Meta! Das Ende des Durchschnitts - Dirk von Gehlen - E-Book

Meta! Das Ende des Durchschnitts E-Book

Dirk von Gehlen

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Beschreibung

Das 20. Jahrhundert war geprägt von der Welt der Massenmedien und der Massenkultur, die in Fabriken erstellt wurde. Das 21. Jahrhundert wird geprägt sein von Digitalisierung, Datennutzung und deren Folgen. Die Welt des Durchschnittsangebots, das für alle gleich ist, wird erweitert um das digitale Prinzip der Personalisierung: Inhalte entstehen nicht mehr einzig beim Hersteller und Absender, sondern werden mittels Datensammlung und -auswertung auf den Konsumenten und Empfänger zugeschnitten. Entgegen der vorschnellen Verteufelung dieser Entwicklung als Entmündigung und Überwachung beleuchtet Dirk von Gehlen Chancen des Endes des Durchschnitts und zeigt sehr konkret, wie Personalisierung, Datennutzung und Digitalisierung die Arbeit von Medizinern, Marktforschern, Fußballern und Carsharing-Anbietern verändern. Erst auf dieser Grundlage kann die entscheidende Frage zum Wandel von der Lautsprecher- zur Kopfhörerkultur gestellt werden: Wer bestimmt die Playlist?

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Meta!Das Ende des Durchschnitts

Fröhliche Wissenschaft 111

Dirk von Gehlen

Meta!

Das Ende des Durchschnitts

Die Vernetzung des Wissens bedeutet, dass der Klügste im Raum nicht mehr derjenige ist, der vorn steht und einen Vortrag hält, aber auch nicht das Publikum mit seinem kollektiven Wissen. Der Klügste im Raum ist vielmehr der Raum selbst: das Netzwerk, das die Menschen und Ideen im Raum miteinander verknüpft und sie mit dem Rest der Welt verbindet.

David Weinberger

Das Wichtigste sind die Bezüge. Sie sind alles.Johann Wolfgang von Goethe

Inhaltsverzeichnis

Vorab: Gebrauchsanweisung

1. Begriffsklärung: Die (digitale) Kopie ist kein Raub am Original, sondern die Produktion von Metadaten

2. Durchschnitt: Das Ende des Durchschnitts ist ein Bild um die Digitalisierung zu denken

Gespräch mit Gerhild Abler über Mainstream und Marktforschung

3. Mainstream: Der kleinste gemeinsame Nenner ist nicht zwingend das (bei allen) beliebteste Produkt

Gespräch mit Robert Henrich über personalisierte Mobilität

4. Kontext: Der technische Wandel bringt Informationen hervor, die nicht jeder wissen will

Gespräch mit Regine Kollek über personalisierte Medizin

5. Kulturindustrie: Digitale Medien sind Kontext-Medien

Gespräch mit Stefan Zilch über Musik als Kontext-Angebot

Fünf Vorschläge für Medien im Zeitalter des Kontexts

Gespräch mit Michael Niemeyer über Daten und Sport

6. Digitale Mündigkeit: Für eine Verteidigung der Grundwerte durch die digitale Zivilgesellschaft

Gespräch mit Verena Metze-Mangold über Politik nach dem Ende des Durchschnitts

Anmerkungen

Vorab: Gebrauchsanweisung

Dieses Buch ist ein Experiment. Es will nicht nur inhaltlich beschreiben, wie die Digitalisierung Alternativen zur Kultur des Durchschnitts schafft. Es will auch selber aufzeigen, wie sich durch das Ende des Durchschnitts neue Möglichkeiten – zum Beispiel für Kunst und Kultur – ergeben und diese am eigenen Beispiel greifbar machen.

Dieses Buch erscheint nicht einzig in einer unveränderlichen Durchschnittsversion. Es hat seinen Entstehungsprozess geöffnet und erscheint zudem in unterschiedlichen Fassungen, die alle auf einem gleichen Kern basieren, sich aber Nutzungskontexten anpassen. Das bezieht sich nicht nur auf digitale und analoge Distributionswege und die klassischen Verwertungsketten von Hardcover und Taschenbuch. Es bezieht sich vor allem auf unterschiedliche Wünsche der Leserinnen und Leser. Denjenigen Lesern und Leserinnen, die Einblick in die Entstehung des Buches nehmen wollen sowie eine hochwertige Aufbereitung des Papierbuches schätzen, steht eine exklusive Version zur Verfügung. In diesem aufwendig gestalteten Papierbuch bekommt nicht nur die Gestaltung besonders viel Raum, auch sogenannte Annotationen erhalten direkt am Text einen prominenten Platz. Anders als klassische Endnoten stellen diese Anmerkungen den Text in einen besonderen Kontext. Und Kontext ist das dominante Prinzip, dem sich das Buch widmet. Durch diese prominenten Annotationen wird dies sichtbar gemacht, zudem weist ein Glossar auf das Netzwerk von Gedanken und Entwicklungen hin, in das die wichtigen Begriffe eingeflochten sind.

