Miss Blackpool - Nick Hornby - E-Book
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Miss Blackpool E-Book

Nick Hornby

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Beschreibung

Nick Hornbys grandioser neuer Roman: ein Ausflug ins Swinging London der Sixties Die hübsche Barbara entflieht der Provinz und zieht nach London, um berühmt zu werden. Sie bekommt tatsächlich die Hauptrolle in einer neuen Fernseh-Sitcom, die zu einer der erfolgreichsten TV-Shows Englands wird. Das Team wird ihre Familie – doch was passiert, wenn Ruhm und Glanz irgendwann verblassen?Anfang der 60er: Barbara nimmt die Wahl zur »Miss Blackpool« nicht an, als ihr aufgeht, dass sie dann ein weiteres Jahr in diesem verschlafenen Provinzstädtchen verbringen müsste. Stattdessen zieht sie nach London, ins Herz der neu entstehenden Popkultur, um Komikerin zu werden. Was zunächst aussichtslos erscheint, wird Wirklichkeit, und die Truppe rund um die beiden Drehbuchschreiber Tony und Bill, den Produzenten Dennis sowie Schauspielkollegen Clive ersetzt Barbara fortan die Familie. Alle sind von der Idee besessen, aus ihrer Sitcom einen Riesenerfolg zu machen, was ihnen trotz privater großer und kleiner Katastrophen auch gelingt. Doch was passiert, wenn Schönheit und Ruhm mit der Zeit verblassen?Nick Hornby nimmt den Leser mit ins brodelnde London der 60er-Jahre, mitten hinein in die Welt der am Hungertuch nagenden Gagschreiber, der überarbeiteten Regisseure, der egozentrischen Schauspieler und der vom großen Durchbruch träumenden Mädchen. Ein Buch über ganz große Auftritte, lebenslange Freundschaft und die große Liebe.

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Seitenzahl: 469

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Nick Hornby

Miss Blackpool

Roman

Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Ingo Herzke

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Nick Hornby

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorsprechen1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelComedy Playhouse4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelErste Staffel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelZweite Staffel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelDritte Staffel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelVierte Staffel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelEveryone loves Sophie21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelFrom This Day ForwardBiografien24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelDanksagung
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Für Amanda in Liebe und Dankbarkeit, wie immer. Und für Roger Gillett und Georgia Garrett.

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Vorsprechen

1

Wahl zur Miss Blackpool © Homer Sykes/Getty Images

Sie wollte keine Schönheitskönigin sein, aber wie das Leben so spielt, war sie gerade dabei, eine zu werden.

Es gab noch ein paar freie Minuten zwischen der Parade und der Verkündigung, in denen sich Freunde und Familien um die Mädchen versammelten und ihnen gratulierten und die Daumen drückten. Die Grüppchen, die sich dadurch bildeten, erinnerten Barbara an Catherine-Wheel-Lakritzschnecken: die Mädchen in zuckersüßen rosa oder blauen Badeanzügen wie die Süßigkeit in der Mitte, ein Wirbel dunkelbrauner und schwarzer Regenmäntel wie das Lakritz drum herum. Es war ein kalter, regnerischer Tag im Juli in den South Shore Baths, und die Teilnehmerinnen hatten Gänsehaut an Armen und Beinen. Sie sahen aus wie Truthähne im Schaufenster einer Metzgerei. Nur in Blackpool, dachte Barbara, konnte man einen Schönheitswettbewerb gewinnen, wenn man so aussah.

Barbara hatte keine Freundinnen eingeladen, und ihr Vater hatte offenbar nicht die Absicht, sich zu ihr zu gesellen, also wartete sie allein. Er saß auf einem Liegestuhl und tat, als würde er den Daily Express lesen. Zusammen hätten sie ein schäbiges, angebissenes Catherine Wheel abgegeben, aber sie hätte sich doch über seine Gesellschaft gefreut. Am Ende ging sie zu ihm. Ohne die anderen Mädchen in ihrer Nähe fühlte sie sich ziemlich nackt und unbehaglich und keineswegs glamourös und selbstbewusst, und sie musste an jeder Menge Zuschauer vorbei, die ihr hinterherpfiffen. Als sie ihren Vater am flachen Ende des Pools erreichte, war sie schon wütender, als sie eigentlich wollte.

»Was machst du denn hier, Dad«, zischte sie.

Die Leute um ihn herum – gelangweilte, vorwiegend ältere Feriengäste – wurden plötzlich ganz aufgeregt. Eins der Mädchen! Schimpft mit seinem Vater!

»Oh, hallo, Liebes.«

»Warum kommst du denn nicht zu mir?«

Er starrte sie an, als hätte sie ihn nach dem Namen des Bürgermeisters von Timbuktu gefragt.

»Hast du nicht gesehen, was alle anderen machen?«

»Doch, schon. Aber das kam mir nicht richtig vor. Nicht für mich.«

»Was ist denn an dir so anders?«

»Ein einzelner Mann, der zwischen lauter leicht bekleideten hübschen Mädchen Amok läuft. Die sperren mich doch ein.«

George Parker war siebenundvierzig Jahre alt, dick und unerlaubt früh gealtert. Er war seit zehn Jahren allein, seit Barbaras Mutter ihn wegen ihres Vorgesetzten beim Finanzamt verlassen hatte, und sie sah ein, dass ihm das noch einmal sehr deutlich klar geworden wäre, wenn er sich zwischen die Mädchen begeben hätte.

»Du hättest ja nicht gleich Amok laufen müssen«, sagte Barbara. »Du hättest einfach neben deiner Tochter stehen und dich mit ihr unterhalten können.«

»Du gewinnst, oder?«, fragte er.

Sie versuchte, nicht zu erröten, und scheiterte. Die Urlauber in Hörweite hörten auf, so zu tun, als würden sie stricken oder Zeitung lesen. Sie starrten sie unverhohlen an.

»Ach, ich weiß nicht. Ich glaube nicht«, sagte sie. In Wahrheit wusste sie es durchaus. Der Bürgermeister war zu ihr gekommen, hatte ihr »gut gemacht« ins Ohr geflüstert und ihr diskret den Po getätschelt.

»Quatsch. Du bist um Längen hübscher als die anderen. Lichtjahre.«

Aus irgendeinem Grund schien ihre Schönheit ihn zu ärgern, obwohl das hier ein Schönheitswettbewerb war. Er mochte es nicht, wenn sie eine Schau abzog, selbst wenn sie ihre Freunde und Familie damit zum Lachen brachte, dass sie sich selbst als beschränkt oder tollpatschig oder unbeholfen darstellte. Es war ja trotzdem eine Schau. Aber heute war alles Schau, es ging nur um die Schau, deshalb hatte sie gedacht, er würde es ihr verzeihen. Aber das Glück hatte sie nicht. Wenn du schon an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen musst, schien er zu sagen, dann sei wenigstens so höflich, etwas hässlicher zu sein als die anderen.

Sie tat, als würde sie elterlichen Stolz heraushören, um die Zuhörer nicht zu verwirren.

»So ein blinder Vater ist wirklich großartig«, sagte sie zu den Schaulustigen. »Sollte jeder haben.«

Das war keine sensationelle Pointe, aber sie lieferte sie mit einem so unbewegten Gesicht, dass sie mehr Gelächter dafür erntete, als sie verdient gehabt hätte. Manchmal funktionierte der Überraschungseffekt, und manchmal lachten die Leute, weil sie mit einem Witz rechneten. Sie verstand sich auf beide Varianten, aber für Leute, die das Lachen nicht ernst nahmen, war es wahrscheinlich verwirrend.

»Ich bin nicht blind«, sagte George tonlos. »Sehen Sie.«

Er wandte sich um und starrte mit aufgerissenen Augen jeden an, der Interesse zeigte.

»Dad, hör auf damit. Es macht den Leuten Angst, wenn ein Blinder sie so anstarrt«, sagte Barbara.

»Sie …« Ihr Vater zeigte ungehörig auf eine Dame in einem grünen Regenmantel. »Sie tragen einen grünen Klepper.«

Die alte Dame im Liegestuhl neben ihm fing an zu klatschen, verunsichert, als wäre George in dieser Sekunde von einem lebenslangen Leiden geheilt worden oder als hätte er einen Zaubertrick vorgeführt.

