Millionen neuer Lügen - Victoria Scheer - E-Book

Millionen neuer Lügen E-Book

Victoria Scheer

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

“Hör mir nun gut zu.”


Lady Winter sprach ruhig aber bestimmt. “Deine Mutter war wie ich, kleine Eve. Leider ist sie zu früh gestorben, um dir alles selbst erklären zu können. Sie hat mir ein Geheimnis anvertraut, welches ich nun an dich weiterreiche.”


Was würdest du tun, wenn von einem Tag auf den anderen deine Welt auf den Kopf gestellt wird? Was, wenn du eine ganze Welt aufgeben müsstest, nur um denjenigen zu retten, der dir am meisten bedeutet? Was, wenn hinter jedem Satz eine Lüge steckt? Und was, wenn alles was du geglaubt hast zu kennen, ein Geheimnis birgt?


Eve Cort ist ein junges Mädchen im frühen siebzehnten Jahrhundert, nur fasziniert von der Musik. Doch eines Tages ändert sich ihr ganzes Leben. Geheimnisse kommen ans Licht und bedrohen jene, die Eve am nächsten stehen. Bei dem Versuch diese zu retten, wird sie in eine Welt gerissen, in der Magie kein Fremdwort ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Millionen neuer Lügen

von Victoria Scheer

Copyright © 2018 Victoria Scheer

Covergestaltung: Philipp Matthes

Verlag: hergestellt im Selbstverlag durch Victoria Scheer

ISBN-E-Book: 978-3-948286-00-2

ISBN-Paperback: 978-3-948286-01-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

PrologKapitel 20

Kapitel 1Kapitel 21

Kapitel 2Kapitel 22

Kapitel 3Kapitel 23

Kapitel 4Kapitel 24

Kapitel 5Kapitel 25

Kapitel 6Kapitel 26

Kapitel 7Kapitel 27

Kapitel 8Kapitel 28

Kapitel 9Kapitel 29

Kapitel 10Kapitel 30

Kapitel 11Kapitel 31

Kapitel 12Kapitel 32

Kapitel 13Kapitel 33

Kapitel 14Kapitel 34

Kapitel 15Kapitel 35

Kapitel 16Kapitel 36

Kapitel 17Kapitel 37

Kapitel 18Kapitel 38

Kapitel 19Epilog

Prolog

Vor langer Zeit war die Familie Cort auf der Erde an der Macht. Sie schrieben die Gesetze und sie bestimmten über Recht und Unrecht. Sie kontrollierten den Großteil des Marktes und sie waren Vorbild jedes kleinen Kindes. Doch eines Tages änderte sich das. Die Welt war im Umbruch und die Familie gab ihre Macht auf. Jeder sollte seinen eigenen Weg gehen und man wollte friedlich nebeneinander leben. Doch bereits nach wenigen Jahrzehnten begann dieser scheinbare Frieden zu zerbröckeln, denn die Familie Cort hatte nie etwas anderes als Macht gekannt und folglich war es nicht verwunderlich, dass sie diese sehr bald zurückwollten. Doch sie waren nicht die Einzigen. Auch andere Familien sahen ihre Chance, an die Macht zu kommen und so begann ein Kampf um Macht und Reichtum. Vor einigen Jahren dann entdeckten die Menschen eine seltene und wertvolle Blume, die viel wertvoller war, als alle bisher entdeckten Edelsteine und Metalle. Doch sie barg ein viel größeres Geheimnis, als nur ihren Wert. Ein einfacher Bauer entdeckte dies, als er eine dieser Blumen pflückte um sie seiner Frau zu schenken. Kaum hatte sie diese berührt, starb sie einen qualvollen Tod. Der Mann hatte nicht gewusst, dass diese Blume, so schön sie auch sein mochte, tödlich war, für all diejenigen, die das Blut der Übernatürlichen in sich trugen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es war allgemein bekannt gewesen, dass in der Ära der Familie Cort alle Übernatürlichen ausgerottet worden waren, doch dies schien sich nun als Lüge zu entpuppen. Diejenigen Familien, die nach Macht lechzten, begannen die Blume auszunutzen, um so ihre Macht zu sichern, allen voran natürlich die Familie Cort. Sie taten es keineswegs aus Angst, sondern aus Neid, weil die übernatürlichen Wesen etwas hatten, was sie nicht hatten: Macht. Um ihnen diese Macht zu nehmen und gleichzeitig Reichtum zu erlangen, nutzten sie die Macht dieser einen Blume. Wir nennen sie Blutrosen.

1

Die Erde, 1623 n. Chr.

Es war schon eine Weile her, dass Adam einen so schönen Morgen gehabt hatte. Gewöhnlich gab es bereits Streit, bevor er sich zum Frühstück mit seiner Familie gesellte. Emylia, seine ältere Schwester, fand jeden Morgen jemand neuen, dem sie das Leben zur Hölle machen konnte, während die Zwillinge Lionell und Lioness sich täglich zusammen mit Vater über das Wetter oder irgendeine andere banale Kleinigkeit beschwerten. Es war geradezu unerträglich. Doch an diesem Tag war alles anders. Adam war bereits kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus geschlichen, um seine Freundin zu besuchen. Verima Eliot war jung und bildhübsch. Sie hatte kurze blonde Locken und ihre strahlend blauen Augen waren von dicken schwarzen Wimpern umrandet. Sie roch stets nach Birnen und Vanille und hatte die Figur einer Göttin. Kein Wunder also, dass nicht nur Adam Hals über Kopf in sie verliebt war. Auch Lioness hatte es schwer getroffen, weshalb Adam seine Freundin heimlich besuchte. Er wollte nicht noch mehr Streit in der Familie anfangen. Doch im Moment machte er sich darum wenig Sorgen, denn niemand hatte ihn gehen sehen und als er nun durch den Garten zurückkam, war ohnehin jeder mit anderen Dingen beschäftigt. Bereits von weitem konnte Adam die lieblichen Klänge von Eves Lieblingsstück hören, welche seine kleine Schwester auf dem Klavier spielte. Wie sehr er Eve doch liebte. Er kannte niemanden, der so gutherzig und liebevoll war wie sie. Ihr Herz war viel zu groß für ihren kleinen Körper, aber eines Tages würde sie dadurch großes bewirken können, da war er sich sicher.

Plötzlich wurde das Stück durch wildes Geklimper unterbrochen. Das musste Emylia gewesen sein, vermutete Adam.

“Emylia, war das wirklich nötig?”, hörte er Eve fragen, als er die Stufen zur Terrasse hinaufstieg. Dort gab es eine Tür, die direkt ins Wohnzimmer führte, wo sich gerade ein Streit zwischen den beiden Schwestern anbahnte.

“Aber natürlich, Süße“, flötete Emylia, welche Eve abgrundtief hasste. “Ich wollte doch unbedingt das ganze Stück hören. Jetzt musst du leider wieder von vorn anfangen, Elisa.” Es spielte keine Rolle, ob Emylia den Anfang des Stücks mitbekommen hatte oder nicht. Sie hasste Eve und das würde sich nie ändern. Deswegen unterbrach sie ihre kleine Schwester beim Spielen und nannte sie nie bei ihrem richtigen Namen.

Als Adam die Terrassentür öffnete, murmelte Eve leise etwas vor sich hin. Vermutlich ihren Namen, dachte Adam.

„Entschuldige, was hast du gesagt? Du musst lauter reden, Elisa“, sagte Emilya, die sich offensichtlich über Eve lustig machte. Doch Eve war das gewohnt und reagierte dementsprechend ruhig.

“Ich heiße Eve“, sagte sie mit etwas Nachdruck, sah jedoch nicht von den schneeweißen Klaviertasten auf. Sie wusste, was Emylia damit bezwecken wollte. Sie wollte erreichen, dass Eve die Fassung verlor, das versuchte sie jeden Tag, doch Eve war stärker.

„Du hältst dich wohl für etwas Besseres, nur weil Mutter dich nach der ersten Frau benannt hat? Du bist ja beinahe schlimmer als Adam“, bemerkte Emylia schroff, wohl wissend, dass Adam sie hören konnte. Doch er machte sich nichts daraus, denn Emylia hatte ihn nie besonders interessiert. Stattdessen verteidigte er lieber Eve, die ein wenig hilflos aussah.

„Mutter hat früher immer gesagt, sie wäre etwas Besonderes“, erklärte er deshalb. Ihre Mutter war eine so kluge Frau gewesen, doch leider hatte sie sehr früh das Zeitliche gesegnet. Eve war damals gerade sechs Jahre alt gewesen und Adam war sich nicht sicher, ob sie das je richtig verarbeitet hatte. Jetzt drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn dankbar an.

„Ach hör doch auf sie zu verteidigen, Adam. Sie ist nicht besser, als wir“, schimpfte Emylia und lief beleidigt davon.

“Das habe ich auch nicht gesagt“, bemerkte Adam, doch das hörte sie sicher schon gar nicht mehr. “Mach dir nichts daraus, sie ist nur neidisch“, sagte er und wand sich damit wieder an Eve, welche ihn verwirrt aus ihren froschgrünen Augen ansah.

