Michelle und Sirius - Stefanie Ziegler - E-Book

Michelle und Sirius E-Book

Stefanie Ziegler

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Beschreibung

Der Golden Retriever Sirius soll der erste Hund werden, der seine Pfoten auf einen fremden Planeten setzt. Das hat Professor Maltens, Besitzer der Rakete MINNIE1 beschlossen. Seine Tochter Michelle will sich aber nicht von ihrem Hund trennen und versteckt sich kurzerhand im Laderaum. So erkunden die beiden bald ferne Planeten und treffen auf seltsame Ausserirdische und sogar Weltraumpiraten. Als die Rakete dann auch noch in einen Zeitstrudel gerät, wird die Reise erst richtig spannend.

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Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Reime und Notizen

Pultnachbarn

Dummheiten

Die erste Galaktische Reise

Die Erde - oder doch nicht?

Die Reise zum Eisplaneten

Im eiskalten Schloss

Der Grosse Finn

Das fliegende Schiff

Juri

Ein neues Abenteuer

Hinkebein

Auf der Okarina

Wieder beisammen

Ärger!

Noch mehr ärger

Blumensamen

Verloren im Weltall

Erdbeben!

Das Teufelsmünster

Das Drachenauge

Reime und Notizen

"Sieben schriftliche Ermahnungen für ein besseres Benehmen im Unterricht? Sieben?", fragte Wendy ungläubig und sah in das Gesicht ihrer Schwester. Moment mal! Sah sie da ein zufriedenes Lächeln?

"Ja, sieben!", sagte Michelle und ignorierte Wendys stechenden Blick, als diese sich zu ihr auf die Treppe setzte, die hinaus in den Garten führte.

Michelle erinnerte sich an das Gespräch mit ihrem Klassenlehrer, dass sie vor einigen Wochen gehabt hatte. Herr Blum hatte sie nach der Stunde gebeten da zu bleiben. Das war der Nachmittag gewesen, an dem sie anstatt im Unterricht bei ihrer Mutter im Krankenhaus gewesen war. Herr Blum hatte ihr einen Brief für ihren Vater mitgegeben.

"Und wo sind diese Ermahnungen? Ich habe keinen dieser Briefe erhalten. Was hast du mit ihnen gemacht?", fragte Wendy lauernd und holte Michelle zurück in die Gegenwart.

"Ich habe sie vernichtet!" Michelle fand, das war das einzig Richtige. Die ganze Sache war ja auch nur aufgeflogen, weil ihr Lehrer den letzten Brief per Einschreiben zu ihr nach Hause geschickt hatte. Kluger Schachzug, das musste Michelle zugeben!

"Hier steht, dass du eine Unruhestifterin bist, weil du mit deinen Sitznachbarn plauderst wenn der Lehrer spricht, zu spät oder gar nicht zum Unterricht erscheinst und ausserdem keinen Respekt vor deinem Lehrer hättest." Wendy las kopfschüttelnd weiter, während ihre Augen hektisch hin und her wanderten und die letzten Zeilen überflogen.

"Das Beste hat Herr Blum aber für den Schluss aufgehoben!" Wendy sah Michelle fragend an. "Du hast Sirius mit in die Schule genommen?" Michelle grinste breit. "Und als er dich bat, ihn nach Hause zu bringen, bist du nicht mehr in die Schule zurückgekehrt, obwohl du noch zwei Stunden vor dir hattest?!" Michelle schwieg und suchte im Gesicht ihrer Schwester vergeblich nach Verständnis. Sirius war Michelles treuer Golden Retriever. Sie liebte ihn abgöttisch und verwöhnte ihren Hund, wo es nur ging.

"Sirius war einsam. Er will nicht den ganzen Tag alleine sein, wenn du arbeiten gehst und ich in der Schule bin", sagte Michelle, wusste aber, dass diese Erklärung nicht ausreichte um ihr Schwänzen zu entschuldigen.

Wie erwartet zog Wendy missbilligend eine Augenbraue hoch.

"Reicht es nicht, dass du jede freie Minute mit ihm verbringst?"

"Nein. Ausserdem wollte ich nur ein bisschen Abwechslung in Blums faden Schulunterricht bringen. Es war ein Wunder, dass er Sirius überhaupt bemerkt hat. Herr Blum ist die grösste Schnarchnase, die ich kenne. Sein Unterricht ist total öde. Und das hab ich ihm auch gesagt, als er mich zusammenstauchte!"

"Spinnst du? Willst du etwa die Klasse wiederholen?"

"Ach, ich pfeife auf die Schule! Ich hab andere Pläne…" Michelle war davon überzeugt, dass Schule im Allgemeinen völlig überbewertet wurde. Wendy war dagegen ganz anderer Meinung und faltete den Brief genervt zusammen.

"Es ist mir egal, ob du gern zur Schule gehst oder nicht! Und es ist mir schnurz, ob du lieber Papa in der Werkstatt hilfst als französische Verben zu lernen.

Du! Brauchst! Einen! Schulabschluss!" Michelle schnaubte verächtlich, was Wendy nur noch wütender machte.

"Aha, du denkst natürlich du weisst alles besser als ich, hm? Das macht keinen Unterschied. Ich werde dich am Montag persönlich in die Schule bringen. Von jetzt an wirst du pünktlich und vor allem anwesend sein, Schwesterchen."

"Das ist aber very uncool, schliesslich bin ich schon zwölf!", schnaubte Michelle und sah ihre grosse Schwester empört an.

"Zum cool sein hast du später noch genug Zeit", sagte Wendy lächelnd, ja, fast spöttisch.

"Ich spreche ja auch von dir!", murmelte Michelle beleidigt und war stinkig, dass Wendy nicht zu ihr hielt. Wendy bemerkte sofort, dass Michelles Stimmung umgeschwenkt hatte. Nun war sie keine aufmüpfige Zwölfjährige mehr, viel mehr die kleine Schwester, die Trost benötigte, da sie ihre Mutter vermisste.

"Ich weiss, das ist im Moment eine schwere Zeit für dich. Es ist eine schwere Zeit für uns alle, doch deshalb darfst du nicht ständig die Schule schwänzen.

Wenn du Mama besuchen willst, dann sag es mir und ich begleite dich ins Hospital."

Michelle schwieg beharrlich. Sie konnte Wendy schlecht erzählen, dass sie auch weiterhin vorhatte, ihre Mutter während der Schulstunden zu besuchen.

Was nützte es ihr, wenn sie wusste was eine Primzahl war, wenn ihre Mama alleine in diesem kahlen Zimmer, in einem fremden Bett mit weissen Bettlaken lag? Michelle wollte, dass ihre Mutter, wenn sie aufwachte, ihr Gesicht sah und sie in den Arm nahm. Und Michelle wusste, dass sie wieder aufwachen würde. Schliesslich haben das die Ärzte ihrem Vater erzählt, nachdem ihre Mutter nach der schweren Lungenentzündung ins Koma gefallen war. Doch das war jetzt sieben Wochen her und Eva war aus dem schlafähnlichen Zustand noch immer nicht erwacht. Die Ärzte hatten gesagt, dass ihre Mutter sehr schwach war und zu schwach wäre um bei Bewusstsein zu bleiben. Professor Maltens machte sich, wie auch seine beiden Töchter, grosse Sorgen um sie. Denn er ahnte, je länger Eva schlief, desto grösser wurde das Risiko, dass sie aus dem Koma nicht mehr erwachen konnte.

Die Haustüre wurde energisch zugeknallt und riss die Mädchen aus ihren Gedanken. Sie hörten ihren Vater, der mit kräftigen Schritten durch den Flur kam. Er fluchte laut, als er über Sirius Kuscheldecke stolperte. Professor Maltens hatte die ganze Nacht am Bett seiner kranken Frau im Hospital verbracht. Wendy wunderte sich, dass er sich trotz allem keine Anzeichen von Müdigkeit anmerken liess. Seit Eva Maltens im Krankenhaus behandelt wurde, pendelte ihr Mann zwischen dem Hospital und seinem Zuhause hin und her.

