Meuchelbrut - Dorothea Böhme - E-Book

Meuchelbrut E-Book

Dorothea Böhme

4,9

Beschreibung

Glenn Hinrichsen, alt und vermögend, findet sein eigenes Testament. Das Problem daran ist: Er hat es nicht geschrieben. Zu allem Überfluss kommt am selben Tag Onkel Harry ums Leben. Glenns Familie beschließt, einen Einbruch zu fingieren, um die Lebensversicherung zu kassieren. Was zunächst wie ein guter Plan aussieht, endet im familiären Chaos. Jetzt können nur noch Chefinspektor Reichel und dessen übermotivierter Assistent Huber helfen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 264

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (36 Bewertungen)
33
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dorothea Böhme

Meuchelbrut

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Sandra Derler / photocase.com und © victoria p. – Fotolia.com und © by-studio – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4322-0

Die Meuchelbrut

Glenn Hinrichsen, 84 Jahre alt und Besitzer des Herrenhauses in Lendnitz, in dem nicht nur er selbst, sondern auch der Rest seiner Großfamilie wohnt. Er ist griesgrämig, aber auch sehr einfallsreich. Seine Familie lässt er in dem Glauben, nicht laufen zu können, obwohl er längst nicht mehr auf seinen Rollstuhl angewiesen ist.

Opa, mit richtigem Namen Hermann, 89 Jahre alt, Glenns unauffälliger Halbbruder, dessen herausragendste Tat darin besteht, Stammvater der Hinrichsens zu sein, auch wenn er zum Familienleben selbst seit seinem Schlaganfall kaum noch etwas beitragen kann. Meist macht er sich über Gesten verständlich. Mit Michael, seinem Mau-Mau-Partner, kommuniziert er nuschelnd.

Roswitha Hinrichsen, 43 Jahre, von allen nur Mutter genannt, ist Opas Schwiegertochter und neigt zu Dramatik. Seitdem sie verwitwet ist, lebt sie mit ihren beiden Kindern Gesine und Michael auf Glenns Landgut. Ihre Familie ist das Wichtigste für sie. Mutter kümmert sich um alles und würde gern aktiver die Geschehnisse lenken, doch der Alkohol und ihr kaum zu bremsendes Interesse an Männern lassen sie manchmal unüberlegt handeln.

Michael Hinrichsen, 21 Jahre, Mutters Sohn, braucht meist länger, bis er etwas versteht. Verschiedene Lehrstellen musste er aufgeben, jetzt wohnt er erst einmal zu Hause und lässt sich von Mutter verwöhnen.

Gesine Hinrichsen, 16 Jahre, Mutters Tochter, zankt sich gern mit ihrem Bruder und ihrer Tante Frieda, mit der sie in einem Besserwisser-Wettstreit liegt. Gesine hält eine Vogelspinne als Haustier, interessiert sich vor allem für die Dritte Welt und liebt schwarzes Make-up.

Frieda Hinrichsen, 36 Jahre, Opas jüngste Tochter, lebt ebenfalls auf dem Landgut. Frieda ist rational, denkt logisch und strategisch. Oft behält sie als Einzige den Überblick.

Tante Martha, 81 Jahre, Glenns Schwester. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, über ihre schwache Konstitution zu jammern und diverse Krankheiten zu erfinden. Sie leistet Mutter gern Gesellschaft bei einem guten Brandy.

Tante Hilde, 49 Jahre alt, Opas Cousine, selbstzufrieden und ein wenig hochnäsig. Sie liegt im Streit mit fast der ganzen Familie, weshalb sie als Einzige nicht auf dem Landgut lebt.

1. Der Selbstmord

Alles fing mit Onkel Harrys Selbstmord an.

Glenn wollte sich gerade einen Tee holen, als er den Schuss hörte. Das alte Gewehr seines Urgroßvaters funktionierte also doch. Er bugsierte seinen Rollstuhl aus der Küche. Aus den übrigen Zimmern stürmte der Rest seiner Familie. Bis es Glenn gelang, seinen Rollstuhl durch den Flur zu manövrieren, hatten sich alle im Wohnzimmer versammelt.

Er verharrte in der Tür und betrachtete die Szene. Onkel Harry hatte ganze Arbeit geleistet. Er war eindeutig tot. Der Perserteppich unter ihm hatte sich mit Blut vollgesaugt. Harrys graue Haare waren damit verklebt und sein karierter Pullunder verfärbte sich langsam dunkel. An der Wand, am Kaminsims und auf der Couch waren Blutspritzer. Die Familie stand betreten um die Leiche herum, Frieda und Mutter tauschten Blicke.

Glenn kratzte sich an der Nase. Harry war immer schon seltsam gewesen. Er hatte ihn nicht leiden können. Genauso wenig wie sämtliche anderen Familienmitglieder, aber das war jetzt zweitrangig.

Gesine, dieses Gör in ihren ewig schwarzen Kleidern, starrte offensichtlich fasziniert auf die Wand hinter Onkel Harry. Glenn konnte von seiner Position aus Flecken auf der weißen Tapete erkennen. Seit Gesine vor etwa drei Jahren in die Pubertät gekommen war, fand sie alles gut, was düster oder mit Totenköpfen bestückt war. Blut und Leichen zählten wohl ebenfalls zu ihren Interessensgebieten.

