen bescherte. Als alleinerziehende Mutter musste sie sich neben dem Einkommenserwerb auch um alles andere – also um die Kindererziehung, die Betreuung und den Fahrdienst zu und von Freunden und Sportstätten – kümmern. Da blieb für sie selbst nur wenig Zeit. Und ganz besonders am Morgen war auch ihr persönlicher Zeitplan sehr eng gesteckt. Da ihre Arbeitszeit in Hoymeyers Buchladen in der Mühldorfer Altstadt erst um halb neun begann, hatte sie, abzüglich zehn Minuten Fahrzeit zum Parkplatz am Stadtwall und fünf Minuten Gehweg zum Buchladen eine knappe Dreiviertelstunde Zeit, die Betten zu machen, die Waschmaschine zu befüllen, den Geschirrspüler einzuschalten, sich angemessen zu schminken und die Wohnung notdürftig aufzuräumen. Moni verblieb heute aber noch etwas Zeit, ihre lockigen rötlichen Haare in Ordnung zu bringen. Der kurze Blick in den Spiegel rang ihr jedoch kein Lächeln ab, da sie mit ihren Einmetervierundsechzig doch knapp zweiundsiebzig Kilo wog, was sie an ihren Hüften deutlich sehen und an der Hose, in die sie sich nur mit großer Mühe hineinzwang, spüren konnte. Sie verzog den Mund, verließ ihre Wohnung, setzte sich in ihren Seat Ibiza und drehte den Zündschlüssel um. Nach einem langen, kalten Winter reichte der Saft der Batterie, die schon im Herbst nicht mehr die beste gewesen war, gerade so, dass der Motor nach mehrmaligen quälenden Anlasserumdrehungen unrund ansprang.

Im Buchladen sperrte sie die Eingangstür auf und trug die Zeitungen und Zeitschriften, die der Nachtkurier abgeliefert hatte, in den Laden. Wie jeden Morgen verstaute sie die Tageszeitungen im Zeitungsständer direkt am Eingang, und die übrigen Lieferungen stellte sie im hinteren Bereich der Buchhandlung ab. Wilhelm Hoymeyer, der Ladenbesitzer, wollte diese dann zumeist selbst in die Regale verfrachten bzw. entscheiden, welches Lesematerial zunächst einmal im Lager landete.

Als Moni um neun Uhr den Laden öffnete, kamen schon die ersten Kunden hereingestürmt.

„Und, steht scho was in der Zeitung?“, fragte Erika Grahammer, eine bekannte Mühldorfer Stadtratschn, und drängelte sich vor. Die Rentnerin war trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch rüstig, und so konnte man sie sehr oft in der Mühldorfer Altstadt sehen. Die Grahammerin, wie sie von den alteingesessenen Mühldorfern genannt wurde, war eigentlich ein seltener Kunde im Buchladen, da sie die örtliche Tageszeitung, das Mühldorfer Tagblatt, abonniert hatte. Nur in den äußerst seltenen Fällen, in denen die Tageszeitung nicht ausgeliefert wurde oder jemand sie aus ihrem Briefkasten entwendet hatte, holte sie sich die Zeitung aus der Buchhandlung.

„Was soll in der Zeitung stehn?“, wollte Moni wissen.

„Ja des mit der Lehner Gerlinde, de’s gestern abgstochn haben!“, war dann prompt die Antwort.

Da riss Moni Mund und Augen auf.

Der Bert Haigermoser, der Wirt vom Getreidekeller, der sich auch gerade in der Buchhandlung aufhielt, reagierte sofort. „Hey Grahammerin, geht’s vielleicht a bissal pietätsvoller? De Lehner Gerlinde war ein Mensch und koa Viech!“, blaffte er sie an.

Die übrigen Kunden im Laden begannen nun, laut durcheinander zu sprechen.

Moni hatte sich inzwischen wieder gefasst und setzte der lautstarken Unterhaltung im Buchladen ein jähes Ende. „Ja geht’s no!? Wir san hier in einer Buchhandlung und ned im Wirtshaus. Wenn’s was kaufen möcht’s, dann bediene ich euch gern, aber ansonsten macht’s bitte den Laden frei!“

Aufgrund dieser Maßregelung verstummte zunächst die angeregte Unterhaltung, ging dann aber sofort in ein Murmeln über. Über den gewaltsamen Tod von Gerlinde Lehner wurden erste Mutmaßungen angestellt.

