Two to find a Prince - Victoria Scheer - E-Book

Two to find a Prince E-Book

Victoria Scheer

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Beschreibung

Ein Haus fast unbewacht. Ein weggeschlossenes Geheimnis. Ein einzelnes Fenster, achtlos offen gelassen. Ein Mädchen mit einer Magie, die einzigartig ist. Sie ist ein Schatten in der Nacht, der sich ungesehen durch die Welt bewegt. Sie ist ein Niemand – eine Außenseiterin mit einer Vergangenheit, die sie lieber vergessen würde. Sie spricht mit wenigen und lebt von Tag zu Tag. Bis eines Tages jemand Neues in ihr Leben tritt. Er ist ein Soldat. Ein Ausländer mit einer Vergangenheit, die er nicht ignorieren kann. Er wird für das Richtige kämpfen, selbst wenn es ein Leben kostet. Zusammen wären sie nicht aufzuhalten. Aber wird sie die Kraft finden, einem anderen zu vertrauen? Die Hauptfigur – der Schatten – ist die heimliche Vertraute der Königin von Timur. Sie kennt jedes Geheimnis und ist eine Meisterin im Stehlen von Informationen. Sie erledigt alle möglichen Arbeiten für die Königin, arbeitet aber alleine, bis sich die Dinge plötzlich ändern. Diese Geschichte hat ein eher düsteres Setting. Der Schatten hat eine dunkle Vergangenheit, die sie zwar zu der jungen Frau gemacht hat, die sie heute ist, über die sie jedoch niemals spricht. Sie ist verschlossen und hat Probleme zu vertrauen, was ihr die Arbeit erleichtert, sie aber im Laufe der Geschichte vor diverse Hindernisse bringen wird.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wertlos
Der Chemiker
Blutstropfen
Soziale Wesen
Catalina Rubovski
Die Vertrauten
Der Pfeil
Nicht gut genug
Die Klinge
Ein netter Anfang
Die Viper
Fae
Nicht dein Name
Sir Etris Nowikow
Gefühl heißen Verlangens
Extreme Situationen
Extreme Maßnahmen
Die dunkelste Ecke
Kleiner Dieb
Ein Bild zu malen
Gegebene Versprechen
Du und mein Bruder
Der einzige Weg
Wissen, wann man aufhört
Gerade genug
Ich brauche dein Wissen
Bestochen
Meine Schuld
Der Prinz
Einen Sturm vorbereiten
Bürger der freien Inseln
Ich würde ihr glauben
Nie mein eigenes
Danksagung

 

 

Copyright © 2025 Victoria Scheer

www.victoria-scheer.de

Instagram: @headbetweenthepages

Covergestaltung durch Selkkie Designs – www.selkkiedesigns.com

veröffenlicht über tolino media

Victoria Matthes

Clara-Viebig-Str. 9

01159 Dresden

 

ISBN-Paperback: 978-3-759281-74-6

ISBN-E-Book: 978-3-948286-10-1

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

Für die, die sich fühlen, als würden sie nicht dazugehören.

 

1

Wertlos

Seine Lippen berührten ihre Haut und zeichneten eine Karte ihres Körpers. Es war das süße Gefühl heißen Verlangens, das durch den Nebel der Vorsicht brannte.

Es spielte keine Rolle, dass sie in der dunklen Gasse neben einer Bar standen. Es spielte keine Rolle, dass es mitten in der Nacht war und sie Fremde waren.

Ihre Finger fuhren über seine Brust und sie spürte jeden Muskel unter seinem dünnen Leinenhemd. Für jemanden, der behauptet hatte, ein gewöhnlicher Kaufmann zu sein, war er gut gebaut. Aber damit hatte sie gerechnet. Wie sie auch mit den beiden Dolchen in seinem Gürtel gerechnet hatte. Sie ließ ihre Finger nicht darauf verweilen, denn sie wollte keinen Verdacht erregen. Er musste nicht wissen, dass sie sie gefunden hatte.

Und sie konnte nicht leugnen, dass sie seine Zuneigungen noch ein wenig länger genießen wollte. Als sie sich an diesem Abend der Bar genähert hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass irgendetwas davon passieren würde. Nur ein einfacher Abend, Gespräche mit Leuten in einer Bar, vielleicht ein paar Drinks und ein paar Witze mit dem Barkeeper, falls ihm der Sinn danach stand. Der Besitzer ihrer Stammbar war immer bereit für Witze und gab ihr ab und zu kostenlose Proben seines neuesten Gebräus. Aber diese Bar war neu und sie hatte nicht erwartet, was sie gefunden hatte. Der Besitzer war ein mürrischer alter Kerl, der nur von den alten Zeiten sprach, von denen er behauptete, mit seiner eigenen Flotte gegen Piraten gekämpft zu haben. Das war nicht ganz unwahrscheinlich, da das Rauschen des Meeres sogar von der Gasse aus zu hören war. Xinwei, die Hauptstadt von Timur, lag direkt an den Klippen mit dem Meer im Osten und dem größten Hafen des Landes in der Mitte. Andererseits sah der Mann nicht so aus, als hätte er in seinem Leben auch nur eine einzige Minute auf einem Schiff verbracht, was sie ihm gegenüber dummerweise erwähnt hatte. Er hätte sie dafür fast aus seiner Bar geworfen. Dann war der junge Mann auf sie zugekommen, dessen Lippen nun eine Spur entlang ihres Halses hinterließen, und nach ein paar Drinks und etwas Smalltalk waren sie draußen gelandet.

Ein überraschter kleiner Aufschrei entkam ihrer Kehle, als seine Hände unter ihr Shirt glitten. Es war nicht so, als hätte sie ihren Körper nie jemandem gegeben. Das hatte sie schon oft genug getan und sie würde nicht zögern, es noch einmal zu tun. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass der junge Mann gleich am ersten Abend so weit gehen würde. Und sie hatte noch Pläne für den Rest der Nacht. Dinge, die sie tun musste und für die sie beide getrennte Wege gehen mussten.

Widerwillig stieß sie ihn weg. Er war viel zu attraktiv für sein eigenes Wohl. Und das Schlimmste war, dass er es wusste. Mit dem verführerischsten Blick in seinen ozeanblauen Augen musterte er sie von oben bis unten und biss sich auf die Unterlippe. Eine Handlung, die wahrscheinlich die meisten Frauen in Ohnmacht fallen lassen könnte. Aber sie war anders. Sie war nicht wie die meisten Frauen und hatte einen eisernen Willen. Außerdem gab es nichts, was er ihr geben konnte, was sie nicht schon einmal gesehen hatte.

„Das war nicht übel“, bemerkte sie mit beiläufiger Stimme und stieß sich von der Wand ab. Sie konnte ihm nicht sagen, dass er ein guter Küsser war – obwohl er es war. Das würde sein Ego nur noch mehr aufblähen. „Aber ich habe noch etwas zu tun.“

Ein arrogantes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er fuhr mit einer Hand durch seine dunkelblonden Locken und sagte mit tiefer Stimme: „Gehst du schon ins Bett? Ich könnte dich begleiten.“

Sie tat so, als würde sie darüber nachdenken, als sie die Hauptstraße in Richtung Hafen entlangging. Er folgte ihr in gemächlichem Tempo.