“Neidisch worauf, Adam?”, fragte sie. Einen langen Moment, bevor er sich neben sie setzte und auf ein paar einzelne Tasten drückte, sah Adam seine Schwester einfach nur an. Sie war noch sehr jung, aber trotzdem schon sehr viel hübscher, als Emylia jemals sein könnte. Sie hatte lange kastanienbraune Haare und ihre freundlichen froschgrünen Augen strahlten eine Güte aus, die Emylia niemals haben würde.

“Auf deine natürliche Schönheit“, sagte er, um Eves Frage zu beantworten. “Wir wissen beide, dass sie Puder und all die schönen Dinge im Wert von einer Millionen Blutrosen bräuchte, um dir je das Wasser reichen zu können und da bist du gerade einmal dreizehn.” Adam konnte sich nicht vorstellen, wie Eve in ein paar Jahren aussehen würde, wenn sie eine Frau war und nicht mehr nur seine kleine süße Schwester. Sie war jetzt schon wahnsinnig hübsch und wenn sie erstmal alt genug war, würde sie den Männern sicher den Kopf verdrehen.

“Das ist süß, aber nicht wahr“, stritt Eve ab und spielte eine Tonleiter, um Adams schreckliches Geklimper zu beenden. Sie hatte ihm noch nie geglaubt. Sie dachte wohl, dass er das nur sagte, weil er ihr großer Bruder war, aber er meinte, was er sagte.

“Doch, das ist es. Du hast alles, was Emylia je wollte und eines Tages vielleicht noch viel mehr. Du hast volle Lippen, große Augen und die wunderschönen langen Haare, die sie sich erträumt hat, seit sie ein Kind war. Das alles hat sie nicht. Deswegen ist sie so neidisch auf dich“, erklärte Adam ihr mit einem Lächeln. Er erinnerte sich noch gut an die Zeit, bevor Eve geboren war, als er und Emylia sich noch nahestanden. Emylia war das einzige Mädchen und wollte immer so sein wie Mutter. Sie hatte ihr immer die Haare machen wollen, da ihre eigenen nicht besonders lang wurden. Aber je älter Emylia wurde, desto schlimmer wurde es. Zuerst wurde sie eifersüchtig auf Mutter und dann auf Eve.

“Danke, Adam“, sagte Eve leise.

“Für meine kleine Schwester doch immer.”

“Wo warst du eigentlich?”, fragte Eve plötzlich und in ihren froschgrünen Augen spiegelte sich pure Neugier. “Ich habe dich nicht in den Garten gehen sehen, aber trotzdem bist du von dort gekommen.” Adam konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Geistesabwesend wischte er imaginären Staub von den Klaviertasten, während er an seinen Morgen mit Verima dachte.

“Komm mal mit“, sagte er und stand auf. Er konnte Eve unmöglich hier davon erzählen, da entweder Vater oder Lionell sie hören und Lioness umgehend davon erzählen würden. Lionell saß zwar auf der Couch und war scheinbar in ein Buch vertieft, aber Adam war sich sicher, dass er ihn trotzdem hören würde. Und so sehr Vater auch in das Bücherregal vertieft sein mochte, welches er zum dritten Mal diese Woche neu sortierte, auch er würde Adam und Eve über Verima sprechen hören. Das konnte er nicht riskieren, also wollte er mit Eve eine Runde durch die Stadt spazieren gehen.

*****

Ohne ihr zu sagen, was er vorhatte, stand Adam einfach auf und ging aus dem Wohnzimmer in den Flur. Eve fragte sich, warum er nicht einfach ihre Frage beantwortete. Es war doch so eine simple Frage gewesen und Eve hatte nicht einmal eine ausführliche Erklärung erwartet, sondern eine genauso simple Antwort. Aber stattdessen war er einfach aufgestanden und losmarschiert und Eve blieb nichts anderes übrig, als seiner Bitte nachzukommen und ihm zu folgen, wenn sie die Antwort wissen wollte. Also stand sie ebenfalls auf, ließ ihr geliebtes Klavier zurück und folgte ihrem Bruder bis in den Flur, wo dieser sich bereits die Schuhe anzog.

“Wohin gehen wir?”, fragte sie verwundert. Es kam nicht oft vor, dass sie das Haus verließ. Sie war kein Kind wie alle anderen und das war ihr sehr wohl bewusst. Die meiste Zeit verbrachte sie am Klavier oder mit dem Lesen eines guten Buches. In ihren Lieblingsbüchern ging es meist um unsterbliche Liebe und Eve konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als dies einmal selbst zu erleben. Wenn sie könnte, würde sie diese Bücher immer wieder lesen, aber es gab noch so viele andere Bücher, die sie gerne lesen wollte, dass sie einfach nicht die Zeit dazu hatte. Das war auch der Grund, warum sie das Haus nur für die Bücherei verließ und sich daher umso mehr freute, als Adam ihr mitteilte, wo sie hingingen.

“In die Stadt“, erklärte Adam. “Du musst auch mal rauskommen. Los, zieh dir deine Schuhe an.” Darauf hielt er ihr zwei verschiedene paar Schuhe hin. Das eine weiß mit zwei kleinen schwarzen Schleifen und das andere rot mit weißen Punkten, woran man wieder einmal merkte, dass Adam nicht die geringste Ahnung hatte, was zusammenpasste und was nicht. Natürlich entschied Eve sich für die weißen Schuhe, da diese auch viel besser zu ihrem weißen Kleid passten und dann folgte sie Adam auf die Straße, wo sie gemeinsam Richtung Stadt liefen.

“Also, wo warst du vorhin?”, fragte Eve ihren Bruder noch einmal, da es nicht so schien, als hätte er noch vor, ihr zu antworten. Er lächelte wieder genauso, wie am Klavier, kurz bevor er aufgestanden war und Eve vermutete bereits, dass es um ein Mädchen ging.

“Bei Verima Eliot“, sagte er schließlich und Eve freute sich, dass sie Recht gehabt hatte.

“Wer ist das?”, fragte sie, denn natürlich wollte sie genaueres wissen. Was brachte ihr schon ein Name?

“Meine Freundin“, gab Adam mit einem Lächeln zu, während er Eve durch eine schmale Gasse führte. Eve war sich sicher, dass Adam die Wände zu beiden Seiten berühren konnte, wenn er nur die Arme ausstrecken würde.

“Und zu ihr gehen wir jetzt?”, fragte Eve neugierig nach. Sie würde dieses Mädchen zu gern einmal kennenlernen, schließlich hatte sie ihrem liebsten Bruder einfach so den Kopf verdreht und Eve fragte sich, was für ein Mädchen dies wohl geschafft hatte. Doch Adam begann nur zu lachen.

“Nein“, sagte er schließlich. “Ich konnte nur zuhause nicht über sie reden.” Eve runzelte die Stirn. Wieso sollte Adam nicht im Haus über Verima reden können? Sie war sicher ein nettes Mädchen aus gutem Hause, also gab es doch eigentlich keinen Grund, nicht über sie sprechen zu können.

“Warum nicht?”, hakte sie also nach.

“Du stellst ganz schön viele Fragen, Kleine. Lyoness ist in sie verliebt. Wenn er wüsste, dass wir zusammen sind, würde zuhause die Luft brennen“, erklärte Adam wenig begeistert. Verständlich. Adam mochte seine Brüder sehr, das wusste Eve, auch wenn sie es nicht tat. Sie liebte nur Adam, denn er war immer nett zu ihr gewesen und hatte ihr geholfen, wenn Emylia sie in Schwierigkeiten gebracht oder sie sonst irgendwie geärgert hatte.

“Achso“, murmelte Eve, als sie um eine Ecke bogen und auf einen großen Platz kamen. Eve war noch nie hier gewesen, aber dennoch wusste sie, dass es der Stadtplatz war. In der Mitte befand sich ein großer Springbrunnen, der heute mit vielen Blumen dekoriert war. Auf der Wiese um den Springbrunnen waren große bunte Schleifen an Holzpfählen festgebunden und auch von den Ästen der Bäume hingen Girlanden. Es sah sehr hübsch aus, doch Eve fragte sich, wozu es gut sein sollte. “Warum ist hier alles so bunt?”

“Man trifft Vorbereitungen für das Stadtfest nächste Woche. Wir können hingehen, wenn du möchtest“, schlug Adam ihr vor. Eve wusste nicht, was man bei so einem Fest machte, doch sie unternahm so gerne etwas mit Adam, dass sie zustimmte.