Obwohl Moni neugierig die Ohren spitzte, konnte sie nicht alles in Erfahrung bringen, was sich da am Tag zuvor ereignet hatte.

Als sich die Mühldorfer Morgengesellschaft beruhigt und jeder seinen Lesebedarf erworben hatte, lichteten sich die Reihen wieder. Nachdem der letzte Wissbegierige den Laden verlassen hatte, entdeckte Moni an der Tür den Werner Huber, ihren Schuispezl und Polizeioberwachtmeister in der Polizeidienststelle Mühldorf. Mit seinen dunkelblonden vollen Haaren und seiner stattlichen Größe von eins fünfundachtzig war er ein gestandenes Mannsbild, wie die Bayern zu sagen pflegen. In der einen Hand hielt er eine Leberkässemmel und in der anderen etwas in derselben Größe, was in Alufolie eingepackt war. Moni vermutete, dass es sich wohl um eine weitere Leberkässemmel handelte. Weil er beide Hände voll mit der bayerischen Grundnahrung hatte, tat sich Werner schwer, die Tür gegen den Druck des automatischen Türschließers zu öffnen.

Moni eilte ihm entgegen, um ihm beim Öffnen der Tür behilflich zu sein. Und das nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch aus Sorge, weil so eine fettige Leberkässemmel den Teppichboden ganz schön versauen konnte.

Werner war Monis bester Freund, den sie schon von Kindesbeinen an kannte. Sie hatten schon damals miteinander einige Streiche ausgeheckt, die Moni ihren beiden Kids bislang vorsorglich verschwiegen hatte. Auch sonst war Werner für sie da. Wenn sie mal für ein Date ausgehen wollte, passte er gerne auf Lisa und Tom auf. Was übrigens ihre beste Freundin, die Angelika Weiher, auch für sie tat. Wenn Werner auf die Kinder aufpasste, war die Wohnung meistens schon nach nur wenigen Stunden in solcher Unordnung – weil er mit ihnen das machte, was Moni ihnen in ihrer Anwesenheit untersagte –, dass Moni im Zweifel dann lieber doch auf Angelika zurückgriff.

Nichtsdestotrotz verband sie mit Werner eine sehr gute Freundschaft. Sein Beruf machte ihn für Moni besonders interessant, weil Moni ein ausgesprochenes Faible für Kriminalfälle hatte. Da in Mühldorf die Verbrechensquote überschaubar war, konnte sie ihr Hobby am Fernseher, im Kino oder mit Büchern ausleben. Und wenn sich dann doch etwas in Mühldorf ereignete, war es um Moni geschehen.

Werner wusste dies und war das eine oder andere Mal nicht ganz so glücklich über Monis Neigung. Nicht nur einmal hatte sich Moni dadurch, dass sie in Konkurrenz zur Polizei ermittelte, selbst in große Gefahr begeben. Werner mochte Moni aber dennoch. Und ab und an half ihm Moni durch ihren Scharfsinn bei seiner Polizeiarbeit tatsächlich. Aber das wollte er Moni gegenüber nicht so leicht zugeben.

Werner war noch mit dem Kauen seiner ersten Leberkässemmel beschäftigt, sodass er das Bombardement von Monis Fragen gar nicht beantworten konnte.

„Was war da jetzt gestern los mit der Gerlinde Lehner? Warst du da dabei bei der Tataufnahme? Gibt’s scho Hinweise auf den Täter?“

Werner schüttelte nur den Kopf und deutete an, dass er den Mund voll hatte.

Aber Moni war gnadenlos. „Komm, iss a bissal schneller und lass mi ned so betteln!“, insistierte Moni.

„Lasch mi doch erscht amoi runtereschn!“ Werner kämpfte mit dem letzten Bissen in seinem Mund, den Blick auf die verpackte zweite Leberkässemmel gerichtet, die er auf dem Verkaufstresen abgelegt hatte.