Diese zusätzlichen Anmerkungen, die über die klassischen Fuß- oder Endnoten hinausgehen, wurden – dem klassischen Schreibverfahren gemäß – vom Autor selbst angefügt. In naher Zukunft ist aber zusätzlich denkbar, dass solche Text-Annotationen auch von anderen Autoren oder von Leserinnen stammen1. Womöglich wird man bald Bücher mit einem Set an Anmerkungen erwerben können. Zusätzlich zum Preis für den vom Autoren erstellten Text, zahlt der Leser dann einen kleineren Betrag für die Anmerkungen, die aus seinem persönlichen Umfeld, von Fachkollegen oder Andersmeinenden stammen können.

Für den Gründer des Internetdienstes Genius, der Anmerkungen an Texten überall im Internet ermöglichen will, liegt in Annotationen ein entscheidender Digitalisierungsschritt: »Erst wurde die Tora geschaffen«, erklärt Tom Lehman in einem Interview. »Weil aber niemand die Tora verstand, wurde der Talmud geschrieben. Genius ist der Internet-Talmud. Genius erklärt das Internet.«2 Das Ende des Durchschnitts will das Internet nicht erklären, aber einen Blick auf dessen Veränderungskraft eröffnen, der neu ist und zu verstehen hilft, wie wir den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen der Digitalisierung konstruktiv begegnen können, um diese souverän und angstfrei zu gestalten.

Dieses Buch wird in mehreren Versionen erscheinen:

–als Präsentation im PDF- oder Powerpoint-Format, das seine Grundideen zusammenfasst

–als E-Book zum Lesen auf einem digitalen Endgerät

–als Podcast, der nach der Buchveröffentlichung aufgezeichnet wird und einen Blick hinter die Kulissen bietet sowie mögliche Lehren aus dem Buchprojekt präsentiert

–als Print-Standard, der klassisch im Buchhandel zu erwerben ist

–als Print-Premium, ein hochwertiges, limitiertes Liebhaberexemplar im Hardcover mit einem besonderen Format, in dem ein Glossar zum Ende des Durchschnitts beigefügt ist sowie spezielle Annotationen zum Text; es nutzt die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten von Papier

–als limitiertes Komplettpaket, das alle genannten Versionen sowie eine Einladung zur Release-Veranstaltung in Berlin beinhaltet

1. Kapitel: Begriffsklärung

Die (digitale) Kopie ist kein Raub am Original, sondern die Produktion von Metadaten

Alles ist nur noch halb so beschissenwenn die Sonne scheint.Gleicher Ort, gleiche ZeitCasper feat. Kraftklub

Für Touristen, die die Stadt mit dem Flugzeug verlassen wollen, hält München kurz vor dem Flughafen einen Schockmoment bereit. Wer mit der Linie 1 der S-Bahn Richtung Terminal unterwegs ist, wird an der Haltestelle Neufahrn darauf hingewiesen, dass dieser Zug nun geteilt wird. »Der hintere Zugteil fährt weiter zum Flughafen, der vordere Zugteil Richtung Freising«, hört man aus dem Lautsprecher. Die Information wird den Fahrgästen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort im Zug mitgeteilt – in allen Wagen hört man die gleichen Worte.