»Wie sollte ich das wissen, wenn ich blind wäre?«

Barbara merkte, dass er langsam Spaß an der Sache bekam. Ganz selten einmal ließ er sich dazu hinreißen, in einem Zweiersketch den einfachen Mann zu spielen, und vielleicht hätte er weitermachen und beschreiben können, was er sah, wenn nicht der Bürgermeister ans Mikrofon getreten wäre und sich geräuspert hätte.

Es war Tante Marie gewesen, die Schwester ihres Vaters, die ihr vorgeschlagen hatte, sich als Miss Blackpool zu bewerben. Marie war eines Sonntagnachmittags zum Tee vorbeigekommen, weil sie zufällig gerade in der Nähe war, hatte den Wettbewerb ganz beiläufig ins Gespräch einfließen lassen und sie dann – einer ganz plötzlichen Eingebung folgend – gefragt, warum sie eigentlich noch nie teilgenommen hatte. Ihr Dad hatte dazu genickt, als wäre er ganz überwältigt von dieser großartigen Idee. Barbara war in den ersten ein, zwei Minuten etwas verblüfft gewesen, und dann hatte sie gemerkt, dass die beiden das so ausgeheckt hatten. Der Plan sah, wie sie es verstand, so aus: Barbara würde am Wettbewerb teilnehmen, ihn gewinnen und dann vergessen, dass sie jemals nach London ziehen wollte, denn das war dann ja nicht mehr nötig. Sie würde in ihrer Heimatstadt berühmt werden, und was konnte man mehr wollen? Sie könnte es noch als Miss United Kingdom versuchen, und wenn das nicht klappte, konnte sie heiraten, was ja auch eine Art Krönung war. (Auch das war Teil des Schönheitsköniginnenplans, da war Barbara sicher. Marie hielt nicht sonderlich viel von Aidan, sie dachte, Barbara könnte jemand deutlich Besseren finden, oder jedenfalls jemand deutlich Reicheren, und als Schönheitskönigin hatte man die freie Wahl. Dotty Harrison hatte einen Mann geheiratet, der sieben Teppichläden besaß, und sie war nur Dritte gewesen.)

Barbara wollte aber nicht Königin für einen Tag sein, und auch nicht für ein Jahr. Sie wollte gar nicht Königin sein. Sie wollte ins Fernsehen und die Leute zum Lachen bringen. Königinnen waren nicht lustig, jedenfalls nicht die in Blackpool oder im Buckingham Palace. Sie war Tante Maries Plan aber trotzdem gefolgt, weil Dorothy Lamour einmal Miss New Orleans gewesen war und Sophia Loren Zweite bei einer Miss-Italia-Wahl. (Barbara hätte gerne mal ein Foto von dem Mädchen gesehen, das Sophia Loren ausgestochen hatte.) Und sie hatte es gemacht, weil sie endlich etwas mit ihrem Leben anfangen wollte und dringend etwas, irgendetwas, passieren musste. Sie wusste, dass sie ihrem Vater das Herz brechen würde, aber erst wollte sie ihm zeigen, dass sie zumindest versucht hatte, dort glücklich zu sein, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Sie hatte getan, was sie konnte. Sie hatte für Schulaufführungen vorgesprochen und kleine Rollen bekommen, und sie hatte aus den Kulissen zugesehen, wie die untalentierten Lehrerlieblinge ihren Text vergaßen, und den, den sie konnten, vermasselten. Sie hatte in den Winter Gardens im Ballett getanzt, und sie hatte mit einem Mann von der Laientheatertruppe gesprochen, der ihr gesagt hatte, sie würden als Nächstes den Kirschgarten proben, der »wahrscheinlich nicht ganz ihr Fall« wäre. Er bot ihr aber an, erst mal Tickets zu verkaufen und Plakate zu kleben. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte ein lustiges Drehbuch, das sie noch lustiger machen konnte.

Sie wäre natürlich gern einfach glücklich gewesen; sie wollte nicht anders sein als andere. Ihre Schulfreundinnen und ihre Kolleginnen in der Kosmetikabteilung bei RHO Hills schienen sich nicht ganz so dringend wie sie einen Weg aus Blackpool hinaus kratzen, graben, winden und treten zu wollen, und manchmal wäre sie wirklich gern so gewesen wie sie. Es war doch auch ein bisschen kindisch, zum Fernsehen zu wollen und »guckt mal, guckt mal« zu schreien wie eine Zweijährige. Na gut, manche Leute, vor allem Männer jeden Alters, guckten sie tatsächlich an, aber nicht so, wie sie es wollte. Sie guckten ihr blondes Haar und ihren Busen und ihre Beine an, aber darüber hinaus sahen sie nichts. Also würde sie den Wettbewerb mitmachen, und sie würde gewinnen, und sie fürchtete sich jetzt schon vor dem Blick ihres Vaters, wenn er merkte, dass das überhaupt nichts änderte.

 

Der Bürgermeister verkündete es nicht direkt, denn so einer war er nicht. Er dankte erst allen, dass sie gekommen waren, und er machte einen unwitzigen Witz darüber, dass Preston das Cup-Finale verloren hatte, und einen grausamen Witz darüber, dass seine Frau wegen ihres Hallux valgus dieses Jahr nicht habe teilnehmen können. Er sagte, dass die Fülle der Schönheit vor seinen Augen – und er war genau die Sorte Mann, die einen Ausdruck wie »Fülle der Schönheit« benutzte – ihn noch stolzer auf die Stadt machte, als er ohnehin schon war. Jeder wusste, dass die meisten Mädchen Urlauberinnen aus Leeds und Manchester und Oldham waren, aber er bekam an dieser Stelle trotzdem tosenden Applaus. Er redete so lange, dass Barbara schon anfing, die Anzahl der Besucher abzuschätzen, indem sie die Köpfe in einer Liegestuhlreihe zählte und sie mit der Anzahl der Reihen multiplizierte. Sie wurde allerdings nicht fertig damit, denn sie blieb am Gesicht einer alten Frau mit Regenhut und ohne Zähne hängen, die an einem Sandwich mümmelte. Auch dies legte Barbara auf ihren bereits schwankenden Stapel von Vorsätzen: sie wollte ihre Zähne behalten, anders als so ziemlich alle ihre Verwandten über fünfzig. Sie kam gerade rechtzeitig wieder zu sich, um ihren Namen zu hören und zu sehen, wie die anderen Mädchen so taten, als würden sie sie anlächeln.

Sie empfand nichts. Beziehungsweise sie merkte, dass sie nichts empfand, und dann wurde ihr ein bisschen übel. Es wäre schön gewesen, wenn sie sich geirrt hätte, wenn sie ihren Vater und ihre Stadt nicht hätte verlassen müssen, wenn hiermit ein Traum wahr geworden wäre, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen konnte. Sie wollte nicht weiter über ihre Gefühllosigkeit nachdenken, um ja nicht zu dem Schluss zu kommen, dass sie eine kaltherzige und gemeine Ziege war. Sie strahlte, als die Frau des Bürgermeisters ihr die Schärpe umlegte, und sie brachte sogar ein Lächeln zustande, als der Bürgermeister sie auf den Mund küsste. Aber als ihr Vater kam und sie in den Arm nahm, fing sie an zu weinen, was ihre Art war, ihm zu sagen, dass sie so gut wie weg war und dass der Gewinn des Schönheitswettbewerbs nicht im Entferntesten an der Stelle kratzte, die sie juckte wie Windpocken.

Sie hatte noch nie im Badeanzug geweint, jedenfalls nicht als erwachsene Frau. Badeanzüge waren nicht zum Weinen gemacht, mit der ganzen Sonne und dem Sand und dem Kreischen und den Jungs, die einen anstarrten. Es fühlte sich komisch an, wie die vom Wind gekühlten Tränen ihr den Hals hinunter und ins Dekolleté rannen. Die Frau des Bürgermeisters legte ihr den Arm um die Schultern.

»Geht schon wieder«, sagte Barbara. »Wirklich. Ich bin so blöd.«

»Ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß genau, wie Sie sich fühlen«, sagte die Frau des Bürgermeisters. »So haben wir uns kennengelernt. Vor dem Krieg. Damals war er noch Stadtrat.«

»Sie waren Miss Blackpool?«, fragte Barbara.