„Heute nicht, tut mir leid“, antwortete sie mit einem süßen Lächeln auf den Lippen und bog in eine andere Gasse ein, von der sie wusste, dass sie in einer Sackgasse endete. Es tat ihr tatsächlich leid. Wenn man ihr tägliches Leben bedachte, war es immer schön, die Nacht in einem Bett mit der Wärme eines anderen Körpers zu verbringen. Und er war ziemlich attraktiv und konnte auch noch gut küssen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Aber nicht in dieser Nacht. Und da sie wusste, wer er war, war es ohnehin eine schlechte Idee, ihre Zeit auf diese Weise mit ihm zu verbringen.

„Gibst du mir wenigstens einen Namen?“, fragte er.

„Ming“, antwortete sie schlicht und verschwand hinter einem großen Stapel Kisten. Mit einem Gedanken verschmolz sie mit den Schatten und verschwand für seine Augen. Eine ihrer einzigartigen Fähigkeiten. Denn genau das war sie: ein Schatten und nichts weiter. Immer da, aber selten bemerkt, es sei denn, sie wollte es so.

Sie wartete, während er sich verwirrt umsah und jeden Kistenstapel in der Sackgasse überprüfte. Es dauerte ganze fünf Minuten, bis er akzeptierte, dass sie verschwunden war. In dem Moment, als er der Sackgasse den Rücken zuwandte und wieder auf die Hauptstraße hinausging, begann sie, die Fassade hinaufzuklettern. Sie war klein und leicht, was das Erklimmen von Gebäuden viel einfacher machte. Dennoch hatte es Jahre gedauert, bis sie diese Fähigkeit perfektioniert hatte. Sie erinnerte sich lebhaft an diese Tage. Zuerst hatte sie an Bäumen trainiert, und nachdem man sie für gut genug befunden hatte, ließ man sie auf einem schmalen Seil zwischen den höchsten Türmen des Palastes ihres Landes balancieren.

Wenn du es jetzt nicht meistern kannst, wirst du es nie schaffen. Und dann bist du wertlos.

Sie schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Oben auf dem Dach ließ sie die Schatten fallen, folgte seinem blonden Lockenkopf durch die Stadt und sprang über schmale Gassen. Hier oben auf den schrägen Dächern von Xinwei fühlte sie sich so frei wie nirgends sonst. Wo der Wind ihr eine salzige Meeresbrise um die Nase wehte und die Sterne des Mitternachtshimmels ihr den Weg erleuchteten. Wo die Stadt um sie herum schlief und sie frei gehen konnte. Diese Nacht war klar und sie konnte dem jungen Mann durch die Straßen folgen, ohne ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken. Natürlich half es auch, eine solide Vermutung zu haben, wohin er gehen würde.

Sie kannte diese Dächer wie ihre innere Jackentasche und genoss stattdessen die Aussicht. Heute Nacht war das Meer still. Auf seinen Gewässern lauerten keine Sturmwolken, und fern im Osten konnte sie die Silhouette der freien Inseln erkennen. Sie war einmal dort gewesen, gefangen in einem Sturm. Es war ein ungeplanter Zwischenstopp auf ihrer Reise nach Timur gewesen, aber sie hatte es geschafft, dort einen Freund zu finden. Sie fragte sich, wie es ihm jetzt ging. Es waren Jahre vergangen.

Der junge Mann, dem sie folge, betrat an genau der Stelle ein Gebäude, an der sie es erwartet hatte. Seine dunkelblonden Locken verschwanden hinter einer unscheinbaren Tür. Sie folgte ihm jedoch nicht. Sie hatte nur wissen wollen, wohin er gehen würde, und er hatte ihr wiederholt bestätigt, was sie bereits von den anderen dreien erfahren hatte. Sie würde sie vorerst in Ruhe lassen.

Stattdessen drehte sie sich um und begann ihren Weg zum Palast, der oben auf den Klippen thronte und den Großteil von Xinwei überragte.

In dieser Nacht nahm sie den langen Weg über die Dächer der Stadt, anstatt direkt die Klippen hinaufzuklettern. Es war nicht nötig, sich zu verausgaben. Als sie die letzte Häuserreihe vor dem Palast erreichte, ließ sie sich in eine kleine schattige Gasse fallen und ließ sich wieder verschwinden. Mit den Schatten verschmolzen und halb unsichtbar, bahnte sie sich mühelos ihren Weg durch die Palasttore. In einer bewölkten Nacht, in der die Schatten sich ständig veränderten und über den Hof waberten, wäre es noch einfacher gewesen. Aber selbst in einer klaren Nacht wie dieser war es einfach, in den Palast einzudringen. Die Mauern waren hoch und die Schatten, die sie warfen, waren tief. Dennoch hätte sich kein gewöhnlicher Mensch so im Dunkeln verstecken können wie sie.

Unbemerkt ging sie zum Dienstboteneingang. Sie konnte nicht einfach durch die Tür eintreten, da diese bewacht war. Und obwohl sie mit den Schatten verschmolzen war, würde es dennoch auffallen, wenn sich die Tür auf magische Weise öffnete. Stattdessen kletterte sie durch das erste offene Fenster, das sie fand. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, was sie von jedem einzelnen Raum im Palast erwarten konnte. Sie wusste, durch welche Fenster sie die Schlafzimmer der Bediensteten betreten würde und welche in einen Gemeinschaftsraum führten. Diese waren zu dieser späten Stunde verlassen.

Schweigend ließ sie sich auf den Boden eines Vorratsraums fallen und ließ für einen Moment ihre Schatten los. Es war nicht so, dass es sie so schnell erschöpfte. Aber sie nahm jede Pause ihrer Kraft bereitwillig an. Energie zu sparen konnte nicht schaden. Sie wusste nie, was die Nacht noch zu bieten hatte.

Sie ging zur Tür, drückte ihr Ohr dagegen und lauschte. Als sie sicher war, dass im Flur dahinter niemand war, öffnete sie die Tür und schlüpfte nach draußen. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel, den Palastküchen. Die Essensreste des Tages wurden immer als Frühstück für die Bediensteten am nächsten Tag aufbewahrt und übrig gebliebenes Gemüse wurde oft als Futter für die Pferde verwendet. Ein paar fehlende Dinge fielen niemandem auf. Sie schlüpfte in die Küche und wurde sofort vom Geruch der Gewürze erfasst. Es war inzwischen weit nach Mitternacht und es würde nur noch eine Stunde dauern, bis der Bäcker hereinkommen und mit seiner Arbeit für den Tag beginnen würde, also beeilte sie sich. Sie packte ein paar Stücken Wachspapier aus ihrer kleinen Tasche und untersuchte die Reste des Tages. Es gab ein paar Teigtaschen, die sie einwickelte und zurück in ihre Tasche steckte, und einen Apfel, bei dem sie sich nicht die Mühe machte, ihn einzupacken, sondern direkt hineinbiss. Er war süß und saftig und sie genoss den Geschmack. Reis war unpraktisch, also ignorierte sie seinen köstlichen Geruch und packte stattdessen ein paar der süßen Kekse ein, die an diesem Tag im Palast als Nachtisch serviert worden waren.

Als sie Stimmen aus dem Flur hörte, hüllte sie sich wieder in die Schatten und steckte das eingewickelte Essen in ihre Tasche. Sie drückte sich gegen die Wand, aber zum Glück verstummten die Stimmen und niemand betrat die Küche.

Dennoch war es Zeit zu gehen. Sie suchte schnell nach offenen Fenstern in der großen Küche, fand aber keines, weshalb sie den Weg zurückging, den sie gekommen war. Sie lauschte noch einmal nach Stimmen, bevor sie die Tür zum Flur öffnete und war innerhalb weniger Minuten draußen im Hof. Sie blieb nah an den Mauern und fern von irgendwelchen Wachen, aß ihren Apfel und warf den Strunk in die Pferdeställe. Sie würden sich darum kümmern und jeglichen Beweis ihrer Anwesenheit vernichten.

