Mia und das Wolkenschiff - Petra Kasch - E-Book

Mia und das Wolkenschiff E-Book

Petra Kasch

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Beschreibung

Ein Haus am Meer! Das neue Zuhause von Mia und ihren Eltern hat sogar einen eigenen Leuchtturm und eine Veranda direkt am. Eigentlich würde es Mia hier gut gefallen - wenn sie nur nicht so wasserscheu wäre. Ihre neuen Mitschüler sind nämlich richtige Wasserratten und zählen auf Mias Teilnahme beim Schwimmwettbewerb. Doch dann taucht auf einmal ein alter Käpt'n auf. Und genau wie Mia hat er ein Geheimnis ...

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2015 Ravensburger Verlag GmbHUmschlag- und Innenillustrationen: Carola SieverdingLektorat: Nadja KorthalsAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47655-8www.ravensburger.de

Mia hockt eingequetscht zwischen Kisten und Koffern auf der Rückbank des Autos. Den ganzen Tag sind sie schon unterwegs und nichts als Regen. Langsam hat sie das Gefühl, auf einem Schiff durch die Gegend zu schaukeln. Überall rauscht Wasser. Ihr Papa flucht leise, weil ihm das Quietschen der Scheibenwischer auf die Nerven geht. Nur Mama ist guter Laune. „Es ist wirklich das letzte Mal, Georg“, sagt sie. „Diesmal bleiben wir für immer. Versprochen.“

Papa wirft Mia im Rückspiegel einen Blick zu. Das haben sie schon so oft gehört. In den letzten fünf Jahren sind sie drei Mal umgezogen. Und alles wegen Mamas Brücken. Denn wenn sie das Brückenfieber packt, gibt es nur noch eins: Auf zur nächsten Baustelle! Doch diesmal ist es anders.

Mama hat ein Haus von einer Tante geerbt. Aber Mia braucht kein Haus. Schon gar keins, das an der Ostsee steht. Mama hatte ihr vorgeschwärmt, dass sie dann jeden Tag schwimmen könne. Und Papa freute sich wie verrückt auf die frische Luft. Nur Mia hatte kein Wort dazu gesagt.

Sie zieht ihre Mütze bis zum Kinn hinunter und atmet tief den warmen Wollgeruch ein. An der Ostsee wird alles herauskommen. Dass sie gar keine Schwimmmedaille bekommen hat und auch nicht Wettkampfbeste war. Das war alles nur erfunden. Denn Mia kann überhaupt nicht schwimmen.

Als das bepackte Auto von der Autobahn rumpelt, wird es draußen bereits dunkel. Der Regen hat aufgehört und Mia haucht ein Loch in die beschlagene Scheibe. In der Ferne blinken ein paar Lichter, die aber bald wieder verschwinden. Irgendwann begegnet ihnen kein einziges Auto mehr. Draußen ist jetzt nichts als rabenschwarze Nacht.

„Georg, sind wir hier richtig?“, fragt Mama leise, als sie über einen sandigen Waldweg holpern.

„Natürlich. Ich fahre die ganze Zeit nach Karte.“

Mias Papa war mal Pfadfinder, und er schwört auf seine Kartenkenntnisse.

„Laut deiner Karte müssten wir aber schon durch die Ostsee schwimmen.“

„Quatsch“, widerspricht er. „Wir sind genau richtig, Doris.“

Doch als der Waldweg vor einem Sandwall endet, müssen sie anhalten.

„Super. Wir haben uns komplett verfahren, Georg!“, ärgert sich Mama und steigt aus, um nach dem Weg zu schauen. Papa folgt ihr grummelnd.

Nur Mia bleibt allein im Auto zurück.

Ein kalter Wind zieht durch die offenen Türen herein. Vielleicht sind wir schon am Nordpol, denkt sie und starrt in die Nacht. Nach einer Weile schlagen die Autotüren wieder zu und Mia spürt, wie das Auto langsam rückwärtsfährt. Die Zweige der Bäume ratschen an den Fenstern vorbei.

Das muss ein seltsames Haus sein, das wir suchen, denkt sie. Vielleicht ist es ein Zauberhaus und sie können es deshalb nicht finden. Zauberhäusern muss man eine Botschaft schicken, wenn sie sich zeigen sollen. Vielleicht wissen ihre Eltern das nicht. Mia muss es ihnen unbedingt sagen, sonst finden sie nie hin. Aber dann fallen ihr die Augen zu und sie schläft auf der Rückbank ein.

