Messias-Maschine - Chris Beckett - E-Book

Messias-Maschine E-Book

Chris Beckett

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Beschreibung

Überall auf der Welt werden Wissenschaftler wie Ketzer verfolgt. Wer entkommen kann, flieht nach Illyria, das Mekka der Technik und des Fortschritts. Hier verliebt sich der schüchterne George in die schöne Lucy – eine hochentwickelte Roboterfrau, die keine Gefühle hat. Oder vielleicht doch? Als sich bei Lucy die ersten Anzeichen eines erwachenden Bewusstseins zeigen, weiß George, was geschehen wird: Die Behörden werden wie bei jeder anderen Maschine, die nicht mehr einwandfrei funktioniert, die Festplatte löschen. Ein ganz normaler Routinevorgang – oder doch nichts anderes als Mord? Die einzige Chance, Lucy zu retten, ist die Flucht aus Illyria in die feindliche Außenwelt …

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Seitenzahl: 352

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Chris Beckett

Messias-Maschine

Roman

Aus dem Englischenvon Jakob Schmidt

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76

Für meine Eltern. Zwei schöpferische Menschen,

die dem Leben immer wieder mit Neugier begegnen.

Ihr liegt mir beide sehr am Herzen.

[home]

Kapitel 1

Vielleicht sollte ich diese Geschichte damit beginnen, wie ich in Gesellschaft einer wunderschönen Frau über die Grenze geflohen bin. Oder ich fange mit einem Bild von mir selbst an, wie ich in einem kleinen Herbergszimmer in Griechenland Stücke menschlichen Gewebes einsammle, sie hustend und würgend in ein Hemd wickle und in meinen Koffer stopfe. (Das war zweifellos ein Wendepunkt.) Andererseits wäre es vielleicht besser, mit etwas Spektakulärerem, einer Szene im Breitwandformat zu beginnen: wie zum Beispiel mit der Maschine selbst, dem Roboter-Messias, der in Tirana den Gläubigen predigt, und mit den Zehntausenden, die an seinen Lippen hängen.

Nein, ich glaube, ich fange lieber mit einer Sommernacht an, als ich gerade 22 Jahre alt war. (Das bin ich, mit 22, wie ich draußen auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnung in Illyria City stehe, mit der Aktentasche unterm Arm …) Damals wusste ich es noch nicht, aber in jener Nacht nahm meine seltsame Reise ihren Anfang.

Ich hatte bis spät abends im Büro gearbeitet, für eine Firma namens Wort für Wort. Ich war Übersetzer und verdiente mein Geld damit, bei den zahlreichen geschäftlichen Transaktionen zu dolmetschen, die zwischen unserem außergewöhnlichen Stadtstaat auf dem Balkan und den umliegenden, feindseligen, aber verarmten Gebieten stattfanden. (Im Umkreis von zweihundert Kilometern wurden sieben verschiedene Sprachen gesprochen – und mindestens ebenso viele Religionen wurden mit Hingabe praktiziert, von denen jede einzelne für sich in Anspruch nahm, die endgültige und buchstäbliche Wahrheit über die Welt zu verkünden.) Man kam in den Genuss einiger Vorzüge, wenn man so viele Überstunden machte wie ich, aber der eigentliche Grund für meine ausgedehnten Arbeitszeiten bestand darin, dass ich sonst nichts zu tun hatte. Selbst das nächtliche Büro fühlte sich heimeliger an als die triste Wohnung, die ich mit Ruth teilte.

Ruth war meine Mutter. Ich nannte sie seit jeher Ruth. Die Vorstellung, Mutter zu sein, hat ihr nie gefallen. Ich wurde versehentlich auf einem Boot voller verängstigter Flüchtlinge gezeugt, die den Michigansee überquerten. Meine Eltern kannten einander nicht einmal, aber bei dieser einen Gelegenheit klammerten sie sich auf der Suche nach Trost aneinander fest. Ich glaube, das war der einzige Sexualkontakt, den Ruth im Erwachsenenalter jemals hatte.

»Ruth?«, rief ich, während ich die Tür öffnete.

Doch wie immer antwortete sie nicht, weil sie in ihrem SenSpace-Anzug hing und zuckend wie eine Marionette ihre elektronische Traumwelt durchstreifte. Wenn sie nicht gerade schlief oder arbeitete, schien sie praktisch nichts anderes mehr zu tun. Allmählich wurde sie ziemlich dünn, stellte ich nüchtern fest, als ich einen Blick in den SenSpace-Raum warf und sie im Drahtgeflecht zappeln sah. SenSpace-Nahrung mochte gut aussehen und sogar gut schmecken – kürzlich hatte man eine Möglichkeit gefunden, selbst Geruchswahrnehmungen zu projizieren –, aber den Magen füllte sie einem nicht.

Ich ließ mir von unserem Hausdiener, einem alten X3 namens Charlie, den wir schon seit meinen Kindertagen hatten, etwas zu essen und ein Bier bringen. Duldsam rollte er auf seinen Gummireifen in die Küche. (Es wurde immer schwieriger, ihn reparieren zu lassen, aber wir behielten ihn trotzdem. Er gehörte zur Familie, vielleicht war er sogar ihr meistgeliebtes Mitglied.) Während er mir das Essen warm machte, trat ich mit meinem Bier auf den Balkon. Wir befanden uns im fünfzigsten Stock und hatten eine hübsche Aussicht. In einer Richtung konnte man das Meer sehen, und in der anderen ließen sich die Berge Zagoriens ausmachen. Doch direkt um uns herum war alles voller Stahl- und Glastürme. Illyria City war eine Stadt der Türme, die sich die besten Techniker und Wissenschaftler der Welt als Heimstatt errichtet hatten. Für Ruth und viele andere aus ihrer Generation war sie eine Zuflucht vor den religiösen Extremisten der Reaktion.

Ich bin damals sehr einsam gewesen. Ich beherrschte acht Sprachen fließend, aber ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, und nichts zu erzählen. Ich wusste nicht, wie man es anstellte, Teil dieser Welt zu sein. Was Ruth anging: Sie wollte eigentlich überhaupt nichts sein. Wir waren beide Geschöpfe unserer Angst. Dort oben in den Stahlschluchten unserer Stadt versuchte ich, mir von den kleinen Lichtern anderer Wohnungen, die über den Abgrund zu mir herüberschienen, das tröstliche Gefühl vermitteln zu lassen, dass alles einen Sinn hätte. Ich versuchte mir einzureden, dass die blinkenden Werbetafeln im Einkaufsviertel sich an mich persönlich richteten.

Trink Coca-Cola!

Vertrau auf Microsoft!

Schau Kanal 9!