Ein Sender, eine Botschaft, viele Empfänger

Für Touristen beider Zugteile bedeutet das – je nach Reiseroute und Sitzplatz – überflüssige Störung oder panisches Suchen. Für diejenigen, die sich im vorderen Zugteil befinden, ist dies ein heilsamer Schock. Sie steigen um und erreichen dank dieser Information rechtzeitig den Flughafen. Diejenigen jedoch, die bereits im richtigen Wagen sitzen, werden ohne Grund aufgeschreckt. Die Durchsage, die unterschiedliches Vorwissen der Fahrgäste anerkennt und deshalb auf deutsch und im Anschluss auf englisch zu hören ist, fordert die Reisenden zum Abschluss auf, den Wagen zu verlassen – »wenn Sie sich im falschen Zugteil befinden«. Spätestens hier erkennt man in den Augen der Ortsfremden Panik. Woher sollen sie wissen, ob das der richtige oder falsche Zugteil ist?

Der Zug selbst weiß dies in Wahrheit viel besser als sie.

Nutzen bzw. Stresspotenzial der objektiv richtigen und sachlich korrekten (Durchschnitts-)Information über die Zugteilung bemisst sich keineswegs nur an dem Text aus dem Lautsprecher, sondern vor allem an dem Kontext, in dem dieser aufgenommen wird. Dabei handelt es sich um eine vergleichsweise einfache Kontextualisierung von Informationen. Die Unterscheidung zwischen vorderem und hinterem Zugteil – der Auslöser für diese Durchsage – ist nicht kompliziert. Die vorderen Wagen werden sogar in eine andere Richtung geschickt, es muss also technisch möglich sein, in diesem Teil an diesem Ort und zu dieser Zeit eine andere Durchsage abzuspielen. Dennoch hören die Reisenden in beiden Kontexten den wortgleichen (Durchschnitts-)Text.

Der Lautsprecher in der Münchner S-Bahn ist ein Sender klassischer massenmedialer Prägung. Er kennt seine Empfänger nicht, er kennt lediglich seine Botschaft, die kontextunabhängig für jeden Fahrgast in jedem Zugteil gleich verbreitet wird. Text vor Kontext.

Medien und mediale Öffentlichkeit funktionieren traditionell nach diesem Prinzip: Inhalt wird unabhängig von seinem Publikum beim Absender geformt und nicht bei oder gar mit den Empfängern. Der Absender schickt allen Empfängern den gleichen Inhalt – unabhängig von Vorwissen, Alter, Ort, Geschlecht, Zeit oder eben Reiserichtung. Wie bei einem Lautsprecher, der einen für alle Menschen gleichen Ton sendet, entsteht so eine Vorstellung von Öffentlichkeit, die sich vor allem aus den technischen Beschränkungen der Sender ergibt. Der Lautsprecher klassischer Prägung kann nur eine für alle gleiche Botschaft senden, die für alle Empfänger durchschnittlich richtig ist. Deshalb wiederholt er die Information der Zugteilung im Anschluss in englischer Sprache – auch für diejenigen, die gar kein Englisch sprechen. Diese Form der Informationsvermittlung ergibt sich aus dem gelernten Distributionsmodell der vordigitalen Zeit der Massenproduktion: ein Sender, der viele Empfänger bedient, die er nicht kennt – und die sich nicht zu erkennen geben (können) –, kann in diesem Modell gar nicht anders, als lediglich eine (Durchschnitts-) Botschaft zu senden, die für alle gleich ist. Ein Lautsprecher ist eben kein Kopfhörer, über den der Benutzer selber bestimmen kann, was er hört. Das Ende des Durchschnitts beschreibt den Übergang von der Lautsprecher- zur Kopfhörer-Kultur3.

Die Empfänger sind im Beispiel der S-Bahn durch ihren Sitzplatz unterschieden, in Wahrheit ist die Differenz zwischen ihnen aber natürlich viel größer: Jeder Empfänger bildet seinen eigenen Rezeptionskontext, der sich aus unzähligen Daten wie Tageszeit, Gesundheitszustand, Reiseziel, Vorgeschichte zusammensetzt – nicht nur aus dem Sitzplatz im Zugteil der S-Bahn. Nun ist es nicht mehr so, dass jeder Reisende diese Informationen nur kognitiv als eigene Erinnerung und Erfahrung mit sich führte. Fast jeder von ihnen hält heute ein Gerät in der Hand4, das diese Informationen aussenden und externe Informationen empfangen kann – dadurch verändern sich die Rahmenbedingungen nicht nur der Kommunikation.