Sie versuchte, es nicht allzu erstaunt klingen zu lassen, war aber nicht sicher, ob ihr das gelungen war. Der Bürgermeister und seine Frau waren beide imposante Erscheinungen, aber bei ihm wirkte es wie Absicht, ein Zeichen seiner Wichtigkeit, während es bei ihr wirkte wie ein schrecklicher Fehler. Vielleicht lag es daran, dass es ihm egal war und ihr nicht.

»Ob Sie es glauben oder nicht.«

Die beiden Frauen sahen sich an. So etwas passierte. Es gab keinen Grund, noch etwas zu sagen, aber dann kam der Bürgermeister und sagte trotzdem noch etwas.

»Würde man heute gar nicht mehr meinen«, sagte der Bürgermeister, der die Dinge nicht gern unausgesprochen ließ.

Seine Frau verdrehte die Augen.

»Ich habe schon zweimal ›ob Sie es glauben oder nicht‹ gesagt. Ich habe bereits eingestanden, dass ich keine Miss Blackpool mehr bin. Musst du jetzt noch mal nachtreten?«

»Ich habe gar nicht gehört, dass du ›ob Sie es glauben oder nicht‹ gesagt hast.«

»Habe ich aber. Zweimal. Nicht wahr, meine Liebe?«

Barbara nickte. Sie wollte sich da nicht hineinziehen lassen, aber so weit konnte sie der armen Frau wohl unter die Arme greifen.

»Kinder und Eclairs, Kinder und Eclairs«, sagte der Bürgermeister.

»Du bist auch nicht gerade ein Bild von einem Mann«, sagte seine Frau.

»Nein, aber du hast mich auch nicht geheiratet, weil ich ein Bild von einem Mann war.«

Darüber dachte seine Frau erst mal nach und gestand ihm den Punkt schweigend zu.

»Du hingegen«, sagte der Bürgermeister, »du warst ein Bild von einer Frau, und das war auch schon alles, was du zu bieten hattest. Jedenfalls«, sagte er zu Barbara, »Sie wissen ja, dass das hier eins der größten Strandbäder der Welt ist, oder? Und heute ist einer der wichtigsten Tage hier. Sie haben jedes Recht, überwältigt zu sein.«

Barbara nickte und schniefte und lächelte. Sie hätte ihm nicht erklären können, dass das Problem genau das Gegenteil von dem war, was er soeben beschrieben hatte: Es war ihr noch weniger wichtig, als sie befürchtet hatte.

»Diese verflixte Lucy«, sagte ihr Vater. »Sie ist mir echt eine Erklärung schuldig.«

Der Bürgermeister und seine Frau waren verwirrt, aber Barbara wusste, wen er meinte. Sie fühlte sich verstanden, und das machte es noch schlimmer.

Barbara liebte Lucille Ball, seit sie zum ersten Mal »I Love Lucy« gesehen hatte: Alles, was sie tat und fühlte, rührte daher. Jeden Sonntag schien die Welt für eine halbe Stunde stillzustehen, und ihr Vater wusste genau, dass er gar nicht erst zu versuchen brauchte, mit ihr zu sprechen oder auch nur mit Papier zu rascheln, während die Sendung lief, damit sie nur ja nichts verpasste. Sie mochte auch noch jede Menge andere witzige Leute: Tony Hancock, Sergeant Bilko, Morecambe and Wise. Aber sie konnte nicht so sein wie sie, selbst wenn sie gewollt hätte. Das waren Männer. Tony, Ernest, Eric, Ernie … Niemand hieß Lucy oder Barbara. Es gab keine lustigen Frauen.

»Es ist doch nur eine Fernsehsendung«, sagte ihr Vater, vorher oder nachher, aber nie mittendrin. »Eine amerikanische. Das ist doch kein britischer Humor.«

»Und britischer Humor … du meinst Humor aus Großbritannien?«

»Die BBC und so.«

»Verstehe.«

Sie hörte nur auf, ihn aufzuziehen, weil es ihr langweilig wurde; nie, weil er es kapierte und die Neckerei überflüssig geworden wäre. Wenn sie in Blackpool bleiben musste, dann hatte sie den festen Vorsatz, diese Gespräche bis zum Ende seines Lebens fortzuführen.

»Sie ist doch überhaupt nicht witzig«, sagte er.

»Sie ist die witzigste Frau, die je im Fernsehen zu sehen war«, sagte Barbara.

»Aber du lachst doch auch nicht«, sagte ihr Vater.

Es stimmte, dass sie nicht lachte, aber das lag meistens daran, dass sie die Sendung schon einmal gesehen hatte. Sie war außerdem damit beschäftigt, sich alles genau einzuprägen. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, Lucy an jedem einzelnen Wochentag zu sehen, dann hätte sie es getan, aber die gab es nicht, also musste sie sich mehr konzentrieren, als sie sich je auf irgendetwas konzentriert hatte, und hoffen, dass ein bisschen was hängen blieb. »Ich muss doch auch die Klappe halten, wenn die Fußballergebnisse im Radio kommen«, sagte sie.

»Ja, wegen dem Toto«, sagte er. »Eins dieser Ergebnisse könnte unser Leben verändern.«

Was sie ihm nicht erklären konnte, ohne übergeschnappt zu klingen, war, dass »I Love Lucy« genau das Gleiche war wie Fußballtoto. Eines Tages würde einer von Lucys Ausdrücken oder Sprüchen ihr Leben verändern, und vielleicht auch seins. Lucy hatte ihr Leben bereits verändert, aber nicht zum Guten: Die Sendung hatte sie allen anderen entfremdet. Freunden, der Familie, den Kolleginnen auf der Arbeit. Manchmal hatte sie das Gefühl, es war ein bisschen wie eine Religion. Es war ihr so ernst damit, Comedyshows im Fernsehen zu gucken, dass die Leute sie für seltsam hielten. Also sprach sie nicht mehr darüber.

 

Der Fotograf der Evening Gazette stellte sich vor und schob Barbara in Richtung der Sprungbretter.

»Sie sind Len Phillips?«, sagte ihr Vater. »Im Ernst?«

Er kannte Len Phillips’ Namen aus der Zeitung und war schwer beeindruckt. Du lieber Gott, dachte Barbara, und da wundert er sich, dass ich hier raus will.

»Kannst du es fassen, Barbara? Mr Phillips ist persönlich hergekommen.«

»Nennen Sie mich doch Len.«

»Wirklich? Danke sehr.« George wirkte etwas angespannt, als hätte er sich diese Ehre noch nicht verdient.

»Nun ja, er hat ja vermutlich nicht tausend Angestellte«, sagte Barbara.

»Nur ich und manchmal ein Gehilfe«, sagte Len. »Und heute ist ein großer Tag für Blackpool. Da wäre ich ja schön blöd, das meinem Gehilfen zu überlassen.«

Er bedeutete Barbara, ein Stückchen weiter nach hinten zu gehen.

»Sag mal Cheese!«, sagte ihr Vater. »Oder machen das nur Amateure?«

»Nein, das machen wir auch. Aber manchmal rufe ich zur Abwechslung auch einfach ›Unterhose‹!«

George lachte und schüttelte staunend den Kopf. Er amüsierte sich prächtig, das sah Barbara ihm an.

»Hast du keinen Freund?«, fragte Len.

»Er hat nicht freibekommen«, sagte George. Er hielt kurz inne und überlegte, ob er zu schnell zu vertraulich geworden war. »Wegen der Ferien fehlen schon zu viele Mitarbeiter. Ihre Tante Marie konnte auch nicht kommen, weil sie für vierzehn Tage auf der Isle of Man ist. Ihre ersten Ferien seit sieben Jahren. Nur mit dem Wohnwagen, aber Sie wissen ja, wie das ist. Tapetenwechsel ist die beste Erholung.«

»Sie sollten das alles mitschreiben, Len«, sagte Barbara. »Wohnwagen. Isle of Man. Tapetenwechsel ist die beste Erholung. Ist sie mit Uncle Jack allein unterwegs, Dad? Oder sind die Jungs auch mit?«

»Das will er doch alles gar nicht wissen«, sagte ihr Vater.

»Wo arbeitet sie denn?«, fragte Len und nickte Richtung Barbara.

»Ich weiß nicht. Wir können sie ja mal fragen«, sagte Barbara.