Dann rief mich Charlie zum Essen herein, und ich setzte mich vor den Fernseher und schaltete die Nachrichten ein. In Zentralasien lagen neue Religionskriege in der Luft, die Massen umströmten diese grausige Statue, aus der echtes, von den Gläubigen gespendetes Blut lief, und riefen: »Tod! Tod! Tod!« Im Heiligen Amerika, wo Ruth aufgewachsen war, beschränkten neue Gesetze das Wahlrecht auf »gottesfürchtige männliche Oberhäupter christlicher Familien« und quittierten die Verbreitung der sündhaften Evolutions-Doktrin mit der Todesstrafe.

Ich wechselte das Programm. Unser Fernseher speicherte das Gesamtprogramm der letzten vierundzwanzig Stunden auf seiner Festplatte, weshalb man vorwärts, rückwärts und seitwärts blättern konnte. Ich schaltete hin und her. Aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitte aus Filmen, aus einer Dokumentation über diskontinuierliche Bewegung in der Quantenmechanik, aus einer Sitcom …

Dann kam ich bei Kanal 9 an und war mit einem Mal wie gebannt vom Anblick einer verblüffend hübschen Frau mit wunderbar sanften Augen.

Damals wusste ich es natürlich noch nicht, aber das war Lucy.

 

Tatsächlich handelte es sich um eine Sendung über Syntecs, Roboter, die von einer Schicht lebendiger Haut bedeckt waren. Sie waren praktisch nicht von Menschen zu unterscheiden, mit einer wichtigen Ausnahme: Im Gegensatz zu den ausländischen »Gastarbeitern«, die die Arbeiterklasse unseres Stadtstaats bildeten, konnten sie wie alle anderen Roboter programmiert werden. Sie hatten keine persönliche oder kulturelle Vorgeschichte. Sie litten nicht am Virus der Irrationalität und des Aberglaubens, der die gewöhnliche, ungebildete Bevölkerung der restlichen Welt infiziert zu haben schien.

Auf lange Sicht plante die Regierung, die Gastarbeiter ganz durch Roboter zu ersetzen und damit die gefährliche fünfte Kolonne der Reaktion aus unserer Mitte zu tilgen. Tausende von menschlichen Arbeitern – Griechen, Türken, Araber, Albaner, Russen, Inder, Filipinos – waren bereits fortgeschickt worden. Natürlich waren die meisten der Roboter, die ihre Aufgaben übernahmen, bestenfalls mit einer Plastikhaut ausgestattet, und viele wiesen keine echte Ähnlichkeit zu menschlichen Wesen auf. Doch die Syntecs waren eigens entwickelt worden, um die Dienstleistungen zu erbringen, für die es nach allgemeiner Einschätzung eine »menschliche« Note brauchte. Die Reichen schafften sich beispielsweise Syntec-Hausdiener an, und manche angesehene Firma erwarb Syntec-Rezeptionistinnen. Es handelte sich bei ihnen um ein Luxusprodukt.

Unvermeidlicherweise gab es auch Syntec-Sexarbeiterinnen. (Kommunikationssatelliten, Computer, die Druckerpresse: Menschen finden zu allem einen sexualisierten Zugang.) Lucy war eine Syntec-Prostituierte, wobei solche Syntecs offiziell als Hochentwickelte Sinnliche Vergnügungseinheiten bezeichnet wurden, kurz HESVEs. In der Fernsehsendung wurde erklärt, dass die HESVEs absolut von Vorteil für die gesamte Gesellschaft wären. Sie taten niemandem weh, sie konnten selbst kein Leid empfinden, und es gab keinerlei empirische Belege für die Behauptung, dass ihre Existenz Männer zu Gewaltverbrechen gegen Frauen ermutigen könnte. Offenbar traf sogar das Gegenteil zu. Sie hatten zu einem Rückgang von Vergewaltigungsfällen geführt und wirkten noch dazu der Verbreitung von Sexualkrankheiten entgegen. Es konnte nur an abergläubischen Vorstellungen von Recht und Unrecht liegen, wenn man nicht einsah, dass es sich bei ihnen um eine gute und vernünftige Einrichtung handelte.

Aber vergessen wir das. Der Anblick von Lucy hatte mich berührt. Er hatte einen wunden Punkt in meinem Innern berührt, und mit einem Mal fand ich mich verstörend erregt von der Vorstellung wieder, dass sie nicht bloß existierte, sondern auch schnell und leicht zu haben war. Wenn ich wollte, konnte ich sie schon morgen in meinen Armen halten … Und es würde keine Zurückweisungen geben, keine Widrigkeiten, niemanden, den man enttäuschen konnte …

Ich schaltete zurück, um sie noch einmal zu sehen, wie sie sich in ihrem Spitzennachthemd auf einem Sofa zusammengerollt hatte. Sie mochte zwar nicht wirklich lebendig sein, aber sie wirkte täuschend echt. Sie war so hübsch und weich und anmutig.

Man muss bitte bedenken, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nie von einem anderen menschlichen Wesen im Arm gehalten worden war. Als Kind war mein wichtigster Weggefährte unser X3 Charlie gewesen, mit seinen Gummireifen und seinem Wortschatz von fünfzig Sätzen. Damals hatte ich ihn immer neben meinem Bett »schlafen« lassen.

 

Ich ließ die Sendung in normaler Geschwindigkeit weiterlaufen. Sie hieß JETZT! und lieferte jede Nacht eine Zusammenfassung aktueller Nachrichtenmeldungen auf Regierungslinie. Als die Sendung zu Ende war, schaltete Kanal 9 sich ab und zeigte wie immer das Bild von Präsident Ullman, dem Gründervater unseres Staats.

Er war ein Riese von einem Mann, ein schroffer Mann, ein Mann aus Granit. Damals in Amerika, in den schrecklichen Anfangszeiten der Reaktion, waren er und seine Frau von Christenmobs öffentlich bewusstlos geprügelt worden, weil sie sich geweigert hatten, ihrer Arbeit zur In-vitro-Fertilisation abzuschwören. Mrs. Ullman war gestorben.

Jetzt zeigte man ihn jeden Abend zum Programmende, wie er grimmig eine Figur aus Ton zerdrückte, die der menschlichen Form nachempfunden war. Seht her! Es gibt keine Seele, keinen Lebenshauch, keinen Geist in der Maschine.

Natürlich hatte ich das Bild schon so oft gesehen, dass es längst keinen bewussten Eindruck mehr bei mir hinterließ. Doch in dieser speziellen Nacht wollte ich mir noch einen letzten Blick auf die hübsche Roboterfrau genehmigen, ehe ich zu Bett ging, und ohne besonderen Grund schaltete ich nicht einfach zur vorangegangenen Sendung zurück, sondern ließ das Programm rückwärts ablaufen.

Ich sah, wie die Krümel von der Tischplatte aus in die Höhe schnellten und sich in Ullmans Hand auf wundersame Weise zum Abbild eines Menschen zusammensetzten.

Und so verwandelte sich der gestrenge alte Rationalist in eine Art christlichen Gott.

