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Hinreißend charmanter Cosy Krimi mit Regency-Vibes »Die mysteriöse Hochstaplerin« ist der 2. historische Krimi der britischen Krimi-Reihe »Miss Austen ermittelt«: Jane Austens Gespür für Menschen macht sie zur perfekten Detektivin. Die Grafschaft Kent im Südosten Englands, 1797. Die junge Jane Austen freut sich darauf, den Sommer mit ihrem Bruder Neddy zu verbringen, den sie viele Jahre nicht gesehen hat. Doch schon bei ihrer Ankunft auf dem zauberhaften Anwesen Godmersham Park merkt Jane, dass Neddy dringend Hilfe benötigt. Denn die Witwe Knight, der das Anwesen gehört, hat einen weiteren Gast: eine mysteriöse junge Frau. Und die droht, das Erbe an sich zu reißen, das Neddy versprochen ist – und von dem das Wohl von Janes gesamter Familie abhängt. Jane muss unbedingt herausfinden, wer die Unbekannte ist und was sie tatsächlich im Schilde führt. Dann nimmt der Fall jedoch eine dunkle und gefährliche Wendung, und plötzlich ist nicht mehr nur das Erbe in Gefahr … Moderner historischer Krimi mit einem Hauch Agatha Christie und dem Charme von »Bridgerton« - zum 250. Geburtstag von Jane Austen am 16. Dezember 2025! Jessica Bull verbindet in ihrer Krimi-Reihe einen modernen Ton mit klassischen Whodunit-Elementen. Dass ihre klugen Cosy Krimis zur Zeit des Regency spielen, sorgt für ein ganz besonderes Lesevergnügen. Ihren ersten Fall löst die 20-jährige Jane Austen im Wohlfühlkrimi »Miss Austen ermittelt. Die glücklose Hutmacherin«.
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Seitenzahl: 593
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jessica Bull
Die mysteriöse Hochstaplerin
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Susanne Wallbaum
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Die Grafschaft Kent im Südosten Englands, 1797. Die junge Jane Austen freut sich darauf, den Sommer mit ihrem Bruder Neddy zu verbringen, den sie viele Jahre nicht gesehen hat. Doch schon bei ihrer Ankunft auf dem zauberhaften Anwesen Godmersham Park merkt Jane, dass Neddy dringend Hilfe benötigt. Denn die Witwe Knight, der das Anwesen gehört, hat einen weiteren Gast: eine mysteriöse junge Frau. Und die droht, das Erbe an sich zu reißen, das Neddy versprochen ist – und von dem das Wohl von Janes gesamter Familie abhängt. Jane muss unbedingt herausfinden, wer die Unbekannte ist und was sie tatsächlich im Schilde führt. Dann jedoch nimmt der Fall eine dunkle und unerwartete Wendung – und plötzlich ist nicht mehr nur das Erbe in Gefahr …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Personenverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Anmerkungen der Autorin
Dank
Leseprobe »Die glücklose Hutmacherin«
Für meine Eltern und meine Schwester Kelly, denn:
»Es gibt nur wenige Menschen, die ich wirklich liebe, und noch weniger, von denen ich eine gute Meinung habe.«
Jane Austen, 1813
Wenn es einer jungen Dame beim gesellschaftlichen Umgang im eigenen Dorf an Abwechslung mangelt, muss sie sie in der Fremde suchen. Daher erlaubt sich die Autorin, in aller Bescheidenheit die vornehmste Gesellschaft von East Kent zu präsentieren:
Mr Edward »Neddy« Austen, später Knight (geb. 1767): der dritte Sohn von Pfarrer George Austen (geb. 1731) und seiner Frau Cassandra Austen, geborene Leigh (geb. 1739). Adoptiert von entfernten Verwandten, den Knights auf Godmersham Park;
Mrs Elizabeth Austen, geborene Bridges (geb. 1773): Neddys Gemahlin, Tochter von Sir Brook Bridges, 3. Baronet (1733–1791);
Miss Frances-Catherine (»Fanny«, geb. 1793), Master Edward (»Ted«, geb. 1794) und Master George-Thomas (»Little Georgy«, geb. 1795) Austen, später Knight: der Nachwuchs von Neddy und Elizabeth;
Conker (geb. 1796): ihr Hund;
Miss Jane Austen (geb. 1775): Neddys Schwester, eine junge Dame von geringer Erfahrung und keinerlei Bedeutung.
Mrs Catherine Knight, geborene Knatchbull (geb. 1753): Neddys Adoptivmutter, Witwe von Thomas Knight II. (1735–1794);
Prinzessin Eleanor (geb. etwa 1775–80): Mrs Knights rätselhafter Hausgast;
Reverend Samuel Blackall (geb. 1762): Mrs Knights Pfarrer, Kents führender Exorzist.
Sir Brook-William Bridges, 4. Baronet (geb. 1761): Elizabeths ältester Bruder, Eigentümer von Goodnestone;
Miss Henrietta Bridges (geb. 1768): Elizabeths ältere, unverheiratete Schwester, Besitzerin einer Sammlung von sentimentalen Klaviernoten;
Mr Brook-Edward Bridges (geb. 1779): Elizabeths jüngerer, unverheirateter Bruder. Ein Jammer, dass so viele Brüder zwischen ihm und dem herrlichen Goodnestone House stehen.
Händeringend geht Jane in der Gaststube des Bull and George Inn in Dartford auf und ab. Genau dreizehn Schritte braucht sie, um den verräucherten, spärlich beleuchteten Raum zu durchmessen, von den Tischen, die an die Erkerfenster geschoben sind, bis zum Kamin an der hinteren Wand. Die Strecke genügt ihr nicht, um die nervöse Anspannung aus den Gliedern zu bekommen, deshalb dreht sie sich wieder und wieder um und legt sie von Neuem zurück. Jedes Mal streift ihre Stirn den getrockneten Hopfen, der in Büscheln von den wurmstichigen Deckenbalken hängt. Ihre Haube stößt gegen die starren Blüten, und es rieselt Blättchen auf die Schultern ihres lohfarbenen Mantels. »Ich kann einfach nicht glauben, dass so etwas geschehen konnte.« Sie drückt die Stirn an eine verschmierte Fensterscheibe.
Verlassen liegt die Landstraße im Mondlicht da. Bei dem Gedanken, dass ihr Vater und ihr Bruder dort draußen unterwegs sein müssen, krampft sich Jane der Magen zusammen. Wer unter den Reisenden nicht ganz verwegen ist, sieht zu, dass er sein jeweiliges Ziel bis Sonnenuntergang erreicht hat. Es ist bekannt, dass auf diesem Abschnitt der Landstraße Straßenräuber ihr Unwesen treiben.
»Bitte versuch doch, die Ruhe zu bewahren.« Mrs Austen sitzt, das Wollcape dicht um die schmalen Schultern gezogen, auf einer Bank am Fenster. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hat sie ihre Haube abgenommen und nestelt an den Bändern herum.
»Ruhe?« Janes Stimme klingt schrill. »Meine Schwestern sind weg, Mutter. Geraubt. Entführt. Sie könnten schon sonst wo sein! Wer weiß, in welch ruchlose Hände sie fallen mögen? Du hast gehört, was der Wirt sagte. Die Kutsche, in der sie gelandet sind, ist auf dem Weg nach Gravesend, wo die Passagiere an Bord eines Schiffes zu den Westindischen Inseln gehen werden. Sie sind für immer verloren!«
Mrs Austen schüttelt den Kopf. »Musst du so melodramatisch sein, Jane? Dein Vater und Neddy haben doch die Verfolgung aufgenommen, kaum hatten wir das Versehen bemerkt. Gewiss holen sie die Kutsche nach wenigen Meilen ein. Du wirst dein Manuskript in Kürze zurückbekommen.«
Jane schluckt schwer. Die Schwestern sind ihr jüngstes Werk. Und wie alles andere in ihrem Reiseschreibpult werden sie wohl den Atlantik überqueren, wenn ihr Vater und ihr Bruder nicht rechtzeitig kommen. »O du meine Güte, was, wenn der Kutscher Neddy und Papa für Räuber hält und seine Pistole auf sie abfeuert? Sie werden sterben!«
»Mach dich nicht lächerlich. Du setzt dich jetzt augenblicklich hin und trinkst einen Schluck Brandy.« Mrs Austen schwenkt ihren Zinnbecher. »Der ist recht gut. Erinnert mich an den, den deine Cousine Eliza früher aus Frankreich geschickt hat.«
»Es brechen finstere Zeiten an!«, ruft ein abgerissener alter Mann am anderen Ende des Raums. Jane und ihre Mutter zucken vor Schreck zusammen. Außer ihnen ist der Mann der einzige Gast hier. Bis eben hat er, eine Tonpfeife zwischen den Zähnen, stumm am Feuer gesessen und sich die alten Knochen gewärmt. »Das Jüngste Gericht muss nah sein, wenn ein rechtschaffener Mensch nicht mehr in Frieden reisen kann. Ich dachte, ich nehm die Straße, wo die See sich doch gegen alle wendet, die auf ihr fahren wollen. Gerade erst ist ein Schoner gesunken, vor Harty. Keine fünf Tage her.«
Jane kneift die Augen zu und versucht verzweifelt, die Ohren vor dem Gefasel des Mannes zu verschließen. Der dumpfe Tabakgeruch sitzt ihr in der Kehle und will sie ersticken. »Ich hätte besser auf mein Schreibpult aufpassen müssen. Wie konnte ich nur zulassen, dass es auf dem Kutschendach befördert wird, wo ich es doch ohne Weiteres hätte bei mir behalten können? Dann wäre es niemals zwischen das Gepäck von anderen Leuten geraten.«
»Die Mannschaft hat nichts Gutes im Schilde geführt, nehm ich an.« Der Alte kratzt sich den grauen Bart und setzt seinen wirren Monolog fort. »Keiner fährt bei Sturm diese Route. Außer, er will den Zoll nicht zahlen. Gott allein weiß, was der Käptn in den Wellen erblickte, dass er eine so harte Wende versucht hat, ohne die Segel klarzumachen. War wohl sein eigenes Schicksal, das da auf ihn zukam.«
Mrs Austen dreht sich mit ihrer ganzen schmalen Gestalt zu ihrer Tochter um. »Jane, ich weiß, dass das Schreiben dir viel bedeutet. Umso mehr, seit du vor einem Jahr diese Enttäuschung durch –«
Jane ballt die Hände zu Fäusten. »Wenn du jetzt seinen Namen aussprichst, gehe ich auf der Stelle in Flammen auf, das schwöre ich.« Warum müssen ihre Eltern die leiseste Stimmungsschwankung, die sie an ihr bemerken, als Kummer über den Verlust ihres einstigen Verehrers deuten? Sie weiß mit Bestimmtheit, dass es richtig war, Mr Lefroys glanzlosen Antrag abzulehnen, vor allem angesichts der harschen Einwände seiner Verwandten. Hätten sie ohne den Segen seines Großonkels und Förderers geheiratet, wäre das für ihrer beider Zukunft von Schaden gewesen, egal, wie zugetan sie einander waren. Dass sie sich wünscht, die Umstände wären andere gewesen – oder zumindest in nicht allzu ferner Zukunft geworden –, ist doch nur natürlich. Seit Toms Abreise tut sie ihr Möglichstes, um ihren Verpflichtungen gegenüber Gott und ihrer Familie nachzukommen und Trost im Verfassen ihrer Werke zu finden. Es ist doch nicht ihre Schuld, dass ihr Herz höherschlägt, sobald sie auf der Straße einen blonden Mann ausmacht, nur aufgrund des flüchtigen Gedankens, er könnte es sein.