Sie zog die Dunkelheit dichter um sich herum und kletterte auf die Mauer, die den Palast umgab. Diese Seite war der Klippe und dem dahinter liegenden Meer zugewandt und wurde wenig bewacht. Sie hatte Ihrer Majestät viele Male gesagt, dass es eine Gefahr für ihre Sicherheit darstellte, aber die Frau wollte, was das betraf, nichts hören.

Andererseits erleichterte es ihr das Leben erheblich, da sie volle zwei Minuten lang den Blick auf das Meer genießen konnte, bevor das nächste Paar Wachen um die Ecke bog.

Irgendwo weit weg hinter den freien Inseln, sogar hinter dem Horizont, lag das Land, in dem die junge Frau geboren worden war. Aber sie stand nicht hier und genoss die Aussicht, weil sie nostalgisch an ihren Geburtsort dachte. Sie dachte selten darüber nach. Stattdessen genoss sie nachts die Ruhe und Stille des Ozeans, wenn das tiefe Blau des Himmels mit den dunklen Tönen des Wassers verschmolz. Die Sterne leuchteten an diesem Abend hell und sie sandte ein stilles Gebet zu ihnen hinauf.

„Mögen die Sterne deinen Weg weisen, wohin du auch gehst“, flüsterte sie. Vor langer Zeit hatte jemand sehr Wichtiges diese Worte zu ihr gesagt. Sie hatte sie in Erinnerung behalten, fest entschlossen, sie nie zu vergessen.

Sie starrte die Mauer und die Klippe hinunter, wo schroffe Felsen aus der tintenähnlichen Tiefe des Ozeans ragten. Wenn sie fallen würde, wäre sie dort oben bei den Sternen. Aber sie wollte nicht sterben. Ihr Leben war nicht so schlecht. Die meisten Teile davon machten ihr tatsächlich Spaß.

Sie verdrängte diese Gedanken, stieß sich von der Balustrade ab und ging das kurze Stück zur Palastmauer. Hier an der Klippe verschmolz die Außenmauer kurzzeitig mit der Palastmauer. Es war nur eine Strecke von etwa fünf Metern, aber es war mehr als genug. Gerade noch rechtzeitig bevor die Wachen um die Ecke kamen, schwang sie sich nach oben und begann zu klettern. Sie war diesen Weg schon viele Male gegangen und nicht ein einziges Mal gestürzt, also machte sie sich darüber jetzt keine Sorgen mehr. Sie fand Halt, wo es keinen gab, und stand auf Kanten, die so dünn waren, dass eine Katze Schwierigkeiten gehabt hätte, darauf das Gleichgewicht zu finden. Aber sie schaffte es die vier Stockwerke hinauf, bevor sie zu einem großen verzierten Fenster kam.

Der Mond schien in dieser Nacht hell und sie konnte ihr eigenes Spiegelbild im Glas sehen.

Kohlschwarzes Haar hing locker und leicht zerzaust über ihre Schultern. Dunkelbraune, fast schwarze Augen begleiteten sie, wie es sich für Timur gehörte. Das war der Grund, warum sie hier so gut hineinpasste, warum sie sich problemlos in der Menge verstecken konnte, auch wenn ihre Augen nicht die übliche Mandelform hatten.

Einen Moment lang starrte sie über ihr Spiegelbild hinaus in den Raum. Es war ein großes und reich dekoriertes Schlafzimmer. Über das Bett lagen allerlei Seidenstoffe verteilt, und etwa ein halbes Dutzend Kissen umrahmten die königliche Frau, die darin lag. Selbst durch geschlossene Fenster roch der Raum nach zahlreichen Parfüms und Blumen.

Aber sie war nicht hergekommen, um zu starren. Stattdessen nahm sie die unter einem losen Stein gefaltete Notiz, die auf dem Fensterbrett lag. Sie machte sich nicht die Mühe, sie hier zu lesen, sondern steckte sie stattdessen in ihre kleine Tasche. Als sie einen letzten Blick auf das Spiegelbild warf, musste sie noch einmal an ihre bisherige Nacht denken. Damit er nicht misstrauisch wurde, hatte sie sich für ihn so aussehen lassen. In nur wenigen Minuten würde ihr Zauber verschwinden und die spitzen Ohren würden wieder sichtbar sein und sie als das kennzeichnen, was sie war: kein Mensch.

Mit der Notiz in der Tasche setzte sie ihren Weg entlang der Palastfassade fort. Es war nicht mehr weit, nur ein paar Fenster zur Seite und sie war da. In die Wand war eine schmale Öffnung gehauen. Es gab keine Fensterscheibe, da es beim ersten Bau des Palastes als Dienstbotenflur gedacht war. Jetzt war der Flur im Inneren zugemauert und der einzige Weg hinein führte durch dieses schmale Fenster im vierten Stock. Sie nannte es gerne ihre Gemächer im Palast. Es war besser, als es als das zu bezeichnen, was es war: ein zugemauerter Flur, kaum breit genug für eine Matratze und lang genug für einen kleinen Schrank unter dem Fenster und einen halben Meter Boden, bevor die Matratze anfing, mit einem glaslosen Fenster und keinem Licht außer dem des Mondes und einer kleinen Kerze, die sie dort platziert hatte, wo einst ein loser Ziegelstein in der Wand gewesen war. Es war alles, was sie hatte, aber es war ihr Eigenes. Sie setzte sich auf die Fensterbank, holte den kleinen Zettel hervor und nutzte das Mondlicht, um ihn zu lesen.

 

Ich habe eine Aufgabe für dich. Komm morgen zu mir, bevor ich zum Abendessen gehe.

- A.Z.

 

Sie stöhnte und betrat ihr kleines Zimmer, wobei sie einen dünnen Vorhang in der Farbe der Palastmauer vor das Fenster hängte. Vor dem Abendessen bedeutete, dass sie viel früher aufstehen musste als normalerweise. Außerdem würde es Tageslicht geben, wenn sie an der Palastfassade entlang kletterte, was die Sache erschweren würde. Normalerweise mied sie das Tageslicht vollständig, wenn sie konnte, und verbrachte die Nächte damit, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie setzte sich auf ihre Matratze, holte ihr Essen sowie ein Notizbuch und einen Stift heraus, um sich Notizen zu den Ergebnissen dieser Nacht zu machen. Sie musste an diesem Abend früh schlafen gehen, damit sie rechtzeitig aufstehen würde. Schließlich war A.Z. nicht irgendjemand, der schlicht um ihre Anwesenheit bat.

Sie war Azouma Zou, die Königin von Timur.

 

2

Der Chemiker

„Hallo mein Schatten“, sagte die Königin zur Begrüßung, als sie an diesem Nachmittag durch ihr Fenster in die königlichen Schlafgemächer schlüpfte. Schatten war der Titel, den sie erhalten hatte. Die Königin benutzte ihren Namen selten und der Schatten selbst auch nicht.