“Lass und doch ein Stück Kuchen essen gehen“, schlug Adam vor und Eve war sofort hellauf begeistert. In dieser Hinsicht war sie wohl doch wie jedes andere Kind, denn sie liebte Kuchen. Adam führte Eve quer über den dekorierten Stadtplatz zu einem gut besuchten Eckcafé. Draußen waren große Schirme aufgestellt, um Schutz vor der heißen Sommersonne zu bieten und auf jedem der kleinen Holztische stand eine Vase mit verschiedenen Lilien und ein grünes Tischdeckchen. Es sah richtig schön aus und Eve freute sich riesig, als sie die Theke mit den vielen Kuchen sah. Während sie an der Schlange anstanden, sah Eve sich noch ein wenig im Inneren des Cafés um. Es war im Großen und Ganzen genauso eingerichtet, wie draußen und durch die großen Fenster fiel genügend Licht, sodass es richtig freundlich aussah. Eve fragte sich gerade, warum sie nicht öfter herkam, als ihr ein paar Leute an einem der Tische in ihrer Nähe auffielen. Da war eine unheimlich aussehende Frau mit langen schwarzen Haaren, welche ihre Begleiter mit strengem Blick ansah. Drei Männer saßen bei ihr, ein rothaariger älterer mit Vollbart, ein junger herzhaft lachender mit einer großen runden Brille und ein Anzugträger mit Glatze, welcher zu Eve herübersah.

“Hey Joe ist das nicht die Kleine aus dem Cort Haus?“, fragte er plötzlich in die Runde und zeigte in Eves Richtung, welche sofort erschrocken wegsah. Doch Eve war ein neugieriges Mädchen und hörte aufmerksam zu, was über sie gesprochen wurde.

“Glaube schon. Warum?”, antwortete dieser Joe. Er klang sehr nachdenklich, so als wäre er sich nicht sicher.

“Glaubst du, die ist auch so versessen auf die Blutrosen?“, fragte der Glatzköpfige, was Eve hellhörig machte.

“Shht! Bist du wahnsinnig, Emanuel?“, hörte sie die Frau zischen. Sie hatte Recht. Blutrosen waren kein Thema, worüber man einfach so sprach und schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

“Was denn? Wir könnten sie einweihen“, bemerkte dieser Emanuel in einem leicht beleidigten Tonfall.

Vorsichtig sah Eve wieder zu dem Tisch herüber, als der dritte Mann - der mit der Brille - sagte: “Jetzt ist er völlig übergeschnappt!“

“Nein das ist gar nicht mal so dumm“, meinte nun der Rothaarige, von dem Eve vermutete, dass er Joe war.

“Wieso?“, fragte die Frau plötzlich sehr interessiert.

“Denk doch mal nach. Eine Spionin im Cort-Haus! Das wär‘s doch!“, schlug Emanuel begeistert vor und Eve traute ihren eigenen Ohren kaum. Sie als Spionin? Was dachten die sich eigentlich? Eve war noch ein Kind! Das war absurd.

“Hey Eve!”, rief Adam schließlich laut und Eve sah ihn verwirrt an.

“Was ist denn?”, fragte sie.

“Ich habe schon drei Mal deinen Namen gesagt“, bemerkte er lächelnd. “Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken? Was für ein Stück Kuchen möchtest du?” Jetzt war Eve diejenige, die lächelte.

“Zitrone, bitte.” Eve liebte Zitronenkuchen, denn er war anders, als der meiste Kuchen. Kuchen war gewöhnlich darauf ausgelegt süß zu schmecken, doch Eve liebte den säuerlichen Zitronengeschmack in der Sahne viel mehr, denn er war etwas Besonderes.

2

Draußen war es noch dunkel, als Eve am nächsten Morgen aufwachte, was keine Seltenheit war. Gewöhnlich las sie dann ein Buch oder ging ans Fenster, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. So stand sie auch an diesem Morgen auf und lief zum Fenster, denn es würde sicher gleich soweit sein. Nur leise musste sie sein, denn seit sie denken konnte, teilte sie sich ein Zimmer mit Adam und sie wollte ihn nicht wecken. Als sie schließlich ans Fenster trat, begann es in der Ferne bereits zu dämmern und Eve wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihre Familie aufstand. Sie sah hinaus auf die leere Straße. Alles schien so ruhig zu sein, bis schließlich eine schwarze Kutsche vorbei fuhr und ein paar Meter neben dem Haus der Familie anhielt. Eve fragte sich, wer um diese Zeit schon unterwegs war. Kurz darauf stieg ein Mann aus der Kabine und lehnte sich an die Kutsche, gerade so, als würde er auf etwas warten. Als Eve genauer hinsah, erkannte sie den glatzköpfigen Anzugträger aus dem Café vom Vortag, in welchem sie Emanuel vermutete. Sie fragte sich, was er in dieser Gegend wollte und beschloss, es herauszufinden. Vorsichtig schlich sie zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Mit einem lauten Quietschen ging sie auf. Eve hielt einen langen Moment inne und wartete darauf, dass Adam aufwachte, doch nichts passierte. Mit einem erneuten Quietschen schloss sie die Tür wieder und schlich weiter durch das Haus. Wenn das erste Quietschen der Tür Adam nicht geweckt hatte, dann dieses mit Sicherheit. Eve huschte den Gang entlang und lief so leise wie möglich die alte Holztreppe hinunter. Es war fast geschafft. Bevor sie das Haus verließ, zog sie sich noch ihre roten Pantoffeln an und bemerkte leider zu spät, dass es für ihr weiß geblümtes Nachthemd eigentlich noch zu frisch war. Doch das machte nichts, denn sie hatte eh nicht vor, besonders lange draußen zu bleiben. Sie blieb auf der Treppe vor der Haustür stehen und wartete auf eine Reaktion des Anzugträgers. Es dauerte auch nicht lange, bis dieser sie entdeckte und zweimal gegen das Holz der Kutsche schlug, woraufhin der rothaarige Mann aus dem Café, den Eve für Joe hielt, vom Kutschbock stieg. Neben Emanuel sah er ein wenig wie ein Obdachloser aus, fand Eve. Emanuel trug Anzug, Fliege und Hemd, Joe dagegen nur eine beliebige Hose, ein ausgeleiertes Shirt und eine schäbige alte Wolljacke, die vermutlich noch von seinem Urgroßvater stammte. Dazu kamen noch die ausgelatschten Schuhe eines einfachen Mannes und die strubbeligen in alle Richtungen abstehenden roten Haare - kein Wunder also, dass Emanuel Eve sympathischer erschien. Die beiden Männer kamen mit langen zügigen Schritten auf Eve zu und ließen sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Es schien ihnen sehr ernst zu sein, doch noch wusste Eve nicht, worum es überhaupt ging.

“Hallo Kleine, schon so früh auf den Beinen?”, fragte Emanuel ganz beiläufig, als hätte er nicht am Nachmittag zuvor vorgeschlagen, Eve als Spionin einzusetzen. Doch Eve zuckte nur mit den Schultern und fragte sich, ob er sie tatsächlich für so dumm hielt.

“Wir haben uns gefragt, ob du uns helfen könntest. Unsere Kutsche ist liegen geblieben und wir bräuchten Hilfe“, meinte Joe. Was war er doch für ein Idiot. Sah eine Dreizehnjährige vielleicht aus, als könnte sie eine Kutsche reparieren? Emanuel schien das sofort zu bemerken, schüttelte den Kopf und gab seinem Kollegen einen Hieb in die Seite, woraufhin dieser sich vor Schmerz krümmte.

“Was mein Kollege hier meint ist, dass wir nach dem Weg fragen wollten. Wir dachten du könntest uns vielleicht den Weg beschreiben und uns sagen, wo wir hinmüssen?”, log nun Emanuel, wobei er versuchte, so freundlich und vertrauenswürdig wie nur möglich zu lächeln, doch Eve war sich sicher, dass sie nicht hergekommen waren, um nach dem Weg zu fragen. Sie mussten Eve für sehr naiv halten, also beschloss sie, Klartext zu sprechen.

“Es ist fünf Uhr morgens und ihr erwartet ernsthaft, jemanden zu finden, der euch den Weg zeigt? Diese Lüge ist fast noch dümmer, als die Tatsache, dass ihr eine Dreizehnjährige bei eurer Kutsche um Hilfe bittet. Ich weiß sehr genau, wer ihr seid und ich weiß, dass ihr nicht gekommen seid, um nach dem Weg zu fragen“, erklärte Eve, um den Lügen ein Ende zu bereiten. Joe sah Emanuel ratlos an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.

“Na gut. Ich bin Emanuel und das ist Joe“, stellte er sich und seinen Kollegen vor. Er konnte ja nicht ahnen, dass Eve das bereits wusste.

“Ich weiß“, antwortete sie knapp, was Joe nur noch mehr aus der Fassung zu bringen schien.

“Tatsächlich“, bemerkte Emanuel resigniert. “Du bist Eve, richtig?”, fragte er, als Joe weiterhin voller Erstaunen schwieg. Eve nickte nur. “Gut. Wir haben ein Angebot, dass du unmöglich ausschlagen kannst, doch zuerst wollen wir wissen, was du über die Blutrosen weißt.” Eve beschloss, diese Frage mit der Wahrheit zu beantworten. Etwas anderes würde sie vermutlich ohnehin nicht weit bringen.