Moni bemerkte dies sofort und nahm ihm die Hoffnung auf den weiteren Genuss der mitgebrachten Brotzeit. Sie schob die verpackte Leberkässemmel so weit auf dem Tresen in Richtung Kasse, dass sie aus Werners Reichweite war. „Nix da, jetzt wird gredt!“

Missmutig begann also Werner zu erzählen: „Ja, gestern Abend sind wir vom Notruf verständigt wordn, dass eine Frau Opfer einer Gewalttat gwordn is. Dann sind wir dort hingfahrn und ham die Gerlinde Lehner mit einem Küchenmesser im Rücken dort liegen gsehn. Offenbar hat ihr des jemand ohne Vorwarnung von hinten so reingstochn.“ Er berichtete ihr auch, dass Max Nachreiner Gerlinde Lehner gefunden hatte, und was er am Tatort so gesehen und gehört hatte. Werners Blick fiel auf seine Leberkässemmel und er machte Anstalten, an Moni vorbeizugehen und sich die Semmel zu schnappen.

Da hatte er aber nicht mit Moni gerechnet. Sie verstellte ihm demonstrativ den Weg und fuhr mit ihrem Verhör fort. „Und wer hat den Notruf dann abgsetzt?“

„Ja, ihr Nachbar, der Max Nachreiner. Der war auch ganz schön gschafft, und die Frau Hofmann, ebenfalls a Bewohnerin von dem Haus, in dem die Lehner Gerlinde gwohnt hat, war völlig neben der Spur und hat nur gjammert und gwimmert. De war zeitweise gar ned ansprechbar. Die Rettungssanitäter ham sie mitgnommen, damit sie sich im Krankenhaus von dem Schock erholen kann.“

„Warum is de Lehner so heimtückisch ermordet wordn?“, überlegte Moni laut.

„Soweit wir des feststellen konnten, is sie ned ausgraubt wordn.“

„Hm … ich hab die Lehner Gerlinde nur vom Sehen her gekannt, aber meine Mama is … Ich mein, sie war mit ihr im Yoga-Kurs. Ich muss sie mal fragen, ob sie mir was zur ihr sagn kann!“, nahm sich Moni vor.

Werner, der nun der Meinung war, dass er sich die Leberkässemmel redlich verdient hatte, griff dann doch auf die bayerische Spezialität zu und machte sich daran, sie auszupacken. Gerade als er genüsslich zu seinem ersten Bissen ausholte, kam Wilhelm Hoymeyer, der Ladenbesitzer, zur Tür herein.

„Du Werner, dei Leberkässemmel kannst a draußn essen, ned dass du mir die Ladentheke versaust!“, wies ihn Moni an.

Hoymeyer nickte Moni zustimmend zu und begrüßte die beiden mit einem „Guten Morgen“.

Werner sah Moni beleidigt an und begab sich mit seiner Semmel grußlos in Richtung Ausgang.

„Werner, du hast dei Leberkäsverpackung liegen lassen“, rief ihm Moni nach.

Werner drehte sich um, schritt energisch auf die Ladentheke zu, nahm wortlos die Alufolie und machte zum zweiten Mal kehrt in Richtung Ladenausgang.

„Servus Werner“, rief ihm Moni noch hinterher, aber da war Werner schon in den Mühldorfer Arkaden verschwunden.

Die Mühldorfer Altstadt hatte einen mittelalterlichen Kern, dessen Häuser festungsartig eng aneinandergebaut waren. Sowohl die Gebäude auf der Innseite als auch die auf der Stadtwallseite waren jeweils zur Stadtplatzmitte hin mit Arkadengängen versehen, die der Stadt einen einzigartigen und liebenswürdigen Eindruck verschafften. Nahezu in allen Häusern waren im Erdgeschoß Ladengeschäfte, vornehmlich Boutiquen, Kaufhäuser für Herren- und Damenoberbekleidung, Wäschegeschäfte, Eisdielen, Cafés und Buchläden.

Werner schlenderte die Arkaden entlang und aß seine Leberkässemmel. Kurz vor Riccardos Eisdiele blieb er stehen und steckte sich das letzte Stück in den Mund.

Vor der Eisdiele stand sein Freund, der Hias. Mit ihm, Martl und Stefan ging Werner seinem regelmäßigen Stammtisch nach. Die vier trafen sich jeden Sonntag um zehn Uhr beim Berner Wirt in Altmühldorf zum Frühschoppen. Nicht selten passierte es, dass die Gesellschaft erst spätnachmittags mehr oder minder leicht beschwipst oder auch schon mal im Vollrausch nach Hause ging.