Königin Azouma stand vor einem kleinen Altar für die Götter der Nacht und des Tages, wie die Bürger von Timur sie nannten. Am Anfang hatte es der Schatten seltsam gefunden, Sonne und Mond als Verkörperungen der Götter zu sehen. Andererseits glaubten ihre eigenen Leute, dass ihre Seelen aus dem magischen Herzen der Welt geboren wurden. Sie glaubten, dass ihre Seelen nach dem Tod zu Sternen wurden und nachts anderen den Weg wiesen. Das war der Grund, warum sie sie so oft anstarrte. Es war der Grund, warum sie sich an ihrem Anblick erfreute und für immer in ihrem Licht baden konnte. Es war also nicht allzu schwierig zu akzeptieren, dass es auf dem Kontinent mehrere Religionen gab oder dass Timur an die Götter des Tages und der Nacht glaubte. Und die Königin behauptete gegenüber ihrem Gefolge, sie bräuchte ab und zu ein paar Minuten Gebet, was für sie die einzige Möglichkeit war, wirklich allein zu sein. Damit sie sich privat mit dem Schatten treffen konnte, ohne dass neugierige Blicke ihre Interaktionen beobachteten. Niemand durfte wissen, dass die Königin mit dem Schatten in Verbindung stand. Sie war eine heimliche Vertraute.

„Eure Majestät“, sagte der Schatten und verneigte sich leicht. Laut Hofetikette musste sie sich so tief wie möglich verbeugen, wenn sie vor der Königin stand, aber Königin Azouma hatte ihr gesagt, dass sie das nicht tun sollte, solange sie unter vier Augen blieben. Was jedes Mal war, wenn sie sich sahen. Dennoch fühlte sich der Schatten nicht wohl dabei, sich überhaupt nicht zu verbeugen, also hatten sie einen Kompromiss darin gefunden, dass sie nur kurz und schnell ihren Kopf neigte.

Nachdem sie dies getan hatte, inspizierte sie die Frau einen Moment. Königin Azouma war jung für eine Regentin. Sie war vierzehn gewesen, als ihre Mutter, die frühere Königin Hozumi Zou, vor fünf Jahren starb. Sie und der Schatten waren fast gleich alt und in einem anderen Leben hätte sich der Schatten in der Position der Königin vorstellen können. Gekleidet wie die Königin es jeden Tag war, das köstlichste Essen zu verspeisen, das der Kontinent zu bieten hatte, ein Zimmer für sich zu haben, das größer war als die meisten Familienwohnungen und zwischen Kissen zu schlafen, die so weich waren, dass sie sich wie Wolken anfühlten. Aber das waren die Träumereien eines Kindes.

An diesem speziellen Nachmittag trug Königin Azouma jedoch ein besonders feines Gewand aus jadefarbener Seide, bestickt mit goldenen Fäden in Mustern der Sonne und großer Greifvögel mit prächtigen Federn.

„Du siehst heute Abend besonders umwerfend aus“, bemerkte der Schatten. Seit dem Tag, an dem sie einander kennengelernt hatten, waren sie mehr Freunde gewesen als Königin und Untergebene. Sie hatten sich nie besonders um die Etikette des Hofes geschert. „Bist du irgendwohin unterwegs und brauchst meinen Schutz?“

Mit einem unerwarteten Stirnrunzeln drehte sich die Königin zum Schatten um. Ein Kopfschmuck aus Jade und Gold hing über ihrem rabenschwarzen Haar und glitzerte im Sonnenlicht, wenn sie sich bewegte.

„Nein“, antwortete sie, wobei der Schatten nicht ganz sicher war, auf welche Frage sich die Königin bezog. Wahrscheinlich Letzteres. Sie war viel zu schick gekleidet, um nicht irgendwohin zu gehen. Wahrscheinlich brauchte sie den Schutz des Schattens einfach nicht. Natürlich hätte der Schatten sie nicht offen beschützen können. Aber sie könnte da sein, lauernd in der Dunkelheit und immer wachsam. Immer da, aber nie bemerkt, wie es Schatten in der Regel waren. „Ich habe eine Aufgabe für dich.“

„Wie du in deiner Notiz bereits behauptet hast, Majestät“, erinnerte der Schatten sie. Mit keinem anderen König oder auch nur einem Adligen hätte sie jemals so offen gesprochen. Sie würde dies auch nicht tun, sollte sie die Königin jemals in der Öffentlichkeit treffen. Das war einer der Vorteile, die geheime Vertraute der Königin zu sein. „Darf ich hinzufügen, dass du angespannt wirkst. Ist etwas passiert?“ Das Stirnrunzeln der Königin vertiefte sich bei dieser Frage nur noch. Irgendetwas stimmte definitiv nicht.

„Ja, tatsächlich, und das ist einer der Gründe, warum ich dich gerufen habe“, antwortete die Königin und richtete ihre pechschwarzen Augen auf das Fenster mit Blick auf die Stadt Xinwei. „Es stellt sich heraus, dass meine Mutter meine Hand vor ihrem Tod bereits vertraglich versprochen hat.“

Es war nicht ungewöhnlich, dass königliche Ehen arrangiert wurden. Liebe kam ohnehin selten vor und war für das Land fast nie von Vorteil. Allerdings gab es für Königin Azouma keinen Grund, zu heiraten. Sie war noch jung, ihre Schwester würde die Krone von ihr erben, sollte ihr jemals etwas zustoßen und das Land hatte nach dem Krieg genügend Verbündete gefunden.

„Ich verstehe nicht, warum sie das tun sollte. Es besteht keine Notwendigkeit für ein solches politisches Bündnis. Das Land ist stabil“, antwortete der Schatten prompt.

„Genau meine Gedanken, danke“, sagte Königin Azouma entnervt und drehte sich um, um den Schatten zu betrachten. Sie wollte offensichtlich nicht den Mann heiraten, den ihre Mutter für sie ausgewählt hatte. Der Schatten fragte sich kurz, ob es vielleicht einen anderen Mann in Königin Azoumas Leben gab. Doch sie verwarf diesen Gedanken schnell wieder. So etwas hätte sie sicher bemerkt. „Natürlich spielt es keine Rolle, was ich denke, da es bereits einen unterschriebenen Vertrag gibt.“

„Soll ich den Vertrag zerstören?“, fragte der Schatten, vielleicht etwas zu begeistert. Sie war gut darin, Informationen zu sammeln, aber es machte viel mehr Spaß, sie zu zerstören, ohne irgendwelche Beweise dafür, dass sie jemals dort war. Und die Zerstörung des Vertrags, der Königin Azouma band, wäre die einfachste Lösung für ihr Problem.

Die Königin lachte leicht, aber nicht glücklich.

„Ich bin mir sicher, dass es viele Kopien gibt, um seine Zerstörung zu verhindern“, bemerkte sie, bevor sie den Schatten ernster betrachtete. Dies war der Teil, in dem der Schatten tatsächlich lernen würde, was sie zu tun hatte. „Nein, ich möchte, dass du mehr über meinen Verlobten herausfindest.“ Sie waren sich also nicht nur gegenseitig versprochen, sondern bereits vertraglich miteinander verlobt. Das würde den Ausstieg aus der Ehe erschweren.

„Hast du einen Hinweis darauf, wer er ist?“, fragte der Schatten. Sie hoffte auf einen Namen, aber es konnte sich ohnehin nur um den erstgeborenen Sohn eines Adligen handeln.

„Prinz Silviu Sotnikova“, war die saure Antwort der Königin und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich.

„Entschuldige meine Frage, Majestät, aber was ist so schlimm an einem Prinzen?“, fragte der Schatten. Ihrer Meinung nach könnte es viel schlimmer sein als ein Prinz. Wenn sie sich richtig erinnerte, war Prinz Silviu Sotnikova einer der jüngeren Prinzen. Königin Azouma seufzte über die Frage des Schattens, als hätte sie nichts Dümmeres fragen können.