»In der Kosmetikabteilung bei RHO Hills«, sagte ihr Vater. »Und Aidan ist in der Herrenabteilung. Da haben sie sich auch kennengelernt.«

»Da wird sie ja in nächster Zeit nicht oft sein«, sagte der Fotograf.

»Nicht?«, fragte George.

»Ich mache immer die Fotos von Miss Blackpool. Krankenhäuser, Wohltätigkeitsveranstaltungen … Sie hat eine Menge Verpflichtungen. Das wird ein arbeitsreiches Jahr. Wir werden uns oft sehen, Barbara, du kannst dich schon mal an meine hässliche Visage gewöhnen.«

»Wahnsinn«, sagte ihr Vater. »Hast du das gehört, Barbara?«

Krankenhäuser? Wohltätigkeitsveranstaltungen? Ein ganzes Jahr? Was hatte sie denn gedacht? Tante Marie hatte ihr von Geschäftseröffnungen und der Weihnachtsbeleuchtung erzählt, aber sie hatte nicht darüber nachgedacht, dass sie Leute hängen ließ, wenn sie einfach verschwand, und sie hatte auch nicht darüber nachgedacht, dass sie in dreihundertvierundsechzig Tagen immer noch Miss Blackpool sein würde. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie schon in einer Stunde nicht mehr Miss Blackpool sein würde.

»Wo geht sie denn hin?«, fragte Len.

»Wo gehst du denn hin?«, fragte ihr Vater.

Eine Viertelstunde später trug Sheila Jenkinson, die Zweitplatzierte, eine große, dämliche Rothaarige aus Skelmersdale, das Diadem, und Barbara und ihr Vater saßen im Taxi nach Hause. In der Woche darauf reiste sie ab nach London.

2

Schriftzug des Kaufhause Derry & Toms © Rex Features/action press

Sich von ihrem Vater zu verabschieden, war schwer. Er hatte Angst, allein zurückzubleiben, das wusste sie, aber es hielt sie nicht auf. Im Zug wusste sie selbst nicht, was sie mehr verstörte, sein Kummer und seine Sorgen oder ihre eigene Rücksichtslosigkeit. Sie kam aber nicht im Entferntesten auf die Idee, es sich anders zu überlegen. Sich von Aidan zu verabschieden hingegen war einfach. Er schien geradezu erleichtert und sagte, sie hätte ihm ja sowieso nur Ärger gemacht, wenn sie in Blackpool geblieben wäre. (Im Jahr darauf heiratete er eine andere und machte ihr dann fünfzehn Jahre lang Ärger.)

London war ebenfalls einfach, wenn man nicht zu viel erwartete. Sie fand eine kleine Pension in der Nähe der Euston Station, bezahlte drei Tage im Voraus von ihrem Ersparten, ging zu einer Arbeitsvermittlung und bekam eine Stelle an der Kosmetiktheke von Derry and Tom’s auf der Kensington High Street. Man brauchte anscheinend bloß um eine etwas schlechtere Version des Lebens zu bitten, das man schon führte, und London gab es einem. London war es auch egal, woher man kam, solange es einem selbst egal war, dass der Mann vom Kiosk und der Busfahrer einen auslachten und nachäfften, wann immer man den Mund aufmachte. »Toopence!« »Piccadelleh!« »Coopa Tea!« Manchmal wiesen sie sogar noch weitere Kunden oder Fahrgäste darauf hin, wie lustig das war.

Ihre Kollegin Marjorie, die bei den Damenschuhen arbeitete, bot ihr ein Doppelzimmer in Earl’s Court an, sehr viel näher am Geschäft gelegen, und sie willigte ein, bevor ihr aufging, dass sie sich das Doppelzimmer mit Marjorie teilen würde.

Ihre religiösen Gefühle waren noch stärker geworden: Lucille Ball hatte sie zu einer Art Märtyrerin ihrer Ambitionen gemacht. Das Küchenfenster ging zur Eisenbahnstrecke hinaus, und wenn ein Zug vorbeikam, fiel Ruß vom Fensterrahmen auf den Boden. In London ging beinahe das gesamte Geld, das sie verdiente, für Lebensmittel, Miete und Busfahrkarten drauf. Marjorie war genauso einsam wie Barbara, und sie ging nie aus. Die beiden verbrachten viel zu viel Zeit miteinander. Sie lebten von Dosensuppe und Toast, und sie hatten nie genug Münzen für die Gasheizung. Barbara konnte Lucys Sendung nicht gucken, denn sie hatten keinen Fernseher, also war ihr Heimweh sonntags nachmittags besonders heftig. Es half auch nicht, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie sich, wenn sie in Blackpool geblieben wäre, jetzt nach London sehnen würde. Das verstärkte nur das Gefühl, dass sie niemals irgendwo glücklich sein würde. Manchmal blieb sie stehen und sah in die Fenster der Arbeitsvermittlungen, aber niemand suchte eine Fernsehkomikerin. Und manchmal lag sie nachts im Bett und weinte still über ihre eigene Dummheit. Was hatte sie denn gedacht, was passieren würde?

 

Marjorie hatte ihr den Tipp gegeben, sich die Zeitung The Stage zu kaufen und dort nach Angeboten zu gucken. Es gab eine Menge Verkäuferinnen bei Derry and Tom’s, sagte sie, die in der Teepause The Stage lasen und dann verschwanden.

»Habe ich schon mal von einer von ihnen gehört?«, fragte Barbara.

»Wahrscheinlich höchstens von Margie Nash«, sagte Marjorie. »Du hast uns bestimmt mal über sie reden hören.«

Barbara schüttelte den Kopf. Sie hoffte so sehr, dass jemand den geheimen Tunnel vom Kaufhaus ins Showbusiness gefunden hatte.

»Das ist die, die erwischt wurde, als sie auf der Herrentoilette im dritten Stock mit einem Kunden herumgemacht hat, und dann hat sie zugegeben, dass sie einen Rock geklaut hat. Sie hat The Stage jede Woche gekauft.«

Barbara ließ sich von Margie Nashs Geschichte nicht abschrecken und kaufte sich fortan ebenfalls jeden Donnerstag The Stage beim Zeitungsladen an der U-Bahn-Station Kensington High Street. Aber vieles darin verstand sie gar nicht. Das Blatt war voller Anzeigen, die in einer Art Geheimsprache geschrieben zu sein schienen:

Aufruf für nächste Woche

Shaftesbury – »Our Man Crichton«. Kenneth More, Millicent Martin, George Benson, David Kernan, Dilys Watling, Anna Barry, Eunice Black, Glyn Worsnip, Patricia Lambert. (Delfont/Lewis/Arnold)

Wer genau wurde da für nächste Woche wozu aufgerufen? Sicher nicht Kenneth More und Millicent Martin und die ganzen anderen? Die wussten ja bestimmt, dass sie in einem Stück am West End mitspielten. Wurde Barbara dazugerufen oder Mädchen wie sie? Und falls diese mysteriösen Aufrufe sie in irgendeiner Weise einschlossen, oder jemanden wie sie, woher sollte sie wissen, wie man darauf reagierte? Es stand kein Datum, keine Uhrzeit und keine Beschreibung der freien Stellen dabei. Jede Menge Produktionen suchten Soubretten, aber sie hatte keine Ahnung, was eine Soubrette war, und sie besaß weder ein Wörterbuch noch wusste sie, wo die nächste Bibliothek war. Aber wenn es kein englisches Wort dafür gab, war es vermutlich eine Arbeit, die man besser nicht annahm. Solange man nicht wirklich verzweifelt war.

Die Angebote im hinteren Bereich der Zeitung waren deutlicher, dort brauchte sie nichts nachzuschlagen. Der Embassy Club in der Old Bond Street suchte hübsche und kluge Hostessen. Das Nell Gwynne in der Dean Street suchte Showgirls und/oder Tänzerinnen, aber »nur liebenswerte Mädchen«. Das Whiskey a Go Go in der Wardour Street suchte Miezen, Mindestgröße 1,70 m, aber sie nahm an, dass die Körpergröße nicht die einzige Anforderung war, und die weiteren wollte sie gar nicht wissen.