"Wir sind im Garten, Papa!", schrie Michelle ins Haus, froh, dass damit die unangenehme Unterhaltung mit Wendy zu Ende war. Doch in Gedanken machte sie sich schon einen Plan zurecht, wie sie Wendy davon abbringen konnte, sie wie ein Kindergartenkind in der Schule abzuliefern. Wenige Augenblicke später trat der Professor durch die offene Hintertür und zu Michelles Verwunderung strahlten seine Augen. Sie kannte diesen Blick. Es war ein sicheres Anzeichen dafür, dass er an eine neue Erfindung dachte.

"Da seid ihr also", sagte er. "Schön, ihr geniesst wohl die letzten Sonnenstrahlen von diesem Tag?" Aber es war offensichtlich, dass er im Moment kein Auge für den schönen Abendhimmel übrig hatte. "Wo ist Finn?"

"In der Scheune. Er putzt die MINNIE1", antwortete Wendy und schielte gespannt auf das Päckchen, dass ihr Vater hinter dem Rücken zu verbergen versuchte. Auch Michelle hatte den Lederumschlag gesehen und sprang behände auf.

"Soll ich Finn holen?", bot sie an. Ihr Vater schüttelte verneinend den Kopf. "Nein, ich hole ihn selbst." Er lief zurück ins Haus, bog zur Küche ab und öffnete das Fenster, das zur Scheune lag. Michelle und Wendy zuckten zusammen, als sie ihren Vater in Richtung Scheune brüllen hörten.

"Finn, komm in den Garten!", rief er. "Und beeile dich, jede Sekunde ist kostbar und hält uns davon ab, das Geheimnis des Universums zu ergründen!" Das Knallen des Fensters verriet Wendy und Michelle, dass ihr Vater auf dem Rückweg war.

"Na, das hätte ich auch gekonnt", sagte Michelle mit breitem Grinsen. "Was ist das, was du da in der Hand hast?" Wieder schielte sie auf das kleine, in Leder eingewickelte Etwas.

"Sobald Finn da ist, klär ich euch auf. Ich habe eine unglaubliche Entdeckung gemacht!", sagte Professor Maltens mit leuchtenden Augen. Michelle kicherte, der Alltag ihres Vaters bestand aus lauter unglaublichen Entdeckungen, wobei er sich jedes Mal wie ein Kind freute.

Ein junger Mann, blond und hoch gewachsen, kam um die Hausecke gebogen. Lukas Finn war sofort losgerannt, als der Professor seine laute Fensterrede beendet hatte.

Hinter ihm kam Michelles Golden Retriever gespurtet und flitzte schnell zu seinem Mädchen, wo er nach einem Leckerchen bettelte. Der Hund hatte Finn in der Scheune Gesellschaft geleistet und wunderte sich nun über die gespannte Stimmung im Garten.

Wie Michelle und Wendy, sah nun auch Finn den Professor mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck an.

"Setz dich zu den Mädchen", sagte Professor Maltens, woraufhin sich Finn auf der Treppe neben Wendy nieder liess.

Der Professor lief ein paar Mal vor ihnen auf und ab, so als wollte er sich die Sätze zurechtlegen, die ihm auf der Zunge lagen.

Die drei sahen ihn stumm, aber voller Erwartung an. Gerade, als Michelle dachte, sie könne die Spannung nicht mehr ertragen, fing ihr Vater an zu sprechen.

"Ich habe es! Endlich habe ich es!", sprudelte es aus ihm hervor und er hielt ihnen ein in Leder eingefasstes Buch vor die Nase.

"Stellt euch vor, ich spazierte gerade vom Krankenhaus zur Bushaltestelle, als mir ein fahrender Händler auffiel. Ich wusste gar nicht mehr, dass es solche Leute gibt, die ihre Sachen auf einem Pferdewagen anpreisen, aber dieser war ein solcher. Lidenbrock war der Name, der auf seiner Zeltplane stand, die seine Ware vor der Sonne schützen sollte und das war wohl auch sein Name. Auf jeden Fall fand ich den Mann sehr interessant. Mit seiner altmodischen Brille und dem ausgeleierten Anzug sah er nicht wie ein Zigeuner aus und mich juckte es in den Fingern seine Ware genauer anzusehen. Lidenbrock hatte viel Ramsch auf seinem Pferdewagen, oh ja, aber nachdem ich einen vergilbten Liebesroman, verschiedenfarbige Socken aus Lamawolle und einen durchlöcherten Hut, den er mir spottbillig andrehen wollte, bestimmt abgelehnt hatte, bemerkte ich, dass mich mein Instinkt nicht getäuscht hatte! Unter einem hölzernen Klodeckel fand ich dieses hier!" Der Professor machte eine bedeutungsvolle Pause und zeigte auf das kleine Buch, das in brüchiges Leder eingewickelt war.

"Sieht ganz schön vergilbt aus", meinte Finn und trat an den Professor. Der Einband war abgenutzt und vorne drauf stand schlicht M. Blossom.

"Der Name kommt mir bekannt vor, haben Sie mir nicht schon von Blossom erzählt?", fragte Finn und versuchte den Namen mit einer Erinnerung zu verknüpfen, was ihm aber nicht gelingen wollte. Interessiert griff er nach dem Buch, doch Professor Maltens wollte seinen Schatz noch nicht hergeben. Finn kannte den Professor gut genug, er wusste, dass er sich das Büchlein später ansehen durfte, wenn sich seine Aufregung gelegt hatte.

"Setz dich", sagte Professor Maltens gebieterisch. Finn schnaubte, da er wie ein Hund behandelt wurde, liess sich aber wortlos neben den Mädchen nieder und wartete auf die weiteren Ausführungen seines Arbeitgebers.

"Ja, Finn, das sind die verloren geglaubten Aufzeichnungen von Milo Blossom, einem schrulligen Weltallforscher. Er lebte vor gut fünfzig Jahren und hielt sich vorwiegend in Irland auf. Dort, so behauptete er, sei er dem Himmel am nächsten und zudem solle es dort einen Regenbogen geben, der direkt hinauf in die unendliche Weite des Alls führe! Natürlich hat man ihn ausgelacht. Nicht einmal die Iren, die doch so manch fragwürdigen Geschichten von Elfen und Zwerge erzählen, haben ihm geglaubt." Professor Maltens verwarf die Hände und drehte die Augen zum wolkenbedeckten Himmel, um allen klar zu machen, dass die Weltallforschung nichts mit Märchen zu tun hatte. Wendy gab Finn einen Stoss in die Rippen, damit er den Professor zurück in die Wirklichkeit holte. Finn erinnerte sich wage an die Erzählung und grübelte darüber nach, was Professor Maltens nun vorhatte.

"Und sie glauben, dass dieser Regenbogen existiert und wollen ihn aufsuchen, damit sie mit seiner Hilfe hinauf ins Weltall wandern können?", fragte Finn und kam sich ein wenig dämlich dabei vor. Professor Maltens blickte vom Blau des Himmels in die blauen Augen von Finn. Stirnrunzelnd schob er seine Brille, die ihm immer wieder hinunter rutschte, zurück auf die Nase.

"Aber Finn, grosser Gott! Wer bin ich denn? Hältst du mich für so rückständig, dass ich dafür einen Regenbogen brauche? Erklär mir doch bitte kurz, wozu ich dich eingestellt habe?", fragte der Professor leicht ärgerlich und tippte sich mit seinem Zeigefinger an die Schläfe. "Wenn ich ins Weltall will, dann wohl kaum auf einer Sinnestäuschung, die durch die Lichtbrechung der Sonne auf Wasser entsteht!" Er sah auf den betretend dreinblickenden Finn hinunter.

"Und was nützt dir Blossoms Buch, wenn du nicht vorhast, den Regenbogen zu finden, der hinauf ins All führt?", fragte Michelle, die wusste, dass ihr Vater kein Sammler von Antiquitäten war, ausser sie nützten ihm für seine Erfindungen. Sie blickte ihren Vater aufmunternd an, damit er ihnen endlich erzählte, was an diesem verlotterten Buch so besonderes war.