»Wie ich bereits sagte, ich weiß, dein Werk bedeutet dir viel, doch ich werde für dein Schreibpult keinen Extraplatz in der Kutsche bezahlen. Neben deiner Reisetruhe und dem übrigen Gepäck war es auf dem Dach sicher untergebracht.« Mrs Austen verschränkt die Arme vor der flachen Brust.
»Das war es eben nicht! Denn während wir damit beschäftigt waren, Neddy wieder kennenzulernen, sind all meine Besitztümer in Richtung Westindische Inseln auf die Reise gegangen. Du verstehst das nicht! In diesem Kasten liegt alles, was mir lieb und teuer ist. Es geht nicht nur um Die Schwestern. Meine einzigen Exemplare von Catherine und Erste Eindrücke sind auch da drin.«
Der alte Mann fasst mit knochigen Fingern den Griff seines Gehstocks und schlägt mit der Spitze gegen die Kamineinfassung. »Umhergeschleudert wie ein Spielzeug. Als Erstes ist der Mast gebrochen. Abgeknickt, als wär’s ein Strohhalm. Wir haben die Männer schreien gehört, konnten aber nichts tun. Wenn die See dich behalten will, kannst du nichts machen.«
Mrs Austen dreht sich wieder zum Fenster und kehrt dem Störenfried den Rücken zu. »Selbst wenn der schlimmste Fall eintritt und wir dein Gepäck nicht zurückbekommen, könntest du die beiden Werke einfach noch einmal schreiben. Du hast sie erschaffen, sie sind in deinem Kopf herangereift. Du hast so lange in deinem Ankleidezimmer gesessen und dich mit ihnen befasst, dass dir inzwischen doch jedes einzelne Wort tief ins Gedächtnis gegraben sein muss. Und wer weiß, wenn du genötigt wärst, sie neu zu schreiben, würden sie vielleicht sogar noch besser.«
»Sie neu schreiben?« Jane ist empört über die Beiläufigkeit, mit der ihre Mutter ihr Werk kleinredet. Anderthalb Jahre lang hat sie daran gearbeitet, hat über jedem Wort, jedem Satz gebrütet, ganze Absätze immer wieder umgeschrieben, bis die Texte schließlich so gut waren, wie irdische Hände sie nur zu machen vermögen. Catherine und Erste Eindrücke sind vollständige Romane. Beide sind länger, ernster und, wenn sie das so sagen darf, um Längen besser als alles, woran sie sich in ihrer Jugend versucht hat. Ihre früheren Arbeiten waren kindische Petitessen, Satire eher, etwas, womit sie sich die Zeit vertrieb und die Familie unterhielt. Die Arbeit an den Schwestern hat sie erst kürzlich begonnen, aber sie hofft, dass dies ihre gelungenste Schilderung der menschlichen Natur wird. »Woher soll ich die Zeit dafür nehmen, wenn ich den ganzen Sommer über für Neddys Brut das Kindermädchen spielen muss?«
Mrs Austen sieht sie scharf an. »Das war deine Entscheidung, Jane. Du hast dich anerboten, dieses Jahr an Cassandras Stelle nach Rowling zu fahren.«
»Ich konnte doch gar nicht anders!« Jane dreht sich zum Fenster und versucht, die Tränen zu unterdrücken. In der Scheibe spiegelt sich Mrs Austen, die mit gesenktem Kopf dasitzt.
Es ist noch kein voller Monat vergangen, seit das Schiff von Cassandras Verlobtem nach Falmouth zurückgekehrt ist. Und es hat nicht ihren geliebten Mr Fowle wohlbehalten nach Hause gebracht, sondern vielmehr die Nachricht von seinem tragischen Ableben. Der arme Mr Fowle. Kaum war er in Santo Domingo angelangt, da streckte das Gelbfieber ihn nieder. Monatelang hat Janes Schwester eifrig an ihrer Aussteuer genäht und die Rezepte ihrer Mutter in ihr eigenes Haushaltsbuch übertragen, und die ganze Zeit trieb sein lebloser Körper schon in den Wellen, denn er ist auf See bestattet worden. Von einem Augenblick auf den anderen hat die Nachricht Cassandras sonniges Gemüt fortgespült – ihr angeborener Optimismus ist für immer unter der Last ihrer Trauer begraben.
Daher hat Jane sich bereit erklärt, nach Rowling zu fahren und Neddys Frau Elizabeth beizustehen, die in Kürze ihr viertes Kind erwartet. Bei allen drei vorangegangenen Geburten war Cassandra anwesend. Bevor sie von der Tragödie hörten, hatte Elizabeth geschrieben, sie hoffe inständig, Cassandra werde auch diesmal bei ihr sein. Denn ohne deren Hilfe wäre sie verloren. Nun jedoch wird sie mit Unterstützung allein durch Jane zurechtkommen müssen. Die trauernde Cassandra bleibt bei ihrem ältesten Bruder James in Hampshire, sie sind beide gleichermaßen untröstlich. Mr Fowle war nicht nur Cassandras Verlobter, sondern auch James’ bester Freund und in der ganzen Familie Austen sehr beliebt. James’ Frau hat versprochen, dass sie sich gut um Cassandra und ihn kümmern wird, während die Eltern Jane nach Dartford begleiten, um Neddy dort zu treffen. Mary Lloyd, besser gesagt: Mrs James Austen, ist ebenfalls in Erwartung (seit der Hochzeit ist fast ein Jahr vergangen, aber Jane muss sich mit dem Namen immer noch korrigieren). Angesichts ihres Zustands hofft Jane, dass Mary daran denkt, sich auch um sich selbst zu kümmern.
Für Jane war Mr Fowle schon früher mehr ein Bruder ehrenhalber als einfach einer der vielen Schuljungen, die mit ihr im Pfarrhaus heranwuchsen. Sie sieht noch seine belustigte Miene von damals vor sich, als er geduldig versuchte, Cassandra und ihr beizubringen, wie sie einen Cricketschläger schwingen mussten und die gnadenlosen Würfe ihres Bruders erwischen konnten, ohne sich sämtliche Finger zu brechen. Beim Gedanken an das hübsche Gesicht, das nun vom Karibischen Meer zerstört ist, hat sie einen schmerzenden Kloß im Hals.
Alle haben sie für ihre Selbstlosigkeit gelobt. Sie wissen nicht, dass sie in Wahrheit nach Rowling fährt, weil sie es nicht erträgt, Cassandra so leiden zu sehen. Das Schluchzen ihrer Schwester fährt ihr ins Herz wie ein Dolch. Wenn Cassandra von der Liebe so vernichtet werden kann, wie wäre es dann um sie, Jane, bestellt, die so viel schneller niedergeschlagen ist? Nur eine Närrin würde das Risiko eingehen, auf anhaltendes Glück zu hoffen, nachdem sie aus erster Hand miterlebt hat, wie schrecklich es ist, wenn Erwartungen grausam vernichtet werden.