Sie hasste es, darüber nachzudenken, ob sie liebenswert genug war, um Mieze oder Hostess oder Showgirl zu werden. Sie fürchtete, dass sie nicht mehr so liebenswert war wie in Blackpool; anders gesagt, dass ihre Schönheit hier deutlich weniger auffiel. Einmal hatte sie in der Kantine die Mädchen gezählt, die ihrer Meinung nach umwerfend aussahen: sieben. Sieben schöne, dünne Wesen alleine in der Mittagspause bei Derry and Tom’s. Wie viele würden es in der nächsten Mittagspause sein? Wie viele am Kosmetiktresen bei Selfridges und Harrods und The Army and Navy?

Sie war allerdings ziemlich sicher, dass keins dieser Mädchen die Leute zum Lachen bringen wollte. Das war ihre einzige Hoffnung. Was auch immer ihnen wichtig war – und Barbara war nicht mal sicher, dass ihnen irgendetwas besonders wichtig war – das war es nicht. Leute zum Lachen zu bringen bedeutete, die Augen zu verdrehen und die Zunge rauszustrecken und Dinge zu sagen, die dumm oder naiv klingen mochten, und keins dieser Mädchen mit ihren rot geschminkten Lippen und ihrer unverhohlenen Verachtung für jeden, der alt oder gewöhnlich war, hätte so etwas jemals getan. Aber das verschaffte ihr noch keinen Wettbewerbsvorteil. Die Bereitschaft, die Augen zu verdrehen, brachte ihr in der Kosmetikabteilung rein gar nichts. Und wahrscheinlich war es auch nicht das, was das Whiskey a Go Go von seinen Miezen erwartete.

Barbara stellte sich die hübschen Mädchen, die bei Derry and Tom’s arbeiteten, als schöne Tropenfische in einem Aquarium vor, wo sie hin und her schwammen, auf und ab, in enttäuschter Gelassenheit, sie konnten nirgendwo hin, und es gab nichts zu sehen, was sie nicht schon eine Million Mal gesehen hatten. Sie warteten alle auf einen Mann. Ein Mann würde sie mit einem Netz herausfischen und sie mit nach Hause nehmen und sie in ein noch kleineres Aquarium setzen. Nicht alle warteten darauf, einen Mann zu finden, denn sie hatten bereits einen gefunden, aber deswegen hörten sie nicht auf zu warten. Manche warteten darauf, dass ein Mann sich entschied, und andere, die Glücklichen, warteten darauf, dass ein Mann, der sich bereits entschieden hatte, genug Geld verdiente.

Barbara wartete nicht auf einen Mann, glaubte sie, aber sie wusste auch nicht mehr, worauf sie eigentlich wartete. Im Zug hatte sie sich vorgenommen, in den ersten beiden Jahren nicht mal daran zu denken, wieder nach Hause zu fahren, aber schon nach zwei Monaten merkte sie, wie die Kampfbereitschaft und das Feuer in ihr niederbrannten, bis sie nur noch eins wollte, nämlich sonntags fernsehen. Das hatte die Arbeit aus ihr gemacht – die Arbeit, die Kälte, die Dosensuppen und Marjories Polypen. Sie hatte vergessen, dass sie Lucy werden wollte; sie wollte sie nur noch gern auf dem Bildschirm sehen.

»Kennst du jemanden, der einen Fernseher hat?«, fragte sie Marjorie eines Abends.

»Ich kenne eigentlich überhaupt niemanden«, sagte Marjorie. Es war Freitagabend. Sie hängte Strumpfhosen an den Wäscheständer vor dem Gasofen. »Die meisten Mädchen wohnen so wie wir.«

»Ein paar wohnen doch bestimmt noch zu Hause«, sagte Barbara.

»Ja«, sagte Marjorie. »Mit denen kannst du dich anfreunden und ins Kino gehen oder tanzen, und vielleicht laden sie dich eines Tages mal sonntags zum Tee nach Hause ein und du kannst bei ihnen fernsehen.«

»Also brauche ich einen Freund.«

»Mit denen kann man ausgehen und tanzen oder ins Kino und im Türrahmen knutschen und …«

»Na gut«, sagte Barbara bedrückt. »Ich verstehe schon.«

»Ich würde sagen, der schnellste Weg zu einem Fernseher ist eine Herrenbekanntschaft. Die sind schwer zu finden, aber es gibt sie.«

»Du meinst einen verheirateten, reichen Mann?«

»Du hast gesagt, du suchst einen Fernseher, nicht die ewige Liebe. Sie haben geheime Wohnungen irgendwo. Oder können sich Hotelzimmer leisten. Gute Hotels haben Fernseher in den Zimmern.«

Und so stellte sich heraus, dass auch Barbara auf einen Mann wartete. Natürlich. Wie um alles in der Welt war sie auch auf die Idee gekommen, ohne einen auszukommen? Warum dachte sie immer, sie wäre anders als die anderen? Es hatte keinen Sinn, darüber zu klagen. Beziehungsweise, sie konnte klagen, so viel sie wollte, solange sie gleichzeitig versuchte, einen Mann kennenzulernen und die Klagen für sich behielt. Wer auch immer der Mann war, er wollte vermutlich nicht den ganzen Abend damit verbringen, sich ihr Lamento über die Ungerechtigkeit der Welt anzuhören. Es klang nicht so, als wäre ein solcher Mann so ein Mensch. Sie musste etwas ändern, irgendwas. Sie musste jemanden kennenlernen, der nicht Busfahrer oder Verkäuferin war. Irgendwo musste es diese Gelegenheiten geben. Aber nicht in der Kosmetikabteilung, und vermutlich auch nicht im Nell Gwynne.

»Woher weißt du das alles?«, fragte sie Marjorie, die ihr nicht vorkam wie jemand mit einer langen Reihe Herrenbekanntschaften.

»Eine Freundin von mir hat in Pelze und Leder gearbeitet«, sagte Marjorie. »Ein paar Mädchen hatten dort Herrenbekanntschaften. Bei den Schuhen passiert das natürlich nicht.«

»Wieso ›natürlich‹?«

»Das musst du doch bemerkt haben.«

»Was bemerkt?«

»Na ja, deswegen sind wir ja bei den Schuhen. Weil wir nicht aussehen wie die Mädchen, die eine Herrenbekanntschaft suchen.«

Barbara hätte ihr gern gesagt, dass sie kein dummes Zeug reden soll, aber dann ging sie im Kopf ein paar Gesichter durch und merkte, dass da etwas dran war. Die gutaussehenden Mädchen waren in der Kosmetik oder Damenoberbekleidung. Es gab eine Vorauswahl, über die niemand sprach.

»Kannst du für ein paar Tage zum Parfüm wechseln?«, fragte Marjorie.

»Warum denn Parfüm?«

»Kosmetik ist nicht so gut. Männer kaufen nicht oft Lippenstift oder Wimperntusche, oder?«

Auch da hatte Marjorie recht. Barbara konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal einen Mann bedient hatte.

»Aber sie kaufen Parfüm, als Geschenk. Und dabei kommen sie richtig in Flirtlaune. Sie bitten dich, es dir aufs Handgelenk zu sprühen, und dann nehmen sie deine Hand, um daran zu riechen.«

Das hatte Barbara zu Hause bei RHO Hills beobachtet, aber nicht oft, und es war nie mit irgendeiner Absicht geschehen. In der Kleinstadt waren die Leute vorsichtiger. Wenn ein Ehemann zu weit gegangen wäre, hätte seine Frau es sehr schnell gewusst.

»Pass auf«, sagte Marjorie, »eine Herrenbekanntschaft will nicht groß flirten. Nur, dass dir das klar ist.«

Barbara war überrascht. »Was will er denn, wenn nicht, du weißt schon, das?«

»Oh, er will schon das. Nur nicht das ganze Vorgeplänkel.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe.«

»Er will nicht kuscheln. Kuscheln ist Kinderkram.«

»Aber wenn er doch ein Herr …«

»Ich glaube, das Wort ›Herr‹ in ›Herrenbekanntschaft‹ bedeutet nicht ›feiner Herr‹. Mit Zurückhaltung hat es jedenfalls nichts zu tun. Du bist doch keine Jungfrau mehr, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte Barbara.

In Wahrheit war sie da nicht so sicher. Sie hatte mit Aidan irgendwas versucht, kurz vor dem Schönheitswettbewerb. Sie hatte unbelastet nach London fahren wollen. Er war allerdings ein hoffnungsloser Fall gewesen, und sie war nicht sicher, was jetzt ihr offizieller Status war.