Mia erwacht von einem seltsamen Geräusch. Neugierig schaut sie sich um. Sie liegt in einem fremden Zimmer, um sie herum ein Gebirge aus Umzugskisten. Endlich sind sie angekommen! Aufgeregt kriecht sie aus ihrem dicken Schlafsack und schaut gespannt aus einem der runden Bullaugenfenster.

Keine zehn Meter vor ihr stürzt das Meer mit brodelnden Wellen aufs Ufer. Und so weit Mia schauen kann, gibt es nichts als weißen Strand! Als sie nach unten blickt, bleibt ihr fast das Herz stehen. Das Haus scheint zu schweben. Sie kann den Erdboden gar nicht sehen. Hastig schlüpft sie in ihre Turnschuhe und stürzt aus dem Zimmer. „Mama!“, ruft sie laut.

Mia steht in einem langen Flur mit vielen Türen. Als sie die erstbeste aufreißt, sieht sie eine Reihe grüner Regenmäntel an einer Garderobe hängen, darunter stehen lauter Gummistiefel. Verwundert macht sie die Tür wieder zu. Mamas Tante hat doch allein hier gelebt. Mia schaut den Flur entlang.

„Mama! Papa!“, ruft sie noch einmal. Aber niemand antwortet.

Hinter der nächsten Tür entdeckt sie eine Kammer voll mit Büchern und Papierstapeln. Am Fenster steht ein alter Schreibtisch vollgekramt mit seltsamen Landkarten. Über dem Stuhl hängt eine grüne Strickjacke. Mia erstarrt. Die ausgefransten Jackenärmel beginnen auf einmal sich zu bewegen. Ganz langsam schwingen sie hin und her.

Und da ist auch wieder das unheimliche Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen hat. Es klingt wie ein fernes Stampfen, das aus dem Fußboden zu kommen scheint und alles vibrieren lässt.

Mia hält sich am Türrahmen fest. Das ganze Haus bewegt sich! Plötzlich fällt etwas klackernd vom Schreibtisch.

Es ist ein blaues Glasauge. Stück für Stück rollt es ihr auf dem Fußboden entgegen. Schließlich bleibt es genau vor ihren Schuhen liegen und starrt sie stumm an.

Entsetzt dreht Mia sich um und rennt über den Flur davon. Atemlos landet sie in einer runden Diele. Von der niedrigen Holzdecke baumelt eine alte Glocke. Aufgeregt versucht sie, die schwere Eingangstür zu öffnen. Doch die bewegt sich kein Stück. Erst als sie sich mit aller Kraft an die verrostete Klinke hängt, gibt die Tür nach. Erleichtert schlüpft Mia ins Freie.

Vorsichtig steigt sie die Stufen einer wackeligen Holztreppe hinunter, die an den Strand führt. Auf einmal hört sie ein Schnappen. Die schwere Eichentür hinter ihr ist ins Schloss gefallen. Über der Tür steht ein Name: Ellis Island. Von außen hat Ellis Island aber keine Klinke. Was für ein seltsames Haus. Jetzt hat es sie auch noch ausgesperrt.

Nach ein paar Metern am Strand versinkt Mia in kniehohem Dünengras. Ratlos betrachtet sie das Haus, das auf dicken Holzpfosten im Ufersand steht. Schön ist es nicht gerade, denkt sie und mustert die verwitterten Bretterwände. An einer Seite wächst sogar Moos.

Und dann sieht sie ihn: Keine zehn Meter vom Haus entfernt steht ein Leuchtturm. Ein richtiger Leuchtturm mit rot-weißen Streifen! Was für ein Ort für eine Nichtschwimmerin. Weit und breit ist nichts als Strand und Meer. In der Ferne schimmern ein paar rote Dächer. Das muss Rabenhorst sein, wo Mia zur Schule gehen wird. Sie kehrt dem Dorf den Rücken zu und läuft ein Stück durch die Dünen.

Plötzlich hört sie jemanden rufen. „Bist du neu hier?“

Oben auf dem Deichweg steht ein blonder Junge mit einem grünen Damenfahrrad. Auf seinem Gepäckträger klemmt eine Schulmappe. Mia winkt ihm zu und nickt.