[home]

Kapitel 2

Ruth war mal wieder im SenSpace eingeschlafen. Ihr Körper baumelte in den Drähten, und ihr behelmter Kopf war ihr auf die Brust gesackt. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie wunde Stellen kriegen.

Ich rief nach ihr, ging dann zu ihr und schüttelte sie. Und zwar ziemlich grob. Es gefiel mir ganz und gar nicht, mich um sie kümmern zu müssen.

»Ach, du bist das, George.« Sie hob den Kopf und blinzelte mich aus ihren Eulenaugen an. »Ich bin wohl eingeschlafen. Kannst du mich hier rausholen?«

Seufzend öffnete ich den Reißverschluss und half ihr aus ihrem baumelnden Anzug. Ich verabscheute diese Aufgabe, weil sie immer nackt in den Anzug stieg, um möglichst viel Kontakt mit den Taxilen zu gewährleisten.

Sie war klein und dünn, hatte keine Brüste und kaum Schamhaar. Als ich sie herunterließ, kam ich mir vor, als wäre ich der Erwachsene und sie das Kind. Aber wenn man ihren Bauch genau betrachtete, sah man noch die Spuren des Kaiserschnitts, durch den ich zur Welt gekommen war.

Ich wandte den Blick von ihr ab und wickelte sie hastig in den Bademantel, den sie auf dem Boden liegen gelassen hatte.

»Du solltest mehr essen und weniger Zeit da drin verbringen, Ruth. Wirklich, du tust dir damit ganz und gar keinen Gefallen.«

»Ach George, ich bin so müde, kannst du mich noch kurz in mein Zimmer bringen?«

»Ich soll dich tragen? Schon wieder?«

»Bitte.«

»Verdammt noch mal, Ruth, du musst was essen! Du machst dich ja total kaputt!«

Doch ich trug sie trotzdem in ihr Zimmer. Ich steckte sie ins Bett, schickte Charlie mit ihren Schlaftabletten rein und stand anschließend da und beobachtete sie dabei, wie sie sich in Embryonalhaltung zusammenrollte und langsam wieder eindämmerte.

»Bitte, bitte schlaf ein«, flüsterte ich.

Ich war selbst müde und erschöpft und fühlte mich jämmerlich. Ich sehnte mich nach meinem eigenen Bett, meinem eigenen Vergessen …

»Bitte schlaf einfach ein.«

Und es sah tatsächlich danach aus, als würde sie ausnahmsweise genau das tun.

Aber es sollte nicht sein. Mein ganzer Körper verkrampfte sich, als ich sah, wie ihre Schultern zu zittern begannen.

»Schlaf einfach, verdammt noch mal, Ruth!«, wollte ich sie anschreien, aber ich biss mir auf die Zunge.

Und als die ersten leisen, wimmernden Schluchzer erklangen, zwang ich mich, das Zimmer erneut zu durchqueren, mich auf ihr Bett zu setzen und ihre Hand zu nehmen.

»Ist schon gut, ist schon gut«, wiederholte ich mechanisch, »ist schon gut, ist schon gut.«

 

Ich weiß nicht viel über ihre Kindheit. Ihr muss wohl etwas Grauenhaftes widerfahren sein, denn ich glaube, dass sie eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hat, weil das neutral, faktenorientiert, sicher ist – weitab von den schmerzlichen und unübersichtlichen Realitäten des menschlichen Lebens. (So sah man die Wissenschaft in den Zeiten vor der Reaktion.)

Sie schottete sich zusammen mit ihrem Roboterassistenten Joe in ihrem Labor in Chicago von allem ab und arbeitete, arbeitete, arbeitete. Abends ging sie allein nach Hause in ihre wohlgeordnete kleine Wohnung, in der sie sich um ihre Zimmerpflanzen und ihre Sammlung viktorianischer Porzellantassen kümmerte …

In Indien massakrierten die Hindu-Extremisten die industrielle Elite. In Israel putschten sich die Ultra-Orthodoxen an die Macht. In Zentralasien wurde die gewaltige Statue des Heiligen Märtyrers errichtet, und täglich kamen Tausende von Pilgern nach Taschkent und gaben ihr Blut, damit der Strom aus den Wunden des Bildnisses niemals versiegte … Doch Ruth ging weiterhin jeden Morgen um acht zur Arbeit und extrahierte DNS aus genmanipulierten Hühnerembryos und sah den ganzen Tag lang kaum jemanden außer Joe.

Dann kamen die Erwählten nach Chicago. Sie versammelten sich zu Massengebeten, bei denen Tausende zu Jesus fanden und sich ihrer Sache verschrieben, sie zogen auf der Suche nach Abtreiberinnen, Homosexuellen und Ungläubigen durch die Straßen … Angefeuert von eifernden Predigern erhoben sich die einfachen Leute Amerikas gegen die weltliche Ordnung, die ihrem Leben den Sinn genommen hatte. Die Polizei stand daneben. Die Regierung schaute weg. Alle erkannten, dass ein Damm gebrochen war. Selbst der Präsident versuchte, seinen Frieden mit den Erwählten zu machen.

Und Ruth trank um elf Uhr morgens einen Kaffee und gönnte sich zehn Minuten, um in ihrer Porzellansammlerzeitschrift zu lesen. Sie wollte die Rufe auf den Straßen nicht hören. Sie wollte die brennenden Häuser nicht bemerken, die aus ihrem Laborfenster im vierten Stock deutlich zu sehen waren. Bis sie plötzlich bei ihr die Tür eintraten, die Brutkästen aufrissen, die Reagenzgläser vom Tisch auf den Boden wischten …

Joe wurde vor ihren Augen zertrümmert. Er rollte mit den Stielaugen, und durch seinen Lautsprecher krächzte er in zufälliger Reihenfolge sein Repertoire an hilfsbereiten Sätzen: »Könnten Sie das bitte wiederholen … Ich helfe gerne … Einen angenehmen Tag noch …«

Sie sagten Ruth, dass sie sich sündig am heiligen Geschenk des Lebens vergangen habe. Man schor ihr den Kopf kahl. In Sackleinen gekleidet führte man sie zu jener berüchtigten Tribüne am See, wo später Mrs. Ullman sterben sollte.

 

»Ist schon gut, Ruth, ist schon gut …«

 

Sie sprach nie davon, aber man kann die Vorgänge aus zahllosen anderen Berichten rekonstruieren:

Die Menge grollt und brodelt. Ein hochgewachsener, gutaussehender Prediger mit geföhntem Haar und im weißen Anzug brüllt wie ein Stier von Jesus und vom Höllenfeuer. Die erste in Sackleinen gekleidete Gestalt wird vorgeführt. Es handelt sich um einen Kosmologen namens Suzuki. Mit versagender Stimme gesteht er, gelehrt zu haben, dass die Welt vor Milliarden von Jahren mit dem Urknall ihren Anfang nahm, obwohl er nun weiß, dass sie vor nur fünftausend Jahren in sechs Tagen erschaffen wurde.