Was passiert, wenn die Empfänger sich (wissentlich oder unwissentlich) mit ihrem ganz eigenen Kontext zu erkennen geben? Wie verändert sich ein Sender, der seine Empfänger kennenlernen und basierend auf deren Rezeptionskontext segmentiert oder gar individualisiert ansprechen kann? Was bedeutet dies für Form und Verbreitungsart von Inhalten? Wie verändert sich die Vorstellung von Öffentlichkeit, wenn nicht mehr alle unter dem gleichen Lautsprecher stehen müssen, um zu erfahren, was für sie wichtig ist? Wie verschieben sich Gedanken- und Geschäftsmodelle wenn der Kontext künftig ebenso bedeutsam für eine Botschaft sein kann wie deren Text (Inhalt)? Was heißt das für all diejenigen, deren Geschäfte bisher darauf basier(t)en, Text und nicht Kontext zu erstellen? Welche Herausforderungen ergeben sich für diese Akteure der Öffentlichkeit, wenn das Sammeln von Nutzerdaten dazu führt, dass manche Inhalte gar nicht mehr beim Sender sondern vielmehr beim Empfänger erstellt werden? Wie verändern sich Kunst, Kultur und Kommunikation, wenn wir beim Begriff Meta-Daten nicht mehr nur auf den hinteren Wort-Teil schauen? Der vordere Wort-Teil hat diesem Buch seinen Titel gegeben – sozusagen als freundlicher Hinweis auf seine Blickrichtung auf die Digitalisierung: Text plus Kontext!

In den Bereichen, in denen digitale Technologien weniger bedenkenlos eingesetzt werden als in der Kulturbranche, weiß man den Wert der Metadaten bereits zu schätzen. Die Geheimdienste haben ihren Fokus schon lange von der Überwachung des Inhalts auf die Speicherung und Auswertung von Meta-Daten gerichtet. Diese, gestand im November 2013 der ehemalige NSA-Justiziar Stewart Baker, »sagen Ihnen absolut alles über das Leben eines Menschen. […] Wenn Sie ausreichend Meta-Daten haben, brauchen Sie keine Inhalte mehr.«5 Peter Glaser fasste dies folgendermaßen zusammen: »Informationen darüber, mit wem man sich wann ausgetauscht hat, können genauso aussagekräftig sein wie Gesprächsinhalte.«6 Belegt wurde dies im Winter 2013 in einem Experiment, das die Stanford-Forscher Jonathan Mayer and Patrick Mutchler im Projekt MetaPhone7 durchführten. Dafür installierten freiwillige Teilnehmer eine App auf ihren Smartphones, mit deren Hilfe die Forscher einzig Metadaten auslasen – und dennoch zu erstaunlichen Ergebnissen kamen. Vielleicht ist es also an der Zeit, den Wert der Metadaten nicht einzig den gefürchteten Überwachern zu überlassen – und stattdessen zu überlegen, wie Metadaten auch positive Effekte hervorrufen können.

All diese Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich kurz vor dem Münchner Flughafen an der Station Neufahrn ratlosen Ortsfremden erkläre, dass sie sich im richtigen Zugteil befinden, wenn sie zum Terminal wollen. Vom Bahnsteig blicken unterdessen Augen in den Wagen, die aus einem farbverschmierten Gesicht in die Welt schauen. Sie gehören zu einem Werbegesicht, das auf die Vorzüge der sogenannten Außenwerbung hinweisen soll. »Trifft jeden«8 heißt der Slogan, der mit Hilfe von Plakatwerbung auf die Möglichkeiten der Plakatwerbung aufmerksam machen will. Illustriert wird dies durch Farbe, die im Gesicht des jungen Manns verteilt ist, der gerade vom Plakat in meinen Zugteil schaut. Ein paar Meter weiter ist eine Frau aus der gleichen Kampagne zu sehen. Ihr wurde von der Reichweite symbolisierenden Farbe der Rücken koloriert.