"Michelle, Liebling, in diesem vergilbten Buch sind, so wie ich hoffe, alle von Milos Aufzeichnungen. Milo Blossom ist der Erfinder des All-Ohr-Rekorders. Damit nahm er die Geräusche des Weltalls auf. Ich hab darüber einen Artikel gelesen. Meistens war auf den bespielten Bändern nur ein Rauschen, bis Milo eines Nachts eine Entdeckung machte, die sein ganzes Leben verändern sollte. Milo erzählte später den Zeitungen, er hätte mit seinem All-Ohr eine seltsame Geschichte über einen Stern gehört, der weit unten, in seinen tiefsten Tiefen herrliche Schätze verberge.

Professor Maltens sah Finn und seine Töchter an und fuhr zärtlich über den Einband des Lederbüchleins.

"Doch das Spektakulärste an der ganzen Geschichte ist, dass in derselben Nacht ein Meteor vom Himmel fiel. Er fiel Milo Blossom, sozusagen, vor die Füsse. Und Milo behauptete, dass dieser Meteor kein Meteor gewesen sei, sondern ein Edelstein mit heilenden Kräften. Milo nannte diesen Edelstein "das Drachenauge".

Nachdem die Zeitungen über ihn berichtet hatten, verspotteten ihn die anderen Wissenschaftler und Milo Blossom zog sich zurück. Er geriet bei den Leuten bald in Vergessenheit, aber nicht bei den Sternkundigen. Und ich bin überzeugt, dass in seiner Geschichte ein Körnchen Wahrheit steckt."

"Sie glauben diese Geschichten? Das Märchen von dem Heilstein?", fragte Finn zweifelnd, da er nicht überzeugt war und die ganze Sache dennoch für die Fantasien eines überarbeitenden Forschers hielt.

"Genau, endlich erinnerst du dich!" Der Professor nickte aufgeregt. "Ein Edelstein mit heilenden Kräften und so gross wie ein Pfauenei!", sagte der Professor begeistert. "Leider hatte Milo in dieser Nacht, vor Schreck oder Dummheit, kein Band im All-Ohr eingelegt, doch er hat sich Notizen gemacht und erzählte jedem davon, der sich dafür interessierte.

Natürlich berichteten bald verschiedene Zeitungen über ihn und machten seine Geschichte auch über Irland hinaus bekannt."

Michelle starrte ihren Vater mit offenem Mund an. Irgendwann hatte sie den Faden verloren. Doch die Geschichte war genau nach ihrem Geschmack.

"Da bleibt euch die Spucke weg, nicht?" Grinsend schaute der Professor auf seine Töchter und Finn.

"Versteht ihr denn immer noch nicht?", blaffte der Professor sie an. "Falls es diesen Wunderstein tatsächlich gibt, dann werde ich persönlich zu seinem Aufenthaltsort reisen, ein Drachenauge suchen und damit meiner Eva helfen."

Der Garten war von einer wortlosen Ruhe erfüllt, sogar Michelle war ausnahmsweise mal sprachlos. Nur Sirius' Hecheln war zu hören, denn der Hund ahnte nicht, welchem Geheimnis der Professor auf der Spur war. Jeder ausser dem Hund dachte in dem Moment an Eva Maltens, die in dem weiss gekalkten Krankenzimmer lag, während das Leben an ihr vorbeizog.

Falls es im Weltall ein Drachenauge gab, dann musste es gefunden werden! Und wem sonst war es zuzutrauen, als Professor Maltens, der in seiner Scheune die MINNIE1, das kleinste Raumschiff der Welt, stehen hatte?

"Denkst du etwa wirklich, dass sich alle Wissenschaftler bis heute geirrt haben?", wollte Wendy wissen. Professor Maltens schwieg amüsiert. Er gab gerne Denkanstösse und wunderte sich, dass Finn sich nicht einmischte. "Wäre es nicht besser, Milo Blossoms Drachenauge zu finden, anstatt durchs All zu reisen?"

"Falls es diese Möglichkeit gäbe, würde ich sie natürlich nutzen. Leider hat sich der Stein nach Augenzeugenberichten selbst zerstört. Milo sollte den Stein für Untersuchungen in ein Labor geben, doch er war so enttäuscht von den vielen Zweiflern, dass er vor Sorge schwer erkrankt war und nach dem Arzt und dem Pfarrer rufen liess. Vor den beiden Männern äusserte Milo den Wunsch, man solle den Stein erst nach seinem Tod ins Labor bringen. Der Arzt versprach es Milo und der Pfarrer legte ihm als Beweis das Drachenauge auf die Brust. Später erzählte der Arzt den Zeitungen, dass der Stein auf einmal zu glühen angefangen hätte und kurz darauf zerbröselt sei, wie ein alter Kuchen. Aber Milo Blossom hätte die Augen aufgeschlagen und wäre gesünder als ein neugeborenes Kind gewesen! Und das waren seine Worte, nicht meine!"

Finn räusperte sich. Er wählte seine Worte vorsichtig aus und schaute dem Professor tief in die Augen.

"Also, wenn Sie davon überzeugt sind, dass noch mehr solcher Steine existieren, dann können Sie sich auf mich verlassen. Ich komme mit."

Professor Maltens klatschte zufrieden mit der freien Hand auf seinen Oberschenkel.

"Danke, Finn! Ich habe keine Sekunde an dir gezweifelt", rief er aus und schlug dem jungen Mann anerkennend auf die Schulter. Finn war froh, dass er zur Abwechslung auch mal gelobt wurde und grinste zufrieden in die Runde.

"Ich habe schon vor langer Zeit alles, was ich über Milo erfahren konnte, zusammen getragen. Leider fand ich im Zeitungsarchiv nur drei Artikel in denen er verspottet wurde und seine Todesanzeige. Nach der geheimnisvollen Heilung lebte er noch siebenundzwanzig Jahre! Na ja, wir können nun seine Schriften übersetzen, und selbst entscheiden, ob Milo nur ein Geschichtenerzähler gewesen ist oder ob er tatsächlich den Vorhang, der die Geheimnisse der unendlichen Weiten der Galaxien vor uns verborgen hält, zur Seite geschoben hat. Und nebenbei herausfinden, was er durch seine Forschungen erfahren hat." Der Professor öffnete endlich den Ledereinband, der dabei leicht zerbröselte und schlug ihn auf. "Lidenbrock hat mir diese Kostbarkeit für einen lächerlichen Preis verkauft. Ich hab ihm aus lauter Jux einen Schein mehr in die Hand gedrückt! Heute ist ein Festtag, da soll er sich was Feines gönnen!"

Wendy war froh, dass ihr Vater den fahrenden Händler nicht gleich zum Essen mitgebracht hatte, denn heute wollte sie ein chinesisches Nudelgericht kochen. Und da Wendy keine sehr gewissenhafte Köchin war, wusste man nie, bevor man das Gericht probiert hatte, ob es auch geniessbar war.

"Du meine Güte!", rief Professor Maltens aus. Finn und Michelle sprangen auf und versuchten einen Blick auf das Schriftstück zu werfen. "Ich glaube, mich trifft der Schlag!", sagte er mit brüchiger Stimme und hielt Finn das Büchlein hin.

"Es ist unbeschriftet!", sagte er enttäuscht, während der Professor einige unschöne Verwünschungen ausstiess. Michelle konnte einen flüchtigen Blick auf die Seite werfen, sie war leer!

"Hast du denn das Buch nicht geöffnet, bevor du es gekauft hast?", wollte Wendy von ihrem Vater wissen.

"Natürlich nicht. Als ich den Namen Blossom las, warf ich Lidenbrock sein Geld hin und bin nach Hause gespurtet." Das sah dem Professor ähnlich und eigentlich hatte Wendy nichts anderes erwartet. Sie fasste nach dem Lederbüchlein und Finn übergab es ihr niedergeschlagen. Wendy betrachtete Milos Notizbuch eingehend und gab es Schulter zuckend an Michelle weiter, die es bald gelangweilt neben sich legte.

"Ich bin in der Scheune", verkündete Professor Maltens mit Grabesstimme und Trauermine. "Ich möchte jetzt ein wenig alleine sein." Seine Töchter nickten.