„Ich weiß, dass dein Wissen über unseren Kontinent begrenzt ist, aber ich habe darauf geachtet, dir etwas über seine Könige und Königinnen beizubringen“, erinnerte die Königin den Schatten. „Und seinen Kaiser.“

Das Wissen des Schattens über den Kontinent konnte zu diesem Zeitpunkt kaum als begrenzt bezeichnet werden. Sie war schon seit Jahren hier und hatte bereits vor Königin Azoumas Krönung Informationen für sie gesammelt. Und natürlich wusste sie, was der Name Sotnikova bedeutete. Es war der Name des Hauses, das mit einem rücksichtslosen Kaiser über Daeroll herrschte, der himmelhohe Mauern um sein Territorium errichtet hatte und sein Volk unterdrückte.

„Du fürchtest, dass Daeroll versucht, dich mit dieser Ehe zu untergraben“, erkannte der Schatten, doch wieder einmal schien sie sich zu irren, als Königin Azouma die Augen verdrehte.

„Meine eigene Position ist mir nicht wichtig“, behauptete sie. „Aber mir liegt mein Land am Herzen. Und ich möchte nicht, dass Daerolls Einfluss darüber schwebt. Deshalb möchte ich, dass du alles über ihn herausfindest. Wer er ist, woran er glaubt, mit wem er sich unterhält. Alles.“

Das schien einfach zu sein. Des Schattens einziger Zweck war es, Informationen zu sammeln. Es war einfach, Zugang dazu zu erhalten, wenn man so simpel in der Dunkelheit verschwinden konnte.

„Heute Abend treffe ich mich mit den ausländischen Würdenträgern zu einem Bankett“, erklärte Königin Azouma ihre Kleidung. „Es sollte dir genügend Zeit geben, mit der Suche nach Informationen in ihren Immobilien zu beginnen.“

„Natürlich, Eure Majestät“, antwortete der Schatten und damit war sie durch das Fenster verschwunden.

Bevor sie sich kopfüber in die Gefahr stürzte, kehrte sie in ihre eigenen Gemächer zurück. Aus ihrem kleinen Schrank holte sie ihren einzigen Umhang hervor, welcher‚ auf der einen Seite schwarz und auf der anderen Seite in einem typisch timurianischen Grün gefärbt war und es ihr ermöglichte, sich unter die Massen zu mischen oder in Dunkelheit zu hüllen, je nachdem, was sie gerade brauchte. Sie schnappte sich auch eine ihrer Wollmützen, um ihre spitzen Ohren ohne Magie zu verbergen.

Magie war für sie kein Problem, dennoch versuchte sie, diese zu vermeiden, wenn sie konnte. Sie war nicht wie die Magoi des Kontinents – mit einer Verbindung zu einer der Essenzen der Welt geboren. Sie war überhaupt keine Magos. Ihr Volk hatte stattdessen Zugang zu aller Magie, musste aber ein Blutopfer bringen, um sie nutzen zu können. Und so sehr es der Schatten auch hasste, ihre eigene Haut zu durchstechen, um einen Tropfen Blut zu bekommen, sie würde niemals einen anderen oder auch nur ein Tier dafür verletzen. Um das alles zu vermeiden, versteckte sie stattdessen ihre Ohren ohne Magie, wann immer sie konnte. Nur an Orten wie einer Bar – oder sollte sie jemals den Palast in aller Öffentlichkeit betreten müssen – gestaltete sich das schwierig.

Sie zog den Umhang mit der grünen Seite nach außen an, schlüpfte aus ihrem Fenster und kletterte die Palastmauer hinunter. Sie musste den richtigen Zeitpunkt wählen, da es noch vor Sonnenuntergang war und sie es sich nicht leisten konnte, den Alarm auszulösen. Das hatte sie schon zweimal aus Versehen getan, als sie noch neu im Land war. Es hatte zu einer dreitägigen Suche geführt, bei der sie durstig und hungrig ihre Gemächer nicht verlassen konnte. Danach hatte sie gelernt, vorsichtiger zu sein.

Da sie am helllichten Tag nicht durch den Hof gehen konnte, kletterte sie stattdessen über die Palastmauer zu einem Wanderweg, der die Klippe entlangführte. Sobald sie einen Fuß darauf setzte, war sie in Sicherheit. Sie folgte dem Weg, bis sie die Stadt erreichte, wo sie sich durch schmale Gassen schlängelte, in denen sie sich unter die einfachen Leute von Xinwei mischte, bis sie eine besonders unscheinbare Tür erreichte, die sie öffnete.

Sofort kroch ihr ein vertrauter chemischer Gestank in die Nase. Es roch nach einer Mischung aus etwas Verfaultem, Verbranntem und verschiedenen Säuren. Eine Treppe führte hinunter in einen Kellerraum mit nur sehr kleinen Fenstern hoch oben an den Wänden. An allen Wänden standen Schränke, und im Raum waren zahlreiche Tische aufgestellt. Unter einem Topf mit einer brodelnden Flüssigkeit war ein Gasbrenner aufgestellt. Hunderte von Glasfläschchen und Blechtöpfchen standen überall herum und enthielten Flüssigkeiten und Pulver in mehr Farben, als sie zählen konnte. Von der Decke hing eine Sammlung von Kräutern und in den Regalen standen etwa eine Million Bücher mit vergilbten Seiten. Neben einem der Tische war eine kleine Auswahl an Kisten gestapelt und dahinter saß ein Junge, der mit Drähten herumhantierte und eine milchige Flüssigkeit anzuzünden versuchte.

Soweit sie wusste, war der Junge Sechzehn. Er hatte eine Menge kupferfarbener Locken auf dem Kopf, wilde grüne Augen und war so naiv, wie man nur sein konnte. Sie hatte ihm viele unglaubliche Geschichten erzählt – natürlich alle wahr – und er war der Einzige gewesen, der jemals jedes einzelne Detail davon geglaubt hatte. Er war auch sehr gut im Umgang mit Chemikalien und versorgte sie mit kleinen Sprengladungen und anderen Utensilien, wann immer sie welche brauchte. Gleichzeitig hatte er in dem einen Jahr, in welchem sie ihn nun kannte, zweimal sein eigenes Labor in die Luft gesprengt und es öfter in Brand gesteckt, als sie zählen konnte. Vielleicht war er also doch nicht ganz so gut.

Er war in seinen Gedanken versunken und bemerkte sie erst, als sie direkt neben ihm am Tisch lehnte.

„Was versuchst du dieses Mal?“, fragte sie, tatsächlich neugierig, warum er versuchte, eine Flüssigkeit, die genauso gut Milch in Wasser sein könnte, in Brand zu setzen. Erschrocken hätte er das Becherglas mit der milchigen Flüssigkeit beinahe umgeworfen, als er von seinem Sitz aufsprang und etwas Abstand zwischen sie beide brachte. Es ließ sie amüsiert lächeln.

„I-ich wusste nicht, dass du kommst“, sagte er erstaunt.

„Mach dir keine Gedanken, ich auch bis vor etwa einer Stunde nicht“, antwortete sie ihm. Er war einer der heimlichen Vertrauten der Königin und der einzige andere, den sie jemals offiziell getroffen hatte. Bis vor etwa einem Jahr hatte sie tatsächlich geglaubt, sie sei die Einzige. Dann hatte die Königin sie ihm vorgestellt und ihn den Chemiker genannt. Vor etwas weniger als zwei Mondzyklen hatte der Chemiker dann ‚die Anderen‘ erwähnt und da hatte der Schatten mit ihren Nachforschungen begonnen und herausgefunden, dass es noch drei Weitere gab. „Also, was soll das werden?“ Sie deutete auf den Draht, die milchige Flüssigkeit und die Streichhölzer.