»Ich wollte dich nur vorwarnen. Die fackeln nicht lange.«

»Danke.«

Marjorie sah sie an und wirkte geradezu verzweifelt.

»Dir ist schon klar, wie du aussiehst, oder?«

»Nein. Bevor ich herkam, war es mir klar. Aber hier ist alles anders. Die Messlatte liegt viel höher. Die ganzen Mädchen in der Kosmetik, in der Damenoberbekleidung, und wenn man mal auf die Kensington High Street geht …«

»Die ganzen kleinen Heuschrecken?«, fragte Marjorie. »Mach dir um die mal keine Sorgen. Na gut, du bist nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Aber das ist Männern egal. Mach dich nicht lächerlich.«

»Oh«, sagte Barbara. »Danke.«

»Du bist wie Sabrina.«

Barbara versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Sie hasste Sabrina, das Mädchen, das nur in der Arthur-Askey-Show vor der Kamera stand und lächelte und seinen Busen vorzeigte. Sie war und tat das Gegenteil von dem, was Barbara sein und tun wollte.

»Du hast den Busen, die Taille, die Haare, die Beine, die Augen … Wenn es mir auch nur die Hälfte von dem bringen würde, was du hast, wenn ich dich in dieser Sekunde mit einem Hackebeil ermorde, dann würde ich dich ohne Zögern in Stücke hauen und dir zugucken, wie du verblutest wie ein abgestochenes Schwein.«

»Danke«, sagte Barbara. Sie wollte sich lieber auf das Kompliment konzentrieren als auf den furchterregenden Blick in die Seele ihrer Mitbewohnerin. Besonders große Sorgen machte ihr Marjories Bereitschaft, sie zu ermorden und zerhacken, nur für einen Bruchteil dessen, worum sie sie beneidete. Dieses Zugeständnis ließ es realer erscheinen, als es Barbara lieb war.

»Du solltest abends nicht zu Hause hocken und zugucken, wie ich meine Unterwäsche trockne. Du solltest an Schönheitswettbewerben teilnehmen.«

»Was für ein Quatsch«, sagte Barbara. »Wozu sollte das denn gut sein?«

Sabrina-Reklame © Culture-Images/Lebrecht Music & Arts

Am nächsten Tag bat Barbara ein Mädchen aus der Parfümabteilung, für einen Nachmittag die Plätze zu tauschen, nur um mal auszuprobieren, ob man sich einfach so eine Herrenbekanntschaft an Land ziehen konnte. Das Ergebnis war verblüffend: Man brauchte nur das Licht anzuknipsen, mit dem man anzeigte, dass man eine sucht. Barbara war froh, dass sie den Lichtschalter als Teenager noch nicht gekannt hatte, denn das hätte ihr in Blackpool jede Menge Scherereien bereitet – Scherereien mit verheirateten Männern, die sieben Teppichläden besaßen oder in den Winter Gardens sangen.

Valentine Laws war kein besonderer Fang, sie hätte ihn einfach wieder ins Wasser werfen sollen. Aber sie wollte es hinter sich bringen. Er war mindestens fünfzehn Jahre älter als sie und roch nach Pfeifentabak und Teerseife. Als er das erste Mal an die Parfümtheke kam, trug er einen Ehering, aber als er ein paar Minuten später zurückkehrte, um sie offenbar noch einmal genauer zu betrachten, war er nicht mehr da. Er sprach sie erst an, als er zum dritten Mal kam.

»Und«, sagte er, als wären sie vorher nur kurz unterbrochen worden, »gehen Sie viel aus?«

»Ach, wissen Sie«, sagte sie, »nicht so viel wie ich gern würde.«

»Oh«, sagte er, »was für ein zauberhafter Akzent. Woher kommen Sie? Lassen Sie mich raten, ich bin gut in so was. Es ist auf jeden Fall irgendwo im Norden, aber wo genau, das ist die Frage. Yorkshire?«

»Lancashire. Blackpool.«

Er starrte ihr unverhohlen auf die Brüste.

»Sabrina kommt auch aus Blackpool, oder?«

»Ich kenne keine Sabrina«, sagte Barbara.

»Ehrlich? Ich dachte, ihr da oben seid alle stolz auf sie.«

»Sind wir nicht«, sagte Barbara. »Wir haben noch nie von ihr gehört.«

»Jedenfalls sieht sie Ihnen total ähnlich«, sagte Valentine Laws.

»Da hat sie ja Glück gehabt.«

Er lächelte und machte weiter. Er war eindeutig nicht deswegen an ihr interessiert, weil sie so nett Konversation machte, sondern weil sie aussah wie Sabrina.

»Also, Miss Blackpool.« Sie sah ihn verdattert an, aber es war nur so ein Spruch gewesen. »Wohin würden Sie denn gern ausgehen?«

»Finden Sie es doch heraus.«

Dafür hätte sie sich ohrfeigen können. Den Ton hätte sie zu Hause benutzt, um einen Ted in den Winter Gardens abblitzen zu lassen, aber hier brachte ihr das nichts. Sie kokettierte, und davor hatte Marjorie sie eindeutig gewarnt. Glücklicherweise, und vielleicht weil er das Sprücheklopfen samstagnächtlicher Diskotheken nicht gewohnt war, ignorierte er ihren kleinen Anfall von Hochmut.

»Das versuche ich ja gerade«, sagte er geduldig. »Ich habe auch schon einen Vorschlag.«

»Das möchte ich wetten«, sagte sie.

Sie kam nicht dagegen an. Ihr ganzes Leben lang, oder zumindest in dem Teil ihres Lebens, in dem sich Männer für sie interessiert hatten, hatte sie sich ihrer erwehren müssen. Jetzt musste sie plötzlich das Gegenteil tun und den Beißreflex unterdrücken.

»Und zwar mit Recht. Sie würden Geld gewinnen. Ich würde ja nicht mit Ihnen sprechen, wenn ich keinen Vorschlag hätte, nicht wahr?«

Sie wusste diese brutale Klarstellung zu schätzen und lächelte.

»Ich treffe mich zum Abendessen mit einem Freund. Einem Kunden. Er bringt eine Freundin mit und hat vorgeschlagen, ich solle das auch tun.«

In ihrem letzten Leben hätte sie jetzt seinen Ehering erwähnt, aber so viel war ihr inzwischen doch klar.

»Das klingt nett.«

Sie war immer noch weit entfernt von einem Fernseher, aber es war ein Anfang.

 

Marjorie riet ihr, sich etwas zum Anziehen von der Arbeit auszuleihen. Anscheinend machten das alle. In der Mittagspause ging sie mit ihrer Tasche nach oben, sprach mit einer der Kolleginnen dort und nahm ein hübsches, knielanges rotes Kleid mit Wasserfallausschnitt mit. Als sie sich ausgehfertig machte, fiel ihr wieder ein, wie sie aussehen konnte, wenn sie wollte. Sie trug Lippenstift auf und zeigte ein bisschen Bein. Es war lange her.

»Mein lieber Schwan«, sagte Marjorie, und Barbara lächelte. Valentine Laws hatte einen Tisch im Talk Of The Town gebucht, wo Tante Maries Lieblingssänger Matt Munro einen Auftritt hatte. Auf einem Poster am Eingang las Barbara, dass an anderen Abenden die Supremes, Helen Shapiro oder Cliff and the Shadows dort waren, über die ihre Kolleginnen auf der Arbeit sicher alles hätten hören wollen. Matt Munro stammte aus einer anderen Zeit, einer Zeit, die sie mit Blackpool hinter sich gelassen hatte. Als sie zu ihrem Tisch gebracht wurde, stellte sie fest, dass sie eindeutig die jüngste Person im Raum war.

Valentine erwartete sie an einem Tisch für vier Personen, gleich neben der Bühne. Seine anderen Gäste waren noch nicht da. Er bestellte ihr einen Dubonnet mit Limonade, ohne sie zu fragen, sie sprachen über die Arbeit und London und Nachtclubs, und dann sah er auf und lächelte.

Theater »Talk of the Town« © Rex Features/action press

»Sidney!«

Aber Sidney, ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit Schnurrbart, schien nicht sonderlich erfreut zu sein, Valentine zu sehen, und dann wurde Valentines Gesicht zu schwierig, als dass Barbara noch darin hätte lesen können. Da war sein Lächeln, dann verschwand das Lächeln, dann riss er kurz entsetzt die Augen auf. Dann lächelte er wieder, aber ohne Herzlichkeit.