Mutter riss in einer großen Geste die Arme hoch. Ihr tief ausgeschnittenes Seidenkleid setzte ihren wogenden Busen freizügig in Szene. »Was machen wir denn jetzt bloß?«

Es war immer Mutter, die dramatisch werden musste.

»Na, die Lebensversicherung«, fügte sie ungeduldig hinzu, als niemand reagierte. »Die zahlen bei Selbstmord nicht.«

»Daran hatte ich gar nicht gedacht!« Frieda schlug die Hände vor den Mund. Opa und Michael rissen entsetzt die Augen auf und Tante Martha musste sich setzen. Sie hatte ein schwaches Herz. Ihre Brille war ihr vor Aufregung etwas die Nase heruntergerutscht, beim Versuch sie wieder hochzuschieben, verfingen sich ihre zitternden Hände in ihrem Goldkettchen. Auch Glenn wurde unruhig. Harry hatte eine Menge Geld in die Versicherung gesteckt.

Nur Gesine starrte immer noch wie gebannt auf die Wand. »Ein bisschen Hirn hat Oma Margots Porträt erwischt«, sagte sie. »Gleich über ihrem rechten Auge.«

»Gesine, sei nicht taktlos«, schalt Frieda. »Oma Margot ist länger tot als Harry und wenn du dich erinnerst: Sie war so sensibel, die Kellertreppe hinunterzufallen. Sie hat keine Probleme mit der Versicherung gemacht.«

Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen, dann ließ Mutter sich ächzend in einen Stuhl fallen. »Aber was machen wir jetzt?«, jammerte sie, als jeder sie anblickte.

Gesines Blick klebte weiter an der Wand, Opa und Michael zuckten die Achseln und Tante Martha fächelte sich Luft zu.

Glenn blieb ebenfalls still.

Es war wie so oft Frieda, die alles regelte. Sie rückte ihre weiße Bluse zurecht, obwohl sie wie immer tadellos saß, dann strich sie sich ihre dunklen Haare hinter die Ohren. Frieda trug einen Bob, denn das war ›praktisch‹. Ihre grauen Augen verengten sich, den Mund zog sie zusammen, während sie die Lage klärte. »Niemand darf davon erfahren. Gedanken, wie wir diese unmögliche Sache in Ordnung bringen können, machen wir uns beim Abendessen.«

»Es ist ja schon nach sieben!«, rief Mutter. »Kein Wunder, dass ich so einen Hunger habe.«

Und so wurde das Problem mit Onkel Harry auf später verschoben.

Glenn sah stumm zu, wie seine Familienmitglieder nacheinander den Raum verließen. Mutter ohne Zweifel, um sich fürs Abendessen umzuziehen und neues Rouge aufzulegen. Gesine musste wahrscheinlich ihre Vogelspinne füttern.

Jetzt, da er allein war, fuhr Glenn zu Harry hinüber. Es war mühsam, denn sein Rollstuhl mochte die dicken Teppiche des Wohnzimmers nicht. Von seinem Platz in der Tür hatte er nicht viel von Harrys Kopf erkennen können. Aus der Nähe sah er, dass einfach nicht mehr viel davon übrig war. Onkel Harrys Gehirn befand sich teils in seinem Schädel, teils auf der Polsterung des Sofas. Glenn betrachtete das Gewehr und die etwas unglückliche Art, wie Harry es in der Hand hielt. Dennoch gab es keinen Zweifel: Es war Selbstmord. Oder jemand hatte es wie Selbstmord aussehen lassen. Das so erfolgreich, dass Glenn keinerlei Spuren entdecken konnte. Gesine hatte recht gehabt, über Oma Margots Auge klebte Hirn. Das Dienstmädchen würde einiges zu tun haben. Angeekelt drehte Glenn sich um und rollte zurück in den Flur.

Sein Zimmer befand sich im ersten Stock. Er musste also mit dem Hausaufzug fahren, der sich inmitten des dunklen und ebenfalls mit schweren Teppichen ausgelegten Flurs befand. Der Aufzug war das einzige Zugeständnis an die Moderne, der Rest des Hauses war von Mutter und Frieda dekoriert worden, sie nannten es ›echt kärntnerisch‹. Glenn nannte es ›Kitsch‹. Als eingefleischter Norddeutscher hatte er nichts übrig für Blumenkästen, von denen getrocknete Maiskolben herabhingen, und auch Jagdtrophäen waren in seinen Augen eher morbide. Immerhin liebte Gesine die Trophäen, inzwischen kannte sie schon die Namen der meisten Knochen.

Er drückte auf den Rufknopf für den Aufzug. Vor drei Wochen hatte er die Seile überprüfen lassen. Nachdem Diener Albert überraschend die Treppe hinuntergestürzt war, wollte Glenn bei seinem eigenen Transportmittel kein Risiko eingehen. Seiner Familie hatte er nichts von dem Sicherheitsseil aus Stahl erzählt, das die Monteure angebracht hatten. Dafür gab es Gründe. Aber er war sich noch nicht sicher, ob es für ihn eine Befriedigung sein würde zu wissen, dass es kein Unfall sein konnte, wenn er im freien Fall in den Keller raste.