Der alte Mann tut einen langen rasselnden Atemzug. »All diese armen Seelen sind in der Nacht umgekommen. Die ganze Mannschaft ertrunken. Müssen mindestens zwanzig Mann gewesen sein, auf so ’nem Schiff. Hätte der Käptn überlebt, würd er schon vor dem Richter stehen – mit ’ner Schlinge um den Hals.«
Die traurige Geschichte verstärkt noch die Melancholie, die Jane bei dem Gedanken an Mr Fowles Schicksal erfasst hat. Sie macht eine Kopfbewegung zum Kamin hin und murmelt: »Ich wünschte, er würde damit aufhören.«
»Allerdings.« Mrs Austen setzt sich auf ihrer Bank zurecht. »Diese düsteren Prophezeiungen sind wenig hilfreich.«
Die Tür geht auf, und es fährt ein kalter Windstoß herein, der das Feuer löscht und den alten Mann in Dunkelheit taucht. Neddy kommt mit großen Schritten auf Jane zu. Die goldenen Locken fließen über den Kragen seines blauen Samtrocks, und sein liebenswertes Gesicht leuchtet selbst im Dunkeln. »Wir haben es!« Er hält den Mahagonikasten an die Brust gedrückt, als wäre er so leicht wie ein Blatt Papier. »Der Kutscher hat sich vielmals entschuldigt. Vater und der Wirt haben deine Reisetruhe, aber das hier, dachte ich, möchtest du bestimmt gleich haben.« Damit setzt er den Kasten auf den Tisch vor ihr.
Während sie in der Tasche nach dem kleinen Messingschlüssel tastet, spürt Jane, wie die Erleichterung ihr durch die Adern rauscht. Sie schließt auf, klappt den Deckel hoch, und der Kasten verwandelt sich in ein Pult, eine schräge, mit grünem Leder bespannte Schreibunterlage. Sie schiebt den Finger in einen kleinen Messinggriff, zieht daran und öffnet so eine verborgene Schublade. Darin liegen, sicher verwahrt, Die Schwestern, die ersten Entwürfe für die Misses Dashwood in Gestalt von Briefen, die die beiden einander schreiben. Jane hat diese Briefe mit Hingabe formuliert, sie sind der Ausgangspunkt für ihre neue Geschichte. Sie lässt die Schultern sinken, und ihr ganzer Körper entspannt sich.
Hätte sie ihr Reiseschreibpult und alles, was es enthält, verloren, wäre das für ihre Reise kein gutes Omen gewesen. Da sie noch nie so weit von zu Hause fort war und ohne Cassandra an ihrer Seite überhaupt noch keine Reise unternommen hat, fragt sie sich ohnehin beklommen, wie sie die kommenden Tage und Wochen in East Kent überstehen soll. Sie kann nicht behaupten, dass es ihr ein inneres Anliegen wäre, bei der Geburt ihres neuesten Neffen oder der neuesten Nichte zugegen zu sein, und dass sie damit betraut sein soll, ihre Schwägerin sicher durch die Geburt zu begleiten, ist ihr äußerst unheimlich. So schlimm es war, Cassandra leiden zu sehen – von der geliebten Schwester getrennt zu sein, wird sie auf andere Art quälen. Aber solange die eigenen Romanfiguren bei ihr sind, gibt es keine Prüfung, der sie sich nicht stellen würde.
Dolden von Bischofskraut wogen im Wind, als Jane in Neddys Phaeton über Land fährt. Von ihrer erhöhten Position auf dem Sitz des eleganten offenen Gefährts sieht sie Kent, den Garten von England, vor sich ausgebreitet. Sie hatte angeboten, von Dartford aus die Postkutsche zu nehmen, dann hätte Neddy sie nicht abzuholen brauchen, aber ihr Vater und ihr Bruder wollten sie um keinen Preis ohne Begleitung lassen. Und da sie im Alleinreisen wenig erfahren ist, hatten sie mit ihrer Vorsicht vielleicht recht. Dank der Überbesorgtheit ihrer Familie wird sie aber auch in Kent festsitzen, bis einer ihrer männlichen Verwandten sich herbeilässt, sie wieder abzuholen.
Der frisch berufene Captain Henry Austen hat sich freiwillig gemeldet, ihr diese Ehre zu erweisen. Nach seinem Abschluss am St. John’s College in Oxford hätte er sich eigentlich auf seine Ordination vorbereiten sollen, doch da in Europa und auf den Westindischen Inseln unvermindert der Krieg wütet und die Franzosen jeden Moment weitere Invasionstruppen über den Kanal zu schicken drohen, hat er einen Posten als kommissarischer Zahlmeister bei der Miliz von Oxfordshire angetreten. Das ist zweifellos einträglicher als eine Pfarrei. Henry rechnet damit, im August freizubekommen, also einen Monat nach Elizabeths voraussichtlicher Niederkunft. Sein Regiment ist in East Anglia stationiert, und er schreibt, dass er den Verwandten in Kent unbedingt einen Besuch abstatten möchte, bevor er zur Familie nach Hampshire weiterreist. Aber Zuverlässigkeit war nie Henrys größtes Anliegen, und so zögert Jane, in sein Versprechen allzu große Hoffnung zu setzen.
Während sie sich durch schmale, zu beiden Seiten von haushohen Hecken begrenzte Landsträßchen schlängeln, sinniert Jane über die Unterschiede zwischen dieser Landschaft und der im heimatlichen Hampshire. Das flache Land hier lässt den blauen Himmel weiter erscheinen, und überall sieht man hinter sanften grünen Hängen die kegelförmigen weißen Spitzen von Hopfendarren aufragen. Alle paar Meilen steht eine Bauerntochter am Straßenrand und bietet Körbchen mit frisch gepflückten Erdbeeren oder Kirschen zum Verkauf. Jane hat beides schon gekostet und sich an Süße und feinem Geschmack der reifen Früchte erfreut.
»Einen eleganten Wagen hast du«, sagt sie in dem Bemühen, mit Neddy ins Gespräch zu kommen. Trotz seiner liebenswürdigen Art ist sie sich des Abstands zwischen ihnen sehr bewusst. Als ihre Eltern noch dabei waren, hat sie es nicht so deutlich gespürt, aber seit sie beide allein unterwegs sind, fühlt sie sich unsicher und befangen. Von ihren Scherzen versteht er offenbar nur die Hälfte, und ihn zu necken, wie sie es mit ihren anderen Brüdern tut, dafür ist sie zu schüchtern.
Neddy grinst, erfreut über das Kompliment. »Beth würde eine geschlossene Kutsche vorziehen. Die wäre für eine Familie auch würdiger, das gebe ich zu. Ein Phaeton ist was zum Schnellfahren. Vielleicht verwöhne ich sie nächstes Jahr und kaufe einen Landauer – wenn meine Einnahmen so sind wie erwartet. Dafür muss man immerhin einen eigenen Kutscher einstellen und sich ein zweites Paar Kutschpferde zulegen. Es ist nicht einfach, ein gut passendes Gespann zu finden. Die beiden hier haben mich sechzig Guineen gekostet. Aber als ich sie einmal gesehen hatte, musste ich sie einfach haben.«
»Das glaube ich sofort«, sagt Jane, lächelt und hält ihren Strohhut fest, damit er nicht davonfliegt. Die grazilen Stuten heben die Hufe im Gleichtakt, dazu schwingen die geflochtenen Schweife. Dass ihr Vater seine Kutsche verkaufen musste, erwähnt sie nicht. Nachdem das Parlament zur Finanzierung der Kriegsanstrengungen eine neue Steuer auf Kutschen eingeführt hat, blieb ihm nichts anderes übrig; nun sind sie, wenn sie irgendwohin fahren müssen, auf die Freundlichkeit ihrer Nachbarn angewiesen. Neddy ist in einer anderen Welt aufgewachsen; da führen Vergleiche zu nichts.
Jane war gerade mal drei, als Mr und Mrs Knight im Rahmen ihrer Hochzeitsreise auch die eigenen großen Ländereien besichtigten und dabei dem Pfarrhaus in Steventon einen Besuch abstatteten. Die Anspannung vorher wird sie nie vergessen, so ungewohnt streng hatte Mr Austen sämtliche Kinder ermahnt, sich während des Besuchs seines Cousins und Wohltäters von ihrer wohlerzogensten Seite zu zeigen. Es war Mr Knights Vater – allein dadurch enorm reich geworden, dass er mehrere wohlhabende, kinderlose Verwandte überlebt hatte –, der einst dem jungverheirateten Mr Austen die Pfründen Steventon und Deane übertragen hatte. Die beiden Zehnten zusammengenommen ergeben Einkünfte von etwas über zweihundert Pfund im Jahr, die Janes Familie seit drei Jahrzehnten ihr bescheidenes Auskommen und einen Platz in der respektablen Gesellschaft sichern.
Als die glanzvollen Gäste schließlich in einem Sechsspänner vorfuhren, waren die Kinder außer sich vor Aufregung. Mr Knight roch nach den Zitronenbonbons, die er freigiebig verteilte, und seine hübsche Braut, an die zwanzig Jahre jünger als er, trug einen wagenradgroßen Hut, der mit Straußenfedern geschmückt war. Beim Aufbruch des Paars waren Janes Eltern zweifellos erleichtert, während die beiden die Familie so entzückend fanden, dass sie anboten, einen der größeren Jungen mit auf die Reise zu nehmen. James war damit beschäftigt, sich auf Oxford vorzubereiten. Georgy mit seinen diversen Beeinträchtigungen wurde gar nicht in Erwägung gezogen. Henry war bereits als so aufmüpfig bekannt, dass man ihm die Verantwortung, die Familie würdig zu vertreten, nicht übertragen konnte. Es blieb der elfjährige Neddy, allgemein als das hübscheste und umgänglichste Austen-Kind gepriesen.
Und tatsächlich konnte Neddy mit seiner Liebenswürdigkeit die Knights derart für sich einnehmen, dass sie ihn zu ihrem Liebling erklärten und, nach beendeter Rundreise auf ihr prachtvolles Anwesen Godmersham Park in Kent zurückgekehrt, regelmäßig für längere Zeit zu sich einluden. Janes Mutter erklärte, da die Knights noch nicht mit eigenen Kindern gesegnet seien, halte sie es für ein Gebot der Nächstenliebe, ihnen Neddy von Zeit zu Zeit auszuleihen. Binnen vier Jahren musste Mr Knight zu dem Schluss gekommen sein, dass seine Ehe kinderlos bleiben würde, was zur Folge hatte, dass ihm nichts zu seinem Glück fehlte als ein Erbe. Also fragte er, ob er Neddy für immer ausleihen könne.