Abgesehen davon, dass man sich als Verbraucher fragt, ob man denn in dieser farbverschmierenden Form getroffen werden will, zeigen die Plakate für diese Art der Plakate, dass es offenbar ein Problem mit Sendern gibt, die zwar theoretisch jeden erreichen, dies aber nur mit einer immer gleichen Botschaft. Ein Sender, eine Botschaft, viele Empfänger scheint für Werbetreibende nicht mehr zwingend das einzig mögliche Modell zu sein. Sie müssen augenscheinlich auf die Attraktivität dieser Form der Außenwerbung gestoßen werden, da sich der Nutzen nicht (mehr) selbstverständlich offenbart. Außerdem scheinen die Plakatflächen selbst nicht vollständig ausgebucht zu sein, wenn sie genutzt werden um für sich selber zu werben. Womöglich gibt es leicht zugängliche Alternativen, die nicht mehr jeden treffen, sondern nur diejenigen, die getroffen werden sollen: Menschen vielleicht, die sich sogar über Farbspritzer freuen und sie nicht als Behelligung empfinden. So wie die Bahndurchsage eben nur für diejenigen Reisenden hilfreich ist, die im falschen Zugteil sitzen. Für alle anderen ist sie so nützlich wie der Inhalt eines umfallenden Farbeimers im Gesicht. Digitale Werbeformen versprechen nicht mehr einfach nur Reichweite, sondern Zielerreichung – in bestimmten Zielgruppen9.

Diese kleine Alltagsbegebenheit ist mir Illustration für eine Veränderung, die die Digitalisierung angestoßen hat und deren Ausprägungen wir quasi täglich und in nahezu allen Lebensbereichen beobachten können. Denn selbstverständlich nutzen Werbetreibende bereits Modelle, die deshalb effizient sind, weil sie eben nicht jeden treffen. Sogenannte kontextsensitive Reklame stellt ihren Zusammenhang nicht mehr nur über den thematischen Bezug zu den Inhalten her, neben denen sie gezeigt wird, sondern auch über den Rezeptionskontext der Empfänger. Digitale Distributionsmodelle sind keine Einbahnstraßen mehr, sondern Netze; keine Rampe, sondern Räume. Es geht nicht mehr nur darum, Inhalte abzuliefern, es geht um Verbindungen, um Dialog10 – und dieser Dialog muss nicht zwingend ein verbalisiertes Gespräch sein: Nutzer geben wissentlich oder unwissentlich11 Informationen über sich preis, die nicht nur werbende Sender12 nutzen, um Inhalte anzupassen und zuzuschneiden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch der Zug sein eigenes Wissen nutzen und die Fahrgäste abhängig von ihrem auf Metadaten (in diesem Fall: Aufenthaltsort im Zug) basierenden Kontext informieren wird. In Hamburg kann die S-Bahn – übrigens auch mit dem Namen Linie 1 – genau das schon: »Dieser Zugteil fährt Richtung Flughafen, wenn Sie in Richtung Poppenbüttel reisen wollen, steigen Sie bitte hier um.« Wenn man einen solchen Satz mit anderem Reiseziel auch in der Münchner S-Bahn hört, wird die Macht des Kontextes in einen weiteren Lebensbereich vorgedrungen sein, der Durchschnitt wird ein wenig mehr an Bedeutung verloren haben.

Das sieht man besonders, wenn man sich Fortbewegungsmittel anschaut, die weiter individualisiert sind als die zwei Zugteile einer S-Bahn: Autos. Wer mit einem modernen Kraftfahrzeug reist (zum Beispiel zum Flughafen), nutzt die technischen Errungenschaften der Kontextualisierung bereits so selbstverständlich, dass sie vielleicht gar nicht mehr auffallen. Das Licht in der Tiefgarage, in der das Auto steht, schaltet ein Bewegungsmelder ein – und zwar nur, wenn seine Sensoren Bewegung registrieren. Gleiches gilt für das Rolltor vor der Ausfahrt, das sich wie eine Schiebetür automatisch öffnet wenn man möglichst nah heranfährt. Der Scheibenwischer erkennt den einsetzenden Regen und schaltet sich eigenmächtig ein – ohne dass der Fahrer Einfluss darauf nimmt; wie auch die Scheinwerfer zu strahlen beginnen, wenn der Wagen durch einen Tunnel fährt und auf einen veränderten Kontext (»es ist dunkel«) reagieren muss. Die Nutzung eines Autos ist schon heute durch die Möglichkeiten der Kontextualisierung vereinfacht worden – und Menschen mit Weitblick kündigen an, dass diese Entwicklung zum Beispiel durch das genannte autonome Auto noch zunehmen wird. In ihrem Buch The Age of Context zitieren Robert Scoble und Shel Israel einen Manager des Autoherstellers Toyota, der das Auto der Zukunft als »iPhone auf Rädern« beschreibt – also als extrem vernetztes Dialog-Gefährt, das Informationen sammelt und sendet und so einen (Rezeptions-)Kontext für den Fahrer herstellt,13 der auch dessen Aufgabe am Steuer neu definiert: Denn ein so ausgestattetes Fahrzeug hat (wie der Zugteil im Eingangsbeispiel) mehr Wissen als der Fahrer. Es wäre nur konsequent, wenn ein solches Auto auch selber fährt. In der Sendung »Drohnen, Roboter und selbstfahrende Autos« zieht der Journalist Christian Schiffer im Deutschlandfunk daraus erstaunliche Schlüsse. Er blickt in die Zukunft und sagt: »Wenn sich selbstfahrende Autos durchsetzen […] dann wäre das nichts weniger als ein Segen für die Menschheit. Wer Bilder aus dem 19. Jahrhundert ansieht, dem wird auffallen, dass früher einmal Straßen vor allem dem beweglichen Verkehr gedient haben. Und heute? Links und rechts parken Autos, Dutzende von Autos, Hunderte davon, Tausende. Unsere Autos fahren im Schnitt weniger als zehn Prozent ihrer Zeit, den Rest stehen sie nur herum und bilden eine erstarrte und völlig unbrauchbare Blechlawine. Die Arterien unserer Städte sind verstopft mit herumstehenden Automobilen. Experten schätzen, würde man selbstfahrende Autos mit Carsharing-Modellen kombinieren, käme man wohl mit 15 oder 20 Prozent der Autos aus, die wir heute benötigen.«14