»Audrey!«, sagte Valentine.

Audrey war eine große Frau in einem sehr violetten und unangemessen langen Kleid. Sie war, nahm Barbara an, Sidneys Frau. Und dann dämmerte ihr, dass es ein Missverständnis gegeben haben musste. Sidney hatte gedacht, dass sie mit der einen Sorte Damen ausgehen (»die Damen«, »die lieben Frauen«, so was in der Art), aber Valentine hatte Barbara in der Annahme eingeladen, dass es sich insgesamt um eine andere Sorte Ausgehen handeln würde, zwar eine mit Damen, aber nicht mit den Damen. Vermutlich hatten sie schon beide Arten von Abenden miteinander verbracht, daher die Verwirrung. Das Leben verheirateter reicher Männer war so kompliziert und verlogen, die Codes, in denen sie miteinander sprachen, so doppeldeutig, dass Barbara sich wunderte, dass so etwas nicht andauernd passierte. Aber vielleicht tat es das ja. Vielleicht war das Talk Of The Town ja voll mit Tischen, an denen Frauen höchst unterschiedlichen Alters einander misstrauisch beäugten.

»Valentine und ich müssen noch kurz geschäftlich an der Bar miteinander sprechen«, sagte Sidney. »Bitte entschuldigen Sie uns für einen Moment.«

Valentine stand auf, nickte Sidneys Frau zu und folgte Sidney, der wütend davonstapfte. Es handelte sich offenbar um ein Missverständnis mit Folgen. Sidneys liebe Frau würde verstehen, wer Barbara war und was das bedeutete; sie würde sich ausrechnen können, dass es bereits ähnliche Abende gegeben hatte, zu denen sie nicht eingeladen gewesen war. Wenn Valentine fixer im Kopf gewesen wäre, hätte er Barbara als seine Cousine vorstellen können, als seine Sekretärin oder seine Bewährungshelferin, aber er hatte sich von Sidney davonschleifen lassen, um sich eine Standpauke anzuhören, und die Frauen zurückgelassen, sodass sie ihre eigenen Schlüsse ziehen konnten.

Audrey setzte sich schwerfällig auf den Platz Barbara gegenüber und sah sie an.

»Er ist verheiratet, ist Ihnen das klar?«, fragte sie schließlich.

Barbara bezweifelte, dass sie noch da sein würde, um Matt Munro singen zu hören, also beschloss sie, wenigstens so viel Spaß wie möglich zu haben. Sie sah Audrey an und lachte, spontan und verächtlich.

»Mit wem?«, sagte sie. »Ich bring sie um.« Und dann lachte sie noch einmal, nur um Audrey zu zeigen, wie wenig sie diese Neuigkeit aus der Ruhe brachte.

»Er ist verheiratet«, wiederholte Audrey. »Mit Joan. Ich kenne sie. Sie sind schon sehr lange verheiratet, sie haben Kinder und alles. Sie sind schon gar keine Kinder mehr. Der Sohn ist sechzehn, die Tochter geht auf die Krankenschwesternschule.«

»Tja«, sagte Barbara. »Dann gibt er sich wohl nicht besonders viel Mühe damit, sie großzuziehen, denn in den letzten zwei Jahren hat er keine einzige Nacht anderswo als zu Hause verbracht.«

»Zu Hause?«, sagte Audrey. »Sie leben zusammen?«

»Oh, das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört«, sagte Barbara. »Wir heiraten im Juni. Wobei, wenn das stimmt, was Sie sagen, dann muss er wohl erst noch etwas klären.« Und dann lachte sie zum dritten Mal und schüttelte den Kopf über so viel Absurdität. Valentine! Verheiratet! Mit Kindern!

»Haben Sie diese ›Kinder‹ mal kennengelernt?«

»Nun ja«, sagte Audrey. »Nein.« Barbara stellte zufrieden fest, dass sich ein winziger Zweifel eingeschlichen hatte. »Aber ich habe mit Joan über sie gesprochen. Sidney und ich haben auch zwei Teenager.«

»Ah«, sagte Barbara. »Gesprochen. Sprechen können wir alle. Ich könnte fünfzehn Kinder herbeireden. Plopp, plopp, plopp, plopp, plopp …«

Fünfzehn Kinder waren zu viele Plopps, merkte sie. Sie würde völlig irr erscheinen, wenn sie weitermachte, also hörte sie auf.

»Oder jedenfalls fünf«, sagte sie.

»Was meinen Sie?«

»Reden ist nicht das Gleiche wie Sehen, oder?«

»Wollen Sie sagen, Joan hat sie erfunden?«

»Ehrlich gesagt, ich glaube, die ganze Joan war erfunden.«

»Wie soll sie denn erfunden sein, ich habe sie ja kennengelernt.«

»Ja, aber Sie wissen doch, wie Männer sind. Manchmal wollen sie einfach ohne uns ausgehen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das ist doch harmlos. Finde ich.«

»Sie meinen, Joan war eine Art …«

»Nein, nein. Er wollte sicher nur ein bisschen Gesellschaft. Wahrscheinlich war ich an dem Abend im Kino oder so.«

»Sie war nicht mehr besonders jung«, sagte Audrey.

»Ach, das ist ja süß, dass er den Abend mit jemandem in seinem Alter verbringen wollte.«

Audrey dachte über den ausgefeilten Betrug nach, dem sie aufgesessen war, und schüttelte den Kopf.

»Ich fasse es nicht«, sagte sie. »Was für eine sonderbare Idee.«

Sidney und Valentine kamen an den Tisch zurück und waren offenbar wieder beste Freunde.

»Ich sollte euch wohl noch mal richtig vorstellen«, sagte Valentine. »Audrey, das ist Barbara. Sie arbeitet bei mir im Büro und ist ein Riesenfan von Matt Munro. Als Joan heute Nachmittag krank geworden ist …«

Sidneys Frau sah sie an, erst verwirrt, dann empört.

»War nett, Sie kennenzulernen, Audrey«, sagte Barbara und ging ihren Mantel holen.

 

Die paar Minuten mit Audrey hatten ihr einen eigenartigen Spaß gemacht, denn sie hatte eine Rolle in einem Sketch gespielt, den sie selbst geschrieben hatte, ganz spontan. Sie hatte sogar ganz gut gespielt, fand sie, wenn man bedachte, wie dünn das Material gewesen war. Aber dann wich das Adrenalin aus ihrem Körper, und als sie an der Garderobe anstand, war sie so niedergeschlagen wie in ihrer ganzen Zeit in London noch nicht. Seit ihrem Gespräch mit Marjorie hatte sie sich gesagt, dass sie nur zwei Möglichkeiten hatte und beide gleich trostlos waren: Sie konnte entweder in der Kosmetikabteilung arbeiten oder einen Mann wie Valentine Laws aufgabeln, in der Hoffnung, dass er sie ein paar Zentimeter näher dorthin brachte, wo sie hinwollte. Also hatte sie einen Mann wie Valentine Laws aufgegabelt und sich am Ende billig und dumm gefühlt. Und am nächsten Tag würde sie so oder so wieder am Kosmetiktresen stehen. Ihr war zum Heulen zumute. Auf jeden Fall wollte sie nach Hause. Sie hatte die Nase voll, sie würde nach Hause fahren und einen Mann heiraten, der Teppichläden besaß, sie würde seine Kinder bekommen, und er würde mit anderen Frauen in Nachtclubs gehen, und sie würde alt werden und sterben und hoffen, dass sie im nächsten Leben mehr Glück hatte.

Auf dem Weg aus dem Talk Of The Town traf sie Brian.

Beinahe hätte sie ihn umgerannt, als sie die Treppe hinauf zum Ausgang ging. Er sagte guten Abend, sie sagte, er solle sie in Ruhe lassen, und er wirkte verdattert.

»Sie erinnern sich nicht an mich, oder?«

»Nein«, sagte sie und war auch froh darum. Er war es eindeutig nicht wert, dass man sich an ihn erinnerte. Er sah zwar einigermaßen gut aus und trug einen offenbar sehr teuren Anzug, aber er war sogar noch älter als Valentine Laws. Nichts an ihm war vertrauenerweckend.