In seinem Zimmer angekommen, schloss er die Tür ab, atmete durch und stieg aus seinem Rollstuhl. Sein Unfall im letzten Jahr hatte ihn für einige Wochen gelähmt. Eine der besten Reha-Kliniken Kärntens hatte ihn anschließend wieder auf Vordermann gebracht. Er bevorzugte es jedoch, seine Familie über seine tatsächlichen körperlichen Fähigkeiten im Unklaren zu lassen.

Denn er hatte seine eigenen Theorien. Über seine Familie im Allgemeinen und über Harry im Besonderen. Glenn war der Besitzer des großen Gutshauses und der dazugehörenden Ländereien. Er war derjenige in der Familie, der das Geld besaß. Er wäre der nächste Tote, der offiziell als Unfall oder Selbstmord enden würde.

Jeden Tag vor dem Frühstück machte er eine halbe Stunde Morgengymnastik. Glenn kicherte. Der Rest der Bande hielt ihn für einen 84-jährigen Krüppel. Gut so. Er hätte seinem Mörder immerhin den Überraschungseffekt voraus.

Nachdenklich zog er das ordentlich datierte und sorgfältig unterschriebene schneeweiße Blatt Papier aus der untersten Schublade seines Schreibtisches, das er in den letzten Tagen so oft betrachtet hatte.

›Testament‹ stand oben.

›Glenn Hinrichsen‹ stand unten.

Dem Testament nach war er ein rücksichtsvoller, ein liebender Mensch. Ein Verwandter, wie man ihn sich nur wünschen konnte. ›Meiner lieben Frieda vermache ich‹, stand in der Mitte. ›Meine geschätzte Martha bekommt‹, stand darunter. ›Mein teurer Michael‹, darüber. So ging es die ganze Seite lang weiter. Keiner war ausgelassen worden, an alle war gedacht.

Nachdenklich betrachtete Glenn das Papier, aber er konnte nichts Merkwürdiges feststellen. Die Qualität war gut, die Unterschrift perfekt, das Wasserzeichen korrekt. Nur: Er hatte dieses Testament nicht geschrieben.

2. Die Pensionierung

Fritz Reichel, Chefinspektor der Polizei Lendnitz, seufzte zufrieden. Glücklich betrachtete er die Zeichnung, die er in den letzten zwei Stunden mit Hingabe angefertigt hatte. Sie zeigte die Grundrisse des Vorgartens, den er plante. Er würde ein Rosenbeet anpflanzen, rote und weiße Rosen gemischt, von Buchsbäumen umsäumt. Den Weg zur Haustür sollten Begonien weisen und in die hinteren Ecken würde er jeweils einen Obstbaum setzen. Vielleicht könnte er hinterm Haus einen Gemüsegarten anlegen? Mit eigenem Spinat und Karfiol. Gedankenverloren fügte Reichel seiner Zeichnung zwei Äpfel hinzu und blickte auf die Uhr. Einige Sekunden später schob er seinen Sessel zurück und zog seinen Mantel an. Wieder war ein Diensttag auf der Wache vorüber.

Reichel lächelte und öffnete das Fenster. Von der Marienkirche her waren leise Glockenschläge zu vernehmen. Fünf Uhr. Feierabend, dachte Reichel glücklich und begann zu summen. Ein Lied, das seine Mutter früher gesungen hatte, wenn sie am Sonntag zum Wandern auf die Saualpe gegangen waren, fiel ihm ein. Lang, lang war das her, und Reichels Grinsen wurde breiter.

»Wann’s Glöckle hell klingt und die Senn’rin schean singt«, brummte er und betrachtete die acht kleinen Steinchen, die die Tage bis zu seinem Ruhestand zählten. Die Tage bis zum Anfang einer wundervoll ruhigen Zeit, ohne Arbeit, dafür mit Vorgarten. Er nahm einen Kieselstein vom Sims und warf ihn mit Schwung in den Hinterhof.

Es konnte nichts mehr schiefgehen, Reichel hatte vorgesorgt: Regelmäßig ließ er die Streifenwagen patrouillieren, um jedes Verbrechen im Keim zu ersticken. Und das Wichtigste: Seinen Assistenten Huber hatte er in den Urlaub geschickt. Der übereifrige junge Mann würde erst am Tag von Reichels Pensionierung wieder im Dienst sein. Somit lief der Chefinspektor keine Gefahr, in abstruse Mordfälle – und damit in Arbeit – verwickelt zu werden.