"Trotz allem, ist dieses Buch doch eine Rarität", sagte Finn, der versuchte seine Enttäuschung zu überspielen und schlug ihm aufmunternd auf die Schultern. Der Professor schlurfte davon, seine gute Laune hatte sich in Luft aufgelöst. Schweigend sahen sie ihm nach. Danach setzte sich Finn wieder auf die oberste Treppenstufe, während Wendy in die Küche ging um das Abendessen zuzubereiten.

"Gib es mir doch noch mal, Michelle", sagte Finn nach einer Weile. Vielleicht hatten sie doch zu schnell aufgegeben und etwas Wichtiges übersehen. Michelle fasste neben sich, sah sich fragend um und stand dann verwundert auf.

"Ich kann es nicht finden", murmelte sie verwirrt. "Hat es Wendy mitgenommen oder …" Sie drehte sich geschwind nach Sirius um.

Der Golden Retriever hob seinen Kopf und Michelle sah, was der Hund im Maul hatte. Es war Blossoms ledernes Notizbuch! Ihr Vater würde sie mit einem Fusstritt auf den Mond schicken!

"Sirius!", schrie Michelle und sprang auf. Sie griff verzweifelt nach dem braunen Fetzen, den Sirius im Maul hatte.

"Gib das her, Sirius! Gib das sofort her!!!", schrie Michelle und hielt das Lederbüchlein fest. Sie getraute sich nicht, daran zu ziehen, weil es dann bestimmt zu Staub zerbröseln würde, so vergilbt wie es war. Der Golden Retriever hingegen fand es sehr lustig, endlich wurde gespielt und nicht nur herumgesessen! Zerren, beissen, zerstören! sagten seine Augen und er knurrte spielerisch.

"Sirius, aus! Bitte, bitte, mach aus! Sei ein guter Hund", flehte Michelle, während dem Hund vor Aufregung der Speichel von den Lefzen tropfte. "Aus!", brüllte sie, doch Sirius sah ihr uneingeschüchtert ins Gesicht.

Wendy fragte sich, was im Garten los war und kam, mit einer dampfenden Schüssel in der Hand, zur Hintertüre gerannt. "Heiliger Zimtstern, was ist denn nun schon wieder los?", fragte sie Finn, der neben der Treppe stand und sich die Haare raufte.

"Nein, böser Hund, du bist ein böööser Hund!", schrie Michelle, als Sirius wild den Kopf schüttelte und grollend Milos Buch aus ihren Fingern riss. Stolz, mit aufgerichtetem Schwanz, trabte er um den Gartentisch herum und hielt einen gebührenden Abstand zu Michelle, die Wendy einen verzweifelnden Blick zu warf. Wendy, die den Kampf sprachlos mit angesehen hatte, griff nach der Schüssel Teigwaren, die sie aus der Küche mitgebracht hatte und hielt sie Sirius erwartungsvoll vor die Nase.

"Schau mal, die feinen Nudeln, die möchtest du doch bestimmt haben", betörte sie ihn und Sirius spuckte das Lederstück sofort aus. Michelle stürzte sich darauf, als wäre es eine Kinofreikarte und hob es behutsam auf. Doch diese schonende Behandlung war nun nicht mehr nötig. Der Golden Retriever hatte ganze Arbeit geleistet und den Einband von Milos Notizen zerkaut. Sein Speichel gab dem Leder den Gnadenstoss und half ihm sich in ein Stück Abfall zu verwandeln.

"Papa wird sehr böse mit dir sein, wenn er das sieht", sagte Michelle und warf ihrem Hund einen strafenden Blick zu. Doch Sirius leckte gerade die Nudelschüssel aus. Er war zufrieden mit sich und der Welt.

"Schaut euch das an, völlig zerkaut!" Michelle reichte Finn das Lederbüchlein und der nahm es vorsichtig, an einer Ecke haltend, entgegen.

"Da hat unsere Bestie mal wieder zugeschlagen", murmelte er. "Aber, was ist das?" Die Ecke, an der Finn den Ledereinband festgehalten hatte, brach ab und ein Papier mit Schriftzeichen kam zum Vorschein. Das versabberte Blatt, dass Finn unter dem Einband entdeckt hatte, brachte die gute Laune zurück und er stiess ein lautes, freudiges Gejaule aus, in das Sirius verstört einstimmte.

Nachdem sie das versteckte Papier entdeckt hatten, waren sie sofort zu dem Professor in die Scheune gestürmt. Wie ein Häufchen Elend sass der in seiner Werkstatt und starrte die MINNIE1 an. Schnell hatten sie ihrem Vater von der Entdeckung erzählt, die sie gemacht hatten. Als er sah, in welch jämmerlichem Zustand das Lederbuch war, schluckte Professor Maltens eine bissige Bemerkung über Sirius herunter, denn ohne ihn hätte er das geheime Blatt von Milo Blossoms Aufzeichnungen vielleicht nie entdeckt.

"Warum bin ich nur nicht selbst darauf gekommen?", murmelte Professor Maltens. "In jedem schlechten Abenteuerfilm sind die wirklich wichtigen Notizen in dem Ledereinband eingenäht!" Finn reichte ihm wortlos das vergilbte Blatt.

"Milo, du kleines Schlitzohr, jetzt haben wir dein Geheimnis doch noch entdeckt!", murmelte der Professor überwältigt. Er liess sich auf seinen kleinen Hocker plumpsen und vertiefte sich mit zusammengekniffenen Augen auf das einzelne Blatt Papier. Dann sprang er wieder auf und wandte sich zu ihnen um.

"Was ist denn das für eine Sprache? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten ein kleines Kind hat hierdrauf Schreibübungen gemacht!" Der Professor stiess einige Verwünschungen aus und besah sich die Rückseite des Blattes. Verzweifelt wandte er sich an Finn. "Was ist das für ein Gekritzel? Das ergibt doch keinen Sinn, zum Teufel noch mal! Jetzt bin ich so nahe dran, Milos Geheimnis zu lüften und kann sein Gekrakel nicht entziffern!" Wütend ballte er die Faust und hätte beinahe das Blatt zerknüllt. Finn kniff neben ihm die Augen zusammen, doch es half nichts. Er konnte keinen einzigen Buchstaben erkennen. Was er sah, waren Bögen und Wellen und einige Schnörkel, doch lesen konnte er es nicht. Manche Wellen glichen unfertigen Schriftzeichen, doch keines davon gab ihnen einen Aufschluss darüber, was Milo Blossom ihnen erzählen wollte. Auch Michelle schaute sich das Blatt an und verkniff sich die Bemerkung, dass Lidenbrock ihren Vater wohl doch reingelegt hatte.

"Aber, das ist ein wichtiges Blatt, das sehe ich sofort!", sagte er und beugte sich nochmals darüber. "Es stehen nur wenige Zeichen drauf und sie sind sehr seltsam angeordnet … Wenn ich doch seine Anmerkungen verstehen könnte! Genauso gut könnte dies die Anleitung für einen Toaster sein!"

Wendy überhörte die übertriebenen Ausrufe und Kommentare ihres Vaters und legte den Kopf schief, während sie die unleserlichen Schriftzeichen Zeile für Zeile ansah. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich zuerst Unklarheit, doch dann erhellte sich ihre Miene und sie verzog den Mund zu einem, wie Finn fand, reizenden Lächeln.

"Oh, dieser verflixte Milo Blossom!", ereiferte sich der Professor, weil er nicht wusste woran er war und warf die Hände gen Himmel. "Zuerst stellt er allerhand Theorien auf, erzählt spinnerte Märchen und macht Aufzeichnungen für die Nachwelt, obwohl sie zu seiner Zeit niemand lesen will. Und jetzt, wo mir diese Kostbarkeit in die Hände fällt, ist es unlesbar. Unbrauchbar! Nur gekritzelter Mist! Pfui!" Beim letzten Wort zuckte der Golden Retriever zusammen. Er blickte fragend auf, da er nichts Verbotenes getan hatte. Vorwurfsvoll schüttelte Michelle den Kopf.