„Ja servus Hias! Was machst denn du so am helllichten Tag, wenn andere arbeiten, am Stadtplatz?“, wollte Werner wissen.

„Desselbe wie du auch, a Leberkässemmel hab i mir kauft! Und jetzt gehts wieder an die Arbeit!“, rechtfertigte sich Werners Freund. „Du, Werner, was war des da gestern mit der Lehner Gerlinde? Hams de wirklich auf d’Seitn gräumt?“

„Ja, scho! Aber mehr darf i dir ned sagen; wir san no mitten in de Ermittlungen!“

„De im Stift san heid ganz sche aufbracht gwesn. Weißt, i hab grad mei Baustelle dort, weil de den oberen Trakt renovieren lassn und i mach de Elektroinstallation“, informierte Hias den Werner.

„Du Hias, wie meinst des jetzt mit ’aufbracht‘?“

„I hab glei in der Früh um siebene mit der Arbeit angfangn und da war auch scho der Stiftungsbeirat, der Staller Gottfried, der Stiftungsvorstand, der Linus Krinner, und der Verwalter, der Reichenberger Ernst, im Hause und hattn angeblich a Krisensitzung.“

„Aha, dann werd ich doch mal dem Stift einen Besuch abstatten!“, sprach Werner mehr zu sich als zu seinem Kumpel. „Hias, wennst irgendetwas in Erfahrung bringst oder du was mitkriegst, was für uns interessant sein könnt, dann informier mi bitte!“, bat er ihn noch, bevor jeder wieder seiner Arbeit nachging.

3. Vitus-Stift

 

Werner fuhr zurück zur Dienststelle, in der bereits sein Vorgesetzter, Klaus Keilhofer, für zehn Uhr eine Dienstbesprechung im „War Room“ einberufen hatte. Diese Bezeichnung hatte er dem Zimmer nach dem Besuch eines Seminars für obere Führungskräfte an der Polizeiakademie gegeben. Die Kollegen – außer Eberhard Brucker, versteht sich – frotzelten immer ein wenig über diese Namensgebung, indem sie den Anglizismus wie „Warum“ aussprachen. Keilhofer pflegte sie dann zu verbessern und führte die sprachliche Entgleisung auf mangelnde Fremdsprachenkenntnisse zurück.

Am Treiben in den Gängen merkte Werner, dass eine andere Stimmung herrschte als an „normalen“ Tagen. Er wollte sich aber von dieser morgendlichen Betriebsamkeit nicht anstecken lassen und verzog sich stattdessen in sein Büro. Dort checkte er erst einmal seine E-Mails und las dann noch im Internet die ersten Berichterstattungen zum Fall Gerlinde Lehner. Kurz nach zehn – Werner hatte die Zeit ganz übersehen – war es dann so weit und er begab sich zum War Room.

Die Kollegen waren bereits anwesend. Keilhofer hatte sogar Cindy, die Sekretärin und „gute Seele“ der Polizeidienststelle, mit dazu genommen. Cindy war eine hübsche blonde junge Frau, die Seelentrösterin, Arbeitstier und Kumpel in sich vereinte. Mit ihrer allzeit guten Laune steckte sie nahezu alle Kollegen – Keilhofer meistens ausgenommen – an.

Eberhard Brucker, der Kollege, mit dem Werner tags zuvor zum Tatort gerufen worden war, und Heinz Damoser, ein bereits älterer Polizeibeamte, sahen Werner entgegen.

„Aha, der Herr Huber gesellt sich nun auch schon zu uns!“, wurde Werners Erscheinen von Keilhofer kommentiert. Doch dann ging er sofort zur Tagesordnung über. „Meine Herren, sehr verehrtes Fräulein Cindy, wir haben wieder einmal einen Mordfall aufzuklären. Ich möcht betonen, dass wir sehr umsichtig, aber auch zügig eine Aufklärung herbeiführn müssn. Der Landrat Schuster hat heut scho angrufn und möcht, dass de Gschicht’ bald aus der Presse is. Er meint, des schad’t seinem Wahlkampf, wenn der Landkreis ned sicher is!“, versuchte er die Mannschaft auf die Arbeit einzustimmen. Daraufhin nahm er einen Folienstift und schrieb mit nahezu unleserlicher Schrift den bisher bekannten Ablauf der Tat chronologisch auf das Flipchart.