“Ich kenne ihren Wert und ihre Macht. Meine Familie ist schon sehr lange auf der Suche nach diesen Blumen, wie ihr wisst“, erklärte sie und Joe schienen beinahe die Augen aus dem Kopf zu fallen, so erstaunt war er über Eves Wissen, dabei war diese Information allgemein bekannt. Sie zögerte kurz und überlegte, wie klug es wohl war, ihnen zu erzählen, dass sie wusste, warum sie gekommen waren. Doch am Ende des Tages war sie doch nur ein naives kleines Mädchen und beschloss, ihnen nichts als die Wahrheit zu erzählen, denn sie glaubte, so würde sie am weitesten kommen. “Ich weiß auch, dass ihr mich als Spionin wollt. Ich wüsste jetzt gerne, warum und wer die Frau im Café war.”

“Die Kleine stellt ganz schön hohe Ansprüche“, meinte Joe, der nun offenbar seine Stimme wiedergefunden hatte.

Emanuel wand sich ihm zu und sprach mit gedämpfter Stimme: “Schon okay. Wenn sie für uns arbeiten soll, muss sie diese Dinge sowieso erfahren.” Dann wand er sich Eve zu, beantwortete mit seinen Worten jedoch keine von Eves Fragen: “Wir geben die Blutrosen, die wir finden, den Übernatürlichen. Es gibt nicht mehr viele und die wenigen verbleibenden sind nicht gefährlich.” Er versuchte sich in einem Lächeln, welches Eve aufmuntern sollte, doch es endete eher in einer Grimasse. Vermutlich hatte er vorher nicht mit sonderlich vielen Kindern gesprochen. Obwohl er Eves Fragen nicht beantwortete hatte, waren seine Worte nicht vollkommen unnütz gewesen.

“Warum steht ihr auf der Seite der Übernatürlichen?”, fragte sie ihn, denn das war nicht nur ungewöhnlich, sondern Eve hatte bisher noch nie davon gehört, dass Menschen auf der Seite von Übernatürlichen standen.

“Damit kommen wir zu deiner zweiten Frage, denn die Frau im Café war unser Boss. Sie ist sozusagen der Kopf der ganzen Organisation. Sie kam eines Tages zu uns und bat uns um Hilfe. Alle Blutrosen sollten aufgespürt und zu ihr gebracht werden, um die Übernatürlichen zu schützen. Du musst wissen, dass sie selbst eine Übernatürliche ist und Kenntnis von allen Übernatürlichen hat“, erklärte Emanuel ausschweifend.

“Ach, tut sie das?”, fragte Eve skeptisch. Sie bezweifelte, dass jemand alle Übernatürlichen kannte und wenn doch, hätte dieser Jemand sicher längst etwas unternommen.

“Ja, das tut sie. Wir haben ihr damals vertraut und arbeiten seither für sie“, berichtete Joe stolz.

“Und was hätte ich davon, wenn ich für euch arbeiten würde?”, fragte Eve nun neugierig. Diese Leute konnten ihr nichts bieten, jedenfalls nichts was sie benötigt hätte.

“Wenn wir die Blutrosen vor der Cort-Familie, also deiner Familie finden, behältst du dein Leben. Wenn deine Familie zuerst an eine dieser Rosen kommt, stirbst du und das weißt du auch“, erklärte Emanuel trocken. Und dann drehte er sich um, als hätte er Eve gerade von etwas so Nebensächlichen wie dem Wetter erzählt und dass er noch etwas erledigen musste. Er ging zurück zur Kutsche, gefolgt von Joe, welcher ein wenig verwirrt aussah. Eve konnte den beiden nur erstaunt hinterher sehen. Sie hatte nicht gewusst, dass Emanuel so gut über sie Bescheid wusste. Die beiden Männer stiegen in die Kutsche, wendeten und fuhren erneut an ihr vorbei.

“Wir kommen morgen wieder und erwarten eine Antwort“, rief Joe vom Kutschbock und damit ließen sie Eve allein auf der Straße zurück.

3

Adam war nicht der einzige gewesen, der bemerkt hatte, dass Eve bereits früh am Morgen das Haus verlassen hatte. Lyoness war ebenfalls durch das Quietschen von Adam und Eves Zimmertür geweckt worden. Er hatte ihr gleich hinterherlaufen und sie beschimpfen wollen, wieso um Himmels Willen sie um diese Zeit hinaus auf die Straße lief und mit fremden Männern sprach. Doch Adam hatte ihn dazu bringen können, im Flur auf sie zu warten und sie gesittet zu fragen, was da draußen los war. Adam selbst hatte sich ans obere Ende der Treppe gesetzt, wo er alles aus sicherer Entfernung beobachten und einschreiten konnte, falls Lyoness es übertrieb.

Und schließlich öffnete sich die Haustür. Eve trat in ihrem rosa geblümten Nachthemd hindurch und schloss sie geistesabwesend hinter sich. Erst, als sie sich umdrehte und begann ihre roten Pantoffeln auszuziehen, bemerkte sie Lyoness, der mit verschränkten Armen vor ihr stand und sie unschlüssig ansah.

“Wer war das?”, fragte er schließlich.

“Nur zwei Männer, die nach dem Weg fragen wollten“, antwortete Eve und sah schließlich hinauf zu Adam. Vermutlich hoffte sie, dass er ihr helfen würde, doch dieses eine Mal konnte er das nicht. Er wusste, dass Eves Antwort eine Lüge war und er war sich sicher, dass auch Lyoness das wusste.

“Um fünf Uhr morgens?”, widersprach dieser auch gleich. Eve wand ihren Blick wieder von Adam ab und sah zu Lyoness.

“Ja, warum nicht?”, meinte sie mit fragendem Gesicht. Sie war noch so jung und unschuldig. Vielleicht wusste sie ja wirklich nicht, was die Männer gewollt hatten. Andererseits war Adam schon ein paar Mal darüber gestolpert, wie klug sie war.

“Eine ungewöhnliche Zeit, findest du nicht?”, hakte Lyoness noch einmal nach, doch Eve zuckte nur mit den Schultern. “Geh zurück in dein Zimmer Eve und schlaf noch ein bisschen“, sagte er schließlich emotionslos und wand sich dann der Küche zu. Eve verdrehte die Augen und trottete schließlich die Treppe hinauf, vorbei an Adam und ging in ihr gemeinsames Zimmer. Adam folgte ihr, schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich schließlich dagegen. Eve hatte sich im Schneidersitz auf ihr Bett gesetzt und sah ihn nun erwartungsvoll an. Adam war sich nicht sicher, ob es etwas bringen würde sie erneut nach den Männern auf der Straße zu fragen oder ob er ihr lieber gleich erklären sollte, wie gefährlich solche Leute waren. Müde rieb er sich die Augen. Es war noch viel zu früh für so ein Gespräch. Er fragte Eve noch einmal, was die Männer von ihr gewollt hatten, doch sie tischte ihm nur die gleiche Lüge auf, wie zuvor Lyoness. Adam wusste, dass es keinen Zweck hatte sie noch weiter zu löchern. Stattdessen warf er sich auf sein Bett und gab ihr noch einen gut gemeinten Rat.

“Diese Männer sind gefährlich, Eve. Ich bitte dich nur, dich von ihnen fernzuhalten.”

“Warum sind sie gefährlich?”, fragte Eve natürlich prompt, anstatt es einfach hinzunehmen. Sie war so ein neugieriges Kind. Doch Adam konnte ihre Frage unmöglich mit der Wahrheit beantworten. Ihr Vater hatte gesagt, dass diese Männer seine Frau umgebracht hatten und Adam brachte es nicht über sich, seiner kleinen Eve zu sagen, wer ihre Mutter umgebracht hatte. Er überlegte sehr lange, was er ihr sagen würde und als er sie schließlich ansah, machte sie einen Gesichtsausdruck, als hätte sie bereits gar keine Antwort mehr erwartet.

“Ich weiß es nicht, aber was das angeht, vertraue ich Vater“, erklärte er ihr müde. Eve sagte nichts mehr und Adam schloss die Augen, denn er brauchte noch ein bisschen Schlaf, bevor der Tag losging.

*****

An diesem Abend saßen sie alle gemeinsam beim Abendbrot. Es gab Schweinerouladen mit Kartoffelmus und Brokkoli - Emylias Lieblingsgericht. Wie gewöhnlich herrschte allgemeines Schweigen, da niemand großartig etwas mitzuteilen hatte, oder es schlicht vorzog, die Geschehnisse des Tages für sich zu behalten, wie es bei Eve der Fall war.

“Elisa?”, fragte Emylia schließlich mit tückischem Grinsen auf dem Gesicht und obwohl es nicht Eves Name war, reagierte sie trotzdem darauf. Sie wusste natürlich, dass ihre Schwester wieder irgendetwas angestellt hatte, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Andernfalls würde sie jedenfalls sicher nicht so zufrieden Grinsen.

“Ja, was gibt's?”, fragte Eve nun interessiert und sogar ihr Vater Travis sah von seinem Teller voller Brokkoli auf, denn auch er wusste, dass die Situation nun schnell eskalieren konnte, wenn Emylia Eve zu sehr verletzte.