„Dachte ich mir. Nur die Urlauber rennen durch die Dünen.“

Das ist ja eine nette Begrüßung. Verärgert stopft Mia ihre Hände in die Hosentaschen. Doch der Junge lächelt sie an. Dabei leuchten in seinem Gesicht hundert Sommersprossen.

„Ich renne, wo ich will!“, sagt Mia.

Da zeigt der Junge ins Hinterland, wo auf einer weiten Wiese ein einzelnes Schilfdachhaus steht. „Wenn du den Deich kaputt machst, gehen wir alle baden.“

Verlegen macht Mia ein paar Schritte aus der Düne heraus. Der Junge ist fast einen Kopf größer als sie.

Grinsend steigt er wieder auf sein Rad. „Schönen Urlaub noch!“

Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Ich bin keine Urlauberin. Ich wohne hier!“

„Wirklich?“ Er mustert sie neugierig. „Wo denn?“

Zögernd zeigt sie in die Richtung, aus der sie gekommen ist.

„Auf Ellis Island? Das Geisterhaus wird doch bald abgerissen, sonst zieht es der nächste Sturm in die Ostsee. Dann kannst du bei den Flundern schlafen!“

Mia will nicht bei den Flundern schlafen. Aber Angst machen lässt sie sich auch nicht. „Und wer sagt das?“, fragt sie und stellt sich vor sein Rad.

Der Junge zeigt auf die roten Dächer in der Ferne. „Alle.“

Mia hält das Haus auch nicht gerade für sturmtauglich. Vielleicht haben alle ja Recht. Aber jetzt ist Ellis Island ihr Zuhause und das beleidigt niemand. Und ihre Familie auch nicht.

„Meine Mama baut Brücken“, sagt sie und kickt einen Stein gegen sein Vorderrad.

„Deine Mama, soso.“ Der Junge grinst wieder.

„Und mein Papa arbeitet im Krankenhaus. Er ist Arzt.“

„Ihr seid wohl eine ganz schlaue Familie.“

Mia schaut ihn verlegen an. Was ist denn auf einmal in sie gefahren?

„Und du“, fragt er auf einmal, „kannst du auch was?“

Sie spürt, wie sie rot wird und schaut aufs Meer. „Ich kann schwimmen“, schießt es plötzlich aus ihr heraus. „Ich war die Beste in meiner Klasse!“

Dann rennt sie mitten durch die Dünen davon.

„Da bist du ja endlich“, sagt Mias Mama erleichtert. „Wo warst du denn?“

„Spazieren“, entgegnet Mia und lässt sich in einen der alten Korbstühle auf der Terrasse fallen. Hoffentlich sieht sie diesen Jungen so schnell nicht wieder. War das peinlich.

Mama hat draußen auf der Seeseite des Hauses den Frühstückstisch gedeckt. Mitten im April! Aber da kennt sie nichts. Sie hat sich Gummistiefel angezogen und ihren dicken Baustellenanorak. „Und, wie gefällt dir Ellis Island?“, fragt sie aufgeregt, als sie Mia Tee eingießt.

„Es macht Geräusche und es bewegt sich“, flüstert Mia und muss daran denken, wie der Junge es genannt hat: Geisterhaus.

„Ach, Mia. Erzähl nicht wieder solche Geschichten.“

Mama nennt das immer Mias Geschichten. Dabei könnte Mia schwören, dass sich das Haus bewegt hat. Sie hat es wirklich gespürt! Mama glaubt nicht an Geister. Sie glaubt, Mia hat zu viel Fantasie.

„Wem gehört denn der Leuchtturm?“, fragt Mia, um von dem unangenehmen Thema abzulenken.

„Na, Ihnen, Frau Leuchtturmwärterin“, sagt Papa lachend, der gerade um die Hausecke kommt und gegen Mias rot-weiß gestreifte Pudelmütze stupst.

„Sehr witzig.“ Sie reißt sich die Mütze vom Kopf.

„Ehrlich, Mia“, sagt Papa. „Der Turm gehört uns. Aber er ist vermutlich außer Betrieb. Sonst hätte er geleuchtet, als wir angekommen sind.“

Mia ist wenig beeindruckt. Mit Wasser hat sie nichts im Sinn. Mit der Seefahrerei schon gar nicht.