Er war plötzlich übereifrig, alles zu erklären, und sprudelte Worte hervor, die sie nicht einmal zur Hälfte verstand: „Nun, der Draht besteht tatsächlich aus kondensiertem Luminae, was im Grunde reine, in Form gebrachte Magie ist. Die Flüssigkeit ist ebenfalls Luminae, aber zu einem feinen Pulver zerkleinert und stark in Isopropanol verdünnt - es ist eine Suspension. Sie sollte theoretisch leicht brennen und an einem anderen Ort wieder auftauchen, da Magie niemals zerstört, sondern nur verändert werden kann. Das Ziel besteht darin, die Suspension als Tinte zu verwenden und Briefe in Sekunden über große Entfernungen versenden zu können. Ich brauche auch noch eine Möglichkeit, die Magie an einen bestimmten Ort zu lenken. Aber bisher habe ich es noch nicht einmal geschafft, die Suspension zum Brennen zu bringen.“

Einen Moment lang starrte der Schatten den Chemiker einfach nur an, zu verblüfft von der Masse an Worten, um etwas zu sagen. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte ihn an.

„Du versuchst also, das Rad neu zu erfinden“, bemerkte sie. Er sah sie entnervt an, bereit, Einspruch zu erheben.

„Nein, ich…“, begann er, dachte dann über ihre vorherigen Gespräche nach und hielt die Mühe, es noch einmal zu erklären, für ihrer unwürdig. „Ja, ich denke schon.“ Es folgte ein langer Moment der Stille, bevor er zu begreifen schien, wer vor ihm stand und sein schüchterneres Selbst wieder zum Vorschein kam. Er war immer so: Ein nervöser Junge, bis er sich in seiner Arbeit verlieren oder jemandem davon erzählen konnte.

„Wa-Was brauchst du heute?“, sprudelte es aus ihm. Er war in ihrer Nähe immer sehr nervös und sie wusste warum. Sie war die hübsche junge Frau aus einem fremden Land und er war der sechzehnjährige Junge, der gerade anfing, sich für Frauen zu interessieren.

„Ich bin mir nicht sicher“, gab sie zu. „Ich werde heute Abend ein paar Objekte durchsuchen und möglicherweise gegen Ende der Nacht aus einigen fliehen müssen. Was kannst du mir anbieten?“

„Ähm“, begann er und schob seine runde Brille hoch. „Nun, ich habe noch ein paar Blitzperlen übrig. Sie blenden jeden, der hineinschaut, für ein paar Sekunden. Und ich könnte dir schnell eine Rauchgranate mixen.“

„Die Blitzperlen werden reichen“, antwortete sie. „Funktionieren sie immer noch auf die gleiche Weise?“

„Ja, wenn man sie hart auf den Boden schlägt, explodieren sie“, sagte er und fummelte mit seinen Fingern herum.

„Super, die nehme ich“, entschied sie. Er nickte und rannte durch sein Labor. Er schien nicht ganz sicher zu sein, wo er sie aufbewahrt hatte, da er ganze fünf Minuten brauchte, um eine kleine Ledertasche mit einer Handvoll Blitzperlen darin zu finden. „Wie viel?“

„Drei Silbermünzen“, antwortete er errötend. Der Schatten seufzte. Sie hatte nur noch fünf Silbermünzen für die Woche übrig und brauchte drei, um dreimal pro Woche in die öffentlichen Bäder zu gehen. Aber sie wusste, dass sich am Preis des Chemikers nichts ändern würde. Er war in dieser Hinsicht unerbittlich.

„Danke“, sagte sie und reichte ihm mit einem süßen Lächeln die Silbermünzen. Es ließ ihn nur noch mehr erröten, ganz zu ihrer Belustigung.

Sie befestigte die kleine Ledertasche an ihrem Gürtel, verließ den Chemiker und machte sich auf den Weg durch die Stadt zu den Quartieren der Botschafter. Sie waren die Orte, an denen sie am ehesten etwas finden konnte und wo sie ihre Suche beginnen würde.

3

Blutstropfen

Ihr erstes Ziel war das Haus des Botschafters Derevianko, das in der Nähe des Hafens in einem Viertel lag, in dem es viele Luxusgüter zu kaufen gab. Seine Villa war groß, aber spärlich geschmückt, bis auf das Wappen von Daeroll, welches zwei gekreuzte Schwerter zeigte – ein silbernes und ein goldenes – und über dem Eingang hing. Nachdem sie ihren Umhang auf die schwarze Seite gewechselt hatte, beobachtete der Schatten die Villa einige Minuten lang von einem nahegelegenen Dach aus. Sie wollte sichergehen, dass alles verlassen war und zu wissen, dass der Botschafter bei einem Bankett mit der Königin war, reichte nicht aus. Der Botschafter hatte viele Bedienstete und war dafür bekannt, dass er seine Zeit mit mindestens einer Handvoll Mätressen verbrachte, von denen man einige aus der Villa kommen und gehen sehen konnte, als ob sie dort lebten. Zum Glück waren jedoch alle Fenster dunkel und in der Villa herrschte völlige Stille.

So leise sie konnte, kletterte der Schatten zur Hauptstraße hinunter und näherte sich der Villa. Die umliegenden Geschäfte waren bereits geschlossen und Fußgänger waren zu dieser Zeit spärlich. Es war leicht, durch die Tore zu schlüpfen und sich in der Dunkelheit des Gartens zu verstecken. Sie wartete noch eine Minute, um sicherzustellen, dass niemand sie bemerkt hatte, bevor sie um das Haus herumging. Der Eintritt durch den Haupteingang war zu gefährlich. Es würde Verdacht erregen, wenn der Botschafter nach Hause käme und seine Tür unverschlossen vorfände. Der Dienstboteneingang war anders. Sicherlich wären die Bediensteten auch misstrauisch, aber sie würden wahrscheinlich einem von ihnen vorwerfen, das Abschließen vergessen zu haben, und hätten Angst, dem Botschafter davon zu erzählen. Sie holte zwei Metallstreifen aus ihrer Tasche und begann mit der Arbeit am Schloss. Es war eine leichte Aufgabe und sie war in weniger als einer halben Minute drinnen.

Wie erwartet lag das Haus in völliger Dunkelheit, noch dunkler als draußen, wo die Sterne und Straßenlaternen die Nacht erleuchtet hatten, und sie wartete darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Sie konnte es sich nicht leisten, ein Licht anzuzünden, da dies Verdacht erregen würde. Als sie endlich sehen konnte, ging sie die Treppe hinauf zum Büro des Botschafters. Sie kannte den Grundriss der meisten Häuser der Würdenträger, da sie die meisten bereits zuvor aus verschiedenen Gründen durchsucht hatte. Als Königin Azouma an die Macht gekommen war, wollte sie, dass alle diejenigen durchsucht wurden, die nicht mit Timur befreundet waren. Sie wollte sicher sein, dass niemand etwas gegen sie plante. Es war schlau von ihr, sie hatte nur an der falschen Stelle gesucht. Nur wenige Mondzyklen später hatten ihre eigenen Würdenträger versucht, sie und ihre Schwester zu vergiften, doch beide hatten überlebt.