3. Die Beförderung

Marie Schwerdtfeger öffnete beim Klang der Glocken das Fenster und blickte hinaus auf den Klagenfurter Dom. Sie genoss den lauen Luftzug, der hereinwehte, und den Anblick des sakralen Barockbaus. Sie war nicht gläubig, aber hin und wieder setzte sie sich nach der Arbeit eine Viertelstunde ins Kirchenschiff, um in den herrlichen Goldverzierungen zu versinken. Ein Büro in der Innenstadt hatte seine Vorteile. Auch das Studium an der Alpen-Adria-Universität, das sie vor zwei Jahren abgeschlossen hatte, hatte ihr gefallen, so direkt am See. Aber letztlich konnte der Wörthersee so schön sein, wie er wollte, Marie war ein Stadtmensch. Sie strich sich die langen blonden Haare aus der Stirn und lehnte sich an den Fensterrahmen. Nachdem das Kirchengeläut aufgehört hatte, setzte Marie sich zurück an ihren Schreibtisch und heftete einige lose Blätter in einen Aktenordner. Sie klappte den Deckel zu und nahm genüsslich einen Schluck ihrer Melange, für heute war es genug. Der Klagenfurt-Kärntnerischen-Versicherung, kurz KKV genannt, ihrem Arbeitgeber, hatte sie einen Sieg beschert. Ihren letzten Fall hatte sie erfolgreich erledigt, indem sie den Versicherungsbetrüger Alfred Erdiger aus Spittal überführte. Und was für ein Fall das gewesen war! Das sollte ihr erst einmal einer nachmachen. Ihr arroganter Kollege Jakob Jaritz hätte es sicher nicht geschafft, in nur viereinhalb Tagen nachzuweisen, dass Erdiger, der sich beim Stutzen seiner Gartenhecke drei Zentimeter seines Penis abschnitt, dies nicht etwa versehentlich, sondern mit voller Absicht getan hatte. Er hatte auf die Versicherungssumme in Höhe von 75.000 Euro gehofft, und darauf, nochmals bei der Berufsunfähigkeitsversicherung eine Rente abzukassieren. Alfreds bestes Stück war nämlich gleichzeitig das beste Stück der Produktionsfirma ›Porn und Pleamle‹ und Star der unvergleichlichen Filme ›Kufenstechen 1 bis 27‹. Aber er hatte nicht mit Marie Schwerdtfeger gerechnet.

Zugegeben, Alfred Erdiger war einer der interessanteren Fälle, und nicht nur, weil er ihr Bewunderung abrang für seine Tat. Welcher andere Mensch wäre wohl bereit zu solchen drastischen Maßnahmen, nur weil er genug vom Pornobusiness hatte? Die meisten Versicherungsbetrüger waren ängstlich und völlig unkreativ. Der Standard waren Autobesitzer, die behaupteten, dass ihrem Auto über Nacht durch einen anderen Fahrer ein Totalschaden beigebracht worden war. Nach dem ersten Gutachten fanden sich meist keine Lackspuren eines anderen Fahrzeugs, dafür jedoch eine verbeulte Leitplanke oder ein kaputtes Stoppschild in der Seitenstraße. Die Möchtegernbetrüger knickten schnell ein und gestanden alles.

Alfred Erdiger hatte sich mehr angetan. Und auch wenn Marie seine Gattin – und alle übrigen einsamen Frauen vor ihren DVD-Playern – bedauerte, war es ihre Pflicht gewesen, ihn zu überführen. Die schwierigen Fälle weckten ihren Ehrgeiz und Alfred Erdiger hatte es ihr nicht leicht gemacht. Umso mehr genoss sie das Gefühl, wieder etwas für die Gesellschaft und ihre Karriere getan zu haben. Denn ihr Ziel war eine Beförderung. Und nach dieser tadellosen Meisterleistung hatte Marie ihren Karrieresprung so gut wie in der Tasche. Abteilungsleiterin Süd. Allein der Klang! Sie würde nicht nur eines der begehrten großen Büros in der vierten Etage bekommen, sondern allein für die Region Südkärnten und Slowenien zuständig sein. Keine Auswärts-Einsätze mehr, außer sie hatte Lust dazu. Keine Auto-Betrüger, keine langweiligen Diskussionen mit ihrem Chef. Höchstens noch neidige Blicke von Jakob Jaritz und regelmäßige Abendessen im Maria Loretto oder Landhaushof. Als Abteilungsleiterin Süd würde sie einen angemessenen Lebensstil pflegen. Marie atmete glücklich aus, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte die Arme über den Kopf. Wenn nur alle Tage so wären wie heute.

Es klopfte an der Tür.

»Herein!«

»Frau Schwerdtfeger, haben S’ einen Augenblick Zeit für mich?« Ihr Vorgesetzter, Herr Dr. Armin Warteburg betrat das Zimmer. Herr Dr. Warteburg hatte bei ihrer Beförderung ein entscheidendes Wörtchen mitzureden. Marie setzte ein strahlendes Lächeln auf und holte eine zweite Tasse. »Natürlich, Herr Dr. Warteburg. Für Sie hab ich immer Zeit«, betonte sie und gab ein Stück Zucker in die Melange. Sie fragte sich, ob sie nicht ein bisserl zu dick auftrug. »Geht es um meinen letzten Fall? Alfred Erdiger?« Sie schob Herrn Dr. Warteburg die Akte hinüber. »Heute hab ich das letzte Gutachten zusammen mit seinem Geständnis eingeheftet. Ein eindeutiger Betrugsversuch nach unseren AGBs, Seite 13 bis 15, Paragraf 28 und 31 im Kleingedruckten.« Ja, das war das typische Geschäftsverhalten, wie man es von einer zukünftigen Abteilungsleiterin erwarten konnte. Außerdem hatte sich in langjähriger Erfahrung herausgestellt, dass viele Informationen in kurzer Zeit ihren Chef komplett überforderten, sodass seine einzige Reaktion in wiederholtem Nicken bestand. Das hatte Maries Spesenkonto schon des Öfteren Gutes getan.

Diesmal war Herr Dr. Warteburg jedoch nicht bei der Sache. Statt Marie zuzuhören, rührte er nachdenklich in seiner Tasse. Schließlich blickte er auf.