"Ach, Papa, sag doch nicht P-f-u-i wenn Sirius in der Nähe ist. Du weisst doch, dass es ihn verwirrt, wenn er nichts angestellt hat", bat sie und bemerkte dabei, wie Finn sich zu Wendy beugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

"Du kannst das lesen?", wollte er von Michelles grosser Schwester wissen. Wendy nickte. "Und wann wirst du es dem Professor sagen?" Sie lachte laut, was Professor Maltens von seinem Gezeter innehalten liess. Er rieb sich die Nasenspitze und kam fragend näher.

"Sobald er aufhört zu fluchen!", antwortete Wendy und sah ihren Vater erwartungsvoll an.

"Ich fluche nicht!", widersprach Professor Maltens grummelnd. "Fluchen ist ein Ausdruck von Unbeherrschtheit. Ich denke bloss laut! Also, was habt ihr herausgefunden, was mein geschultes Auge nicht sehen kann?" Er blickte zuerst Wendy, dann Finn an. Die beiden genossen es sichtlich, für einmal mehr als der clevere Professor zu wissen.

"Wendy kann das lesen!", sagte Finn grinsend, woraufhin Michelle ihre Schwester mit offenem Mund anstarrte. Bestimmt blufft sie, dachte Michelle und wartete gespannt, ob sie von ihrer grossen Schwester noch etwas lernen konnte.

"Wirklich, Wendy? Dann raus damit, was ist das für eine Sprache?", drängte sie Professor Maltens.

"Steno!", antwortete Wendy und lachte erneut, weil das unlösbare Rätsel auf einmal so einfach war. "Das ist nichts weiter als Stenographie. Eine Kurzschrift, die es einem erlaubt ganz schnell zu schreiben, weil man vieles verkürzt."

"Ich weiss was Steno ist", sagte der Professor ungeduldig und riss Milos Aufzeichnung wieder an sich. "Aber ich kann es immer noch nicht lesen!"

In den folgenden zwei Stunden sassen Wendy und ihr Vater zusammen im Denkerzimmer des Professors. Während Wendy Milos Notizen übersetzte, schrieb Professor Maltens alles auf einen Block. Natürlich benützte er keine Kurzschrift, sondern das uns gängige Alphabet. Wendy legte das Blatt zur Seite und lehnte sich erschöpft zurück. Manche Textteile waren schlecht lesbar oder verwischt gewesen und so war sie oft über Passagen gestolpert, die sie nicht recht entziffern konnte. Ebenso gerädert war der Professor. Dankbar und glücklich sah er seine Tochter an.

"Nie hätte ich gedacht, dass dein Abendkurs in Stenographie einmal der Wissenschaft dienen könnte!", sagte er und lächelte Wendy müde an. "Dass ich Milo Blossoms Aufzeichnungen wieder gefunden habe, ist eine Sensation für sich. Und vielleicht kann ich jetzt endlich das Rätsel um das Drachenauge klären. Danke dir, für deine professionelle Hilfe." Wendy freute sich über das Lob, doch noch mehr machte sie der Gedanke glücklich, sich jetzt in ihr Bett zu kuscheln. Übermüdet, aber zufrieden ging sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Ihr Vater aber las Milos übersetzte Notizen durch und vergass seine Müdigkeit Satz für Satz. Was er da las, war so unglaublich, dass ihm vom vielen ungläubigen Kopfschütteln schon schwindelig wurde. Doch in einem war er sich im Klaren: er hatte eine Möglichkeit gefunden, wie er seiner Frau helfen konnte! Und auch wenn diese Möglichkeit mehr als ungewöhnlich und absurd war, er wollte sie ergreifen!

Michelle kam es vor, als sei sie nur kurz eingeschlummert, da hörte sie, wie die Haustüre auf und zu ging. Sirius stand auf und sauste die Treppe herunter. Kurz darauf vernahm Michelle mehrere muntere Stimmen. Ihr Zimmer lag gleich über der Küche und weil sie die Tür offen gelassen hatte, konnte sie gut mithören, was ihr Vater und Wendy beredeten.

"Zum Glück habt ihr das Feuer in den Griff bekommen", sagte Wendy.

"Ja, der Oberkommandant der Feuerwehr war begeistert von meinem Hybridolon. Der Brand war Geschichte, sobald ich meine Erfindung an den Wasserwerfer befestigt hatte. Genial sag ich dir! Das hättest du sehen sollen. Wir hatten einen Wasserdruck, der Bäume ausreissen könnte!", erzählte Professor Maltens begeistert.

"Was er auch beinahe getan hätte wenn ich den Strahl des Hybridolon nicht ein wenig gedrosselt hätte. Es würde sonst kein Baum mehr stehen", sagte jemand vorwurfsvoll. Michelle lauschte angestrengt und erkannte, dass es Lukas Finn war.

"Aber ohne meine Erfindung würde auch kein Baum mehr stehen!", gab der Professor beleidigt zurück.

"Ja, es ist ein Wunder, dass nicht der ganze Wald abgebrannt ist. Diese alten Bäume brennen normalerweise wie Heu!", sagte Finn und nahm einen Schluck Kaffee. "Norbert Sauberfelds Teil des Waldes hat am meisten abbekommen."

"Als der Brand gelöscht war, schaute ich bei Nora Feen vorbei. Ich wollte wissen, ob es ihr gut geht", sagte Professor Maltens. "Die Feuerstelle war ganz in der Nähe ihres Häuschens. Ihr Garten ist bereits wieder voller Sommerblumen. Ich frage mich wie sie das hinkriegt, schliesslich steht ihr Häuschen oft im Schatten der Bäume."

"Ja, nirgendwo wachsen und blühen die Blumen so gut wie bei Nora", sagte Wendy. "Hat ihr Garten etwas abbekommen?", fragte sie besorgt. Michelle hörte, wie ihre Schwester den Stuhl zurück schob und aufstand. Wendy nahm die Pfanne mit dem siedenden Wasser vom Herd und schüttete es in den Teekrug. Sofort erfüllte ein süsser Duft den Raum. Interessiert hatte Michelle zugehört, doch als sie den Duft von ihrem geliebten Kirschtee roch, stand sie auf und kam polternd die Treppe hinunter in die Küche. Sie gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und schnappte sich ein Brötchen. Sirius lag bereits unter dem Tisch und sabberte. Er war immer treu an ihrer Seite - bis er etwas zu Essen roch. Als sie sich auf ihren Stuhl setzte schleckte er ihr liebevoll über die nackten Zehen.

"Und war sie da?", fragte Michelle ihren Vater. Dieser schaute sie verwirrt an. "Wen meinst du?"

Ungeduldig schüttelte Michelle ihren Kopf. "Na, Nora Feen, wer denn sonst? Du hast doch erzählt, dass du zu ihrem Haus gingst um nach ihr zu schauen. "

Der Professor sah sie mit hochgezogener Augenbraue an, er vergass immer wieder, wie gern Michelle lauschte.

"Nora öffnete nicht, daher ging ich um das Haus herum. Sie sass selenruhig auf einer Bank und sortierte getrocknete Kräuter. Und neben ihr stand ein gewaltiges, weisses Pferd! Ich glotzte es dumm an, denn es sah so unwirklich aus, ich dachte beinahe, ich träumte. Anscheinend war sich Nora der Gefahr des Feuers nicht bewusst, denn sie war vollkommen ruhig, so als ob ihr der Brand gar keine Angst mache."

"Wahrscheinlich sind unter ihren Kräutern einige, die die Wahrnehmung vernebeln", meinte Finn spöttisch und erntete einen bösen Blick von Wendy, die ihre abwesende Freundin gerne verteidigte. Dem Professor, dem der Blick ebenfalls durch und durch ging verschluckte sich an seinem Tee.

"Nora sagte mir, wir müssten uns keine Sorgen um das Feuer machen, die Wald-… öhm, Waldgeister hätten sich darum gekümmert", fuhr Professor Maltens keuchend fort. "Klingt das nicht sonderbar?"

"Sonderbar?", fragte Finn mitleidig. "Wenn ihr mich fragt, hat sie unter ihrem hübschen Haar eine Schraube locker. Wahrscheinlich sind Nora die Geschichten, die man über den Wald erzählt zu Kopf gestiegen."