Der Kutscher von Godmersham Park kam mit der Nachricht den ganzen Weg geritten, an seinem Pferd war ein glänzend rotbraunes Pony festgemacht. Mr Austen sträubte sich zunächst gegen die Vorstellung, seinen Sohn zur Adoption freizugeben. Mrs Austen aber, mit ihrem großen Pragmatismus, gab ihrem Mann den vorausschauenden Rat: »Mein Lieber, ich glaube, du solltest dem Wunsch deines Cousins nachkommen und das Kind ziehen lassen.« Als Neddy auf sein Pony stieg und ihnen einen Abschiedsgruß zurief, standen Jane und ihre verbliebenen Geschwister in der Tür des Pfarrhauses und gaben sich alle Mühe, nicht zu weinen. Seit er ganz bei den Knights lebte, wurde Neddy aufgezogen als einer, der eines Tages ein vermögender Gentleman sein würde. Nun ist er der Erbe von Mr Knights Witwe, deren Landbesitz nach Schätzung von Mrs Austen achttausend Pfund im Jahr einbringt, und seine Frau Elizabeth ist die Tochter eines Baronets.
Die Entscheidung hat sich auch mit Blick auf die Aussichten der anderen Austens als klug erwiesen. Trotz der Großzügigkeit seines Gönners und seiner unermüdlichen Versuche, sein Einkommen durch das Bewirtschaften des Pfarrlandes und das Betreiben einer Jungenschule aufzubessern, klagt Janes Vater oft darüber, dass sein Bankguthaben das, was er regelmäßig ausgeben muss, praktisch nie übersteigt. Dass er Neddy nicht mehr zu berücksichtigen braucht, gewährt ihm mehr Spielraum, die Zukunft seiner anderen Kinder zu sichern. James und Henry konnten sich als Nachfahren eines Mitgründers des St. John’s Colleges über Freiplätze freuen, beide mit der Aussicht, ihrem Vater in den geistlichen Stand zu folgen; Frank dagegen wollte Marineoffizier werden. Und da Frank entschlossen war, sein Glück auf See zu machen, hat sich auch der jüngste Austen, Charles, so entschieden, denn er hat den verwegenen großen Bruder immer vergöttert. Weil Mr Austen bei der Admiralität niemanden kannte, der den Jungen einen Platz an Bord eines Schiffes hätte anbieten können, zahlte er die jährlich fünfzig Pfund, die die Ausbildung an der Royal Naval Academy in Portsmouth für jeden kostete. Er hätte seine Söhne unmöglich so in ihren Vorhaben unterstützen können, wenn er noch für die Laufbahn eines weiteren zuständig wäre.
Vor allem aber bietet Neddys Adoption die Aussicht auf eine sichere Zukunft. Das Vermögen mag noch nicht seins sein, aber die Familie hat schon gelernt, darauf zu zählen. Die Aussicht auf Neddys Wohlstand – in Verbindung mit seiner Gutherzigkeit – ist für Mr Austen eine Beruhigung, kann er doch davon ausgehen, dass für seine Frau, seine Töchter und auch das hilfloseste seiner Kinder, Georgy, weiterhin gesorgt sein wird, wenn er nicht mehr ist. Georgy, der stumm und von einem Anfallsleiden geplagt ist, wird in dieser Welt nie allein zurechtkommen, und für Jane und Cassandra, junge Damen der mittelprächtigen Sorte, wäre ein Aufstieg allenfalls durch eine vorteilhafte Heirat denkbar.
Nachdem Neddy aus dem Steventoner Pfarrhaus fortgezogen war, hat Jane sich eine Weile gefragt, ob sie und die übrigen Austen-Kinder wohl ebenfalls von bessergestellten Verwandten adoptiert würden. Von Rechts wegen hätte ihre Wahl auf Onkel James Leigh-Perrot fallen müssen, denn auch er hatte keine Nachkommen und ein gewisses Geschick, vermögende Leute zu beerben. Allerdings hatte Jane immer den Verdacht, dass sie bei ihrer – inzwischen verstorbenen – frivolen Tante Philadelphia Hancock glücklicher gewesen wäre. Tante Phila sorgte zwar mit ihrem planlosen Finanzgebaren dafür, dass das Geld, das ihr Mann, Mr Hancock, als Wundarzt bei der Ostindien-Kompanie verdiente, nie weit reichte, aber sie hatte die Gabe, äußerst großzügige Leute für sich zu gewinnen. So wurde sie, als sie einige Jahre nach ihrer Eheschließung in Bengalen lebte, zur bevorzugten Freundin des großen Warren Hastings. Als kaum ein Jahr später Janes Cousine Eliza zur Welt kam, erklärte Mr Hastings sich großzügig bereit, ihr Pate zu sein, und überschrieb ihr gar ein persönliches Vermögen von zehntausend Pfund. Wie anders hätte auch Janes Leben aussehen können, wäre sie eine unabhängige Frau mit eigenen Mitteln! Zunächst einmal wäre sie imstande gewesen, Tom zu heiraten.
Neddy reißt sie aus ihren Träumereien, indem er den Hut abnimmt und eifrig einem Schäfer winkt, der sich ein Stück entfernt auf seinen Stock stützt. »Wir sind gleich in Rowling!« Das alte Herrenhaus, in dem Neddy derzeit residiert, ist Teil des größeren Anwesens Goodnestone, das Elizabeths Familie gehört (die Bridges sprechen es Ganston aus, was klarstellen soll: Der Besitz ist so bekannt und angesehen, dass sie auf überzählige Silben verzichten können). »Das hier sind schon meine Felder. Ursprünglich haben zweihundert Morgen zum Haus gehört, aber an Mariä Verkündigung habe ich Sir William weitere vierhundert abgekauft. Mein Glück, dass der Baronet sich wenig für Landwirtschaft interessiert. Ihm ist es das Liebste, alles zu verpachten und darauf zu vertrauen, dass es gute Erträge bringt.«
Jane freut sich über die frisch geschorenen Schafe, die aussehen, als würden sie in ihrer Unterwäsche herumtollen. Zugleich fragt sie sich, ob Neddy mit seinem Auftreten als enthusiastischer Landwirt und Pächter in Wahrheit Mrs Knight demonstrieren will, dass er der enormen Verantwortung, die eines Tages von ihr auf ihn übergehen wird, gewachsen ist. Vielleicht, so denkt sie zum ersten Mal, hat er gehofft, dass er direkt nach dem Tod seines Adoptivvaters einen Teil von dessen Vermögen erbt und nicht warten muss, bis auch die Witwe das Zeitliche segnet. Schon als beurkundeter Eigentümer nur einer ihrer drei größten Ländereien (Steventon und Chawton in Hampshire sowie Godmersham in Kent) wäre er ein bedeutender Grundbesitzer; gehören ihm eines Tages alle drei, ist er einem Herzog ebenbürtig. »Wie schön! Vater wird alles ganz genau wissen wollen, du musst mir also so viel wie möglich erzählen.«
»Meine Herde ist von einer anderen Rasse als die in Steventon, dunkler im Gesicht und ohne die Hörner, das ist dir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Canterbury-Wolle ist die feinste der Welt. Wären da nicht die abscheulichen Exportsteuern, könnte ich auf dem Kontinent für die Wolle dieser Tiere ein hübsches Sümmchen bekommen.«
»Ich wusste gar nicht, dass ich mich in so erlesener Gesellschaft befinde. Wärst du so freundlich, mich deinen Mutterschafen vorzustellen? Sag ihnen, ich bin ganz begierig, ihre Bekanntschaft zu machen.«
Neddys Lachen übertönt das Rattern der Räder. »Ich bin so froh, dass du da bist. Beth und die Kinder waren entzückt, als du angeboten hast zu kommen.«
»Und ich bin ebenfalls froh.« Jane senkt den Kopf, um ihr Gesicht vor noch mehr Wind und Sonne zu schützen, als es ohnehin schon abbekommen hat. Unter dem Saum ihres Kleides schauen die Schuhspitzen hervor. Im grellen Sonnenlicht sieht man, wie abgestoßen das Leder der Halbstiefel ist. Sie wünscht, sie hätte das neue Hausmädchen gebeten, sie vor ihrer Abreise zu schwärzen. Sally, das vorige Hausmädchen, hätte das unaufgefordert getan. Leider hat Sally die Austens sitzen lassen, um zu heiraten und ihren eigenen Hausstand zu gründen, und das stämmige Mädchen für alles, das Janes Mutter statt ihrer eingestellt hat, scheint schon zu schmollen, wenn es nur überhaupt etwas tun soll.
Neddy lässt die Peitsche über den Stuten knallen. »Ich lasse sie galoppieren, was meinst du? Wollen sehen, ob wir dann genauso schnell sind wie damals, als ich dich immer in ein Tuch gewickelt und die Pfarrhaustreppe hinuntergezogen habe.«
Die plötzliche Beschleunigung drückt Jane gegen die Rücklehne ihres Sitzes. Sie packt Neddys Ellbogen und schreit halb lachend auf, als sie sich an das ausgelassene Spiel erinnert. So viele Jahre waren sie nicht mehr zusammen, er hat ihr wirklich gefehlt. Es wird guttun, ein paar Wochen hier zu sein und ihn und seine junge Familie besser kennenzulernen. Vielleicht gelingt es ihr, die Kluft zwischen ihnen zu schließen, und wenn der Sommer zu Ende geht, wird Neddy ihr genauso vertraut sein wie die anderen Brüder auch. Und, etwas egoistischer gedacht, da sie in seinem schönen Haus ein Zimmer für sich haben und nicht durch die üblichen häuslichen Pflichten abgelenkt sein wird, dürfte sie eigentlich mit den Schwestern gute Fortschritte machen.