»Es steht außer Frage, dass Sie gute Arbeit leisten.«

Marie nickte.

»Es gibt da nur eine Kleinigkeit.« Ihr Vorgesetzter lächelte verkrampft und nahm einen Schluck Kaffee. Er ließ ihn für einige Sekunden im Mund, bevor er ihn hinunterschluckte und fortfuhr: »Der Jaritz Jakob hat gestern den Wellhofer-Fall abgeschlossen.«

Herr Dr. Warteburg machte eine weitere Kunstpause.

»Um es kurz zu machen: Er hat unserer Versicherung eine Schadenssumme in Höhe von 1,5 Millionen Euro erspart.«

»1,5 Millionen?« Maries Mund stand offen.

»Sehen Sie, und da liegt der Hund begraben.« Herr Dr. Warteburg knetete seine Hände. »Ich mag Sie, Marie, das wissen S’. Aber bei 1,5 Millionen kann selbst ich nichts mehr machen.«

Das durfte doch nicht wahr sein! Ausgerechnet Jakob Jaritz!

»Es tut mir wirklich leid.« Ihr Vorgesetzter stand auf, lächelte verlegen und ging rückwärts zur Tür. »Nächstes Jahr sind Sie ganz sicher mit einer Beförderung dran.«

Er winkte noch einmal ungeschickt und eilte auf den Flur. Die hinter ihm zuschlagende Tür klang für Marie wie eine Ohrfeige.

Für einige Minuten blieb sie reglos in ihrem Bürostuhl sitzen. Keine Beförderung dieses Jahr. Die Worte von Dr. Warteburg hallten in ihr nach. Keine Beförderung, keine Abteilungsleiterin Süd, keine Abendessen im Maria Loretto. Die schreckliche Wahrheit wurde ihr von Sekunde zu Sekunde mehr bewusst. Sie hatte diese Beförderung verdient, verdammt noch mal. Marie schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. Nein, sie würde sich nicht von Jakob Jaritz den Schneid abkaufen lassen. Auch nicht bei einem Vorsprung von 1,5 Millionen. Sie war schließlich nicht auf der Brennsuppn dahergeschwommen. Entschlossen griff Marie nach einer der vielen Akten, die neben ihrem Schreibtisch auf einem kleinen Servierwagen lagen. Mit einem Knistern schlug sie die ersten Seiten auf. Irgendwo musste ein Fall lauern, der so spektakulär war, dass der Vorstand gar nicht anders konnte, als Marie in die obere Etage zu holen.

4. Der Plan

»Nein, das Hühnchen ist ja mal wieder hervorragend«, hörte Glenn Tante Marthas Stimme, noch bevor er die Tür zum Esszimmer öffnen konnte. Martha war zwar seine Schwester, aber wie alle anderen hatte er sich Mutters Eigenart angewöhnt, die Familienmitglieder aus der Sicht ihrer Kinder Gesine und Michael zu benennen: So kam es, dass er zu Roswitha, der Witwe seines Neffen, die 40 Jahre jünger war als er, Mutter sagte, zu seinem Halbbruder Opa und zu seiner Schwester Tante Martha. Grimmig rollte Glenn an den freien Platz am Tisch, er ließ sich viel zu viel von dieser furchtbaren Frau beeinflussen. Er bedachte Tante Martha mit einem finsteren Blick. Small Talk war das Letzte, worauf er jetzt Lust hatte.

Frieda sah ihn an und hob eine Augenbraue. »Ist jemand gut gelaunt?« Sie tupfte sich den Mund mit der Serviette ab.

Glenn ignorierte sie und häufte sich Gemüse auf seinen Teller. Frieda war zu neugierig.

Opa schmatzte hörbar.

»Fantastisch«, kommentierte Tante Martha weiter ihr Essen. »Hühnchen hat auch kaum Fett. Das Beste, was ich essen kann, bei meiner schwachen Konstitution.«

Glaubte man Tante Martha, stand sie seit Jahren mit einem Bein im Grab. Glenn war fest davon überzeugt, dass sie jeden in der Familie überleben würde.

Es klopfte und die Köchin steckte ihren Kopf durch die Tür. »Ist’s guat?«, fragte sie, ein breites Lächeln in ihrem roten Gesicht. Martha und Frieda grinsten, während Michael vehement nickte.

»Sie sind einfach unsere Perle, meine Liebe, das wissen Sie doch.« Mutter strahlte, obwohl sie ihr Hühnchen kaum angerührt hatte.

Die Köchin lächelte stolz, strich eine graue Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Dutt nach vorn verirrt hatte, und rückte die Schürze zurecht, die eng um ihren rundlichen Körper geschnürt war. Dann blinzelte sie über die Tischgemeinschaft. »Wo ist denn der gnädige Herr? Der Harald?«

»Ach!« Mutter führte eine Hand zur Schläfe. »Der lässt sich entschuldigen, er hat noch etwas in Klagenfurt zu erledigen. Ob Sie so lieb wären, ihm einen Teller übrig zu lassen? Er hat doch eine Schwäche für Ihr Hühnchen«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Die Köchin lächelte. »Na freilich! Und jetzt werd i mi um die Nachspeis kümmern.« Sie schloss die Tür hinter sich.