So fing Finn den zweiten bösen Blick von Wendy an diesem Morgen ein und er wünschte sich er hätte den Mund gehalten.

Michelle sagte nichts, aber ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. Schon wollte sie sich davon machen um mehr über die Waldgeister herauszufinden, da rückte ihr Vater mit einer weiteren Neuigkeit heraus.

"Gestern war ein Artikel in der Zeitung. Es hiess, Norbert Sauberfeld wolle seinen Teil des Waldes abholzen und auf dem Grundstück ein Wellness-Hotel bauen. Da es ein Projekt zur Touristenförderung ist, hat der Stadtrat beschlossen seinen Antrag zu prüfen. Und Norbert Sauberfeld hat so gute Beziehungen, dass er schon so gut wie gewonnen hat."

"Ist das nicht der Vater von Franka? Deiner Schulkollegin, die dir manchmal das Leben schwer macht?", fragte Wendy Michelle.

"Seltsam, dass gerade jetzt der Teil des Waldes brennt, den Norbert Sauberfeld abholzen will", sagte Finn und sah nachdenklich aus dem Fenster. "Das gefällt mir gar nicht. Ich gehe gerne in den Wald und habe meine Ruhe."

Michelle nickte bedrückt. Der Wald war einer ihrer liebsten Rückzugsmöglichkeiten. Wohin sollte sie gehen, wenn aus dem Wald eine Baustelle wurde? Mit dem Butterbrot in der Hand verliess sie die Küche. An der Tür stiess sie mit zwei Fingern im Mund einen lauten Pfiff aus, worauf Sirius aufsprang. Blitzschnell rannte der Golden Retriever hinter ihr her und zusammen gingen sie in den Garten. Michelle teilte ihr Butterbrot mit Sirius und starrte den einzigen Baum an, den es in ihrem Garten gab. Es war eine Birke. Michelle liebte diesen zarten Baum mit der hellen Rinde.

"Aber ein Baum reicht einfach nicht", flüsterte sie Sirius zu. "Wir brauchen den Wald."

In der Küche war die Unterhaltung zu Ende. "Norbert Sauberfeld darf damit nicht durchkommen. Der Wald gehört unter Naturschutz gestellt", meinte Finn und knallte sich unbeherrscht eine Ladung Butter auf sein Brot.

In der Familie Maltens verbrachte jeder den Sonntag auf seine Art. Michelle hatte zuerst mit Wendy ihre Mutter besucht. Danach machte sie mit Sirius und Finn einen langen Waldspaziergang, wobei sich Finn köstlich über Michelles Ideenreichtum in Sachen Lehrerbriefe vernichten amüsierte. Die Zuhausegebliebenen aber, verfeinerten die Übersetzung von Milos Notizen. Als Michelle zurückkehrte, machte sie sich sogleich auf den Weg zum Denkerzimmer, um zu hören, was Wendy und der Professor aus Blossoms Notizen herausgefunden hatten. Sirius folgte ihr natürlich auf Schritt und Tritt und Finn verbrachte sowieso seine gesamte Freizeit bei den Maltens. Er bewohnte eine kleine Wohnung im Dorf, doch fühlte er sich dort sehr einsam, da seine Eltern weit weg wohnten. Ab und zu besuchte er auch seinen Bruder, doch am liebsten war er hier im Hause des Professors. Das lag nicht nur an seiner Arbeit, sondern auch an Wendy, doch das ahnte der Professor nicht. Der Professor hatte nichts dagegen, dass er und seine Töchter Finns Ersatzfamilie waren und er fand es toll, dass sich Finn ebenso für die Wissenschaft interessierte wie er.

Wendy lag ausgestreckt auf dem Denkersofa und las Professor Maltens die Übersetzung von Blossoms Notizen vor. Als Michelle, Finn und Sirius das Zimmer betraten, erhob sich der Professor feierlich.

"Ihr kommt gerade richtig!", sagte er und blinzelte vergnügt. "Milos Aufzeichnungen sind wirklich interessant, wenn auch vollkommen anders, als ich sie mir vorgestellt, ja erhofft hatte. Ich habe mit meinen Vermutungen vollkommen richtig gelegen, aber hört selbst."

Michelle liess sich auf den Boden plumpsen und Finn nahm eine der grossen Topfpflanzen von einem Hocker und stellte sie auf den Boden. Grinsend setzte er sich auf den kleinen Schemel, wobei seine Knie fast sein Kinn berührten. Sobald alle sassen und gespannt drein blickten, fing Wendy mit dem Vorlesen an:

"Sieh hoch zu den Sternen,

nie bleiben sie stehn,

und mögen auch

Tage und Stunden vergehn.

Sie ziehn ihren Kreis

um die Erde herum,

verblassen am Tag

ohne Klagen, ganz stumm.

Zwischen Erde und Sternen

eine Freundschaft entstand,

von Abschied geprägt

und doch Hand in Hand.

Sieh hoch zu den Sternen,

hell funkelnd und klar

schaun sie hinab

wie es immer schon war.

Und funkelt ein Lichtlein

ganz nah und doch fern,

dann merk dir die Stelle

und reis zu dem Stern.

Das heilende Auge

vertreibt jeden Schmerz.

Besitzt du zwei Flügel,

Verstand und ein Herz.

Sieh hoch zu den Sternen,

nach Etamina,

vergesse die Sorgen,

auf Mina Età.

Im Innern des Sternes

vom Drachen bewacht,

beweise den Mut,

benütze die Macht.

Der Drache belohnt sie,

den Verstand und den Mut.

Die Gefahren vergessen,

alles wird gut.

Sieh hoch zu den Sternen,

sieh hoch zu dem Licht,

Etamins Auge

erlischt bei Tag nicht."

Wendy sah auf - und registrierte, dass Finns Gesicht wie ein grosses Fragezeichen aussah. Sie liess ihren Blick durch das Zimmer schweifen bis sie an Michelles Nase hängen blieb, die ihre Zehen anstarrte, als ob sie dort erfahren würde, was Milo Blossoms Gedicht zu bedeuten hatte. Enttäuscht von so viel stummen Denkens übergab Wendy die Aufzeichnungen dem Professor.

"Leider ist das alles, was man aus den Notizen übersetzen kann. Anscheinend hat dieses Blatt noch niemand entdeckt." Der Professor nickte nachdenklich. "Keiner hat bemerkt, was für einen Schatz er da in den Händen hielt! Fantastisch!"

"Also war Milo nicht verrückt?", fragte Michelle ihren Vater und wandte den Blick von ihren Zehen ab.

"Nicht mehr als du und ich", sagte der Professor und kratzte sich am Hinterkopf.

"Aber", sagte Michelle und suchte angestrengt nach den richtigen Worten. "Wieso hat er gedichtet?"

"Weil ein Gedicht länger überlebt", erklärte Professor Maltens ungeduldig. "In Reimen kann man Schätze verstecken, gerade weil sie so harmlos aussehen. Ausserdem bleibt es besser im Gedächtnis hängen als ein normaler Text."

"Kein Wunder, dass sie ihn für einen Spinner hielten, so ungeschickt, wie er sich ausgedrückt hatte!", sagte Finn und stand auf, weil seine Füsse eingeschlafen waren.

"Früher hat man halt so geredet. Ich glaube nicht, dass das der Grund war, wieso sie ihn einsperren wollten. Aber was auch immer in der Vergangenheit geschehen ist, ich weiss jetzt was ich wissen muss! Das Ziel heisst Etamin oder besser gesagt Mina Età! Und ich besitze genügend Verstand und ein Herz, das danach lechzt den Planeten mit den faustgrossen Edelsteinen zu finden! Ganz zu schweigen von den zwei Flügeln. Schliesslich habe ich die MINNIE1, die in der grossen Scheune steht und auf ihren ersten Flug wartet. Los Finn, wir sollten uns sofort an die Arbeit machen", erklärte Professor Maltens und legte Milo Blossoms Papiere und die Übersetzung in seine Schreibtischschublade.

"Jetzt?", fragte Finn ungehalten und warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war viertel vor sieben. Zeit fürs Abendessen!