„Ich finde den Turm schön“, meint Mama.

„Wenigstens ragt er noch aus dem Wasser, wenn uns hier ein Sturm erwischt“, grummelt Mia.

„Ach, Mäuschen“, Mama lässt sich ihre gute Laune nicht verderben. „Das Haus sieht schlimmer aus, als es ist. Zusammen bekommen wir das schon wieder hin.“

Mia nimmt sich ein Brötchen aus dem Brotkorb. Sie hat keine Ahnung, wen Mama mit zusammen meint. Eine Nichtschwimmerin aus der fünften Klasse und ein Arzt, der nicht mal einen Autoreifen wechseln kann? Wirklich eine tolle Idee! Erst schleppt sie alle in diese Einöde hier, um sich dann ihre ganz private Großbaustelle einzurichten, bei der Mia und ihr Papa auch noch mithelfen sollen.

„Und du siehst mich jeden Tag. Das wolltest du doch immer!“

Mia wollte ein Zuhause. Aber danach sieht diese Bretterhütte nicht aus.

„Du darfst dir auch was wünschen.“

„Dann will ich endlich ein Nachtfernglas“, sagt Mia gleich.

Das wünscht sie sich schon seit Jahren.

„Damit du noch mehr Gespenster siehst?“

„Aber Mama“, erklärt Mia. „Dafür braucht man doch kein Fernglas.“

„Und außerdem ist sie jetzt schon groß, Doris“, steht Papa ihr bei.

„Genau, Doris.“

Stöhnend gibt sich Mama schließlich geschlagen. „Also gut. Aber du rennst mir damit nachts nicht allein herum. Versprochen?“

„Danke“, haucht Mia. „Nachts nehme ich den Klabautermann mit.“

Mama droht ihr grinsend mit dem Zeigefinger.

Und dann machen die Mareks nach dem Frühstück wieder ihren Wunschzauber, wie bei allen Umzügen. Auch wenn Mama an so einen Kram nicht glaubt, zumindest behauptet sie das immer, halten sie sich über dem wackeligen Holztisch an den Händen, und jeder schickt still seinen Wunsch für das neue Zuhause auf die Reise.

Diesmal muss der Zauber auf jeden Fall wirken. Deshalb flüstert Mia zum Schluss: „Und der nächste Vogel nimmt unsere Wünsche mit.“

„Von mir aus.“ Mama lacht. „Wir können hier wirklich jede Hilfe gebrauchen.“

Als jedoch im selben Moment ein großer schwarzer Vogel vom Strand zur Terrasse heraufhinkt, lacht sie nicht mehr. Sie schaut Mia nur merkwürdig von der Seite an.

Papa nimmt es gelassen. „Du bist also unser erster Besuch, mein Freund! Herzlich willkommen!“

Der schwarze Vogel bleibt genau vor Mia stehen und schaut sie aus dunklen Augen an. Mia sitzt da wie erstarrt.

„Ein Geistervogel“, flüstert Mama und sinkt in ihren Stuhl.

„Quatsch, das ist ein Kormoran, Doris.“

Papa hält ihm ein Stück von seinem Leberwurstbrot hin. Vorsichtig nimmt der Vogel es ihm aus der Hand. Dann verschwindet er so still, wie er gekommen ist. Er kann nicht fliegen. Sein linker Flügel schleift über den Strand.

Mias Mama lacht unsicher. „Dann müssen unsere Wünsche wohl zu Fuß gehen.“

Das ist Papas Stichwort. Auch er muss jetzt los. Allerdings mit dem Auto. Zu seinem ersten Dienst im Krankenhaus. Nur Mia schaut dem seltsamen Vogel noch lange nach.

„Mia, so beeil dich doch!“

Mama steht mit dem Fahrrad draußen auf dem Deichweg und wartet. Aber Mia hockt mit ihrem Schulrucksack noch drinnen auf der Küchenbank. Sie hat die Mütze tief in die Stirn gezogen und schaut auf ihre neuen, gelben Gummistiefel. Wenn sie bloß daheimbleiben könnte!

Mama kommt in die Küche zurück. „Du schaffst das schon“, sagt sie aufmunternd und trägt Mias Rucksack hinaus.