»Und das hast du eigentlich schon immer gewusst, Bruder Suzuki«, sagt der Prediger streng.

Suzuki schluckt. Die Menge buht. Jemand wirft ein Ei, das den Gelehrten an der Stirn trifft und ihm langsam übers Gesicht rinnt. Noch immer zögert Suzuki. Der Prediger dreht sich stirnrunzelnd zu ihm um.

Suzuki hebt den Kopf ans Mikrofon.

»Ich … ich wusste es schon immer. Möge Gott mir meine … Sünde vergeben.«

Der Prediger legt Suzuki den Arm um die Schultern. »Bruder Suzuki. Lass Jesus in dein Herz ein, dann wirst du errettet werden.«

Die Menge gerät in Wallung, beruhigt sich und beginnt erneut zu wogen wie ein ruheloser Ozean. Suzuki wird weggebracht und ein junger Computerwissenschaftler namens Schmidt ans Mikrofon geführt.

»Ich wollte nie andeuten, dass unsere Programme mit dem menschlichen Verstand konkurrieren könnten. Sie sollten nur bestimmte Aspekte der …«

Der Prediger brüllt ihn an: »Gestehe deine Sünde, Bruder, gestehe deine Sünde! Mach es nicht noch schlimmer!«

»Teert ihn! Federt ihn! Teert ihn! Federt ihn!«, tobt der große dunkle Ozean.

Der Computerwissenschaftler schaut sich verzweifelt zu der Ansammlung von in Sackleinen gekleideten Gestalten um, die hinter ihm wartet. Helft mir!, sagen seine Augen. Was wollen sie von mir hören? Aber sie alle wenden die Blicke ab.

Er dreht sich wieder zu dem Mikrofon um. »Ich gestehe! Bitte vergebt mir! Ich habe Gott gelästert. Jesus ist mein Herr! Er … starb … für … mich … Gott vergebe mir! Gott vergebe mir!«

Der Prediger umarmt ihn. »Ruhig, Bruder Schmidt, ruhig! Jesus liebt dich. Er hat dich seit jeher geliebt …«

Schmidt klammert sich an seinen Peiniger und schluchzt wie ein kleines Kind.

 

»Ist schon gut, Ruth, ist schon gut …«

 

Ein Soziologe namens Carp gesteht, dass er die Institution der Ehe in Frage gestellt hat, dass er Homosexuelle verteidigt und die satanische Doktrin des Kulturrelativismus gelehrt hat …

Die Menge bricht in einen Sturm der Empörung aus.

»Ich weiß, ich weiß«, schluchzt Carp. »Ich habe mich gegen den Gott meiner Vorväter versündigt. Ich habe mich gegen Jesus versündigt. Ich habe mich in gewisser Weise gegen Amerika versündigt, und ich habe den Herrn geleugnet. Aber ich bereue, Brüder und Schwestern. Betet für meine Seele. Helft mir dabei, den gerechten Zorn Gottes auf mich zu nehmen …«

Es gibt Beifallsrufe. Das gefällt der Masse. Aber der Prediger runzelt die Stirn.

»Es scheint mir, dass er seinen Taten allzu schnell abschwört, Brüder und Schwestern, allzu schnell. Dies ist falsche Reue, meine Freunde, die dieser Ungläubige, dieser Sünder vortäuscht, um uns zu beschwichtigen, während er im Herzen nach wie vor die Schlangen der Sünde und des Atheismus nährt!«

Carp starrt ihn entsetzt an. »Nein, Sir, ich bereue wirklich … Ich meine …«

Er wird abgeführt und dorthin gebracht, wo in schwarzen Tonnen der Teer blubbert und raucht.

Und dann ist Ruth dran.

Ein kalter Wind weht über den See.

Arme Ruth. Arme kleine Ruth. Ganz allein dort oben, im Angesicht jenes dunklen Ozeans der Wut …

 

Endlich war es ihr gelungen, einzuschlafen. Ich schlich auf Zehenspitzen in mein Zimmer, und Charlie brachte mir meine eigenen Schlaftabletten.

Wie wahnsinnig aufgeregt Ruth und ich gewesen waren, als wir vor so vielen Jahren den funkelnagelneuen Charlie aus seiner mit Schaumstoff ausgekleideten Kiste ausgepackt hatten!

Begeistert hatten wir festgestellt, dass wir sein gesamtes Repertoire hilfsbereiter Phrasen mit unseren eigenen Namen personalisieren konnten.

»Gute Nacht«, sagte er mit seiner schnarrenden, elektronischen Stimme. »Gute Nacht, George.«

[home]

Kapitel 3

Am nächsten Tag nahm ich einen anderen Heimweg von der Arbeit. Ich ging zu Fuß durchs Einkaufsviertel, anstatt wie sonst die U-Bahn bis zum Stadtteil Faraday zu nehmen, wo wir wohnten. Ich sagte mir, dass ich etwas Bewegung brauchen konnte.

Entlang des ganzen Küstenstreifens tummelten sich die Massen und besuchten die Virtual-Reality-Spielhallen mit ihren grellen holografischen Werbetafeln. Unter den Augen der Polizeiroboter – zwei Meter groß und mit traurigen, silbernen und reglosen Gesichtern – wählten die Kinder Illyriens zwischen den zahllosen elektronischen Welten, die bereitstanden, um ihnen die Zeit mit gespielten Abenteuern, gespielter Gewalt und gespieltem Sex zu vertreiben …

Unter mir leckte die laue Adriasee sanft an den Steinen. Ich ging weiter – gleichmäßig, zügig, sorgfältig darauf bedacht, nicht über mein Ziel nachzudenken.

Vor mir ragte der Leuchtturm von Illyrien aus dem Meer empor, Illyriens Kathedrale der Wissenschaft, jener hohe Silberpfeiler, der wie eine gigantische Schachfigur schwerelos über dem Wasser zu schweben schien, obgleich es sich um das höchste Gebäude der Welt handelte. Menschen gingen über die schmale Stahlbrücke, die ihn mit dem Festland verband, und liefen den Freuden entgegen, die sie in seinem Innern erwarteten.

Weit oben an der großen, kugelförmigen Spitze des Turms waren vier Riesenräder angebracht, eines für jede Himmelsrichtung. Sie waren sehr viel größer als die auf irgendwelchen Rummelplätzen, aber dort oben wirkten sie winzig. Eines hielt gerade an, um seine Fahrgäste zu entlassen, ein anderes nahm Geschwindigkeit auf.