"Natürlich jetzt, oder sollen wir noch mehr Zeit vertrödeln?", sagte Professor Maltens unbarmherzig und die beiden verliessen das Haus und gingen in die Scheune, wo ihr eigenes, nach den Plänen des Professors, gebautes Raumschiff stand.

"Und wonach lechzt dein Herz?", fragte Wendy, die immer noch auf dem Sofa sass.

"Keine Ahnung, aber mein Magen verlangt nach einem Teller Spaghetti mit Tomatensauce und ganz viel Käse oben drauf", sagte Michelle und stand mit hungrigen Augen auf. Ihre Schwester lachte und war ausnahmsweise der gleichen Meinung.

Pultnachbarn

Da war er wieder, der Montagmorgen! Der schrecklichste Tag der Woche wenn man in die Schule muss! Michelle wusste, Wendy würde ihre Drohung wahr machen und sie persönlich in die Schule bringen.

Natürlich passte das Michelle überhaupt nicht und deshalb war sie zu ungewöhnlichen Mitteln gezwungen worden, um das zu verhindern. Michelle war in der Nacht in Wendys Zimmer geschlichen und hatte den Wecker ihrer Schwester ausgeschaltet.

Das würde wahrscheinlich ein Donnerwetter geben, aber Michelle hatte sich dafür vorgenommen, diesen Montagmorgen tatsächlich pünktlich zu Herrn Blums Unterricht zu erscheinen. Aber ohne ihre Schwester, so viel stand fest! Michelle hatte ihren eigenen Wecker auf sieben Uhr gestellt.

Nachdem sie mehrere Male verschlafen hatte, obwohl sie von Wendy geweckt worden war, hatte ihr Vater, der Professor, ihr seinen kaputten Wecker wieder zusammen geflickt. Er hatte ihn nämlich auseinander gebaut, weil ihm ein paar Ersatzteile für seine neueste Erfindung gefehlt hatten. Doch anscheinend hatte er einige für einen Wecker lebenswichtigen Teile entfernt, denn der Schrottkasten blieb an diesem Morgen so stumm wie ein Gartenzwerg.

Zum Glück gab es da aber noch Sirius, der Hunger hatte und nach einem trockenen Brot verlangte. Er stupste die schlafende Michelle fordernd mit der Nase an. Das Mädchen öffnete die Augen und hatte Sirius' Hundeschnauze vor dem Gesicht. Michelle begriff sofort, dass ihr Plan, Wendy zu sabotieren, funktioniert hatte, sie dabei aber beinahe verschlafen hätte. Schwungvoll sprang sie aus dem Bett und zog sich an. Schnell ging Michelle in die Küche und gab Sirius ein trockenes Brötchen. Das Mädchen trank ein Glas Milch, drückte dem Hund einen Kuss aufs Fell und schon war Michelle aus dem Haus.

Sie wusste Wendy würde es ihr nicht lange übel nehmen, dass sie sie ausgetrickst hatte. Ihre Schwester wollte nur das Beste für sie und versuchte so gut wie möglich ihr die fehlende Mutter zu ersetzen. Schnell rannte sie die Treppe hinunter.

Ihr Fahrrad war wie immer griffbereit an die Hauswand gestellt. Jetzt musste sie es nur noch schaffen pünktlich in die Schule zu kommen, dann war Herr Blum glücklich und sie konnte sich im Unterricht entspannen.

Auf der Strasse lagen Kiesel und Dreck, den der Wind her geweht hatte. Beinahe wäre sie ausgerutscht. Inzwischen war Michelle doch ein wenig wütend auf den blöden Wecker, der nicht funktioniert hatte. Wenn sie schon wieder zu spät kam, würde sie eine Strafaufgabe kassieren und der Lehrer würde womöglich noch persönlich bei ihr zu Hause aufkreuzen! Energisch trat sie in die Pedalen.

Herr Blum war sehr streng, er duldete nicht den kleinsten Regelverstoss. Zum Glück gab es aber Charlotte, ihre beste Freundin, die Michelle oft bremste, wenn sie wieder mal voller Energie übers Ziel hinaus schiessen wollte. Charlotte machte die Schule und die Lehrer erträglicher. Leider hatte Michelles Freundin eine schwere Grippe und war seit letztem Freitag krank. Michelle machte sich also auf einen langen und langweiligen Montag gefasst.

Als sie in die letzte Strasse einbog, läutete bereits die Klingel. Michelle beschleunigte noch mal und bog mit halsbrecherischem Tempo in die Schulhausstrasse ein. Auf dem Pausenhof sprang sie vom Fahrrad und warf es achtlos ins Gras. Sie rannte gehetzt zum Schulgebäude und ihr Pferdeschwanz wippte dabei auf und ab. Verschwitzt, gestresst und mit hochrotem Kopf, kam sie gerade noch rechtzeitig ins Klassenzimmer. Sie setzte sich als letzte auf ihren Platz, gerade als Herr Blum das Zimmer betrat.

Er war wie immer tadellos gekämmt und perfekt gekleidet. Michelle vermutete Herr Blum bügelte seine Hemden immer frühmorgens, um vor seinen Schülern tiptop auszusehen. Doch wenn sie gewusst hätte, dass er ein Mann war, der auch seine Socken bügelte, hätte sie ihm nie mehr in die Augen schauen können!

Herr Blum begann sogleich mit dem Unterricht. Wie jeden ersten Montag im Monat nahm der Lehrer die Schachtel mit den Namenszettelchen hervor, um die Sitzordnung neu einzuteilen.

Er ergriff jeweils zwei Zettel und das Paar musste an einem Pult Platz nehmen. Diejenigen die zufrieden mit ihrem neuen Pultnachbarn waren zogen erleichtert um, die anderen setzten sich ebenfalls, wenn auch widerwillig. Michelle hatte kein Glück. Der Zettel, der Herr Blum zu ihrem zog, zeigte den Namen Frankas. Michelle warf dem dunkelhaarigen Mädchen einen wenig freundlichen Blick zu. Franka sah sie von oben herab an. Das fiel ihr leicht, denn sie war ein ganzer Kopf grösser als Michelle. Die Tische standen nahe beieinander und deshalb hatte Michelle glücklicherweise noch einen zweiten Nachbarn.

Luis lächelte sie freundlich an und Michelle grinste zurück. Franka dagegen verzog nur leicht den Mund und schaute sie mit ihren schönen, dunklen Augen kalt an. Michelle hatte also auf der einen Seite Luis, der ihr während der Mathestunde einen Kaugummi rüber schob und auf der anderen Seite Franka.

Frankas Zuneigung zu gewinnen, war eine harte Nuss. Das Mädchen war herzlos und unberechenbar. Michelle nannte sie deswegen heimlich auch "die eiskalte Franka". Sie dachte an den ersten Schultag mit Franka zurück, als Charlotte ihr sagte, dass niemand Franka leiden könne, weil sie eine so boshafte Natur hatte. Sie sei so hinterlistig, dass nicht einmal ihr eigener Hund Toto mit ihr spielen wolle.

Michelle hatte damals gelacht, doch heute wusste sie, dass es kein Scherz gewesen war. Franka war im Sommer zu ihnen in die Klasse gekommen und musste das Schuljahr wiederholen.

Inzwischen wusste Michelle, dass Franka keineswegs dumm war, umso mehr gemein, hinterhältig, fies und noch so einiges, was ihr manchen Ärger mit der Klasse eingebracht hatte.

"Bestimmt war sie in ihrer alten Klasse genauso unbeliebt und die wollten sie loswerden", dachte Michelle. Michelle war nicht herzlos, aber sie fand es ziemlich ungerecht, dass man Franka ihrer Klasse zugeschoben hatte!

Am Mittwoch war Charlotte noch immer nicht gesund. Die Grippe hatte sie voll erwischt und das Mädchen lag mit Gelenkschmerzen im Bett. So gesellte sich Michelle in der Pause zu Marlies, einem unauffälligen, aber netten Mädchen aus ihrer Klasse. Sie ass schweigend ihr Käsebrot und hörte sich Marlies‘ Geschwafel von ihrer Katze, die sehr alt war, an.