Das Auto eignet sich auch deshalb als Zukunftsgefährt, weil man in den Kraftfahrzeugen der Gegenwart eine besonders uneffiziente Form der klassischen Nachrichtenübermittlung quasi im Viertelstundentakt hören kann: Verkehrsmeldungen im Radio funktionieren nach dem Prinzip klassischer (Durchschnitts-)Öffentlichkeit. Auf alle Empfangsgeräte werden die gleichen Meldungen geschickt – unabhängig von Ort, Zeit und Fahrtrichtung. Wer zum Beispiel aus der Innenstadt zum Münchner Flughafen unterwegs ist, muss sich akustisch durch viele Kilometer Staumeldung auf bayerischen Autobahnen kämpfen, bis er die Information bekommt ob für die Bundesautobahn 92 (numerisch im Verkehrsfunk weit hinten) aktuell eine Meldung vorliegt. Ein Stau auf dem Flughafenzubringer kann für den Flugreisenden zu echten Problemen führen, er ist aber versteckt in allerlei Meldungen, die – selbst bei großem Interesse an Gemeinden mit Autobahnanschluss – in diesem Moment unbedeutend sind.

Ein Sender, eine Botschaft, viele Empfänger – wenig Effizienz.

Menschen, die häufig Radioprogramme mit Verkehrsfunk hören, haben je nach Bundesland eine enge Verbindung zu Ortschaften wie Würzburg-Heidingsfeld, Köln-Niehl oder dem Autobahnkreuz in Kamen. Sie hören diese Namen ständig, völlig unabhängig davon, ob sie sich in der Nähe befinden, später in diese Richtung reisen oder wenig automobil auf dem Sofa sitzen und dort auch bleiben wollen. Es handelt sich um extrem stauträchtige Orte, die kontextlos wieder und wieder im Laufe eines Tages erwähnt werden – obwohl der Autofahrer sie gar nicht zwingend ständig hören müsste. Die Information könnte auch technisch an das Auto übermittelt und nur akustisch genutzt werden, wenn es für den Fahrer wichtig ist.

Wer regelmäßig mit dem Auto fährt und dabei Nachrichten im Radio hört, könnte vermutlich innerhalb eines Jahres mehrere klassische deutsche Gedichte auswendig lernen, würde er in der Zeit, in der er in merkfähiger Wiederholung Autobahnkreuze aufgesagt bekommt, deutsche Dichtung anhören. Ein so geschulter Hörer wüsste dann ohne längeres Suchen im Hirn (Nachdenken) oder im Netz (Googeln), woher diese Zeilen stammen:

Den schlechten Mann muß man verachten,

Der nie bedacht, was er vollbringt.

Das ist’s ja, was den Menschen zieret,

Und dazu ward ihm der Verstand,

Daß er im innern Herzen spüret,

Was er erschafft mit seiner Hand.