Rowling House thront am Ende einer langen, kurvenreichen Auffahrt in einer gepflegten Parkanlage. Aus dem Schieferdach, das in der Nachmittagssonne schimmert, ragen hübsche Backsteinschornsteine auf, und an der Fassade ranken blassrosa Rosen und verströmen ihren süßen Duft. Es gibt einen Seitenflügel, in dem ohne Weiteres eine Köchin, ein Diener und zwei Hausmädchen unterkommen, und außerdem eine separate Remise und Stallungen. In Neddys Briefen hieß es, das Haus habe für eine Familie gerade die richtige Größe. Jane kann ihm nur zustimmen: Es ist herrlich riesig.
Die Kutsche kommt zum Stehen, und hinter der schwarz lackierten Eingangstür steckt Elizabeth den Kopf hervor. Mit ihren vierundzwanzig ist die Schwägerin gerade mal drei Jahre älter als Jane, aber die feinen Linien um die dunklen Augen verraten, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Ehe schon gealtert ist. Sie ist schlank und hat einen langen Hals, wodurch sie ein wenig aussieht wie ein besonders neugieriger Schwan. In dem Hauskleid mit der hohen Taille ist ihr kaum anzusehen, dass sie ein Kind erwartet – bis sie sich zur Seite dreht. Da scheint es angesichts des weit vorspringenden Bauches ein Wunder, dass sie nicht längst niedergekommen ist. »Edward! Wo warst du? Ich habe dich gestern erwartet. Nach Dartford und zurück dauert es doch keine vier Tage und Nächte.«
»Nun bin ich ja da, Liebes. Gräme dich nicht.« Neddy springt vom Bock und streckt Jane die Hand hin, sobald seine Sohlen den Kies berühren. Sie greift danach und bemüht sich – unter dem aufmerksamen Blick ihrer Schwägerin –, möglichst elegant hinunterzusteigen. Elizabeth war auf einer furchtbar teuren Londoner Schule für junge Damen, von der sie behauptet, es gebe dort eine ausrangierte Kutsche allein zu dem Zweck, dass die Schülerinnen lernten, auszusteigen, ohne mehr zu offenbaren als die wohlanständigen drei Zentimeter Strumpf oberhalb des Knöchels.
»Jane.« Elizabeth bietet ihr die Wange dar. Jane küsst die Luft daneben. Auf Elizabeths Hüfte sitzt ein Kleinkind, das Jane misstrauisch beäugt. Und hinter den Röcken der Mutter spähen zwei weitere Blondschöpfe hervor, denen wiederum zwei junge Frauen in genau gleichen grauen Kleidern auf den Fersen sind.
»Das ist nicht Tante Cassy«, flüstert das älteste Kind, ein vierjähriges Mädchen, der Mutter vernehmlich und sichtlich enttäuscht zu. Der kleine Junge daneben starrt Jane unverhohlen feindselig an. Einzig Conker, Neddys weiß-braun gefleckter Spaniel, begrüßt sie mit glaubhafter Begeisterung. Er wedelt eifrig mit dem Schwanz und springt so hoch, dass man meinen könnte, er sei eine Marionette, die von unsichtbaren Fäden emporgezogen wird.
»Seid nicht so schüchtern, Fanny und Ted. Wir haben euch doch erzählt, dass dieses Mal Tante Jane kommt. Wir haben es ihnen erzählt, oder? Tante Cassy kommt uns bestimmt auch bald wieder besuchen.« Neddy nimmt beide Kinder gleichzeitig hoch und präsentiert sie eins nach dem anderen. Sie riechen nach Milch, und ihre Löckchen sind weich wie der Flaum eines frisch geschlüpften Kükens. Während sie wild strampeln, um sich zu befreien, versucht Jane, ihnen ein Küsschen zu geben, ohne größere Blessuren davonzutragen. Sobald Neddy die beiden wieder abgesetzt hat, nimmt er Elizabeth das Kleinkind ab. »Und was sagst du zu unserem Georgy? Ist er schon so drall wie sein Namensvetter?«
»Iss? Leiner Dordy?«, lispelt das Kind.
»Genau, du bist der Kleine Georgy.« Jane lacht. »Aber dein Papa hat recht. Gar nicht mehr lange, und du bist so groß wie dein Onkel Georgy.« Sie streckt die Hand aus und streichelt die rosige Wange. Der Kleine lacht und gluckst und zieht den Kopf ein, bis dieser fast in den kleinen Speckrollen verschwindet. Jane ist erleichtert, dass wenigstens ein Kind ihr nicht grollt, weil sie die falsche Tante ist.
Während Elizabeth zuschaut, wie das eine Kind von ihrem Mann im Arm gewiegt wird und die beiden anderen sich an seine Beine hängen, entspannen sich ihre Züge. »Nun komm erst einmal herein«, sagt sie und legt Jane eine kühle Hand aufs Kreuz. »Wir haben dir das grüne Zimmer hergerichtet, mit Blick auf den Teich. Heute Abend essen wir im Familienkreis, aber für die restliche Zeit deines Besuchs habe ich große Pläne. Die Gesellschaft von Kent ist sehr lebhaft, und ich habe schon eine Liste mit allen Familien, denen ich dich unbedingt vorstellen muss.«
»Aber du darfst dir keine Umstände machen«, erwidert Jane. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen, nicht, um dir noch mehr Arbeit zu machen.
Elizabeth blinzelt. »Um mir zu helfen?«
»Ja, nun ja, mit der …«, Jane zeigt vage auf Elizabeths gewölbte Leibesmitte, »… Niederkunft. Ich werde die Kinder füttern und baden, mich um die Flickwäsche kümmern, Besorgungen für dich machen. Alles, was sonst Cassandra übernimmt.«
Elizabeth weist auf die beiden jungen Frauen, die ihnen ins Haus folgen. »Für diese Dinge haben wir Bedienstete, Jane. Das sind Susan und Susan.«
»Sie heißen beide Susan?«
Die größere von beiden zuckt mit den Schultern, während die jüngere Jane nur anstarrt.
»Und was meine Niederkunft angeht«, fährt Elizabeth fort, »ich bin nicht Anne Boleyn. Ihr müsst mich nicht weich einpacken und in einem mit Wandteppichen behängten kleinen Raum wegsperren. Bis das Kind kommt, sind es noch sechs Wochen. Damit haben wir alle Zeit der Welt, dich hier einzuführen.«
»Einzuführen?« Jane tritt über die Schwelle in die große Halle. Trotz des milden Sommerwetters flackert im Kamin ein kleines Feuer. Sie löst das schwere Spitzenband unter ihrem Kinn und nimmt den Bergère-Strohhut ab. Ihre braunen Locken kleben ihr feucht an der Stirn.
»Ja, in unsere Kreise einzuführen.« Elizabeth nimmt den Hut mit spitzen Fingern und reicht ihn dem größeren Dienstmädchen, als wäre es ein schmutziger Lumpen. »Du bist die Schwester des Erben von Godmersham. Es gibt hier etliche Gentlemen, die noch zu haben sind und dir gewiss sehr gern vorgestellt werden.«
Jane beschleicht der Verdacht, in eine Falle getappt zu sein. Sie schluckt. Man könnte meinen, sie sei in der Erwartung nach Kent gekommen, sich hier auf die für eine Dame einzig denkbare Art eine Zukunft zu sichern. »Aber ich habe auf einen ruhigen Sommer mit euch und den Kindern gehofft. Und vielleicht auf ein bisschen Zeit zum Schreiben. Ich habe Catherine und Erste Eindrücke mitgebracht, um euch abends daraus vorzulesen.«
»Erste was?« Elizabeth sieht sie verständnislos an.
»Erste Eindrücke. Mein jüngstes Werk. Und mit dem nächsten, Die Schwestern, hoffe ich während der Zeit hier ein gutes Stück voranzukommen.«
»Ich dachte, du wärst über diese Flausen im Kopf inzwischen hinaus.« Elizabeth stemmt eine Hand in die Hüfte. »Bedaure, für solchen Unfug wirst du keine Zeit haben.«
»Aber …« Jane sucht nach einer passenden Erwiderung, doch die Worte bleiben ihr im Halse stecken. Nicht einmal ihre Mutter redet so abfällig über ihre literarischen Ambitionen. Sie wagt es nicht, Elizabeth klarzumachen, dass sie sich diese Ideen keineswegs aus dem Kopf schlagen, sondern mehr denn je danach streben wird, ihre Arbeiten gedruckt zu sehen.