"Stell dir vor, mein Vater hat Minka damals vor unserem Haus gefunden. Sie war ganz dreckig und stank fürchterlich. Das ist jetzt 14 Jahre her. Und stell dir vor, sie ist älter als ich! Du hast keine Katze, ich weiss, aber stell dir nur mal vor, wie es wäre, wenn du eine Katze hättest…"

Michelle wollte erwidern, dass sie ein Hundemensch war, doch Marlies liess sie nicht zu Wort kommen. Sie plauderte munter weiter.

Verzweifelt bot Michelle ihr die Hälfte des Brotes an, damit sie endlich Ruhe gab. Ihr surrte bereits der Kopf. Ahnungslos nahm Marlies die Brothälfte entgegen und biss herzhaft hinein.

Aber gegen Marlies‘ Redelust kam auch kein Käsebrot an. Sie redete zwischen dem Kauen mit vollem Mund weiter.

Michelle liess sie also reden und nickte oder lächelte zwischendurch, um nicht unhöflich zu sein und tat so, als würde sie sich wirklich all das vorstellen, was Marlies von ihr verlangte. Wenigstens konnte sie so ihren eigenen Gedanken nachhängen.

Dummheiten

"Schau dir mal unsere Hunde an, ihnen hängen ja die Zungen bis zum Boden", sagte Michelle und lachte, weil die Hunde sich gegenseitig jagten, bis ihnen die Luft weg blieb.

"Wir sind ja gleich im Wald und später können sie dann baden", sagte Charlotte und warf einen Blick auf die zwei Hunde. Sirius forderte gerade Mila, Charlottes Bernhardiner, zum Spielen auf. Trotz hängender Zunge liess sich Mila darauf ein und sprang übermütig auf den Golden Retriever zu. Die beiden Mädchen waren ebenfalls froh, als sie den kühlen Wald erreichten. Es war genau das richtige Wochenend-Wetter. Doch noch mehr als das Wetter genoss Michelle Charlottes Gesellschaft. Dadurch würde die bevorstehende Schulwoche viel angenehmer werden. Michelle dachte bereits mit Schaudern an den nächsten Freitag. Herr Blum hatte nämlich eine schwierige Englischprüfung angesagt. Natürlich hatte die ganze Klasse protestiert, sie fanden es war eine Zumutung, vor dem Wochenende einen Test zu schreiben. Doch der Lehrer blieb unerbittlich und deshalb hatte Wendy ihre Schwester am Vormittag (an einem Samstag!) dazu gezwungen mit ihr Englischvokabeln zu üben. Erst danach hatte Michelle sich mit Charlotte treffen dürfen.

"Ich bin so froh, dass du wieder gesund bist!", rief Michelle laut aus und umarmte Charlottes.

"War es so langeilig in der Schule?", fragte Charlotte schmunzelnd und wand sich aus Michelles Umklammerung.

"Zum Schnarchen!", gab Michelle kichernd zu.

In der Mitte des Waldes gab es einen kleinen See, der das Ziel des heutigen Ausflugs war. Ungeduldig sprangen die Hunde vor ihnen her. Man merkte ihnen an, dass sie die Kühle des Waldes genossen.

"Warte mal, Charlotte!", sagte Michelle und tippte auf ihre Umhängetasche. "Ich muss Nora Feen ein Buch von Wendy zurückbringen. Du weisst doch, sie hat sich den Fuss gebrochen und soll sich ausruhen. Wendy hat ihr deshalb versprochen diesen Roman vorbeizubringen, aber sie kam gestern nicht mehr dazu, deshalb hat sie mich darum gebeten, es zu erledigen. Geh du nur schon zum See, nimm Sirius mit, ja? Ich komme dann nach."

Charlotte nickte und rief die Hunde zu sich. "Okay, bis gleich", sagte sie und zog Sirius mit, der lieber mit Michelle gehen wollte. Sirius war, wie jeder andere Golden Retriever, recht stur und dickköpfig. Er blickte Charlotte mürrisch an. Das Mädchen nahm Milas Leine und band Sirius kurzerhand an. Während Michelle den einen Weg einschlug, der zu Noras Häuschen führte, zerrte Charlotte an der Leine um den Hund dazu zu bewegen, mit ihr zu gehen. Doch der bockte und setzte sich hin. Mit aller Kraft stemmte Sirius seine Beine in den Erdboden. Es war unmöglich ihn vom Fleck zu bewegen, ohne ihn zu strangulieren. Erst als Michelle nicht mehr zu sehen war stand Sirius auf und lief widerwillig hinter Charlotte her.

Als Michelle zehn Minuten später das Ufer des kleinen Waldsees erreichte, sprang ihr Sirius bellend entgegen. Mila war noch im Wasser und schwamm mit kräftigen Zügen umher. Die Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen fielen zauberten wunderbare Lichtspiele auf der Wasseroberfläche. Charlotte sass auf einem Stein und genoss die Stille. Zwischendurch warf sie ein Holzstück vor Mila hin. Die grosse Hündin fischte sie alle begeistert heraus, es war eines ihrer Lieblingsspiele.

Nachdem die Hunde ausgiebig gebadet hatten, spazierten sie weiter zu der alten Burgruine am Waldrand, die vor einigen Jahren zu einem Museum umgebaut worden war. Eigentlich waren auf dem Grundstück keine Hunde erlaubt, doch Charlotte kannte den Schlossgärtner Paul gut und der drückte bei ihnen immer ein Auge zu. Im Park träumten Michelle und Charlotte von den spannenden vergangenen Zeiten, die hier einmal geherrscht hatten. Sie dachten sich Geschichten über schöne Edelfräuleins und tapfere Ritter aus und spielten sie manchmal auch nach.

Oft besuchten sie den alten Paul, der hier nicht nur als Gärtner und Aufseher, sondern auch als Museumswärter angestellt war. Paul war sehr stolz auf seinen Arbeitsplatz und pflegte ihn mit aller Hingabe. Er nannte die Burg liebevoll sein Schlösschen, obwohl das Hauptgebäude nur aus einem grossen viereckigen Gebäude bestand und nichts mit den prachtvollen Schlössern zu tun hatte, die man im Fernsehen bestaunen konnte.

Wenn so schönes Wetter war, konnten die Mädchen hier stundenlang herumliegen. Gerade hatten sie einen gefährlichen Schwertkampf hinter sich gebracht, den Charlotte gewonnen hatte. Michelle war zwar kräftiger, doch in ihrer unbeherrschten Art, hatte sie sich völlig verausgabt, was ihre Freundin ausgenutzt hatte. Charlotte war ihr mit ihrem Holzschwert flink ausgewichen und hatte einfach gewartet, bis ihre Freundin müde geworden war. Um zu gewinnen hatte sie Michelle bloss noch aus dem Kreis drängen müssen, den sie vorher auf dem Kiesweg eingezeichnet hatten.

"Ich will eine Revanche", forderte Michelle atemlos.

"Die kannst du haben. Stell dir vor, früher wäre es undenkbar gewesen, dass Frauen an einem Ritterturnier teilnahmen", sagte Charlotte, die mit ihrem Wissen prahlte.

"Ich hätte es trotzdem getan, und natürlich hätte ich sie alle geschlagen", erklärte Michelle überheblich.

"Wohl kaum, du Angeberin! Du kommst ja nicht mal gegen mich an. Und die Ritter waren noch viel stärker. Ausserdem mussten die Verlierer immer sterben. Ritterturniere endeten immer tragisch! Es ging denen scheinbar um die Ehre", sagte Charlotte und zuckte mit den Achseln. Was der Tod mit der Ehre zu tun hatte, konnte sie sich nicht erklären.

"Nie wieder würde jemand von Ritter Bella von Erfinderheim hören, die zwar tapfer, aber schwach war", witzelte Charlotte. Denn das war Michelles Rittername, den sie immer in ihren Ritterspielen gebrauchte. "Verbeuge dich vor mir, dann werde ich, Carlotta de Rouge, dich verschonen." Übermütig machte Michelle einen Knicks vor der Siegerin des heutigen Ritterturniers.