“Nun, ich finde, dass du wirklich fantastisch Klavier spielst“, begann Emylia und Eve war sich sicher, dass sie bereits diesen Satz nicht ehrlich meinte. “Ich dachte mir, dass jeder in der Stadt Zeuge von diesem großartigen Talent werden sollte und das Stadtfest ist doch die perfekte Gelegenheit dafür.” Eve wusste noch nicht so recht, worauf Emylia hinaus wollte und auch die Männer der Familie runzelten nur die Stirn.

“Und weiter?”, hakte sie daher nach, obwohl sie bereits vermutete, dass Emylias Antwort sie nicht besonders freuen würde.

“Also habe ich dich für das Programm angemeldet“, erwiderte Emylia und Eve konnte die Hinterlistigkeit und den Hass in ihren Augen funkeln sehen. Doch den Gefallen konnte sie ihr dieses Mal nicht tun. Eve hatte schon so lange vor einem Publikum spielen wollen und nicht nur im Wohnzimmer des Hauses, wo ihr niemand zuhörte, außer vielleicht Adam, wenn er hin und wieder da war. Während die Männer bereits erschrockene Blicke tauschten, begann Eve zu lächeln uns nun war es an Emylia die Stirn zu runzeln.

“Das ist ja wunderbar! Ich wollte ohnehin endlich mal vor Leuten spielen. Vielen Dank Emylia!”, antwortete Eve glücklich und als Emylia bei ihren Worten das Gesicht einschlief, erschien auf Adams Gesicht ein zufriedenes Grinsen.

“Ich finde auch, dass das eine wunderbare Gelegenheit ist“, meldete sich nun ihr Vater zu Wort und der Rest der Familie schwieg. “Und ich habe auch gute Neuigkeiten.” Selbst Emylia, die Eve eben noch böse Blicke zugeworfen hatte, schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit nun ihrem Vater. “Es gibt Gerüchte über eine Blutrose. Sie soll sogar ganz hier in der Nähe sein.”

“Wirklich Vater?”, fragte Emylia sehr interessiert und das Dilemma um Eve und das Stadtfest schien bereits vergessen zu sein.

“Ich weiß noch nichts Genaues“, beschwichtigte Travis sie gleich wieder. “Aber sobald meine Kontaktmänner etwas in Erfahrung bringen können, werdet ihr diejenigen sein, welche die Blutrose in ihren Händen halten werden“, erklärte er zufrieden und Eve lief bereits ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Schließlich sah ihr Vater sie an. “Vielleicht wirst auch du unsere Begeisterung dann endlich teilen, Eve.” Sie wusste genau, dass sie das nie würde, doch sie würde es genauso niemandem erzählen können. Bei den Worten ihres Vaters wurde ihr schließlich bewusst, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste auf das Angebot von Emanuel und Joe eingehen, denn ihr Leben hing davon ab. Wenn ihre Familie sie mit diesen Leuten erwischen würde, war ihr Wohlergehen zwar genauso in Gefahr, doch ihre Chance zu überleben, war mit diesen Leuten wesentlich größer. Wenn ihre Familie die Blutrose in die Finger bekommen würde, würde das Eves sicheren Tod bedeuten und das konnte sie nicht riskieren. Denn was ihre Familie nicht wusste, war, dass Eve selbst eine Übernatürliche war. Es war nie besonders schwer gewesen, das vor ihnen zu verbergen, da sie nicht wusste, was ihre Fähigkeit war. Hinzu kam noch, dass ihre Familie so sehr auf die Blutrosen fixiert war, dass sie eine Übernatürliche wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen würden, wenn sie es ihnen offen zeigen würde. Sie setzte ein Lächeln auf, bevor sie zu ihrem Vater sprach.

“Ja, vielleicht werde ich das“, antwortete Eve ihrem Vater um den Schein vorerst zu wahren. Wer wusste schon, wie lange das noch möglich sein würde.

4

Bereits am nächsten Morgen log Eve ihren Vater erneut an. Sie sagte, sie würde eine Runde spazieren gehen, doch in Wahrheit wollte sie nur Joe und Emanuel treffen, denn ihre Entscheidung hatte sie längst getroffen. Sie hatte ihre Familie nie hintergehen wollen, doch nun hatte sie keine Wahl mehr. Sie half ja nicht nur diesen Leuten, sondern hauptsächlich sich selbst und sie wusste, dass ihre Mutter es nicht anders gewollt hätte. Ihre Mutter war wie sie gewesen, dessen war Eve sich immer sicher gewesen, obwohl sie sich kaum an sie erinnern konnte. Nie hätte sie zugelassen, dass ihr kleines Mädchen gestorben wäre, nur um ihrer Familie treu zu bleiben.

Also trat Eve direkt nach dem Frühstück hinaus auf die Straße. Adam hatte angeboten mit ihr zu kommen, doch sie hatte dankend abgelehnt und war allein hinausgegangen. Sie sah sich nicht um, denn sie wusste bereits, dass die schwarze Kutsche, in welchem die beiden Männer am Vortag gekommen waren, am Ende der Straße stand. Sie stieg die Stufen hinab und wand sich dann in die andere Richtung. Natürlich wäre es das einfachste gewesen, einfach hinzugehen und sie anzusprechen, doch Eve war sich sicher, dass wenigstens Adam am Fenster stand und ihr nachsah, also lief sie stattdessen weg von der schwarzen Kutsche und hoffte, dass die Männer ihr einfach folgen würden, ohne Verdacht zu erregen. Eve lief um ein paar Häuserecken und blieb schließlich stehen, als sie weit genug von ihrem Haus entfernt war und sich halbwegs sicher fühlte. Kaum hatte sie sich umgedreht, bog die schwarze Kutsche auch schon um die Ecke und hielt schließlich neben ihr an. Joe saß wieder auf dem Kutschbock und lehnte sich zu ihr hinüber.

“Falls du versucht hast, uns abzuhängen“, begann er. “So funktioniert das nicht.” Eve konnte nur mit den Augen rollen. Sie war sehr klug für ihr Alter und scheinbar deutlich klüger als diese beiden.

“Ich wüsste da noch etwas, das so nicht funktioniert“, erklärte Eve. “Ihr könnt doch nicht jedes Mal einfach vor meinem Haus auftauchen. Meine Familie ist nicht dumm, wisst ihr.”

“Natürlich. Du hast Recht“, entgegnete Emanuel aus der Kabine, deren Tür er eben geöffnet hatte. Joe sah sie eingehend an, als könnte er ihr ihre Entscheidung ansehen.

“Ich hoffe du hast die richtige Entscheidung getroffen“, bemerkte er.

“Das habe ich. Ich werde euch helfen, doch ich tue es nicht für euch“, erklärte Eve.

“Wie du meinst“, erwiderte Joe und kritzelte etwas auf einen Zettel, den er eben aus seiner Tasche geholt hatte. Er riss das beschriebene Stück ab und hielt es Eve entgegen. Darauf stand eine Adresse. “Wenn du Hinweise auf Blutrosen erhältst, seien sie auch noch so klein, dann kommst du…”

Eve unterbrach ihn sofort: “Aber ich habe bereits Hinweise, sonst wäre ich nicht hier. Ich will mit der Frau reden.” Unsicher blickte Joe durch ein kleines Fenster in der Kutsche zu Emanuel in die Kabine. Dieser zuckte nur mit den Schultern, woraufhin Joe den Zettel wieder an sich nahm und alles in der Tasche seiner Wolljacke verstaute.

“Steig ein, Mädchen. Wir bringen dich zu ihr“, sagte er schließlich. Eve sah sich vorsichtig um. Weit und breit war niemand zu sehen, also stieg sie zu Emanuel in die Kabine der Kutsche und schloss die Tür hinter sich. Ihr Vater hatte sie immer gewarnt mit Fremden mitzugehen, doch irgendwie hing nun ihr Leben davon ab, eben diesen Männern zu vertrauen. Sie fuhren durch die ganze Stadt, vorbei an duftenden Bäckereien, welche in Mehlwolken versanken, einer Parfümerie vor der die Menschen Schlange standen und quer durch den Stadtpark bis sie schließlich in ein Viertel kamen, in welchem Eve noch nie gewesen war. Es schien düster zu sein und nicht besonders belebt. Eve fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mit den Männern mitzugehen. Was, wenn sie all das doch nur erfunden hatten? Aber das konnte nicht sein. Oder etwa doch? Eve versuchte, nicht darüber nachzudenken, denn nun war es ohnehin zu spät. Die Kutsche kam zum Stehen, Joe stieg vom Kutschbock herunter und öffnete die Tür der Kutsche. Mit der Luft kam auch eine Wolke des üblen Gestanks der Gegend herein. Es roch muffig und alt, irgendwie seltsam nach Verwesung und Ratten. Zudem hingen dicke Staubwolken in der Luft und auf dem Boden lagen diverse Haufen von Pferdeäpfeln, welche Eve beim Aussteigen gekonnt versuchte zu umgehen. Sie musste den Rock ihres Kleides hochheben, damit er nicht im Dreck schliff und ihre Familie nachher auf ihren Ausflug aufmerksam machte. Sicher kannte Vater sich gut in der Stadt aus und nirgends sonst war es so dreckig. Eve lief langsam auf das Haus zu, vor welchem sie gehalten hatten. Es schien verlassen zu sein. Einige Fensterläden hingen nur noch an einer Verankerung, Efeu rankte sich die Wände hinauf und machte auch vor den Fenstern nicht halt. In der Nähe musste es irgendwo Wasser geben, denn Nebelschwaden versuchten das Haus zu verstecken. Eve war sich nicht sicher, ob sie dieses Haus wirklich betreten sollte und das Mädchen, welches die Eingangstür öffnete, als Eve die Stufen hinauf stieg und auf den ersten Blick aussah wie ein Geist, verbesserte ihren Eindruck der Gegend nicht gerade. Sie musste etwa zwei Jahre älter sein als Eve und schien asiatischer Herkunft zu sein, was Eve aus der Form ihrer Augen schloss. Doch ihr Haar war nicht schwarz, sondern schneeweiß und ebenso ihre Haut. Eve hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen und sie fragte sich, ob das Mädchen vielleicht eine Übernatürliche war und wenn ja, ob ein Zusammenhang zwischen ihrer Fähigkeit und der Farbe ihrer Haare und ihrer Haut bestand. Doch das war nicht das einzige seltsame an dem Mädchen. Sie trug ein weißes Kleid, das deutlich kürzer war, als jedes, das Eve je gesehen hatte. Es schien für Eve am ehesten die Funktion eines Nachthemdes zu erfüllen.