Ich mochte den Leuchtturm. Als mein Vater noch gelebt hatte, hatte er mich an dem einen Samstagnachmittag im Monat, den ich mit ihm verbringen durfte, manchmal dorthin mitgenommen. Das machte mich glücklich, und wenn ich nach Hause kam, konnte ich Ruth immer absolut wahrheitsgemäß berichten, dass ich Spaß gehabt hatte. Im Innern des Turms musste man durch ein vertracktes Labyrinth, das einen auf immer wieder neuen Wegen durch die Geschichte der Wissenschaften führte. Mein Vater ließ mich sogar mal in einem der Riesenräder fahren, obwohl er selbst mich dabei nicht begleitete. Doch es gab auch Monate, in denen er mich mir selbst überließ, nachdem er mich abgeholt hatte. Dann log ich Ruth etwas darüber vor, was wir den ganzen Tag getrieben hatten, damit ich mir nicht von ihr anhören musste, was für ein übler Kerl mein Vater sei. Immerhin war er ein herausragender Wissenschaftler, niemand Geringerer als der Erfinder der diskontinuierlichen Bewegung, und er hatte wirklich keine Zeit für Kinder, vor allem nicht für ein Kind wie mich.

(Übrigens starb er, als ich zehn war. Es war ein Arbeitsunfall, und seine Leiche wurde nie gefunden. Er hatte damals neue Anwendungsmöglichkeiten für die diskontinuierliche Bewegung ausgelotet und dabei nach Wegen gesucht, Löcher in den Raum zu stanzen, durch die man an weit entfernte Orte gelangen konnte. Vielleicht liegt seine Leiche also irgendwo dort draußen, auf einem Planeten, der um eine ferne Sonne kreist.)

 

Doch nun kehrte ich dem Leuchtturm und dem Meer den Rücken und folgte der großen Straße der Wissenschaften. Ich kam am Nachrichtengebäude mit seinem gewaltigen Bildschirm vorbei. Der zeigte gerade Präsident Ullmans Gesicht auf einer Höhe von vierzig Stockwerken, während er seine Rede zum Jahrestag des Territorialerwerbs hielt, den er selbst ausgehandelt hatte, um unseren einzigartigen Wissenschaftlerstaat zu gründen. Daran schloss sich der Turm der Gemeinschaft der Vernunft an sowie die glänzenden Hauptquartiere von IBM, Sony, Esso, Krupp und einer Reihe anderer Riesenfirmen, die zusammen mit den Flüchtlingen hierher umgezogen waren. Alle zehn Meter standen Fahnenmasten, an denen abwechselnd die zahlreichen Flaggen der ausgelöschten weltlichen Nationen flatterten, aus denen unser Volk stammte, und die schwarz-weiße Flagge Illyriens. Auf Letzterer war ein weit geöffnetes Auge abgebildet – im Gegensatz zu den aus blindem Vertrauen geschlossenen Augen, die uns von allen Seiten umgaben.

Ich ging weiter und weigerte mich, mir einzugestehen, worauf ich zusteuerte.

 

Vor dem Senatsgebäude gab es irgendeinen Aufruhr. Eine kleine Gruppe griechischer Gastarbeiter demonstrierte dort. Sie hatten sich auf die Straße gesetzt und hielten Schilder in die Höhe, auf denen mit vielen Rechtschreibfehlern zu lesen stand:

»LASST UNS BITE OHSTERN UND WEINACHTEN FEIERN.«

»WIR WOLLEN UNSERE TRADIZIONEN IN FRIDEN AUSÜBEN.«

»LEBT UND LASZT UNS LEBEN.«

Um sie herum stand eine zornig rufende Menge von Illyriern. Ein Dutzend Polizeiroboter sammelte die Demonstranten in Zweiergrüppchen ein und lud sie so unaufgeregt und leidenschaftslos in mehrere Mannschaftswagen, als wäre es altes Verpackungspapier, das weggeräumt werden musste.

»Schmeißt sie alle raus!«, schrie plötzlich eine dünne kleine Frau in mittleren Jahren direkt neben mir. (Sie erinnerte mich an Ruth, obwohl sie einen englischen Akzent hatte.) »Christen! Juden! Muslime! Schmeißt all die verräterischen kleinen Hetzer raus!«

Ihre Augen traten ihr vor Hass und Angst aus dem Schädel.

»Oder vergast sie am besten gleich«, keuchte der gebückte, zitternde Mann neben ihr.

Wer konnte schon sagen, was für Geister der Vergangenheit sie heimsuchten? Das Feuer von Oxford? Das Massaker im Wissenschaftspark? Während die Erwählten in Amerika ihre Theokratie errichtet hatten, hatten die Engländer noch ein Weilchen versucht, die Reaktion in Schach zu halten, indem sie ihre besitzlosen Klassen hinter hohen Zäunen weggesperrt hatten. Doch letztlich waren auch bei ihnen die Dämme gebrochen.

Ich kehrte alldem den Rücken zu, ging die Darwin-Straße hinunter ins Ausgehviertel, wo sich die Restaurants, die Theater und die Kinos befanden, und …

Aber ich gestattete mir noch immer nicht, an mein Ziel zu denken.

[home]

Kapitel 4

Ich war da, stand auf dem roten Teppich in der Eingangshalle, roch den übelkeiterregenden Geruch nach Desinfektionsmitteln und hörte die dahinplätschernde Dudelmusik.

»Guten Abend, Sir. Haben Sie einen Termin?«

Die Rezeptionistin war ein Syntec und sah aus wie eine mollige, fröhliche Frau in den mittleren Jahren.

Mein Mund war so trocken, dass ich kaum ein Wort herausbrachte.

»Nein … ich …«

»Möchten Sie sich etwas von der Karte aussuchen – oder wollen Sie eins unserer Spezialangebote? Oder möchten Sie in die Lounge durchgehen und persönlich Ihre Wahl treffen?«

»Ich … die … Lounge.«

»Wunderbar, Sir. Sie müssen einfach nur durch die Tür dort. Einen angenehmen Abend wünsche ich noch!«

Wie ein Schlafwandler ging ich durch den Korridor.

 

Es gab dünne Frauen und dicke Frauen, schwarze Frauen und weiße Frauen, Frauen, die kaum die Pubertät erreicht hatten, und gutaussehende mütterliche Frauen um die vierzig. Einige von ihnen waren praktisch nackt, andere waren als Krankenschwestern, Lehrerinnen, Hausfrauen oder Schulmädchen verkleidet … Es gab auch Jungen und muskulöse Männer in Stringtangas … und außerdem Seltsames: Jungen mit Brüsten, Mädchen mit Penis, elfenartige Geschöpfe, die unglaublich dünn und mit weichem Fell bedeckt waren und die spitze Katzenohren und schmale Katzenaugen hatten …

Sie alle erwarteten mich hinter einer Ecke in einem großen, dunkelroten Zimmer. Manche rekelten sich auf Sofas, manche hockten auf Stühlen, andere standen. Wenn man in ihre Richtung blickte, lächelten sie, versuchten, einem in die Augen zu schauen, und kamen auf einen zu. Sobald man wieder wegschaute, blieben sie stehen.