Mama wird nie verstehen, warum sie sich jedes Mal vor einer neuen Klasse fürchtet. Als Mia hinter ihr den Dünenweg entlangfährt, muss sie mächtig in die Pedale treten. Der Wind bläst pausenlos Sand vom Strand hoch, sodass die Kette knirscht. Außerdem frieren ihr die Hände bald am Fahrradgriff fest.

„Ist das nicht herrlich?“, ruft Mama. Ihr Anorak bläht sich wie ein blauer Ballon. „Hier fühlen wir uns bald wie zu Hause!“

Mia kämpft stumm gegen den Wind an. Als sie vom Deichweg hinunter ins Dorf einbiegen, lässt er endlich nach. Erleichtert schiebt sie sich die Mütze aus der Stirn.

Die Schule steht am Rande des Dorfplatzes. Es ist ein helles Backsteinhaus mit einem großen Schilfdach. Vor der Schule ist kein Mensch mehr zu sehen – sie sind zu spät. Und das gleich am ersten Tag. Mama will noch mit reinkommen, doch Mia schüttelt entsetzt den Kopf. Das Ganze ist so schon peinlich genug. Da umarmt Mama sie ein letztes Mal und fährt winkend davon.

Für Mama gibt es keine Fremden auf der Welt. Für Mia schon. Sie findet es schrecklich, immer wieder die Neue in der Klasse zu sein. So steht sie eine halbe Ewigkeit vor der Tür der 5a, ehe sie anzuklopfen wagt. Drinnen wird es sofort still. Mia kennt das schon, jetzt schauen alle neugierig zur Tür.

„Herein!“, ruft eine freundliche Stimme.

Mia betritt den Klassenraum. Wie versteinert bleibt sie gleich neben der Tür stehen. Da ist eine Glasvitrine voller funkelnder Pokale und Urkunden.

Das muss ja eine Spitzenklasse sein, denkt sie und schaut auf ihre gelben Gummistiefel. Auch so eine Idee von Mama. Weil die angeblich jeder hier trägt. Niemand in der Klasse trägt Gummistiefel. Die meisten haben Turnschuhe an.

„Mia geht ab heute in unsere Klasse“, hört sie Frau Kröger, ihre neue Klassenlehrerin, sagen. „Sie wohnt draußen auf Ellis Island.“

Als Frau Kröger Ellis Island erwähnt, geht ein Raunen durch die Klasse. Und wieder hört Mia dieses Wort: Geisterhaus. Oder hat sie sich das nur eingebildet?

„Am besten du setzt dich zu Lars“, sagt Frau Kröger. „Neben ihm ist noch ein Platz frei.“

In der letzten Reihe fliegt eine Hand hoch und winkt aufgeregt. Als Mia die strohblonden Haare erkennt, läuft sie mit gesenktem Kopf nach hinten.

„Hi, Olympiaschwimmerin“, sagt Lars zur Begrüßung, „hast du schon eine Runde in der Ostsee gedreht?“

Mia versucht, ihn zu ignorieren, während sie ihre Sachen auf den Tisch legt.

„In welchem Verein hast du denn trainiert?“, bohrt er weiter.

Frau Kröger wartet, bis sie mit dem Auspacken fertig ist. „Vielleicht erzählst du uns etwas von dir, Mia? Dass du so gut schwimmen kannst, wussten wir noch gar nicht.“

Mia auch nicht. Sie sagt nichts, funkelt Lars nur wütend an. Dafür reden die anderen umso mehr, und Mia erfährt, dass ihre neue Klasse Landesmeister im Schulschwimmen ist. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

„Keine Sorge“, sagt Frau Kröger lächelnd, „dir wird es bei uns gefallen.“

Für einen Moment lässt Mia sich von ihrem freundlichen Lächeln fangen. Sie wünscht sich so sehr, dass es ihr gefallen wird. Dass sie, Mama und Papa endlich einmal bleiben und nicht mehr weiterziehen.

Doch als Frau Kröger sagt, sie solle morgen eine Schwimmerlaubnis mitbringen, damit sie mit der Klasse für den Wettkampf trainieren kann, zerrinnt der schöne Zauber.