“Marilin! Du sollst doch nicht so herumlaufen!”, schimpfte Joe plötzlich hinter Eve. “Du erschreckst damit die Leute nur unnötig.” Eve wunderte sich, wie gerade er das sagen konnte, wo er doch aussah wie der hauseigene Obdachlose.

“Entschuldigt meinen Aufzug, aber es gibt Leute, die um diese Zeit eigentlich noch schlafen“, erklärte das Mädchen, welches Joe gerade Marilin genannt hatte. “Ich musste mich ziemlich beeilen nach eurer sehr kurzfristigen Besuchsinformation, also habe ich mir einfach das nächstbeste Kleidungsstück übergeworfen und bin hergekommen.” Nun ja, eben so sah es auch aus. “Nebenbei bemerkt siehst du nicht besser aus, Joe.” Bei diesen Worten musste Eve lächeln. Das Mädchen schien sympathisch zu sein, auch wenn ihre Erscheinung etwas geisterhaft war.

“Genug der Freundlichkeiten“, bemerkte Emanuel harsch. “Marilin, würdest du bitte unseren Gast zu Lady Winter bringen?” Das war also der Name der mysteriösen Frau aus dem Café.

“Natürlich“, erwiderte Marilin und trat beiseite, sodass Eve das Haus betreten konnte. Die beiden Männer folgten ihr nicht ins Innere, sondern schlossen lediglich die Eingangstür. Im Inneren des Hauses sah es deutlich freundlicher aus, als draußen. Die Eingangshalle des Hauses war hell erleuchtet durch einen pompösen Kronleuchter, welcher von der hohen Decke hing. Eve fragte sich, wie sie das von außen nicht hatte sehen können und als sie sich umsah bemerkte sie, dass die Fenster mit dicken roten Vorhängen verhangen waren, welche kein Tageslicht hindurch ließen. Ansonsten war die Eingangshalle - bis auf einen roten Teppich, der die breite Treppe hinauf führte - leer.

Marilin führte Eve die Treppe hinauf und fragte sie schließlich nach ihrem Namen.

“Mein Name ist Eve Cort.”

“Du bist Eve Cort?”, fragte Marilin erstaunt und blieb abrupt stehen.

“Ja, was ist daran so ungewöhnlich?”, hakte Eve nach.

“Naja, ich hätte einfach nicht gedacht, dass sie dich kriegen. Das ist alles“, erklärte Marilin und lief weiter. Ihr Weg führte sie einen langen schmalen Gang entlang, der in einer großen Tür mündete. “Ich meine, du giltst als das vertrauenswürdigste Mitglied dieser Familie und da hätte ich wirklich nicht gedacht, dass du sie hintergehen würdest.”

“Ich hintergehe sie nicht“, unterbrach Eve das Mädchen. ‘Hintergehen’ klang so falsch in Eves Ohren. “Ich rette lediglich mein eigenes Leben.”

“Süße, du hast wirklich keine Ahnung von all dem hier oder?”, hakte Marilin nach und sah sie skeptisch von der Seite her an.

“Ich weiß, dass ich sterbe, wenn ich meiner Familie helfe“, erklärte Eve ihr tatsächlich geringes Wissen über die Übernatürlichen. Und dann blieb Marilin erneut stehen. Eve sah sie nur fragend an.

“Okay Eve, ich sage dir jetzt mal was. Das Ganze hier endet so oder so mit deinem Tod, egal ob du deiner Familie oder diesen Leuten hilfst. Der einzige Unterschied besteht darin, was danach geschieht. Schau mich an! Ich habe eine dieser Blutrosen berührt. Die Menschen denken, ich bin daran gestorben, aber es ist kein wirklicher Tod. Lady Winter wird dir das sicher erklären.” Eve konnte nicht glauben, was das fremde Mädchen da erzählte. Sie würde sterben und das in jedem Fall? Aber was brachte ihr all das dann, wenn ihr Tod ohnehin gewiss war? Und was meinte das Mädchen damit, dass es kein wirklicher Tod sei?

“Was meinst du mit ‘kein wirklicher Tod’?”, fragte Eve irritiert.

“Man kommt in eine andere Welt. Das was du hier von mir siehst, ist nur eine magische Projektion. Ich stehe nicht wirklich neben dir“, erklärte sie und schuf damit nur noch mehr Rätsel und ungelöste Fragen.

“Was ist eine Projektion?”, fragte Eve verwirrt.

“Das kann ich dir nicht erklären“, erwiderte Marilin und lief weiter den Gang entlang. “Das ist viel zu kompliziert und du stellt viel zu viele Fragen, als dass ich sie dir alle beantworten könnte.” Eve folgte ihr schweigend. Sie musste das erst einmal verarbeiten. Sie würde also nicht wirklich sterben, wenn sie eine dieser Blumen berührte? Aber warum wussten die Menschen nichts davon? Warum machte man so ein Geheimnis daraus?

Sie erreichten die große Tür am Ende des Ganges und Marilin klopfte, woraufhin ein junger Mann die Tür öffnete. Er hatte dunkles Haar und trug eine große runde Brille. Eve erkannte ihn als den dritten Mann aus dem Café wieder. Aber warum brachte Marilin Eve hierher? Hatte sie nicht den Auftrag gehabt, Eve zu Lady Winter zu bringen?“Mr. Winter, Eve Cort ist hier. Ich soll sie zu ihrer Frau bringen“, erklärte Marilin und alles ergab einen Sinn. Der junge Mann musterte Eve kurz und lächelte dann.

“Hallo Eve, komm doch rein. Lady Winter erwartet dich schon“, begrüßte er Eve. Ein wenig verunsichert sah Eve sich nach Marilin um, welche ihr ein aufmunterndes Lächeln zuwarf.

“Geh ruhig, ich warte hier auf dich“, versicherte sie und Eve betrat das Zimmer hinter der Tür. Sie sah sich ein wenig um, während Mr. Winter die Tür schloss. Nur wenige der Wandlampen an den vertäfelten Wänden, waren auch entzündet worden, was den Raum nur in schummriges Licht tauchte und auch hier waren die Fenster mit dicken roten Vorhängen bestückt. Trotzdem konnte Eve erkennen, dass es sich um ein Büro handelte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Schreibtisch, wie sie ihn von ihrem Vater kannte mit zwei Stühlen auf der einen Seite und einem Bürosessel auf der anderen.

Rechts vom Schreibtisch ging eine Tür auf und die Frau aus dem Café trat schließlich herein. Sie sah nach wie vor unheimlich aus. Ihr langes schwarzes Haar hing in dicken Wellen über ihrer Schulter und verdeckte den Großteil des verzierten Kragens, welcher zu einem bodenlangen roten Mantel gehörte. Ihre Kleidung war ungewöhnlich, doch nicht so ungewöhnlich wie die des asiatischen Mädchens. Sie ging zum Schreibtisch und setzte sich elegant in den Bürosessel, wo ihr strenger Blick schnell einem freundlichen Lächeln wich.

“Setz dich doch“, sagte sie und bot Eve einen der freien Stühle an. Also tat sie eben dies und wartete dann erst einmal ab.

“Es kommt selten vor, dass jemand mit solcher Dringlichkeit nach mir verlangt. Besonders jemand, der noch so neu ist wie du.” Es klang wie eine Drohung und in Eve kam das plötzliche Gefühl auf, sich für etwas zu entschuldigen.

“Es tut mir leid, ich -”, begann sie, doch Lady Winter sprach einfach weiter.