Die Musik dudelte endlos weiter. Manchmal klang sie nach Saxofonen, manchmal nach einem Geigenorchester und manchmal nach Mädchenstimmen, die immer wieder die gleichen Worte wiederholten: »Liebe mich, Baby, Baby, liebe mich, Baby, Baby, mein Baby, liebe mich …«

Männliche Schlafwandler mit leeren Mienen wanderten immer im Kreis in dem Zimmer herum und wichen dabei den Blicken der anderen aus. Dann und wann blieb einer von ihnen stehen, und ein lächelnder Syntec trat vor. Dann ließ sich der betreffende Mann aus dem Zimmer führen, zahm und fügsam wie ein kleiner Junge, der sich verlaufen hatte.

 

»George!« Ein dicklicher Mann um die vierzig mit sich lichtendem Haar stand vor mir. »Bist du das, George? Schön, dich zu sehen! Was macht ein gutaussehender Mann wie du an einem Ort wie diesem?«

Er hatte einen leichten irischen Akzent, und ich erkannte ihn entfernt als einen Klienten von Wort für Wort wieder. Er war Exportmanager für irgendeine Firma, die den quasi mittelalterlichen Staaten an unseren Grenzen technische Spielereien verkaufte.

»Paddy, erinnerst du dich? Der gute alte Paddy Malone. Der mit dem dummen Computer, der eigentlich Türkisch können sollte! Ein hübsches Stückchen Arbeit hast du da für uns geleistet, George, wirklich sehr gute Arbeit!«

Er grinste und schlug mir kameradschaftlich auf die Schulter. Ihm lief der Schweiß übers Gesicht.

»Ein ganz schöner Festschmaus, was?« Kichernd wedelte er mit der Hand herum. »Schau dir mal die Schwarze da an, ist die nicht ein Zuckerstückchen?«

Die von seidenschwarzer Haut bedeckte Roboterfrau sah, wie er auf sie zeigte, lächelte und wollte gerade aufstehen, doch der wässrige Blick des Exportmanagers war bereits weitergewandert.

»Und guck mal die Kleine da! Möchtest du da nicht am liebsten …?«

Die wie Gespenster durch den Raum wandelnden Männer, an denen wir vorbeikamen, passten ihren Kurs leicht an, um nicht mit uns zusammenzustoßen.

»Ich sag dir was, George, alter Kumpel, dieser Ort hier hat meine Ehe gerettet! Immer, wenn es mich, du weißt schon, zwickt, komme ich hierher und kläre die Sache. Völlig problemlos, alle sind glücklich, und das zum Preis eines halbwegs vernünftigen Abendessens im Restaurant. Nicht, dass ich meiner lieben Frau mit irgendwelchen konkreten Einzelheiten auf die Nerven …«

Erneut versiegte sein Redestrom. Er schaute an mir vorbei. Schweiß lief ihm über die Glatze. Schweiß tropfte ihm vom Kinn. Die Gespenster streiften weiterhin an uns vorbei.

»He! Schau mal da! Das ist was Neues! Schau dir nur mal die Titten von dem Ding an! Ich glaube, ich sehe schon, wo der gute alte Paddy heute Abend vor Anker geht …«

In meinem Innern baute sich irgendeine Art von Reaktion auf. Ich schüttelte seinen Arm ab. Doch er achtete ohnehin nicht darauf. Stattdessen grinste er dümmlich der vollbusigen Syntec-Frau entgegen, die auf ihn zukam, um ihn willkommen zu heißen, als hätte sie schon ihr ganzes Leben lang auf den guten alten Paddy gewartet.

Entsetzt stürmte ich aus dem Raum. Ich hatte es so eilig, dass ich mit einem der elfenhaften Syntec-Jungen zusammenstieß, der soeben einen verdatterten albanischen Gastarbeiter mit Bartstoppeln am Kinn hinausführte. Der Syntec schlug der Länge nach hin.

»Allah sei uns gnädig«, flüsterte der benommene Albaner.

 

Als ich die Lobby durchquerte, sah ich Lucy die Treppe herunterkommen. Ich erkannte sie sofort. Sie war sogar noch hübscher als im Fernsehen. Sie trug einen locker sitzenden Pullover und Jeans, wie eine Studentin, wie ein Mädchen in meinem Alter. Sie sah, dass ich sie ansah, schaute mir in die Augen und lächelte …

Aber mein Erlebnis in der Lounge hatte die Illusion zerstört. Das war überhaupt keine Sie. Es war ein Es, eine Marionette, eine Puppe, die nicht wirklicher war als Ruths SenSpace.

»Bäh«, brummte ich, während ich mich abwandte und Richtung Tür davonlief.

»Einen angenehmen Abend noch!«, rief mir die Rezeptionistin hinterher. »Ich hoffe, wir dürfen Sie bald wieder begrüßen!«

»Garantiert nicht, Plastikdame!«, rief ich ihr über die Schulter zu, als ich auch schon auf die Straße hinaustrat und die Abendluft einsog.

 

Zufrieden mit mir selbst ging ich zur U-Bahn, die mich nach Hause bringen sollte. Die Sache wäre damit erledigt, dachte ich bei mir. Diesen Unsinn hatte ich mir aus dem Kopf geschlagen.

Ich erinnere mich noch, ein Flugblatt gesehen zu haben, das jemand an den U-Bahn-Eingang geklebt hatte. »Holistische Liga«, las ich dort. »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.«

Das ließ mich erneut an das seltsame, rückwärts laufende Bild von Ullman denken, der aus Staub einen Menschen erschuf.

Ich kaufte mir eine Tüte frischer Donuts von einem griechischen Straßenhändler und trat in den warmen, hellen U-Bahn-Eingang.

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Kapitel 5

Als ich nach Hause kam, befand Ruth sich wider Erwarten nicht im SenSpace, sondern ging im Wohnzimmer auf und ab, während Charlie hinter ihr herrollte und ihr mit seinen vier spindeldürren Armen hilfsbereit Beruhigungsmittel, Tee, Brandy und ein Sandwich hinhielt.

»Ach George, wo bist du bloß gewesen? Ich wünschte, du würdest Bescheid sagen, wenn du länger wegbleibst! Ich habe dich hier gebraucht. Es kommt jemand wegen Shirley vorbei! Ich bin ganz außer mir vor Sorge …«

Ich befahl Charlie, den ganzen Kram abzustellen – überall auf dem Boden war verschütteter Tee –, ihr nur den Brandy zu geben und anschließend auch mir ein Glas Brandy zu bringen. Schließlich packte ich sie bei den Schultern und zwang sie, sich hinzusetzen. Sie ergriff meine Hand und drückte sie so fest, dass es weh tat. Dann fing sie an zu weinen.