„Wettkampf?“, stottert sie. „Was denn für ein Wettkampf?“

Lars zeigt stolz auf den größten Pokal in der Vitrine. „Das ist der Landesmeister. Ist ein Wanderpokal. Wenn wir ihn behalten wollen, müssen wir uns anstrengen.“

Mia versteht noch immer nicht. Was hat das mit ihr zu tun?

„Für die Einzelstarter und Viererstaffeln haben wir genügend Schwimmer“, erklärt ihr Frau Kröger. „Aber seit Finn im letzten Herbst mit seinen Eltern weggezogen ist, fehlt uns einer für die Klassenstaffel. Da brauchen wir zwanzig Schwimmer, sonst gehen uns bei der Gesamtwertung Punkte verloren.“

Mia zählt hastig die Reihen durch. Sie ist Nummer zwanzig.

Erleichtert klopft Lars ihr auf die Schulter. „Du hast uns gerettet! Verstehst du? Jetzt werden wir den Pokal bestimmt behalten können.“

Ein begeisterter Willkommensapplaus geht durch die Klasse. Mia versucht, tapfer zu lächeln. Landesmeister im Schulschwimmen. Da hat sie sich ja was Schönes eingebrockt.

Als Mia heimkommt, ist Ellis Island verschlossen.

„Mama?“, ruft sie.

Sie lehnt ihr Rad gegen die Haustür und geht nach hinten zur Terrasse. Aber auch hier ist Mama nicht. Mia schaut aufs Meer. Die Wellen plätschern ruhig dahin.

Was soll sie bloß machen? Wenn Mama von dem Wettkampf erfährt, wird sie Mia jede Woche über das Training ausfragen. Und dann wird herauskommen, dass sie gelogen hat und überhaupt nicht schwimmen kann. Hätte sie wenigstens nicht so angegeben vor diesem Lars. Sie wollte bloß, dass er sie nicht für eine Niete hält. Das mit der Schwimmbesten ist ihr doch nur so rausgerutscht.

Mia betrachtet Ellis Island. Das Haus sieht aus, als ob es aus lauter angeschwemmten Brettern zusammengenagelt wurde. Nachts stöhnt und ächzt es und bei jedem Windzug heult es durch die Dachschindeln. Willkommen im Geisterhaus, denkt sie. Als ob die Sache mit der Schwimmerei nicht schon gereicht hätte.

„Mama?“, ruft sie noch einmal.

Nur ein paar Möwen antworten ihr kreischend. Seufzend schlendert Mia zum Leuchtturm hinüber. Das ganze Wochenende haben sie beim Auspacken der Umzugskisten gegrübelt, wozu der Turm eigentlich da ist, wenn er nachts nicht leuchtet. Vielleicht gibt er ja Antwort darauf, was es mit dem seltsamen Haus auf sich hat. Dazu müsste man allerdings erst mal in den Leuchtturm hineinkommen.

Da entdeckt Mia einen schmalen Spalt in der Turmmauer, aus dem ein Stück verrostetes Eisen herausguckt. Vorsichtig zieht sie es heraus. Es ist ein Schlüssel, auf dem zwei seltsame Zeichen eingraviert sind:

Mia hat keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Aber als sie den Schlüssel ins Schloss der Turmtür steckt, springt sie mit einem dumpfen Knacken auf. Neugierig starrt Mia eine dunkle Eisentreppe hinauf. Modergeruch schlägt ihr entgegen. Und – sie hält den Atem an – auf den Eisenstufen sind sandige Stiefelspuren zu sehen. Sie führen die Treppe hinauf und sind noch feucht.

„Hallo?“, ruft sie leise.

Alles bleibt still.

Zögernd tastet Mia sich die dunkle Treppe empor. Sie versucht, so leise wie möglich zu gehen, aber die Eisenstufen quietschen bei jedem Schritt.

Als Mia die Kuppel betritt, muss sie die Augen zusammenkneifen. Grelles Sonnenlicht gleißt ihr ins Gesicht. Fast wäre sie über die schweren Stiefel gefallen, die auf dem Holzboden stehen. Grüne Regenstiefel, die ihr irgendwie bekannt vorkommen. Nasser Sand fällt aus den tiefen Rillen der Sohlen, als Mia sie hochhebt. Leise stellt sie sie wieder hin und schaut sich um. Von hier oben kann man den ganzen Strand überblicken. Wie auf einer Kommandobrücke.