»Das ist deine Chance, gut unter die Haube zu kommen. Wir verkehren in der vornehmsten Gesellschaft von ganz East Kent«, fährt Elizabeth fort, ohne zu merken, wie kränkend ihre Bemerkung war. Jane kommt der Gedanke, dass Neddy vielleicht ganz gern etwas länger unterwegs war, um Elizabeths spitzer Zunge zu entgehen. »Und was das Vorlesen angeht: Neddy spielt lieber Karten, und ich bin, wenn die Kinder im Bett sind, vollkommen erschöpft.«
»Es nützt nichts.« Neddy stützt sich mit einer Hand an einem Eichenbalken ab, während er mit der anderen die Stiefel von den Füßen streift. »Wenn meine Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist es einfacher, man gehorcht, statt Widerstand zu leisten. Das kann ich aus Erfahrung sagen.«
Elizabeth strahlt, als hätte ihr Mann ihr das denkbar größte Kompliment gemacht. »Ich nehme an, du willst dich umziehen.« Sie mustert Janes Reisegewand mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: Wage es nicht, so an meinem Tisch zu erscheinen. »Falls du nicht viel mitgebracht hast, macht das nichts. Ich habe ein paar alte Kleider aus der Zeit vor meiner Hochzeit herausgelegt. Bis ich da wieder hineinpasse, ist die Mode sicher eine ganz andere. Wenn wir nicht aufpassen, sitzt die Taille bald auf Höhe der Ohrläppchen.«
»Das ist wirklich nicht nötig.« Jane, der der Schweiß ausbricht, windet sich aus ihrem staubigen Mantel. Sie will ihn an einen der Haken neben der Tür hängen, doch die jüngere Susan stellt sich ihr in den Weg und reißt ihr den Mantel aus der Hand. Der Tag hat ohnehin nicht genug Stunden, die sie dem Schreiben widmen kann. Keinen Augenblick ihrer kostbaren freien Zeit wird sie dafür vergeuden, sich in das einführen zu lassen, was Elizabeth unter angenehmer Gesellschaft versteht. »Du darfst dir meinetwegen keine Umstände machen. Ich bin nicht im Geringsten auf Gesellschaft aus. Vor allem steht mir derzeit nicht der Sinn danach, irgendwelche Anwärter auf meine Hand zu unterhalten.«
»Das sind keine Umstände. Für meine Schwestern würde ich das Gleiche tun. Und uns war klar, dass du nach der Enttäuschung mit diesem jungen Iren niedergeschlagen bist.«
»Ach ja?« Jane greift nach dem Treppenpfosten und fragt sich, wie die Kunde von ihrer unglückseligen Liebschaft bis nach Kent und an die Ohren ihrer Schwägerin gedrungen sein mag. »Erzähl, ist die Geschichte in der Kentish Gazette ausgebreitet worden?«
»Sei nicht albern. Deine Mutter hat uns geschrieben und davon berichtet. Ich verstehe, dass das ein Schlag war, aber du darfst dich nicht von einem schlechten Blatt gleich aus dem Spiel werfen lassen.«
Jane hätte es wissen müssen. Elizabeth wählt die gleichen Worte wie ihre Mutter, die die fehlgeschlagene Liebesaffäre in der Regel die Enttäuschung nennt – als hätte es sich um ein kaltes Abendessen gehandelt, wo Jane einen Braten erwartet hatte. Ich weiß, es ist eine Enttäuschung, Liebes, immerhin hast du mehr erwartet. Aber lass es dir trotzdem schmecken.
»Du hast weiß Gott genug Zeit damit verschwendet, in Steventon Trübsal zu blasen«, fährt Elizabeth fort. »Du bist eine junge Dame, Jane, keineswegs unansehnlich, und empfiehlst dich durch einen gewissen Charme. Habe ich zumindest gehört. Höchste Zeit, dich zu präsentieren, bevor es zu spät ist.«
Offensichtlich hat Mrs Austen Elizabeth aufgetragen, ihr während der Zeit, die sie hier ist, einen Ehemann zu suchen. Am liebsten würde sie verlangen, dass man sie auf der Stelle zur nächstgelegenen Poststation bringt. Als sie sich von ihren hinterlistigen Eltern verabschiedet hat, waren die im Begriff, nach Deptford zu fahren, weil sie dabei sein wollen, wenn Franks neues Schiff, die Triton, vom Stapel gelassen wird. Nach vielen erfolglosen Bewerbungen bei der Admiralität ist er endlich von seinem früheren Schiffskameraden Captain Gore als Erster Lieutenant an Bord einer neuen 32-Kanonen-Fregatte geholt worden. Wenn sie sich beeilt, könnte Jane die Eltern einholen und darauf bestehen, dass sie sie zurück nach Hampshire mitnehmen. Aber dort müsste sie sich Cassandras Kummer stellen. Bei diesem Gedanken sinkt ihr der Mut. Vielleicht könnte sie stattdessen als blinder Passagier auf der Triton mitfahren? Womöglich kann Captain Gore einen Schreiber brauchen, und Jane hat das Gefühl, dass das Leben auf See ihr durchaus zusagen würde. Nein, das wäre nicht gut. In seinem Streben nach Beförderung kennt Frank keine Gnade. Er würde sie wahrscheinlich als Eindringling bloßstellen und auspeitschen lassen.
Wie sie es hat kommen sehen: Sie ist wahrhaftig hier gestrandet. Sie schließt die Augen und holt sehr tief Luft. »Und wem genau soll ich präsentiert werden?«
»Der Gesellschaft, natürlich!« Elizabeth legt den Kopf schräg. »Und wenn du dich wirklich nützlich machen willst, wäre Mrs Knight diejenige, bei der wir deine Unterstützung gebrauchen könnten.«
»Warum? Ist sie krank?« Wann immer Mr und Mrs Austen vorsichtig nachfragen, wann Neddy wohl sein Erbe antreten kann, wobei es dann auch nötig sein wird, dass er seinen Namen in »Knight« ändert, um Squire von Chawton zu werden, versichert er, seine Gönnerin erfreue sich bester Gesundheit. Jane ist weit davon entfernt, Mrs Knight Böses zu wünschen, aber sie ahnt, dass ihr Bruder über einem zu langen Warten auf die eigene Unabhängigkeit bitter werden könnte, wie ein Fähnrich zur See, der die Prüfung zum Lieutenant bestanden hat, aber einfach nicht in eine Offiziersposition berufen wird.
Elizabeth schaut kurz zu ihrem Mann. »Hast du deine Familie nicht über die Lage in Kenntnis gesetzt?«
Neddys freundliches Gesicht verdüstert sich. »Ich hatte die Hoffnung, die Sache hätte sich bis zu meiner Rückkehr in Luft aufgelöst, sodass ich sie gar nicht erwähnen muss.«
»In Luft aufgelöst?«, ruft Elizabeth. »Das hat sie keineswegs. Und die Wahrscheinlichkeit ist auch nicht groß, dass es noch geschieht. Ich bin sicher, diese Hyäne wird dich um dein gesamtes Vermögen bringen.«
Jane zuckt zusammen. So vulgär kann ihre vornehme Schwägerin doch unmöglich von Mrs Knight sprechen! »Wer will Neddy um sein Vermögen bringen?«
»Niemand.« Neddy macht einen Schritt auf seine Frau zu. »Müssen wir das jetzt besprechen? So schlimm ist es ja nun auch nicht.« Hinter ihm nimmt das große Dienstmädchen die Kinder an der Hand und führt sie aus der Halle, während die Kleinere in dem schlecht verhohlenen Versuch, noch etwas Interessantes aufzuschnappen, sich hier und da zu schaffen macht.