Das Büro von Botschafter Derevianko war klein und voller Informationen. Auf dem Tisch lagen Stapel von Papieren, daneben ein Tintenfass, etwas Wachs und das Siegel des Botschafters. Die meisten Briefe mussten noch versiegelt werden und waren für sie leicht, zu durchsuchen, obwohl ihr Inhalt für sie irrelevant war. Nur ein paar Papiere über Handelsrouten mit den freien Inseln. Da sie kaum mit irgendjemandem auf dem Kontinent Handel trieben, war diese Information in sich schon überraschend, aber für ihre Suche ohne Bedeutung. Als Nächstes durchsuchte sie die Bücher in den Regalen nach Hinweisen auf die königliche Familie. Es gab einige Befehle, die Botschafter Derevianko vom Kaiser erhalten hatte, aber nichts, was den Prinzen betraf.

Da sie bisher nichts gefunden hatte, beschloss sie, die versiegelten Briefe zu lesen. Sie stach durch die Haut ihres Fingers, bis ein winziger Blutstropfen zum Vorschein kam. Zu diesem Zweck trug sie immer eine kleine, aber spitze Nadel an ihrem Körper – für den Fall, dass sie Magie brauchte.

„Zestasia“, flüsterte sie. Wärme sammelte sich um ihren Finger und machte das Wachs so weich, dass sie das Siegel spurlos vom Papier lösen konnte. Sie tat dies für alle drei Briefe, die sie fand. Der erste war an den Kaiser gerichtet.

 

Wenn unser Plan aufgeht, werden Zahlungen für C. R. in einem Jahr nicht mehr notwendig sein. Möchten Eure Majestät, dass ich sie loswerde, wenn es so weit ist?

Derevianko

 

Der Schatten wusste nicht, wer C. R. war. Sie kannte keine Namen, auf welche die Abkürzung passte, also merkte sie sich die Information für später. Sie versiegelte den ersten Brief nochmal sorgfältig und las den zweiten, der passenderweise an C. R. adressiert war.

 

Es ist äußerst wichtig, dass Sie W. beschützen. Wir können uns keinen weiteren solchen Ausrutscher leisten. Bringen Sie ihm weiterhin unsere Ansichten bei und Sie werden belohnt.

Derevianko.

 

„Pff, mit dem Tod belohnt, offenbar“, murmelte der Schatten leise. Wer auch immer W. und C. R. waren, sie mussten für Daeroll und den Plan, den sie schmiedeten, wichtig sein. Und obwohl diese Information nichts mit dem Prinzen zu tun hatte, sollte der Schatten der Königin unbedingt davon erzählen. Der dritte Brief war irrelevant, da er nur an Dereviankos Frau in Daeroll gerichtet war.

Nachdem sie alle Briefe wieder versiegelt hatte, sah sie sich um und seufzte. Hier gab es nichts Nützliches. Die Prinzen Daerolls wurden mit keinem einzigen Wort erwähnt, was an sich schon verdächtig war. Was versteckten sie?

Der Schatten beschloss, zu den anderen Orten weiterzugehen. Ein General aus Daerolls Militär war derzeit auf Besuch in Xinwei und könnte Informationen über den Prinzen haben. Außerdem sollte sie die Tatsache nutzen, dass alle Würdenträger derzeit damit beschäftigt waren, der Königin zu schmeicheln, und sogar die Orte durchsuchen, die nichts mit Daeroll zu tun hatten. Ganz zu schweigen von den Lagerhäusern entlang des Flusses und des Hafens. Es war unwahrscheinlich, dass sie viele Informationen über den Prinzen enthielten, aber sie musste sie trotzdem durchsuchen. Mindestens zwei von ihnen gehörten Daeroll – weit weniger als jedem anderen Land.

Nach dem Krieg hatten sich die Allianzen verschoben und neue Handelsrouten etabliert, sogar mit Daeroll. Aber da die Mauern um ihre Grenzen bis zum Himmel reichten, war der Handel mit dem Kaiserreich noch immer spärlich. Die meisten anderen Länder verfügten über mindestens ein halbes Dutzend Lagerhäuser im großen Hafen von Xinwei.

Im Hotelzimmer des Generals fand der Schatten die Information, dass sich die Rekrutierung der Truppen nach dem Krieg offenbar verlangsamt hatte und dass ihre Zahl zurückgehen würde, wenn sie nicht vorsichtig wären. Nützliches Wissen, auch wenn Frieden herrschte. Zumal der Prinz, den die Königin heiraten sollte, zu diesem Reich gehörte.

Im Salon von Khasibars Botschaftervilla fand sie einen frisch zugestellten Brief, den sie sorgfältig öffnete, las und auf die gleiche Weise versiegelte wie die anderen Briefe.

 

Die Probleme werden schlimmer. Die Rebellion bringt die Öffentlichkeit langsam auf ihre Seite. Sie sehen nicht mehr meine gute Gesundheit, sondern nur noch meinen Sohn, der den Thron erbt. Sie halten ihn für zu jung und wollen stattdessen dieses unfähige, dumme Mädchen auf den Thron setzen. Ich erwarte, dass Sie sie finden und dem ein Ende setzen.

 

Der Brief war nicht unterzeichnet, trug aber das königliche Siegel von Khasibar und aus dem Kontext war klar, dass König Mahan Morales ihn selbst geschrieben haben musste. Sie fragte sich, ob er diesen Brief wohl an all seine Botschafter in den verschiedenen Ländern geschickt hatte, oder ob Farah Morales – seine älteste Tochter und vermutlich jene, die er als dummes Mädchen bezeichnete – sich derzeit in Timur aufhielt.

Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die Besitztümer des Botschafters von Evantis zu durchsuchen, da das Land friedlich war und es in der Jahrhunderte langen Geschichte des Kontinents nie zu Unruhen gekommen war. Selbst im vergangenen Krieg hatten sie sich zurückgehalten.

Schließlich machte sie sich auf den Weg zur Villa der Botschafterin von Marwan. Der Mond stand bereits hoch am Himmel und sie musste sich beeilen. Das Bankett könnte bereits vorbei sein und die Würdenträger würden bald zurückkehren. Der Schatten trat erneut durch den Dienstboteneingang ein und gelangte schnell in das Büro der Botschafterin im Erdgeschoss. Es hatte ein Fenster mit Blick auf den Eingang und ein weiteres mit Blick auf den Garten. Zumindest würde sie sie kommen sehen. Der Schreibtisch war so sauber wie nur möglich, als wäre er nie eine Sekunde lang benutzt worden. Keine herumliegenden Papiere, keine ohne Deckel eintrocknenden Tintenfässer, keine über den Tisch verschüttete Tinte. Sie durchstöberte zunächst die Schubladen, um nach neuer Korrespondenz zu suchen, fand aber nichts. Sie dachte gerade darüber nach, die Regale an den Wänden zu durchsuchen, als sie von draußen leises Lachen hörte. Sie drückte sich in den Schatten an die Wand, spähte nach draußen und sah, wie die Botschafterin und ihr Mann gemächlich auf den Eingang zugingen. Der Schatten hatte nicht mehr viel Zeit. Sie warf einen kurzen Blick auf die Bücherregale. Die Bücher waren nach Jahr geordnet und sie zog das aktuellste heraus. Ein paar Papiere – Korrespondenz zwischen dem Hohen Rat von Marwan und der Botschafterin – segelten zu Boden. Sie handelte schnell, durchsuchte die Seiten nach Informationen und legte sie dann wieder in das Buch ein.

 

Die Preise sind inakzeptabel. Bieten Sie die Hälfte von dem an, was sie verlangen, sonst verrotten ihre Waren und ihre Arbeit ist umsonst.