Einen Moment lang blickte Mutter ihr nach, dann legte sie ihr Besteck klirrend auf dem Teller ab. »Ich weiß wirklich nicht, wie ihr jetzt etwas essen könnt!«, beanstandete sie das Familienidyll. »Hunderttausende gehen uns durch die Lappen. Hunderttausende! Michael, bitte, musst du die Finger nehmen?«

»Onkel Harrys Gehirn hat ein bisschen ausgesehen wie die Innereien«, bemerkte Gesine und bekam von Mutter einen bösen Blick zugeworfen.

»Was denn? Das war eine rein ästhetische Aussage.«

Glenn verdrehte die Augen. Das Kind las zu viel. Zu viel Schwachsinn.

»Im Übrigen sollten wir aufhören, Fleisch zu essen«, fuhr Gesine fort. »In Antigua verhungern die Kinder und wir stopfen Hühnchen in uns rein.«

»Du meinst Äthiopien«, korrigierte Frieda und zermatschte einen Kloß auf ihrem Teller.

»Woher willst du wissen, was ich meine?« Gesine kniff die Lippen zusammen.

»Kinder, nun streitet euch doch nicht. Wir haben einen tragischen Unglücksfall zu beklagen!« Mutter goss Wein nach.

Glenn verdrehte die Augen. Mutter und Onkel Harry hatten sich alles andere als gut verstanden.

»Genau«, sagte Frieda. »Wir müssen überlegen, was zu tun ist. Wie wäre es mit einem Unfall?«

»Beim Reinigen der Waffe löste sich versehentlich ein Schuss, oder was? Das glaubt doch kein Mensch«, torpedierte Gesine diesen Einfall. Sie war wohl sauer auf Frieda wegen Äthiopien. Das war ihre Art und Weise, miteinander umzugehen. Die beiden stritten sich den ganzen Tag und spalteten dabei Haare. Glenn hörte ihre schrillen Stimmen trotz Ohropax bis in sein Zimmer. Er schob Mutter sein Glas hin.

»Na gut.« Frieda überlegte. »Ein Unfall ist tatsächlich weit hergeholt. Michael!«

Diese Wendung kam zu abrupt für Michael, der sich prompt an einem Bissen verschluckte. Er hustete und Mutter klopfte ihm kopfschüttelnd auf den Rücken. Michaels abstehende Ohren, die unter seinen kurzen hellen Haaren gut sichtbar waren, wurden rot.

»Wie oft soll ich es denn noch sagen? Langsam essen und vernünftig kauen!«

»Schon gut, Mutter. Was ist denn los, Frieda?« Michael war nicht der Schnellste, in keiner Hinsicht. Er war mittlerweile 21 und hatte drei abgebrochene Ausbildungen vorzuweisen. Mit Anweisungen kam er nicht zurecht, zumindest nicht, wenn es mehrere Aufgaben auf einmal waren.

»Bist du schon einmal irgendwo eingebrochen?«

Michael blinzelte. »Äh … nee.«

»Bank überfallen? Kiosk ausgeraubt?« Frieda wedelte ungeduldig mit der Hand. Michael schüttelte den Kopf.

Mutter rollte mit den Augen. »Wo soll das Kind denn so etwas gelernt haben?«

Glenn konnte sich kaum noch zurückhalten. »Nützlich wäre es ja«, mischte er sich ein und blickte Michael so ernst an, wie er konnte. Für seine Mühe erntete er einen dankbaren Blick von Frieda.

»Eben. Wir lassen es wie einen Mord aussehen. Ein Einbrecher erschießt Onkel Harry.«

»Oh!«, rief Mutter. Ihre Augen leuchteten. »Stellt euch das vor: Es ist mitten in der Nacht, Finsternis liegt über dem Haus, ein schwarz gekleideter Einbrecher schleicht leise durch den Garten. Er findet ein Fenster, schlägt es vorsichtig ein, dreht den Hebel und steigt ins Haus.« Sie machte eine dramatische Pause, dann hob sie die Stimme: »Gerade will er ans Familiensilber im alten Eichenschrank, da kommt Onkel Harry ins Zimmer! Der Verbrecher wirbelt herum, verliert die Nerven. Ein Schuss, dann Stille. Onkel Harry ist tot.«

Einen Moment schwiegen alle. Glenn musste zugeben, dass der Plan nicht übel war.

»Frieda, du bist ein Genie!«, rief Mutter. »Unser Problem ist gelöst, wo bleibt das Dessert?«

»M-Moment!«, stotterte Michael. »Wieso Problem gelöst?« Er war wie immer der Letzte, der etwas verstand. Seufzend legte Gesine ihren Löffel zur Seite.

»Wo kriegen wir wohl einen Einbrecher her?«

Michael schluckte und Opa schüttete sich kichernd Saft über die Hose.

»Ach, Opa, kannst du nicht aufpassen?« Mutter nahm ihre Serviette und tupfte die Flecken trocken. »Und du hör auf, so blöd in der Gegend herumzustarren. Einer muss es ja machen. Du bist jetzt der Mann im Haus. Onkel Harry ist tot«, fuhr sie Michael an. Opa und Glenn im Rollstuhl zählten offenbar nicht.

»Aber …«

»Nichts aber. Der Einbruch ist beschlossene Sache. Können wir bitte mit dem Nachtisch anfangen?«

Glenns Mundwinkel zuckten. Er hatte sich vielleicht getäuscht. So wie es aussah, konnte der Abend durchaus spaßig werden.