»Das wird es aber, wenn du nichts tust.« Elizabeth sticht mit dem Zeigefinger gegen die Brust ihres Mannes. »Mrs Knight hat sich nämlich einen neuen Liebling zugelegt.«
»Einen Liebling?« Jane schnappt nach Luft. Könnte Mrs Knight, die sich so mir nichts, dir nichts einen Sohn geangelt hat, diesen genauso leicht wieder vor die Tür setzen? Wenn sie sich so spät noch entscheidet, einen anderen vorzuziehen – jemanden aus ihrer eigenen, weitverzweigten Familie zum Beispiel –, sind Neddys Aussichten zunichte. Mehr noch, Janes Eltern wäre von heute auf morgen das Polster entrissen, auf das sie sich auf ihre alten Tage zu stützen hoffen. Neddy ist nicht der Einzige unter ihren Brüdern, der bereit ist, seine Angehörigen zu unterstützen, nur könnte er der Einzige sein, der sich das auch leisten kann. »Aber Mr Knight hat doch verfügt, dass sie alles dir hinterlassen soll, Neddy. Er hat es versprochen. Seine Witwe würde doch gewiss nicht von den Absichten ihres verstorbenen Gatten abweichen, oder?«
Elizabeth greift sich an die Stirn, als sei ihr schwindelig. »Was taugt ein Versprechen, das nicht in aller Form schriftlich niedergelegt ist? Sie kann über den Besitz verfügen, wie es ihr beliebt, Jane. Wenn dein Bruder nicht bald etwas unternimmt, könnte Mrs Knight ihr neues Herzblatt zur nächsten Herrin von Godmersham Park machen.«
Neddys Ohren haben sich dunkelrosa verfärbt. Die Direktheit seiner Frau ist ihm zutiefst unangenehm. »Du bist hysterisch. So weit wird es nicht kommen.«
»Und warum wirft sie dieses kleine Luder dann nicht endlich hinaus?«
»Weil das arme Ding anscheinend mittellos ist.«
»Das arme Ding?« Elizabeth legt eine Hand auf ihren vorstehenden Bauch und krümmt sich wie unter Schmerzen. »Man sollte die falsche Schlange in die nächste Besserungsanstalt werfen und die Wahrheit aus ihr herausprügeln.«
Jane mag es gar nicht, in diesen häuslichen Zwist hineingezogen zu werden. So etwas ist sie nicht gewöhnt. Ihre Eltern streiten kaum einmal, und James scheint ganz zufrieden damit, nach Marys Pfeife zu tanzen. »Wer ist denn diese junge Frau?«
»Sie ist niemand. Ich regele das.« Neddy legt den Arm um seine Frau und versucht, sie zu besänftigen. »Hör auf damit. Denk an das Kind. Das kann für das Kleine nicht gut sein.«
»Ich denke ja an das Kind! Ich denke an alle deine Kinder. Denn sie sind es, die demnächst mittellos sein werden. Du musst etwas unternehmen, Edward! Oder willst du lieber uns ohne einen Penny dastehen lassen, als deine Mutter daran zu erinnern, welche Verpflichtungen sie dir gegenüber hat?«
Jane massiert sich die Schläfen, sie bekommt Kopfschmerzen von dem Durcheinander. »Ist sie eine Nichte oder eine Cousine von Mrs Knight?«
Elizabeth hat offensichtlich Mühe, Luft zu bekommen. »Nichts da, Verwandtschaft. Mrs Knight in ihrer unendlichen Güte hat eine ausländische Prinzessin eingeladen, bei ihr zu wohnen.«
»Eine Prinzessin?« Jane schaut fragend zu Neddy, doch der ist damit beschäftigt, Elizabeth zu einer Holzbank zu führen. Das ist doch lächerlich. Hat die Anstrengung, Neddy in so kurzer Folge so viele Kinder zu schenken, Elizabeth um den Verstand gebracht? »Eine Prinzessin wäre doch gewiss nicht auf die Großzügigkeit von Mrs Knight angewiesen.«
»Oh, aber praktischerweise hat diese spezielle Prinzessin sich mit ihrer noblen Familie überworfen. Sie hat niemanden auf der Welt – außer Mrs Knight. Und deinem Bruder, der ihr sehr gern auch noch das Brot seiner Kinder zukommen lassen würde.«
»Das reicht«, fährt Neddy auf, so heftig, dass Jane erschrickt. Sie kann sich nicht erinnern, je erlebt zu haben, dass er derart die Stimme erhoben hätte. »Du bist offensichtlich unwohl, meine Liebe. Ich werde dich nach oben bringen, damit du dich ins Bett legen kannst.« Während Elizabeth neben ihm unverändert schwer atmet, wendet er sich in freundlicherem Ton an Jane. »Würdest du ihr bitte einen Tee holen?«
Jane nickt und blickt dem Paar nach, als es die Treppe aus der Zeit von Charles II. hinaufgeht. Alle paar Stufen bleibt Elizabeth stehen, lehnt sich an das kunstvoll geschnitzte Geländer und zetert über die Tatenlosigkeit ihres Mannes. Jane überkommt die düstere Ahnung, dass ihr Aufenthalt in Kent wohl nicht so erholsam sein wird, wie es ihr vorgeschwebt hat. Sie ist vor Cassandras Elend geflohen und direkt in Neddys hineinspaziert. Wenn stimmt, was Elizabeth behauptet, dann ist sie mit gutem Grund beunruhigt. Neddy hat alles getan, um seiner Adoptivmutter zu gefallen; ihn zu diesem späten Zeitpunkt zugunsten von jemand anderem fallen zu lassen wäre wirklich grausam. Was geht nur in Mrs Knight vor? Warum macht sie sich zum Opfer einer mutmaßlichen Glücksjägerin? Und was kann sie, Jane, tun, um sie aus den Klauen dieser verschlagenen Person zu befreien?
Als Jane am nächsten Morgen aus unruhigem Schlaf erwacht, ist sie fest entschlossen, ihren Bruder allein zu sprechen und ihm zu entlocken, ob es wirklich stimmt, dass Mrs Knight sich von ihm abwendet. Elizabeth will sie nicht weiter danach fragen, damit der häusliche Frieden nicht noch einmal gefährdet wird. Nach der Szene in der Halle haben ihre Gastgeber gestern entschieden, auf ein förmliches Abendessen zu verzichten und sich lieber zeitig zurückzuziehen, vermutlich, um ungestört weiterstreiten zu können. Die größere Susan hat Jane einen Toast mit Käse serviert, den sie, nur in Gesellschaft der Kleinen und des Mädchens, im Kinderzimmer gegessen hat.
Durch Nachfragen hat sie in Erfahrung gebracht, dass die große Susan auf den Namen Kitty getauft ist und aufgrund ihres Alters und ihrer Erfahrung den höheren Rang von beiden hat, während ihre jüngere Kollegin Alice heißt, schon länger bei der Familie in Diensten steht und deshalb Kitty schrecklich übel nimmt, dass sie ihr vorgesetzt sein soll. Laut Kitty hat während Elizabeths Kindheit eine Susan auf Goodnestone gearbeitet, weshalb sie es seither vorzieht, einfach alle Hausmädchen Susan zu nennen. Bislang hatte Jane kein großes Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, einem großen Haushalt vorzustehen, aber sie ist sich doch sehr sicher, dass selbst sie in der Lage wäre, sich die richtigen Namen derjenigen, die unter ihrem Dach wohnen, zu merken.
Sie findet ihren Bruder schließlich in seinem Arbeitszimmer verschanzt. Als sie den Türknauf drehen will, stellt sie fest, dass er sich eingeschlossen hat, etwas, das in Steventon undenkbar wäre. So beschäftigt ihr Vater auch sein mag, er würde niemals seiner Frau oder einem seiner Kinder den Zutritt zu seiner Bibliothek verwehren.
»Ned?«, ruft sie, leise, um nicht das ganze Haus auf sich aufmerksam zu machen.
»Jetzt nicht, Jane. Ich habe zu tun«, antwortet er barsch.
Es ist Sonntag, also wird er nicht arbeiten. Auch ihr Vater legt sonntags stets seine Wirtschaftsbücher beiseite, um den Sabbat einzuhalten. Ihr Bruder geht ihr aus dem Weg. Auf einmal tut er ihr leid. Es muss ihm schrecklich sein, seine Schwester zu ein wenig Teilhabe an seinem Glück eingeladen zu haben und dann festzustellen, dass dieses plötzlich infrage steht. Neddy taucht erst aus seinem Arbeitszimmer auf, als es Zeit wird, seine Familie in den Phaeton zu zwängen und die kurze Strecke zum Gottesdienst in der schönen Natursteinkirche Holy Cross auf Goodnestone zu fahren. Es dauert so lange, bis die Pferde richtig angeschirrt sind und Elizabeth sich und die Kinder für die zugige Fahrt ausstaffiert hat, dass Jane denkt, zu Fuß hätten sie den Weg schneller zurückgelegt. Wie es die Susans und der restliche Haushalt tun, und die sind früher am Ziel, obwohl sie erst aufgebrochen sind, nachdem die Familie in die Kutsche gestiegen ist.
Neddys missmutige Art vergällt Jane die ganze Fahrt. Wo ist ihr warmherziger Bruder geblieben? Statt seiner sitzt da ein gestrenger Patriarch, der seine quengelnden Kinder zurechtweist und entnervt seufzt, als seine Frau lamentiert, welchen Gefahren für ihre Gesundheit sie alle in einer offenen Kutsche ausgesetzt sind.
Beim Betreten der Kirche macht Elizabeth sie mit den ersten drei Baronets von Goodnestone sowie deren Gemahlinnen bekannt, die allesamt in der Familiengruft liegen. Elizabeths Vater hat ein hohes Alter erreicht und seinen Lebensabend genossen, ihre Mutter dagegen ist zwei Wochen nach der Geburt ihres elften Kindes plötzlich gestorben, vermutlich in dem befriedigenden Gefühl, dass sie ihren Teil der Abmachung erfüllt und sich damit wohl einen Platz im Königreich der ewigen Ruhe verdient hatte. In dieser Welt ist die Arbeit einer Frau, auch die im ehelichen Bett, schließlich nie getan. Nachdem Jane ein paar Minuten verlegen in der ersten Reihe gesessen hat, von der kleinen Gemeinde von Bauern und Landarbeitern neugierig beäugt, besinnt sich Elizabeth und stellt sie ihrem Bruder, dem vierten, lebenden Baronet Sir William, sowie ihrer Schwester Henrietta vor.
»Und, sind Sie auf dem Weg hierher durch London gekommen, Miss Austen?«, fragt Sir William. Mit seinem gewichtigen Auftreten und dem silbrigen Haar an den Schläfen scheint er der Generation vor Elizabeth anzugehören, wohingegen Henrietta, obwohl schon an die dreißig, ihrer jüngeren Schwester in Aussehen und Ausstrahlung sehr ähnlich ist. Jane führt das darauf zurück, dass ihr Mutterpflichten erspart geblieben sind.
»Nein, Sir. Wir wollten so schnell wie möglich ans Ziel gelangen und haben deshalb die südliche Route genommen, durch Croydon.« Ihr kommt die Idee, dass sie sich, da Neddy keine Anstalten macht, mehr über Mrs Knights Hausgast preiszugeben, an die Verwandten seiner Frau halten und diese fragen könnte, was sie von der Fremden halten. Vor allem, da Elizabeth vollauf damit beschäftigt ist, ihre Kinder zum Leisesein anzuhalten, und Neddy, der sich ans entfernte Ende der Reihe gesetzt hat, ebenso damit beschäftigt scheint, seine Kinder zu ignorieren.
»Croydon?«, ruft Sir William entsetzt aus. »Aber das muss eine schreckliche Strecke sein.«
»Würden Sie denn empfehlen, durch die Stadt zu fahren?« Im Stillen muss Jane zugeben, dass sie sehr gern durch London gekommen wäre. Ein Theaterbesuch hätte ihre Stimmung enorm aufgehellt. Aber ihr Vater hat unterwegs wiederholt angemerkt, dass die Anstrengungen des Parlaments, den Krieg zu finanzieren, und dazu die jüngsten Bürgerunruhen das Reisen zu einer gefährlichen und kostspieligen Angelegenheit gemacht haben. Es wäre ihr ungehörig vorgekommen, sich über einen Mangel an Unterhaltung zu beschweren, wenn anderswo im Königreich die Leute rebellierten, weil es ihnen an Brot mangelte.