“Das finde ich gut. Es zeigt mir, dass du wirklich Interesse hast an dem, was wir tun. Und jetzt erzähl mir, warum du mit mir sprechen wolltest.” Obwohl dies nicht wie eine Drohung klang, stellten sich bei Eve doch die Nackenhaare auf, bei dem Gedanken dieser Bitte nicht auf der Stelle nachzukommen. Also erzählte sie, was sie am Vorabend erfahren hatte.

“Mein Vater erzählte gestern Abend von Gerüchten über eine neue Blutrose. Ich weiß leider noch nichts Genaues, aber ich dachte trotzdem, dass sie dies wissen sollten. Er hat all seine Männer auf die Suche angesetzt und sobald diese genauere Informationen bekommen, wird er alles daransetzen, die Blutrose in seinen Händen zu halten.” Der Blick in Lady Winters Augen änderte sich. Sie wirkte plötzlich sehr angespannt, als würde sie alle möglichen Folgen abwägen.

“Hör mir nun gut zu, Eve“, sprach sie ruhig aber bestimmt. “Wir müssen diese Blutrose unter allen Umständen eher bekommen als dein Vater, andernfalls werden grausame Dinge passieren. Verstehst du mich?”, fragte Lady Winter mit einer Dringlichkeit, die Eve zusammenzucken ließ. Sie verstand nicht, was ihr Vater für grausame Dinge mit der Blutrose anstellen konnte, denn sie glaubte nach wie vor an das Gute in den Menschen, vor allem in jenen die sie ein Leben lang kannte. Doch sie nickte, denn sie war sich sicher, dass Lady Winter noch nicht fertig war mit ihrer Erzählung. “Gut. Du musst wissen, die Blutrosen sind ebenso übernatürlich wie du und ich. Berührst du eine dieser Rosen mit dem Wissen, was sie tun und wo sie dich hinbringen kann, gibt sie dir die Kraft in die Schattenwelt zu reisen und unter deinesgleichen zu leben. Doch jede Rose funktioniert nur einmal. Danach verliert sie ihre Kraft und stirbt. Berührst du die Rose nicht freiwillig oder ohne dieses Wissen, bringt sie dich um, weshalb so viele von uns sterben.” Eve wusste nicht recht, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Sie war dreizehn Jahre alt und hatte noch nie über den Tod oder ähnliche Umstände nachgedacht. Und wenn sie ehrlich war, warfen Lady Winters Worte mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Doch Eve beschloss, vorerst nur eine zu stellen, nämlich jene, die am längsten in ihrem Kopf kreiste.

“Das ist alles sehr interessant, aber auch sehr viel auf einmal. Ich werde in Ruhe darüber nachdenken müssen“, beschloss sie. “Darf ich Ihnen eine Frage stellen?”

“Natürlich, jederzeit“, erwiderte Lady Winter mit einem Lächeln.

“Wie haben sie mich gefunden?”, fragte Eve unsicher. Die Frage beschäftigte sie bereits, seit Joe und Emanuel vor ihrem Haus gewisse Andeutungen gemacht hatten. “Ich meine, ich habe nie jemandem gesagt oder gar gezeigt, was ich bin und doch wussten sie es. Woher?”

“Das ist meine spezielle Fähigkeit. Ich kann jeden Übernatürlichen aufspüren, aber nur in dieser Welt. Deswegen bin ich auch keine Projektion wie Marilin. Würde ich in der Schattenwelt leben, könnte ich die Übernatürlichen in dieser Welt nicht aufspüren und sie alle würden sterben“, erklärte Lady Winter und für Eve ergab das tatsächlich Sinn. Es gab alle möglichen verschiedenen Fähigkeiten, also warum nicht auch diese? Und jede Fähigkeit hatte nun mal ihre Grenzen. “Deine Mutter war wie ich, kleine Eve. Sie half mir früher dabei, die Übernatürlichen aufzuspüren. Leider ist sie zu früh gestorben, um dir alles selbst erklären zu können. Aber sie hat mir ein Geheimnis anvertraut, welches ich nun an dich weiterreiche.” Unsicher spielte Eve mit dem Stoff ihres Kleides. Sie hatte Geheimnisse nie für gut befunden und es war schwer genug für sie, ihre Familie zu belügen und ihnen zu erzählen, sie würde in der Stadt spazieren gehen, wo sie nun eigentlich hier bei einer fremden Frau saß, die ihr etwas über ihre Mutter erzählte. Doch wenn ihre Mutter tatsächlich übernatürlich wie sie gewesen war und sie ein Geheimnis bewahrt hatte, musste das einen Grund gehabt haben und den würde Eve gern erfahren. Lady Winter winkte ihren Mann aus dem Raum, damit sie allein sein konnten. Offensichtlich durfte nicht einmal ihr Mann von diesem Geheimnis erfahren.

“Lilian sagte mir, dass du nicht die einzige Übernatürliche in deiner Familie bist. Als dein Bruder noch nicht geboren war, kam sie hierher und bat mich um Rat. Sie wusste bereits, dass ihr Sohn übernatürlich sein würde, doch sie spürte auch, dass er anders sein würde. Adam ist kein gewöhnlicher Übernatürlicher wie du, sondern ein Verborgener.” Eves Gedanken begannen zu rasen. Adam konnte nicht sein wie sie. Das war unmöglich! Und doch schenkte Eve der Frau Glauben. “Das bedeutet, er weiß nicht, dass er ein Übernatürlicher ist, da seine Fähigkeit nicht in Erscheinung tritt. Aus diesem Grund sind es auch fast immer die Verborgenen, welche durch die Blutrosen sterben. Damit das nicht geschieht, musst du unbedingt die Blutrose vor deinem Bruder berühren, falls es soweit kommt.” Das durfte nicht wahr sein! Wenn Adam die Blutrose vor Eve fand und berührte, würde er sterben. Das konnte sie nicht zulassen! Doch das alles war zu viel für das kleine Mädchenherz und plötzlich versank alles in Dunkelheit.

5

Als Eve wieder zu sich kam, befand sie sich in einem anderen Raum. Die rote Couch, auf der sie lag, schien schon sehr alt zu sein und allgemein sah der Raum in dem sie sich befand nicht gerade ansprechend aus. Die Fenster hatten zerbrochene Scheiben und in den Ecken des Raumes hingen Spinnenweben.

“Bitte entschuldige, wie es hier aussieht“, sagte plötzlich die Stimme des asiatischen Mädchens und Eve sah sich hektisch um. Marilin stand hinter der Couch und schien ein Buch in der Hand zu halten, welches Eve jedoch nicht sehen konnte. Vermutlich wurde es nicht mit in diese Welt übertragen. Zumindest vermutete Eve, dass diese seltsame magische Projektion so funktionierte. “Die meisten Räume hier werden nicht genutzt und wurden daher nie renoviert.” Eve nickte, während Marilin das unsichtbare Buch beiseite legte.

“Was ist passiert?”, fragte Eve, während sie sich aufsetzte. Sie konnte sich nicht mehr recht erinnern. Alles schien irgendwie verschwommen.

“Du hast mit Lady Winter gesprochen und bist in Ohnmacht gefallen“, erklärte Marilin mit einem Lächeln. Und da fiel es Eve auch schon wieder ein. Das Geheimnis, welches Lady Winter ihr erzählt hatte, war zu viel für sie gewesen.

“Wie lange ist das her?”, fragte sie, als ihr klar wurde, dass die Ohnmacht wohl eine Weile gedauert hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Familie noch nichts bemerkt hatte, schließlich hatte sie gesagt, sie würde nur spazieren gehen.

“Etwa eine Stunde schätze ich.” Oh nein! Eve musste so schnell wie möglich los. Wie vom Blitz getroffen sprang sie auf und lief zur Tür. Ihre Familie suchte sicher schon nach ihr. “Wo willst du denn hin?”

“Es tut mir leid, aber ich muss gehen“, rief Eve. “Ich bin schon viel zu lange weg und meine Familie wird nur Fragen stellen, wo ich gewesen bin.” Sie lief aus der Tür und befand sich unten in der Eingangshalle. Von hier aus war der Weg nach draußen und schließlich nach Hause ein leichtes.

“Versprich mir wenigstens, dass du wiederkommst!”, rief Marilin ihr hinterher. Es schien, als hätte sie Probleme, Eve zu folgen.

“Ich verspreche es“, erwiderte Eve, bevor die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel. Jetzt musste sie nur noch nach Hause kommen. Der Weg mit der Kutsche am Morgen war ein langer gewesen, doch sie konnte nicht riskieren mit eben dieser Kutsche gesehen zu werden, also rannte sie los. Laufen kam nicht in Frage, da sie nur noch mehr Zeit verschwenden würde und das konnte sie sich nicht leisten. Ihre Familie würde nur misstrauischer werden.

Der Weg war wirklich lang und als Eve zuhause ankam, war sie völlig außer Atem. Sie musste eine Minute warten, bevor sie ins Haus ging, um wieder zu Atem zu kommen. Schließlich betrat sie das Haus und auf den ersten Blick schien es leer zu sein, doch im Wohnzimmer fand Eve schließlich zumindest ihre Brüder. Die Zwillinge saßen auf der Couch mit einem Buch und Adam war draußen im Garten und pflückte von einem der Apfelbäume einen Apfel.