5. Der Einbruch

Er hatte recht gehabt, stellte Glenn zufrieden fest, als er eine gute Stunde später, mit einer Tasse Tee zwischen die Knie geklemmt, ins Esszimmer rollte. Das Wohnzimmer konnten sie heute Abend nicht nutzen, damit die Köchin nicht über den toten Harry stolperte. Im Esszimmer war es nicht ganz so gemütlich, aber Mutter hatte das Beste draus gemacht und überall Teelichter aufgestellt. Das Unternehmen ›Einbruch‹ war bereits in vollem Gange. Michael stand breitbeinig und mit erhobenen Armen mitten im Zimmer, während Mutter ihm mit Nadel und Faden viel zu große schwarze Sachen passend nähte.

»Ist das nicht meine Wanderkleidung?« Glenn fiel fast der Tee herunter.

»Die brauchst du doch jetzt nicht mehr, mein Lieber.« Mutter blickte ihn nicht einmal an, während sie mit Stecknadeln zwischen den Lippen ihre Antwort nuschelte. »Jetzt halt doch endlich einmal still!« Entnervt gab sie Michael einen Stoß in die Rippen, sodass er fast hintenüber fiel und sich nur retten konnte, indem er wild mit den Armen rudernd auf einem Bein balancierte.

Gesine, die auf dem weichen Teppich unter dem Esstisch lag und nur halb unter der Tischdecke hervorragte, blickte von ihrer Zeitung auf. »So hält er ganz bestimmt nicht still.«

»Du lies lieber deine Zeitung!« Beim Nähen war Mutter immer gereizt.

Glenn rollte zur Anrichte und stellte seine Teetasse ab. Die Tür wurde geöffnet und Tante Martha und Frieda betraten das Zimmer.

»Irgendetwas muss mir nicht gut bekommen sein«, stöhnte Martha, während sie sich auf Friedas Arm stützte. »Vielleicht das Gemüse?«

»Da hilft am besten ein Schnaps.« Schon segelte Mutter hinüber zur Vitrine, um eine Flasche herauszuholen.

Tante Martha ließ sich in den Sessel neben Glenns Rollstuhl fallen und blinzelte kurzsichtig durch ihre Brille.

»Das sieht ja fabelhaft aus, Michael. Nein, wirklich ganz reizend.«

»Das ist ein Tarnanzug, Tante Martha. Der soll funktional und praktisch sein, nicht reizend.« Gesine schien nicht besser gelaunt als ihre Mutter.

Glenn warf einen Blick auf den Artikel, den sie las. Die Finanzprobleme der westlichen Staaten setzten sich fort, was direkte Auswirkungen auf die Weltökonomie hatte, womit man endlich bei der Ausbeutung der Dritten Welt und Gesines schlechter Laune angelangt war. Sie war entschiedene Globalisierungsgegnerin. Das propagierte sie oft genug und zu Glenns Leidwesen auch lautstark.

»Ich habe es gegoogelt, Frieda. Die Kinder in Antigua verhungern auch.« Damit legte sie die Zeitung zur Seite und holte sich ein zweites Dessert vom Servierwagen, den die Köchin für Mitternachtssnacks immer neben der Vitrine abstellte. Wenn er morgens nicht aufgegessen war, presste sie ihre Lippen aufeinander. Glenn dachte an den eisigen Blick der Köchin und beschloss, sich ebenfalls einen weiteren Nachtisch zu nehmen.

»Huch, sind wir empfindlich«, sagte Frieda halblaut und halb beleidigt, dann wandte sie sich wieder Mutter und Michael zu. Fachkundig kniff sie die Augen zusammen und begutachtete das Werk.

»Tatsächlich. Das sollte es tun.«

Mutter konnte wirklich mit einer Nadel umgehen, das musste Glenn zugeben. Er selbst hätte nichts dagegen gehabt, ebenfalls einen solchen Tarnanzug zu besitzen. Er hatte das Gefühl, einen brauchen zu können. Nur leider konnte er Mutter, die Nummer eins auf seiner Verdächtigenliste, nicht darum bitten.

»Was soll ich eigentlich machen?« Michael klang misstrauisch. Die Aktion schien ihm nicht geheuer zu sein. Glenn konnte es ihm nicht verdenken. Er war froh, durch seinen Rollstuhl für Einbrüche unbrauchbar zu sein.

»Das ist doch nicht gefährlich?«, fragte Michael.

»Himmel! Meint ihr, es könnte gefährlich werden?« Tante Martha blickte ängstlich von ihrem Strickzeug auf. »Das vertrage ich doch so schlecht!«

»Natürlich nicht«, schalt Frieda. »Was soll daran gefährlich sein? Du schleichst dich ins Wohnzimmer, schlägst eine Scheibe ein und löst den Alarm aus. Dann flüchtest du in den Garten. Mit den schwarzen Sachen wird dich niemand sehen können. Wenn dann alle im Wohnzimmer sind, kommst du durch die Vordertür ins Haus. Du gehst in dein Zimmer, ziehst deinen Pyjama an, legst dich ins Bett und wartest, bis die Polizei kommt.«

Michael schien immer noch leicht beunruhigt, wie er da auf seiner Unterlippe herumkaute. Er nickte dennoch tapfer.