»Ganz und gar nicht. Die Metropole sollte um jeden Preis gemieden werden.« Sir William hört sich an wie das Echo von Mr Austen.
Jane stellt sich die Karte von Südostengland vor und überlegt, wie sie von Hampshire nach Kent hätte gelangen sollen, ohne entweder durch Surrey oder durch London zu kommen. Natürlich hatte sie dabei nichts mitzureden. Die Einzelheiten der Reise haben ihr Vater und Neddy miteinander ausgemacht. »Welche Route würden Sie also empfehlen?«
»Keine, Miss Austen. Ich würde empfehlen, zu Hause zu bleiben.«
»Oh …« Offensichtlich hat sie den Baronet so verstimmt, dass er wünscht, sie hätte das heimatliche Hampshire nie verlassen. Wenn es ihr nicht gelingt, sein Vertrauen zu gewinnen, wird er für ihre Nachforschungen nicht von Nutzen sein. Noch dazu steht sie während des ganzen Gesprächs unter Beobachtung durch Henrietta, die sie mit den gleichen skeptischen dunklen Augen mustert wie Elizabeth. Sie hat sich wohl daran gewöhnt, die einzige unverheiratete Schwester zu sein, und ist nicht gewillt, sich diesen Status, so wenig wünschenswert er auch sein mag, von einer anderen streitig machen zu lassen. Die Sorge kann sie sich sparen. Jane wird ihre Zeit als unnützes Anhängsel hier gut überstehen, weil sie weiß, dass ihr Aufenthalt bald wieder vorüber sein wird.
»Dieser Drang der jungen Leute, unaufhörlich unterwegs zu sein, ist mir unbegreiflich.« Sir William schüttelt den Kopf. »Ich habe mich sehr darauf gefreut, meinen jüngeren Bruder bald wieder sicher aus Oxford hierzuhaben, und nun teilt er mir mit, dass er vorhat, den Sommer mit einem Freund da oben in den schottischen Highlands zu verbringen. Obendrein hat meine Frau beschlossen, ihre Verwandten in Merseyside zu besuchen. Ich riet ihr dringend ab, wies darauf hin, dass auf den Straßen nach Norden zahlreiche Gefahren lauern und die Luft in der Gegend um Liverpool äußerst schlecht ist, doch sie wollte nicht hören.«
Henrietta tätschelt ihrem Bruder die Hand. »Das bereut sie jetzt sicher, William.«
»Oje«, sagt Jane. »Ihr ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?«
»Zugestoßen?« Sir William hebt eine Braue. »Nein. Sie schreibt, dass sie eingeladen wurde, nächstes Jahr wiederzukommen.«
Jane fragt sich, ob Lady Bridges die Gefahren des Reisens vielleicht auf sich nimmt, weil sie weiß, dass ihr Gemahl auf jeden Fall zu Hause bleiben wird. Dann beschließt sie, seine Bedenken hinsichtlich der Sicherheit auf Englands Straßen zu nutzen, um zu ergründen, was er von Mrs Knights Hausgast hält. »Es sind in der Tat schwierige Zeiten für Reisende – mit den Gefahren, die überall lauern, den Aufständen, die den Frieden in unseren Städten bedrohen, der Meuterei bei der Flotte in Spithead und Nore … Ich muss sagen, es scheint mir dennoch außerordentlich großzügig von Mrs Knight, dass sie eine Fremde bei sich aufnimmt, nur um ihr die Strapazen weiteren Reisens zu ersparen. Finden Sie nicht auch?«
»Durchaus, durchaus – aber wenn man bedenkt, wie übel der Prinzessin mitgespielt wurde … Ich kann verstehen, dass sie Mitleid mit ihr hat. Wenn eine Person von Rang derart ihres Standes und ihres Besitzes beraubt wird, ist das ein Affront gegen die bestehende Ordnung.«
Elizabeth beugt sich vor – angesichts ihres Zustands kein geringes Kunststück – und zischt ihren Bruder an: »Ich habe es dir bereits mehrmals gesagt, William. Dieses Geschöpf ist keine Prinzessin. Untersteh dich, sie überall als eine zu bezeichnen.«
Jane erstarrt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass Elizabeth lauscht, und ganz bestimmt will sie nicht, dass es ihretwegen in der Familienkirchenbank zum Aufruhr kommt.
Sir William schaut konsterniert drein. »Aber Dr. Wilmot sagt, sie ist eine.«
»Seit wann gibst du etwas auf das, was Dr. Wilmot sagt?« Obwohl sie sich bemüht zu flüstern, ist Elizabeths scharfe Stimme vermutlich im ganzen Kirchenschiff zu hören. »Hast du endlich angefangen, weniger Fleisch zu essen? Wenn du dich daran nicht hältst, wirst du deine Gicht nie los.«
»Meine Gicht tut nichts zur Sache.« Sir William wischt ihre Sorgen um seinen Gesundheitszustand mit einer Handbewegung fort. »Wie sonst wäre es dazu gekommen, dass man die junge Dame allein über den Strand wandernd fand? Dr. Wilmot hat mir erzählt, dass ihr Schiff im Swale sank.«
»Sie ist eine hinterhältige kleine Diebin, die versucht, Edward um sein Erbe zu bringen. Nichts anderes«, gibt Elizabeth zurück.
»Schiff?«, fragt Jane, gespannter denn je. »Die Prinzessin hat einen Schiffbruch mitgemacht?«
»Ja.« Sir William nickt. »Ein wahres Wunder, dass sie überlebt hat. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ans Ufer zu schwimmen.«
»Nein, so war es ganz bestimmt nicht. Diese Heldentat hat sie erfunden. Das wäre gar nicht möglich. Erklär’s ihm, Edward.«
»Genug jetzt. Dies ist weder die Zeit noch der Ort für müßiges Gerede«, sagt Neddy knapp. Elizabeth erstarrt, und fortan herrscht in der Bank betretenes Schweigen.
Während die anderen sich das pietätvolle Gebaren ihres Bruders vielleicht damit erklären, dass er seine frühe Kindheit als Sohn eines Geistlichen verbracht hat, sieht Jane an dem Zucken in seinem Kiefer, wie aufgebracht er ist. Es muss ihm höchst unangenehm sein, dass eine mögliche Bedrohung seiner Stellung vor der Familie seiner Frau und – dank der Enge in der Kirche – in Hörweite der gesamten Gemeinde debattiert wird. Allerdings stellt Jane mit Bestürzung fest, dass sie eher aufseiten ihrer Schwägerin ist. Damit, dass er sich weigert, darüber zu sprechen, wird Neddy diese Angelegenheit nicht klären. Als der Pfarrer, ein älterer Mann, durch den Mittelgang nach vorn schlurft, senkt sie den Kopf und betet, dass sie sich, um ihres Bruders willen, zusammentun und dieses Durcheinander entwirren können, bevor seine Aussichten ernsthaft beschädigt werden.
Am Montag beunruhigt es Jane zunehmend, dass es ihr nicht gelungen ist, ihren Bruder unter vier Augen zu sprechen. Wäre die Situation so harmlos, wie er behauptet hat, hätte er sich doch auf eine Unterredung eingelassen, statt sich anhaltend übellaunig in seinem Arbeitszimmer zu verstecken. Immerhin kann sie hoffen, dass sie am Nachmittag Gelegenheit hat, ihn zu befragen: Er hat angekündigt, mit ihr nach Godmersham Park zu fahren. Die Aussicht, Mrs Knight und vielleicht sogar ihren geheimnisvollen Hausgast kennenzulernen, erfüllt sie mit ganz und gar untypischer Langmut gegenüber Elizabeth und ihren abfälligen Bemerkungen.
Jane ist es nicht gelungen, Neddy festzunageln, dafür ist Elizabeth eifrig dabei, Jane an allen möglichen Stellen mit Nadeln zu versehen, eine Vorbereitung auf ihr Debüt in der Gesellschaft. Jane bemüht sich um eine dankbare Miene, während Mrs Green, Elizabeths Schneiderin, alles versucht, um den Saum des zuletzt ausrangierten gelben Seidenkleids auf Bodenlänge zu bringen. Es ist eine solche Zeitverschwendung. Jane wird ihren Aufenthalt in Kent nicht mit der Jagd nach einem Ehemann zubringen. Abgesehen von allem anderen wird Cassandra sie zu Hause brauchen. Es wäre höchst grausam, die Schwester, die selbst noch um ihren geliebten Verlobten trauert, wegen des eigenen Eheglücks im Stich zu lassen.
»Nun stehen Sie gerade.« Mrs Green dreht Jane so, dass ihre Schwägerin ihr Urteil fällen kann.
»Ich hoffe nur, dass es an mir nicht so furchtbar ausgesehen hat.« Elizabeth begutachtet Jane von der Chaiselongue in ihrem Ankleidezimmer aus. Der kleine Raum direkt neben Neddys und ihrem Schlafzimmer ist mit Hutschachteln und chintzbezogenen Möbeln regelrecht zugestellt. »Der Farbton macht dich blass, fürchte ich. Wollen wir es stattdessen mit den Goldstreifen versuchen?«
»Mmmm …«, macht Mrs Green mit zahlreichen Stecknadeln zwischen den Lippen. Die bedauernswerte Schneiderin hat kaum Zeit, ein Kleid richtig zu drapieren, bevor Elizabeth schon einen Grund findet, es zu verwerfen.