»Wegen Shirley? Was meinst du damit?«, fragte ich sie, während ich meine Hand aus ihrem Griff befreite.

Shirley war ein weiterer Roboter, eine der drei Hauswart-Einheiten in unserem Wohnblock, die die Aufzüge und Treppenhäuser sauber hielten, einfache Reparaturen durchführten und sich an der Rezeption abwechselten. Es handelte sich bei ihnen um Plastecs. Sie waren billiger und sehr viel verbreiteter als Syntecs und hatten Gummihaut anstelle von echter. Unser Vermieter hatte sie vor etwa einem Jahr angeschafft, um die staatliche Förderung für den Austausch der drei schon etwas älteren Mazedonier in Anspruch zu nehmen, die diese Aufgaben bis dahin erledigt hatten.

»Sie ist weg. Ich habe sie auf der Straße gesehen. Sie ist einfach weggegangen. Ich habe sogar mit ihr geredet. Ich sagte ›Hallo, Shirley‹, und sie hat mich bloß angeguckt und ist direkt an mir vorbeimarschiert. Du weißt doch, wie höflich sie normalerweise ist. Sonst sagt sie immer: ›Hallo, Ruth!‹ Aber diesmal nicht. Sie hat mich nur angesehen und …« Ruth begann erneut zu schluchzen. »Sie hat mich nur angesehen und so eine Art Knurren von sich gegeben …«

Ich lachte wütend auf, erhob mich und ging ans Fenster, wobei ich meinen Brandy hinunterstürzte. Jenseits der Wohnblocks lag die blaue, dunstige See. Weit in der Ferne war ein weißes Schiff zu erkennen.

Ich drehte mich um.

»Hör mal, Ruth: Shirley ist eine Maschine. Vielleicht ist irgendwas mit ihr nicht in Ordnung. Das passiert manchmal bei Maschinen. Erst gestern musste ich mich mit einem Übersetzungsprogramm rumschlagen, das in jeden serbischen Satz das Wort ›nicht‹ eingebaut hat …«

»Ich wünschte, du würdest nicht diese Arbeit mit Sprachen und fremden Ländern machen. Du hast ja keine Ahnung, wie gefährlich diese Leute sein können. Sie hassen uns dort draußen, George!«

»Ich will auf Folgendes hinaus: Es ist keine große Sache, wenn mit einer Maschine mal was nicht in Ordnung ist. Und jetzt lass uns zu Abend essen. Charlie, was haben wir außer Pizza noch im Kühlschrank?«

Charlie rollte auf uns zu. »Steak, Lasagne, Kabeljau, Scholle, irischen Eintopf …«, begann er.

»Jemand will vorbeikommen, um mit mir darüber zu reden!«, wimmerte Ruth. »Jemand von der Roboterfirma. Sie haben in jeder Wohnung im Block angerufen. Ein ganzes Team kommt her, um mit allen zu reden, die Shirley in den letzten zehn Tagen gesehen haben.«

»… Pommes frites, Waffeln, Schokoladeneis, Erdbeereis, Zitronensorbet …« Charlie unterbrach seine Aufzählung, um eine Ultraschallübertragung von der Wohnungstür entgegenzunehmen.

»Da will jemand zu dir, Ruth«, verkündete er. »Ihr Name ist Marija Mejic, und sie kommt von der Illyria Cybernetic Corporation.«

 

Sie erwies sich als junge Frau, etwa in meinem Alter. Sie war freundlich, intelligent und ziemlich hübsch, was mich sofort durcheinanderbrachte. Damals hatte ich große Angst vor gutaussehenden jungen Frauen.

»Tut mir sehr leid, dass ich Sie belästigen muss«, sagte sie, nachdem ich sie gebeten hatte, Platz zu nehmen. »Ich glaube, Sie wissen bereits, dass ein Roboterhauswart verschwunden ist. Wir müssen nun herausfinden, wie es dazu gekommen ist, um dafür zu sorgen, dass mögliche Probleme behoben werden.«

Trotz ihres südslawischen Namens wies ihr Illyrisch einen leichten australischen oder neuseeländischen Akzent auf.

»Das scheint mir eine Menge Aufhebens um einen defekten Roboter zu sein«, bemerkte ich.

Lächelnd schaute sie zu mir. Ihr Auftreten war verstörend direkt.

»Tja«, erwiderte sie, »die Sache ist die …« Sie zögerte. »Die ICC ist einfach davon überzeugt, dass man in solchen Angelegenheiten gründlich sein muss.«

Damit ging sie unverzüglich dazu über, uns eine ganze Reihe Fragen zu stellen. Wann hatten wir Shirley zum letzten Mal gesehen? Wie oft hatten wir sie in den letzten zehn Tagen gesehen? Hatten wir irgendwelche erkennbaren Veränderungen an ihrem Verhalten beobachtet? Und an ihren verbalen Reaktionen? Ihrer Stimme? Ihrer Körperhaltung?

»Kommt so etwas häufig vor?«, erkundigte Ruth sich am Ende.

»Nun ja, tatsächlich kommt es in letzter Zeit ziemlich häufig vor. Bei vielen verschiedenen Robotern. Es ist aber nicht weiter gefährlich. Niemand ist verletzt worden. Deshalb will die Regierung nicht, dass wir, Sie wissen schon, die Leute beunruhigen …«

»Bei vielen Robotern?«, fragte Ruth. »Bei allen Arten von Robotern? Was ist mit unserem Charlie hier?«

Sie streckte die Hand aus und strich Charlie über den glänzenden »Kopf«, dessen aufgemaltes Gesicht längst abgerieben war.

Marija Mejic schaute auf Charlie herab und lachte.

»Aber nicht doch. Das betrifft nur diejenigen mit SE-Systemen. Haben Sie davon gehört? Selbstentwickelnd? Die lernen durch systematisches Ausprobieren und sind also tatsächlich darauf ausgelegt, ihr Verhalten im kleinen Rahmen zu verändern. Aber dann und wann kann es passieren, dass ein Zusammentreffen gewisser Umstände sie aus der Bahn ihrer ursprünglichen Parameter wirft. Wir wussten von Anfang an, dass das vorkommen könnte. Deshalb sollen diese Roboter eigentlich alle fünf Jahre neu programmiert werden – wir nennen das ›auf null setzen‹. Nur passiert es etwas schneller, als wir …«

Sie erhob sich, trat ans Fenster und schaute hinaus.

»Das Komische daran ist, dass die Dinger eigentlich verlässlicher sein sollten als menschliche Wesen!«, sagte sie, ohne sich zu uns umzudrehen. »Es ging bei dem Ganzen ja gerade darum, dass sie niemals den Kopf verlieren sollten!«

Dann wandte sie sich mit einem kurzen Lachen wieder um.

»Aber das ist nur eine persönliche Beobachtung meinerseits und bleibt bitte unter uns!«

Ich stand auf, um sie zur Tür zu bringen. Sie streckte mir die Hand entgegen, als ich ihr aufmachte.