So dichtete Friedrich Schiller im Jahr 1799 in »Das Lied von der Glocke«. Heute kann man das Gedicht innerhalb weniger Sekunden aus dem Internet abrufen und nachlesen, wie der Dichter das Entstehen einer Kirchturmglocke und ihre Anwendung in unterschiedlichen Lebensstationen beschreibt. Lebensstationen, die heute in Form eine Timeline oder Chronik auf den persönlichen Seiten bei Facebook und Instagram gesammelt und gepflegt werden und die jeder mit seinem Smartphone wie ein nebenbei und lebenslang geführtes Tagebuch ständig bei sich trägt. In diesen Jahren wird die erste Generation von Jugendlichen heranwachsen, die seit den frühen Lebensjahren ihre gesamte Vita in dieser Weise aufzeichnen wird und so ein pralles Datenpaket absoluter Individualität anlegt, das in alle Richtungen nutzbar ist. Ob sie noch Gedichte lernen wollen oder müssen?

Denn eigentlich muss man in Zeiten der digitalen Verfügbarkeit keine Inhalte mehr memorieren, man kann sie jederzeit aus dem Netz fischen. Dennoch eröffnete das Herausfiltern von ungewollten Informationen auch neue Kapazitäten, die nicht nur dem Neuen oder einer Steigerung der Effizienz dienen können (wie in Zukunftsvisionen oft selbstverständlich unterstellt) – sondern auch einer sehr klassischen Fähigkeit wie dem Lernen von Gedichten. Was gewiss sinnvoller ist als das Memorieren von stauträchtigen Autobahnanschlüssen.

In meinem Buch Mashup15 habe ich 2011 darzulegen versucht, was die Digitalisierung für unsere Vorstellung von Inhalten bedeutet, für die Frage, was eigentlich noch Original und was Kopie ist, wenn Vorlage und Vervielfältigung sich einzig anhand ihres Zeitstempels unterscheiden – also anhand ihrer Metadaten. Und genau auf diese Metadaten will ich nun den Blick lenken. Sie spielen in der S-Bahn und im Verkehrsfunk eine entscheidende Rolle. Sie bilden die Grundlage für all das, was den Durchschnitt infrage stellt und was ich unter Kontext zusammenfasse: Den Zusammenhang von Inhalten, der auch deshalb an Bedeutung gewinnen wird, weil Inhalte duplizierbar geworden sind. Digitalisierte Inhalte werden von ihren Datenträgern gelöst und können kosten- und verlustfrei vervielfältigt und somit eben auch aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gerissen werden.16 Das begünstigt die Möglichkeiten von Remix- und Mashup-Kompositionen in der Musik, es bildet die Grundlage für die sogenannte Meme-Kultur im Internet und sorgt für sogenannte virale Verbreitung von Trends im Netz.17 Es führt aber auch dazu, dass der singuläre Inhalt allein an Wert verliert. Doch der Kontext eines Textes könnte dem Inhalt Bedeutung, Wertschätzung und vielleicht auch Finanzierungsmodelle zurückbringen. Der Zusammenhang, der (auch) durch die Metadaten von Sender, Botschaft und Empfänger entsteht, wird in all den Bereichen18 (nicht nur von Kunst und Kultur) an Bedeutung gewinnen, die digitalisiert werden – sich also den Grundbedingungen der Digitalisierung unterziehen.

Wie reagieren Inhaltsproduzenten, die gewohnt sind, auf den Text und nicht auf den Kontext zu schauen, auf diese Entwickelung? Welche Strategien können Journalistinnen, Musiker, Literaten, Filmemacherinnen und Autoren nutzen? Deren Werke werden heute auf den gleichen Geräten konsumiert, die individualisierte Informationen bereithalten, sie sind aber selbst bisher (zumeist) völlig kontextlos. Ein Buch ist ein Buch – egal ob man es morgens oder nachts liest, ein Zeitungsartikel bleibt der gleiche Zeitungsartikel – egal ob ihn ein Arzt oder ein Patient liest. Eine Verkehrsmeldung bleibt eine Verkehrsmeldung – egal ob sie von einem Autofahrer auf der genannten Strecke oder von einem unbeteiligten Zuhörer vor dem Schlafengehen gehört wird.