„Was wir jetzt machn müssn, is, sehr schnell in alle Richtungen zu ermitteln“, fuhr er fort und verteilte die Arbeitsaufräge an seine Mitarbeiter. „Huber, Sie fahrn ins Stift und erkundigen sich mal über die Lehner und machen’s sich a Bild, wie des da drin abgeht! Brucker, Sie fahrn zur Wohnung und sehn sich da um. Nehmen’s an PC oder Laptop und des ganze Elektronikzeug in Gewahrsam und lassn‘s des von unseren Spezialisten in München auswerten! Schaun’s aa, dass a Handy finden und gebn’s des aa glei mit zum Auswerten. Damoser, Sie erkundigen sich mal über des Umfeld von der Lehner. Verwandte, Freunde, Liebschaften und so weiter! Cindy, Sie schreiben mir an Entwurf von an Polizeibericht für de Zeitung, damit de Pressefuzzis ned wieder unruhig werden, wia beim Blumentopfmörder!“ Abschließend gab er eine klare Anweisung an die Anwesenden, wobei er Werner mit einem vielsagenden Blick fixierte: „Nachmittag um Punkt drei treff ma uns wieder hier, verstanden?!“

Die Kollegen verteilten sich wieder und jeder ging seinem Arbeitsauftrag nach.

Werner holte sich den Schlüssel für das Polizeifahrzeug aus Cindys Büro und fuhr in die Altstadt zum Vitus-Stift. Dort stellte er das Polizeifahrzeug direkt am Besucherparkplatz vor dem Haupteingang des Stiftes ab.

Soviel Werner wusste, war das Gebäude in der Gründerzeit erbaut, später restauriert und seitdem baulich nicht mehr wesentlich verändert worden. Direkt oberhalb des Innufers gelegen, ermöglichte es den Bewohnern mit Zimmer zur Flussseite einen Blick auf den Inn und auf das südliche Mühldorf. Der Bau war bereits in die Jahre gekommen, was an der bröckelnden Fassade, dem verblassten Außenanstrich und dem verwitterten Eingangsportal zu erkennen war.

Als sich Werner im Inneren befand, konnte er feststellen, dass auch hier eine Restaurierung dringend notwendig war. Aus den Klopf- und Bohrgeräuschen, die von den oberen Stockwerken kamen, konnte er schließen, dass man damit bereits begonnen hatte.

Am Empfang saß eine ältere Dame, die in einer Frauenzeitschrift blätterte. Ihr hageres Gesicht, ihre Hakennase und ihr graues, strähniges Haar erinnerten Werner an die Hexe von Hänsel und Gretel. Erst als Werner sich laut räusperte, blickte sie kurz hoch, um sich aber dann gleich wieder eingehend ihrer Lektüre zu widmen.

„Hören Sie, mein Name ist Werner Huber, Polizeioberwachtmeister von der Polizeidienststelle Mühldorf!“ Mit vorgehaltenem Dienstausweis und deutlich lauterer Stimme versuchte Werner, sich die notwendige Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Ich hätte gerne mit der Leitung des Stifts gesprochen!“

Ohne ihn anzusehen und den Blick unbeirrt auf das Boulevardblatt gerichtet, antwortete sie gelangweilt: „Den Gang links hinunter und die vorletzte Tür rechts.“

Werner folgte der Anweisung und blieb vor besagter Tür stehen. Ernst Reichenberger, Verwalter, stand auf dem Türschild. Werner machte sich mit einem kräftigen Klopfen bemerkbar und öffnete – ohne eine Antwort abzuwarten – die Tür. Er trat in einen großzügigen Raum mit riesigen Fenstern, die einen herrlichen Ausblick auf das Inn-Ufer boten.

Das Zimmer war leer und Werner sah sich um. Die verschnörkelte Nussbaummöblierung und die mit bereits brüchigem Leder überzogenen Sessel stammten womöglich aus derselben Zeit, in der das Gebäude errichtet worden war. Werner drehte sich um, verließ den Raum und ging wieder zu der Dame am Empfang.

„Der Herr Reichenberger ist nicht in seinem Büro, wo kann ich ihn sonst noch finden?“, sprach er die immer noch in ihre Zeitschrift versunkene Dame an.