»Können wir den Ablauf vorher üben?«

Woher Michael seine Gene hatte, wunderte Glenn jeden Tag aufs Neue. Bei all ihrer Dramatik war Mutter intelligent. Und Glenns Neffe, Mutters verstorbener Mann, war vielleicht keine Leuchte gewesen wie Frieda, aber er hatte es immerhin bis zur Universität geschafft.

Frieda blinzelte. »Üben?«

»Damit ich alles richtig mache! Das ist nicht so einfach!«

»Ich fang schon mal an, die Scheibe einzuschlagen«, sagte Gesine gelangweilt und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.

»So dumm bin ich auch nicht!«, regte Michael sich auf. »Wollte nur die Reihenfolge üben. Wo ich wann hingehen muss. Blöde Ziege.« Er machte einen Schritt auf Gesine zu und vergaß dabei, dass Mutter gerade seine Hose umsteckte. Sie hielt ihn am Saum fest und Michael fiel der Länge nach hin.

»Michael, ich bitte dich, was soll denn der Unsinn?« Mutters Laune verschlechterte sich zusehends. Sie legte beide Hände an die Schläfen. »Ich muss ins Bett. Ich entwickle eine fürchterliche Migräne.« Sie befestigte die letzte Nadel an ihrem kleinen Kissen und erhob sich.

»Mir geht es auch gar nicht gut«, pflichtete Tante Martha ihr bei. »Ich sollte noch ein schönes entspannendes Bad nehmen. Dieser ganze Stress ist eine Katastrophe für meine Nerven. Von meinem Herzen ganz zu schweigen.«

»Recht hast du, Martha, ein Schlückchen Brandy würde uns außerdem guttun.« Mutter tätschelte ihr die Hand und sie verließen Arm in Arm das Esszimmer.

»Und was ist jetzt mit Üben?« Michael sah verzweifelt an sich herunter.

Gesine rollte mit den Augen, stellte ihren leeren Teller zurück auf den Servierwagen und verschwand ebenfalls. Mit ihrem Bruder kam sie noch schlechter zurecht als mit Frieda, und wenn Mutter nicht als Friedenstifterin anwesend war, hatte es schon heftige Rangeleien gegeben.

»Du kriegst das hin, Michael«, sagte Frieda und stand auf. Sie glättete einige Falten ihres akkuraten Rocks und rückte den Kragen ihrer Bluse zurecht. »Wecker auf halb zwei, zur Vordertür hinaus, im Wohnzimmer Fenster einschlagen, zur Vordertür hinein, Pyjama anziehen, warten.«

Michael rieb sich unglücklich die Stirn. »Schreibe ich mir vielleicht besser auf«, murmelte er.

»Ach Quatsch. Ist doch nichts dabei.« Frieda machte sich ebenfalls auf den Weg ins Bett. »Was soll schiefgehen?«

Berühmte letzte Worte, dachte Glenn. »Hals- und Beinbruch«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen. Dann rollte auch er in den Flur und nahm den Aufzug nach oben.

Wie gewohnt schloss er die Zimmertür ab und stieg aus dem Rollstuhl. Diesen Einbruchsplan musste er im Auge behalten. Er wollte nicht riskieren, dass der Einbrecher zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Harry und Glenn. Was, wenn Michael in sein Zimmer eindrang und ihn erschoss? Wie einfach wäre es für Mutter oder Frieda später zu behaupten, der unbekannte Einbrecher hätte zufällig zwei Menschen umgebracht. Nein, Schlaf war heute keine Option. Er musste hellwach bleiben, um einem etwaigen Mordanschlag zu entgehen. Er postierte seinen Rollstuhl neben der Tür, sodass es unmöglich war, überraschend ins Zimmer einzudringen. Dann legte er sich ins Bett, zog die Decke bis unter die Nasenspitze und wartete.

Natürlich ging alles schief.

Michael hatte sich den Wecker auf halb zwei stellen sollen. Ab zwanzig nach eins glitten Glenns Augen immer wieder zu den Leuchtziffern seines Radioweckers. 1:28, 1:29, 1:30. Nichts geschah. Gegen zwei schlummerte er dann doch ein. Mit einem Ruck erwachte er von Friedas wütendem Geschrei. 2:31.

»Michael! Michael, wo bleibst du denn?«

Glenn stieg aus dem Bett, schnappte sich als Waffe eine Flasche Sekt, die Mutter ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, und setzte sich in seinen Rollstuhl. Dann öffnete er seine Zimmertür einen Spaltbreit.

Verschlafen schlurfte Michael auf den Flur und rieb sich die Augen. Gleich hinter ihm erschien Tante Martha mit Lockenwicklern im Haar. Sie umklammerte fest eine Dose Pfefferspray.

»Haben sie den Einbrecher schon gefasst?«, fragte sie und blickte sich ängstlich um.

Frieda, die trotz ihres gestreiften Pyjamas und den wild abstehenden Haaren wie eine wütende Amazone aussah, stemmte die Hände in die Hüften. »Sei nicht albern!« Sie warf Tante Martha einen irritierten Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an Michael. »Was hast du gemacht? Halb zwei hatte ich gesagt! Zieh dir deine Sachen an. Wir warten!«