 

Es hat funktioniert. Diesmal. Die Fischer werden das nicht lange akzeptieren. Sie müssen auch von etwas leben.

 

Das ist mir egal. Sie sind Timurianer. Sie sind nicht unser Problem. Senken Sie die Zahlungen so niedrig wie möglich. Wir brauchen diese Münzen für andere Dinge.

 

Ein Geräusch aus dem Flur erinnerte den Schatten, dass sie dringend verschwinden musste. Das hier war nicht wichtig genug, um das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden.

Sie schob die Papiere zurück ins Buch und stellte es wieder ins Regal. Sie hüllte die Schatten um ihren Körper, öffnete das Fenster und schlüpfte hinaus, kurz bevor sich die Tür zum Büro öffnete. Draußen traute sie sich zunächst nicht, sich zu bewegen. Am Tor waren Wachen postiert und sie musste einen Schotterweg überqueren, um sich in Sicherheit zu bringen. Man würde es hören, wenn sie dort hinginge.

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du die Fenster nicht offen lassen sollst, wenn wir gehen?“, fragte eine sanfte Frauenstimme, die der Botschafterin gehören musste.

„Was meinst du, Liebling? Ich habe es geschlossen. Ich habe meine Lektion gelernt“, antwortete der Ehemann mit einem hörbaren Lächeln in der Stimme.

„Was ist das dann?“, fragte die Botschafterin leicht verärgert. Es folgte ein Moment der Stille und der Schatten hoffte, dass sie damit durchkommen würde, aber natürlich hatte sie nicht so viel Glück.

„Wachen!“, rief der Ehemann. „Durchsucht das Gelände! Es gab einen Eindringling.“

Der Schatten seufzte innerlich und bereitete sich auf einen Kampf vor. Da sie nun wussten, dass jemand im Inneren gewesen war, konnte sie genauso gut fliehen. Ihre Mission, unbemerkt an Informationen zu kommen, war ohnehin schon gescheitert.

Sie zog eine der Blitzperlen heraus. Sie hatte vor, sie als Ablenkung zu nutzen, während sie über den Kiesweg rannte. Sie warf die Blitzperle mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, ein paar Meter entfernt auf den Boden und begann zu rennen.

Die Blitzperlen sollten in einem Strahl blendenden Lichts explodieren, sobald sie auf eine starke Kraft trafen, zum Beispiel, wenn sie hart auf den Boden aufschlugen. Nur ging diese nicht hoch und der Schatten rannte ganz offensichtlich über den Kiesweg.

„Da drüben!“, rief eine der Wachen und sie warf sich in einen Busch, wo sie die Dunkelheit noch enger um sich zog. Dornen stachen in ihre Haut und hinterließen überall blutige Kratzer. Es war ärgerlich, aber auch nützlich. Nachdem das Blut nun bereits lief, konnte sie es genauso gut verwenden.

„Anemos“, flüsterte sie, ihre Stimme war selbst für sie kaum hörbar. Ein kleiner Windstoß kam auf und drückte das Fenster abwechselnd auf und zu.

„Es war nur der Wind. Du bist zu misstrauisch“, sagte die Stimme der Botschafterin und sie rief die Wachen zurück. Diese murmelten etwas darüber, dass sie sicher etwas gesehen hätten, als sie an ihr vorbeikamen, kümmerten sich aber nicht weiter darum. Schließlich war es nur ein dunkler Fleck in der Nacht gewesen und wenn sie keinen Suchbefehl erhielten, würden sie auch nichts tun. Es hätte genauso gut ein Tier sein können. Der Schatten warf einen Blick auf die Blitzperle, die auf dem Kiesweg lag. Irgendwann würde sie hochgehen, vielleicht wenn jemand darauf trat. Sie musste nur sicherstellen, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon längst weg war. Sie versteckte sich noch ein paar Augenblicke im Schatten der Dornenbüsche und wartete darauf, dass alles wieder ruhig wurde, bevor sie sich auf den Weg zur Straße und auf das nächstbeste Dach machte. Das alles tat sie natürlich in Dunkelheit gehüllt.

Dieser Abend war furchtbar wenig hilfreich. Bisher lagen keine Informationen über den Prinzen vor, und sie wäre beinahe gesehen worden. Die Königin würde nicht gerade erfreut sein, besonders wenn der Schatten es auch nicht schaffen würde, in den Lagerhäusern etwas zu finden. Sie ging jetzt in diese Richtung und sprang über schmale Gassen von Dach zu Dach. Je näher sie dem Hafen kam, desto salziger wurde die Luft und desto mehr roch es nach Fisch und anderen Meeresfrüchten.

Sie erreichte die ersten Lagerhäuser von Khasibar – die denen von Daeroll am nächsten lagen – als sie bemerkte, dass sich jemand von den Lagerhäusern entfernte. Das war an sich nicht ungewöhnlich, aber die Person eilte davon, als würde sie vor jemandem davonlaufen, wollte aber keinen Verdacht erregen. Der Schatten blieb stehen und versuchte, die Gesichtszüge der Person zu erkennen, als eine ohrenbetäubende Explosion durch den Hafen hallte und den Boden und die umliegenden Häuser erschütterte. Der Schatten verlor das Gleichgewicht, rutschte vom Dach ab und schaffte es geradeso, sich an der Dachkante festzuhalten, bevor sie in den Tod stürzen würde. Überrascht starrte sie auf die Lagerhäuser – drei davon waren hell erleuchtet durch Flammen, die ihr Inneres verschlangen. Es waren Lagerhäuser von Marwan. Und die Flammen hatten einen leicht grünen Schimmer. Sie stöhnte genervt. Sie wusste genau, was das bedeutete. Einer der anderen hatte gerade drei marwanische Lagerhäuser mit Bomben des Chemikers in die Luft gesprengt. Sie schienen stets grün zu brennen, als wollte er jedem klarmachen, dass dies kein gewöhnliches Feuer war, sondern sein Werk.

Der Schatten zog sich wieder hinauf aufs Dach und blickte in Richtung der Gasse, wo sie gesehen hatte, wie die Gestalt davoneilte. Sie hatte die Person aus den Augen verloren, war sich aber jetzt sicher, dass es einer der anderen gewesen war. Die Frage war nur: Aus welchem Grund würden sie Lagerhäuser in die Luft sprengen?

4

Soziale Wesen

Am nächsten Abend, nachdem die Sonne untergegangen und die Stadt in Stille versunken war, machte sich der Schatten auf den Weg zu den Gemächern der Königin. Sie kletterte an der Fassade des Palasts entlang und gelangte durch ein Fenster hinein. Die Königin war noch nicht anwesend, obwohl es schon spät war. Also ließ der Schatten das Fenster offen. Von der Tür aus war es gut zu sehen, und ein Zeichen für Königin Azouma, dass der Schatten im Inneren war und sie ihre Wachen und Diener draußen lassen sollte.

In der Zwischenzeit machte es sich der Schatten auf einem der gepolsterten Sofas neben einem niedrigen Tisch gemütlich. Dort standen noch ein paar Reiskuchen und Früchte, wahrscheinlich von diesem Nachmittag, als die Königin das letzte Mal ihre Gemächer verlassen hatte. Sie würde sie wahrscheinlich nicht mehr essen und der Magen des Schattens knurrte laut, also begann sie zu essen. Es war sogar noch köstlicher als die Reste, die sie normalerweise aus der Palastküche stahl.

Nach etwa einer halben Stunde, als der Schatten gelangweilt einen Apfel von Hand zu Hand warf, öffnete sich endlich die Tür.

---ENDE DER LESEPROBE---