Dass dies so ist, liegt an den Begrenzungen der Formen der Distribution, die uns so stark geprägt haben, dass sie unsere Vorstellung von Wissen definieren. In der Kultur vor dem Buchdruck, der die technischen Möglichkeiten dieser Vereinheitlichung erst schuf, galt stets das gesprochene Wort, das an Zusammenhänge und Publika angepasst und verändert werden konnte – und wurde. Geschichten wurden leicht variiert und in Kontexte gestellt, je nach dem, vor welchem Publikum sie erzählt wurden. Unter anderem deshalb liegt das Buch der Bücher in seinem Neuen Testament in vier Versionen vor.19 In der damaligen Welt ohne Papier und ohne massenhaften Druck erfand man andere Mechanismen, um tatsächlich identische, kontextlose Verbreitung zu schaffen: Wichtige religiöse Texte und Gebete werden deshalb seit jeher auswendig gelernt und auf diese Art identisch kopiert. Historisch liegt hier im Übrigen die Begründung dafür, warum wir es für wertvoll halten, Gedichte wie »Die Glocke« auswendig aufsagen zu können. In Mashup habe ich auch diese besondere Form der Kopie beschrieben. Der Kulturtechnik der Nachahmung und Imitation ist das Lob der Kopie gewidmet, das Buch beschreibt aber auch, wie das kosten- und verlustfreie Duplikat, das die digitale Kopie alltäglich gemacht hat, die Gesellschaft grundlegend verändert. Wie dadurch auch gänzlich neue Möglichkeiten der Verbreitung, Vermarktung und Finanzierung von Inhalten umsetzbar sind, habe ich 2013 in dem folgenden Buch Eine neue Version ist verfügbar beschrieben.20 Darin skizziere ich eine besondere Form von Meta-Daten: die Kontextualisierung auf Produzentenseite, also die Versionierung von Inhalten in ihrem Entstehungsprozess. Kultur als Software zu denken bildet deshalb für mich die Voraussetzung, um im nächsten Schritt den Blick von der Entstehung von Kunst und Kultur auf deren Aufnahme und Rezeption zu richten. Darum geht es in diesem Buch. Das ständig verfügbare Netz und die dadurch entstandenen Verbindungen ermöglichen ein verändertes Modell von Sender, Botschaft und Empfänger. Es geht nicht mehr nur darum, einen vorhandenen Inhalt zuzuschneiden und zu personalisieren. Es geht zunehmend auch darum, dass der Inhalt erst durch die Metadaten des Empfängers entsteht. Deshalb möchte ich den Dreiklang Kopie – Version – Kontext mit dem Oberbegriff ›Meta‹ rahmen. Kontext im Sinne des lateinischen contexto (zusammenweben) meint dabei jegliche Form von Sinn- und Datenzusammenhang, der über den reinen Inhalt hinausgeht – sich also auf das bezieht, was diesem Buch den Titel gegeben hat: die Metadaten. Damit sind all jene Daten gemeint, die sowohl bei der Erstellung als auch beim Konsum eines Inhalts anfallen. Aber auch jene, die an den Inhalt selbst gebunden sind.

Ziel dieses Oberbegriffs ist es, die Konditionen des Digitalen besser zu verstehen. Nur dann werden wir analysieren können, wie die Digitalisierung politische, kommerzielle und kulturelle Rahmenbedingungen verändert. Dieses Verständnis ist notwendig, um die digitale Zivilgesellschaft verstehen und gestalten zu können, aber auch um neue Denk- und Geschäftsmodelle für Kunst und Kultur auszuprobieren, die die Klimabedingungen des Digitalen nicht bekämpfen, sondern nutzen, um Kunst und Kultur, aber auch demokratische Grundwerte im neuen Umfeld möglich zu machen. Konkret bedeutet dies: Ich möchte mit diesem Ansatz den Blick aufs Kopieren als Zentralprinzip des Digitalen verändern. Bisher wird das Duplikat eines Inhalts als Raubkopie, also als Diebstahl am Original angesehen. Ich glaube, wir sollten die Kopie künftig vielmehr als Schaffung dessen betrachten, was Vorlage und Vervielfältigung unterscheidet: ihre Metadaten. Die Kopie raubt nicht Content, sie produziert: Kontext!

Um Medien im digitalen Raum zu verstehen, sollten wir den Blick auf diese beiden Begriffe richten, die neu entstehen: Metadaten und Kontext. Sie sind sozusagen der Schatten des reinen Inhalts, sie geben ihm Wert und Rahmen und fordern uns zu dem heraus, was ich »Das Ende des Durchschnitts« nenne.