»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Simling.«

Als sie mich anschaute, hatte ich das Gefühl, sie könnte an meinem Gesicht ablesen, wo ich heute gewesen war: das rote Zimmer mit dem süßlichen Gedudel, die Syntecs mit ihrem parfümierten Fleisch, der Schweiß auf Paddy Malones fettem Gesicht …

Ich errötete.

»Es hat mich auch gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Simling«, platzte ich heraus.

 

Natürlich hatte dieser Besuch nicht gerade dazu beigetragen, Ruths Ängste zu besänftigen.

»Was meinte sie mit ›aus der Bahn geworfen‹? Was könnten sie denn tun? Ich dachte, sie wären ungefährlich, George! Nicht wie diese schrecklichen Mazedonier, die über Gott und Satan brüten – und was sich diese Ausländer sonst noch so denken. Und jetzt erzählt sie uns, dass die Roboter auch gefährlich sind!«

»Sie hat nicht gesagt, dass sie gefährlich wären. Sie hat bloß gesagt, dass sie manchmal weglaufen oder aufhören, ihre Arbeit zu machen …«

»Tja, das hätte sie alles nicht erzählen sollen. Ich hätte gute Lust, sie bei ihrer Firma anzuzeigen.«

»Weil sie uns gegenüber ehrlich gewesen ist? Wäre es dir lieber, wenn sie gelogen hätte?«

»Vielleicht bringt einer dieser Roboter noch jemanden um. Woher willst du wissen, was sie mit ›aus der Bahn‹ gemeint hat?«

»Woher soll ich es wissen?«, konterte ich scharf.

Es war mir egal, was die Roboter taten und ließen, aber ich war nervös und durcheinander, wie immer nach Begegnungen mit anderen Menschen.

»Warum kann nicht mal etwas ungefährlich sein?«, beklagte sich Ruth. »Warum gibt es immer einen Haken?«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Ruth, ja? Geh doch einfach ein bisschen in den SenSpace und vergiss die Sache, in Ordnung? Da gibt’s keinen Haken. Zumindest nicht, solange du es nicht willst.«

Ruth schaute mich beinahe listig an.

»Nur, wenn du mitkommst«, sagte sie.

Ich zögerte. Ich verabscheute den SenSpace und die völlige Selbstaufgabe, die er erforderte. Er gab mir das mulmige Gefühl, bei lebendigem Leibe verschluckt zu werden. Aber im Moment hatte diese Vorstellung durchaus einen gewissen Reiz.

Ich zuckte mit den Schultern.

»In Ordnung. Abgemacht.«

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Kapitel 6

Es gab Sterne dort. Sie unterschieden sich von den Sternen der normalen Welt: Sie waren bunter, erstreckten sich in alle Richtungen und bewegten sich um uns, über uns und zwischeneinander hindurch.

Ein warmer Sommernachtsduft mit einem Hauch Flieder lag in der Luft. Von weit her erklang ätherische Musik, die zu einem schwungvollen Fanfarenstoß anschwoll, als riesige, bunte dreidimensionale Buchstaben wie Feuerwerk am Firmament aufloderten:

Das SenSpace-Konsortium von Illyrien

heißt Sie willkommen im

S E N S P A C E

»Ja, willkommen im SenSpace, George!«, sagte eine weibliche Stimme dicht an meinem Ohr. »Es ist ja ein Weilchen her. Bist du allein unterwegs, oder hast du Begleiter, mit denen ich dich verlinken soll?«

»Eine Begleiterin, Ruth Simling«, antwortete ich und nannte widerwillig ihr SenSpace-Pseudonym: »Kleine Rose.«

»Ah ja«, entgegnete der SenSpace zärtlich, »die liebe Kleine Rose! Ich verbinde euch gleich miteinander.«

Neben mir erschien Ruth, als unsere bis eben getrennten SenSpace-Universen miteinander verschmolzen wurden. Oder vielmehr erschien Kleine Rose, ein hübsches kleines Mäuschen von einem Mädchen in einem Partykleid, das nach wie vor als meine Mutter zu erkennen, aber etwa zehn Jahre jünger als ich war.

Ich wandte den Blick ab. Wir standen auf einer hohen Plattform, und über uns und um uns herum wirbelten die Sterne. Tief unter uns befand sich ein weiter Flickenteppich von einer Landschaft, auf dem reger Betrieb herrschte und der sich Hunderte von Kilometern in alle Himmelsrichtungen zu erstrecken schien.

Man hätte sich stundenlang in diesem Anblick verlieren können, und hinzu kam der Umstand, dass jeder Flecken, den man betrachtete, sofort größer wurde. Es war, als würde einem jemand ein starkes Fernglas vor die Augen halten.

Dort waren zum Beispiel Kinder zu sehen, die an einem Sandstrand spielten, durch die weiße Brandung und die perfekt durchsichtigen grünlichen Wellen tobten. Je länger ich hinschaute, desto näher kamen sie. Ich hörte ihre Stimmen und das Rauschen der Brandung. Ich hörte das Knattern der roten Segel eines kleinen Schiffs. Ich spürte den Sand. Ich hörte, wie ein kleines Mädchen seinem Bruder zuflüsterte, dass sie die größte Sandburg aller Zeiten bauen würden. »Wir zeigen es John!«, sagte sie. »Wir zeigen es ihm!«

Ich wandte den Blick ab. Der Strand schrumpfte wieder zu einem winzigen blau-gelben Fleck zusammen, weit weg auf dem brodelnden Flickenteppich der SenSpace-Welt.

Mein Blick fiel auf einen Wald. Er war so strahlend grün wie buntes Glas. In einer Höhle lauerte ein Drache mit feurigen Nüstern. Ritter in Rüstungen ritten ihm durch die smaragdfarbenen Bäume entgegen. Ihre Harnische blitzten silbern, und selbst ihre Schilde schienen zu leuchten. Man sah jedes einzelne Blatt an jedem Zweig.

Andernorts sah ich eine Stadt, deren Türme zehnmal höher waren als die von Illyria City. Offene Züge voller lachender Menschen sausten auf schmalen Monorail-Brücken zwischen ihnen umher. Kleine bunte Doppeldeckerflugzeuge stießen im Sturzflug dazwischen nieder und stiegen wieder auf. Ich sah die lächelnden Gesichter der Piloten, die einander um die Türme jagten. Ich sah, wie ein rotes Flugzeug durch eine Brücke brach und mit einer lauten Explosion in ein Gebäude krachte. Doch im nächsten Moment war das Flugzeug verschwunden, die Brücke war wieder ganz, und Züge voller zufriedener Menschen sausten einmal mehr hinüber.

»Es gibt da etwas, das ich dir gerne zeigen würde, George«, sagte Ruth neben mir mit ihrer Kleine-Rose-Stimme.