Diese blätterte demonstrativ eine Seite um und ließ sich besonders lange Zeit, bevor sie Werner erstmalig ins Gesicht schaute. „Was weiß ich? Müssen’s halt oben nachschauen. Vielleicht is er auf der Baustelle.“ Daraufhin wandte sie sich wieder ab und signalisierte Werner damit unmissverständlich, dass er wieder gehen konnte.

Werner sah sich um und ging Richtung Treppenhaus, das bis zum Dachgeschoß offen war. Er stellte sich in die Mitte des Aufgangs, sodass er von dort aus bis ganz nach oben blicken konnte. Aber außer Staubwolken konnte er nichts ausmachen. Also fing er an zu rufen: „Herr Reichenberger! Herr Reichenberger!“ Aber offenbar konnte ihn dort oben niemand hören. Gerade wollte er den staubigen Weg die Treppe hoch antreten, als von oben jemand rief: „Hey Werner, was treibt di denn da her?“

Werner legte den Kopf in den Nacken, blickte hoch und erkannte sofort das Gesicht seines Freundes Hias. „Ermitteln. Ermitteln tu i, des kannst dir doch denken! Is da oben aa da Chef von der Bruchbude?“

„Du meinst an Reichenberger, oder? Der is irgendwo in den Zimmern unterwegs. I sag ihm Bescheid, dass er runterkommen soll!“

Werner nickte kurz und entfernte sich wieder von dem staubigen Treppenaufgang. Nach ein paar Minuten hörte er am gleichmäßigen Klacken von Schuhabsätzen, dass jemand,wahrscheinlich Reichenberger, auf dem Weg nach unten war. Tatsächlich blieb dieser kurz darauf vor Werner stehen und sah ihn fragend an. „Wollten Sie mich sprechen?“

„Ja … Griaß Gott, mein Name ist Werner Huber, Polizeihauptobermeister bei der Polizeidienststelle Mühldorf“, beantwortete Werner die Frage und hielt ihm dabei seinen Dienstausweis entgegen.

Reichenberger, der inzwischen bis auf Armeslänge auf Werner herangekommen war, entgegnete: „Reichenberger. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Ich würd mich gern mit Ihnen unterhalten, können wir in Ihr Büro gehen, wo wir ungestört sind?“ Werner schritt, ohne die Antwort abzuwarten, voraus; er kannte den Weg dorthin. Vor der Bürotür blieb er stehen, um Reichenberger den Vortritt zu lassen. Sie traten ein und der Stiftsleiter bot ihm einen Platz auf einem der Ledersessel an.

„Herr Reichenberger, es geht um Gerlinde Lehner, eine ihrer Mitarbeiterinnen“, eröffnete Werner das Gespräch, nachdem er Platz genommen hatte.

„Ja, was ist mit ihr? Warum kommt die Polizei wegen ihr zu uns?“ Reichenberger rückte unruhig auf seinem Stuhl umher.

„Gerlinde Lehner wurde gestern Abend ermordet“, konfrontierte Werner den Reichenberger gleich mit den harten Tatsachen.

„Was wurde die Frau Lehner? Ermordet? Reichenberger gab vor, schockiert zu sein, und tat so, als ob er die Situation noch gar nicht so recht begreifen konnte. „Ja, wie … wie jetzt, ist das wirklich wahr?“

Werner ließ sich mit seiner Antwort etwas Zeit, um die weitere Reaktion von Reichenberger abzuwarten. „Ja, es ist leider wahr, Herr Reichenberger. Ich dachte, das wüssten Sie bereits?“

Reichenberger strich sich mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. „Wie kommen’s darauf?“, wollte er dann wissen.

„War heut‘ Morgen ned scho a Krisensitzung?“

Ertappt wanderten seine Augen im Raum umher und die Antwort kam ein paar Sekunden zu spät, sodass Werner die Unsicherheit sofort erkannte.

„Krisensitzung … Ja schon … Also wir haben uns über die Finanzierung der Sanierung unterhalten, weil … es da zu unerwartet hohen Kosten kam, … die wir, äh … irgendwie unterbringen müssen“, haspelte Reichenberger herum.

Werner wollte dieser Thematik später noch nachgehen und notierte sich ein paar Stichpunkte dazu. „Wissen Sie, ob Frau Lehner irgendwelche Feinde hatte oder gibt es jemanden, der auf Frau Lehner ned so gut zu sprechen war?“