“Wo warst du so lange?”, fragte Lyoness genervt, als Eve das Wohnzimmer betrat. Vermutlich hatten die Brüder sich wegen irgendeiner Kleinigkeit in den Haaren gehabt und nun ließ er seinen Frust an ihr aus.

“Ich war nur spazieren“, erwiderte Eve auf die kindlichste und unschuldigste Weise, die sie hervorbringen konnte. Ihre Familie dachte, sie wäre noch ein Kind, doch sie hatte sehr früh erwachsen werden müssen. Von dem Tage an, an welchem ihre Mutter gestorben war, hatte sie auf sich selbst aufpassen müssen und da war sie gerade einmal sechs Jahre alt gewesen. Sie hatte schnell gelernt, dass man niemandem anvertrauen konnte, dass man übernatürlich war und dass man alles tun sollte, um dieses Geheimnis zu wahren. Der einzige, auf den sie sich je gestützt hatte, war Adam gewesen, doch auch ihm hatte sie nichts von ihrer Fähigkeit erzählt.

“Fast zwei Stunden lang?”, fragte ihr Bruder skeptisch. Das war gar nicht gut. Jetzt musste sie sich eine Ausrede einfallen lassen.

“Ja, ich war im Wald und habe ein bisschen die Zeit vergessen. Entschuldige bitte.” Leider war dies das Beste, was dem kleinen Mädchen auf die Schnelle einfiel.

“Achte das nächste Mal besser darauf“, erwiderte er mürrisch und wollte sich bereits wieder seinem Buch zuwenden.

“Warum hast du so schlechte Laune?”, fragte Eve vorsichtig. Es war immer schwierig, wenn Lyoness schlechte Laune hatte, denn dann konnte es schnell passieren, dass er ausflippte und das ein oder andere Buch durch den Raum flog.

“Das verstehst du noch nicht.” Er nahm sein Buch, stand von der Couch auf und verschwand in Richtung Küche. Also ging es wohl um ein Mädchen und nicht nur irgendein Mädchen. Er hatte sicher von Adams Liaison erfahren und die beiden hatten sich gestritten. Sie dachte nicht weiter darüber nach und setzte sich ans Klavier, ohne zu wissen, was sie spielten sollte. Ihre Finger fuhren sanft über die Tasten und spielten eine Tonleiter. Es beruhigte sie ungemein und war genau das, was Eve im Moment brauchte. Laut Lady Winter war Adam ein Verborgener und würde sterben, sobald er eine Blutrose anfasste. Eve wollte das unbedingt verhindern, doch wie sollte sie ihm das erzählen? Er würde ihr ohnehin nicht glauben, egal wie sehr er sonst zu ihr stand.

“Worüber denkst du nach?”, fragte Adam in diesem Moment und setzte sich neben sie. Einen sehr langen Moment sah Eve ihren Bruder einfach nur an. Er hatte keine Ahnung, was er war oder in welcher Gefahr er schwebte und Eve konnte das vermutlich nicht ändern. Sie konnte nur versuchen, ihn zu beschützen. Sie sah wieder zurück auf das Klavier.

“Hast du dich jemals gefragt, wie es wäre, ein Übernatürlicher zu sein?”, fragte sie, während sie leise eine Melodie spielte.

“Warum sollte ich das tun? Ich bin ein Mensch“, erwiderte Adam.

“Ja schon, aber wenn du es nicht wärst. Hast du dir je vorgestellt, wie das Leben dann sein würde?”

“Nein. Warum stellst du so seltsame Fragen Eve?”, hakte er nach. “Ist es wegen den Männern von neulich?”

“Nein“, erwiderte Eve so ruhig, wie sie nur konnte, denn eigentlich hatte er damit ja den Nagel auf den Kopf getroffen. Schnell beschloss sie, dass sie das Thema wechseln sollte. “Wo sind Vater und Emylia?”, fragte sie also, denn das hatte sie ohnehin interessiert.

“Sie sind in der Stadt und hören sich wegen der Blutrose um. Es gibt einen Informanten, der ziemlich zuverlässig zu sein scheint. Wer weiß, vielleicht hältst du bald schon deine erste Blutrose in der Hand.” Und es würde wohl auch ihre letzte werden.

****

Zwei Tage später machte Eve sich wieder auf den Weg. Der Informant ihres Vaters hatte nähere Hinweise auf die Blutrose gegeben und diese hatte er mit der Familie am Abendbrottisch besprochen. Eve wäre beinahe in Panik ausgebrochen, da nun der nächste Schritt war, nach dieser geheimnisvollen Blume zu suchen und dann würde Adam sterben. Das konnte sie um keinen Preis zulassen. Sie hatte sogar vortäuschen müssen sich am Abendessen verschluckt zu haben, um nicht aufzufallen. Und nun war sie auf dem Weg zu Lady Winter, um ihr von all dem zu erzählen und sie um Rat zu fragen, wie sie Adam retten sollte. Ihrer Familie hatte sie erzählt, sie würde in die Bücherei gehen und sich neue Noten für das Klavier kaufen. Natürlich hatte Adam sie begleiten wollen und es war nicht leicht gewesen, ihn davon abzubringen. Am Ende hatte er doch zugegeben, dass er sich eigentlich mit Verima treffen wollte und dies vielleicht wichtiger war, als die kleine Schwester in die Bücherei zu begleiten.

Nun trat Eve die Stufen zur Eingangstür des alten verlassenen Hauses hinauf und klopfte. Wie auch zwei Tage zuvor öffnete Marilin ihr die Tür und sah seltsamer aus, als am ersten Tag. Zwar trug sie diesmal kein weißes Kleid und ihre Haare waren zu einem hohen Dutt zusammengebunden, weshalb sie nicht wie ein Hausgeist aussah, doch sie trug Hosen wie ein Mann und ein seltsames rotes Oberteil, das im Entferntesten vielleicht einem Hemd ähnelte.

“Was trägst du da?”, rutschte es aus Eve heraus, wofür sie sich gleich darauf schämte, doch Marilin lächelte zufrieden.

“Das kannst du noch nicht verstehen, befürchte ich. Die Schattenwelt ist der Erde unendlich voraus. Wir tragen keine Kleider wie ihr, aber das wirst du sicher auch bald verstehen, wenn du zu uns kommst“, erklärte sie und ließ Eve dann herein. “Ich muss zugeben, dass ich nicht geglaubt habe, dich so schnell wiederzusehen“, bemerkte Marilin, während die beiden durch die Eingangshalle zur Treppe gingen.

“Ich habe es doch versprochen“, erwiderte Eve daraufhin. “Des Weiteren habe ich neue Details über die Blutrose erfahren.” Auch wenn es so klang, so war sie doch nicht glücklich darüber. Diese Informationen würden entweder Adams oder ihren Tod bedeuten, zumindest in dieser Welt.

“Lady Winter ist in ihrem Büro“, erklärte Marilin und sah kurz die Treppe hinauf. Sie folgte Eve nicht, als sie die ersten Stufen hinauf ging und diese runzelte die Stirn. “Ich komme nicht mit, ich muss noch etwas erledigen. Meinst du, du kannst nachher noch ein wenig bleiben?” Marilin schien so hoffnungsvoll und Eve tat es unglaublich leid ihre Hoffnungen auf diese Weise zerstören zu müssen.

“Ich würde wirklich gern bleiben“, begann sie. “Aber meine Familie wird sehr schnell misstrauisch, wenn ich zu lange wegbleibe.” Ihr Lächeln verschwand.

“Schon okay.” Damit verschwand sie im Halbdunkel der Eingangshalle und Eve blieb nichts anderes übrig, als ihren Weg fortzusetzen und zu Lady Winters Büro zu laufen. Dort angekommen klopfte sie ungeduldig. Erneut öffnete Mr. Winter die Tür und sah Eve erstaunt an.

“Kleine Eve, was willst du denn hier?”, fragte er erstaunt.

“Es ist sehr dringend. Ich muss wegen der Blutrose mit ihrer Frau sprechen“, erklärte Eve und lief an Mr. Winter vorbei. Lady Winter saß an ihrem Schreibtisch und unterzeichnete gerade ein Papier, dessen Herkunft und Anliegen Eve leider nicht erkennen konnte. Sie lief schnurstracks zu dem Stuhl am Schreibtisch und setzte sich Lady Winter gegenüber.

“Es ist unhöflich, bei jemandem so einzudringen“, bemerkte Lady Winter ohne den Blick zu heben, was Eve einen kalten Schauer über den Rücken sandte.

“Nun, ich wurde hereingelassen“, erklärte Eve und als Lady Winter darauf nicht reagierte fügte sie noch hinzu: “Und es ist dringend.” Schließlich hob die mysteriöse Dame doch den Kopf und sah Eve interessiert an.

“So sprich, Kind und erzähle mir, was du weißt.”