»Wir haben uns bei der Premiere dieses Arthur-Askey-Films kennengelernt, in dem Sie mitgespielt haben.«

»Ich habe noch nie in einem Film mitgespielt.«

»Oh«, sagte er. »Tut mir leid. Dann sind Sie wohl gar nicht Sabrina?«

»Nein, verdammt, ich bin nicht die verdammte Sabrina. Die verdammte Sabrina ist verdammt noch mal zehn Jahre älter als ich. Und ja, wir kommen aus derselben Stadt, und ja, sie hat einen großen Busen. Aber wenn einer von euch Typen eine Frau mal oberhalb des Halses angucken würde, dann könntet ihr uns vielleicht auch auseinanderhalten.«

Er kicherte.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich bin froh, dass Sie nicht sie sind. Es war kein besonders guter Film, und sie hat miserabel gespielt. Wo wollen Sie eigentlich hin?«

»Nach Hause.«

»Sie können jetzt noch nicht nach Hause gehen. Matt Munro hat ja noch nicht mal angefangen.«

»Warum kann ich nicht nach Hause gehen?«

»Weil Sie bleiben und etwas trinken sollten. Ich möchte alles über Sie wissen.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Mit diesem Mann konnte sie sich kabbeln, denn sie wollte nichts von ihm, und sie hatte sowieso gerade genug von den Männern.

»Ich bin nicht das, wofür Sie mich halten«, sagte er.

»Ich halte Sie für gar nichts.«

»Ich bin sehr glücklich verheiratet«, sagte er.

Plötzlich stand eine lächelnde, attraktive Frau neben ihm. Sie war ein kleines bisschen jünger als er, aber nicht skandalös viel.

»Da ist sie ja«, sagte der Mann. »Das ist meine Frau.«

»Guten Abend«, sagte die Frau. Sie schien gar nicht sauer auf Barbara zu sein, sie wollte nur vorgestellt werden.

»Ich bin Brian Debenham«, sagte er. »Und das ist Patsy.«

»Hallo«, sagte Patsy. »Sie sind aber hübsch.«

Barbara überlegte, was das hier werden würde. Ein Mann und seine Frau, die gemeinsam versuchten, sie aufzugabeln, lagen sehr weit am Rand ihrer Vorstellungskraft. Sie hätte nicht mal ein Wort dafür gewusst. »Ich versuche gerade, sie zu einem Drink mit uns zu bewegen«, sagte Brian.

»Das verstehe ich«, sagte Patsy und musterte Barbara von oben bis unten. »Genau deine Kragenweite. Sieht aus wie Sabrina.«

»Ich glaube, sie mag es nicht, wenn man das sagt.«

»Das stimmt«, sagte Barbara. »Und ich mag es auch nicht, wenn ein Mann mich abzuschleppen versucht und seine Frau ihm dabei zuguckt.«

Das kam ihr vor wie die sicherste Erklärung. Wenn sie nicht mal ein Wort für die andere Möglichkeit kannte, würde sie sie auch nicht dessen beschuldigen. Sie würde auf jeden Fall herausfinden, was eine Soubrette war. Denn offenbar versuchten die beiden gerade, sie zu einer zu machen.

Brian und Patsy lachten.

»Oh, ich will Sie gar nicht abschleppen«, sagte er. »Oder jedenfalls geht es nicht um Sex. Es ist noch viel schmutziger. Ich will Geld mit Ihnen verdienen. Ich bin Schauspielagent.«

Barbara brachte ihren Mantel wieder zur Garderobe, und so fing alles an.

3

Brian bestand darauf, dass sie nicht mehr zu Derry and Tom’s zurückkehrte.

»Ich habe zwei Wochen Kündigungsfrist.«

Sie hatte sich bereits telefonisch krankgemeldet, um Brian im Büro aufsuchen zu können. Mehr konnte sie sich nicht freinehmen.

»Warum nicht?«

»Warum nicht?«

»Ja, warum nicht?«

»Weil …« Ihr fiel kein Grund ein, außer dass das eben die Regeln waren. »Wie soll ich denn meine Miete zahlen?«

»Ich finde schon Arbeit für dich.«

»Ich brauche aber jetzt Geld.«

»Ich unterstütze dich die ersten zwei Wochen. Den ersten Monat. Was verdienst du, zwanzig Pfund die Woche? Ich werde nicht zulassen, dass du wegen achtzig Pfund im Monat ein Angebot ablehnst.«

Sie verdiente keineswegs zwanzig Pfund die Woche. Sie bekam gerade mal zwölf, und das auch erst seit dem Ende der Probezeit.

»Aber was für ein Angebot sollte ich denn ablehnen? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht geschauspielert.«

»Das ist ja das Wunderbare daran, Darling. Keine Erfahrung nötig. Du brauchst nicht mal zu schauspielern. Ich werde Sabrina nie wieder erwähnen, aber du hast ja vielleicht bemerkt, dass sie nicht gerade Dorothy Tutin ist. Liebes, du brauchst bloß irgendwo herumzustehen, und die Leute werden mich mit Geld bewerfen. Und einen Teil davon gebe ich dir. Ehrlich, das ist die einfachste Sache der Welt.«

»Klingt eher wie die älteste Sache der Welt.«

»Sei nicht so zynisch, das ist mein Job. Hör zu. Weißt du, was eine Soubrette ist?«

Sie seufzte und verdrehte die Augen. Sie würde schnurstracks in die Bibliothek gehen, sobald sie aus Brians Büro kam.

»Du bist der Inbegriff der Soubrette. Und alle wollen welche. Aber du brauchst das nicht mal zu machen, die Leute werden dir einen Haufen Geld dafür zahlen, dass du einfach du bist. Tu einfach, was ich dir sage, dann sind alle glücklich.«

»Was sagen Sie mir denn?«

»Ich werde dir sagen, wen du kennenlernen sollst, und diese Leute werden dir dann sagen, was du tun sollst. Lächeln. Auf und ab gehen. Die Brust oder den Po rausstrecken. So was halt. Wir bringen dich in Null Komma nichts bei einem Studio unter Vertrag. Und ehe du dich versiehst, hat jeder Mann unter siebzig ein Foto von dir im Bikini in seinem Bastelschuppen an der Wand hängen.«

»Solange sie mich spielen lassen, trage ich, was sie wollen.«

»Du meinst, du willst wirklich spielen?«

»Ich will als Komikerin arbeiten«, sagte Barbara. »Ich möchte Lucille Ball sein.«

Der Wunsch, Schauspielerin zu werden, war Brians Ruin. All die schönen, gut gebauten Mädchen, und die Hälfte von ihnen wollte keine Kalenderfotos machen oder bei Geschäftseröffnungen posieren. Sie wollten drei Sätze in einem BBC-Film über ledige Mütter, die im Bergbau arbeiteten. Er konnte das nicht nachvollziehen, hatte aber die Kontakte zu Produzenten und Casting-Agenten und schickte die Mädchen zum Vorsprechen. Nach ein paar Absagen waren sie meist sehr viel leichter zu handhaben.

»Wenn ich mich recht erinnere, hatte Lucille Ball nicht groß die Wahl. Sie hatte ein bisschen zu kämpfen, hat keine Hauptrollen mehr in Liebesfilmen bekommen, deshalb hat sie angefangen, Grimassen zu schneiden. Du hast noch Jahre Zeit, bevor wir über so was nachdenken müssen. Jahrzehnte wahrscheinlich. Guck dich doch mal an!«

»Ich möchte auf Vorsprechen gehen.«

»Was ich sagen wollte, ist: du brauchst nicht auf Vorsprechen zu gehen. Du könntest als Model arbeiten, und dann kannst du in jedem Film mitspielen, den du möchtest.«

Wie oft hatte er diese Ansprache jetzt schon gehalten? Sie hörten ihm nie zu.

»In jedem Film, den ich möchte, solange ich den Mund nicht aufmache.«

»Ich kann dich nicht ewig mit durchfüttern.«

»Sie meinen, wenn ich den Mund aufmache, müssen Sie mich ewig mit durchfüttern?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Schicken Sie mich zum Vorsprechen.«

Brian zuckte die Achseln. Dann würden sie wohl den Umweg nehmen müssen.

 

Am nächsten Morgen musste sie Marjorie erklären, dass sie nicht mit ihr zur Arbeit gehen würde, weil sie in einem Nachtclub einen Mann kennengelernt hatte, der sie dafür bezahlte, dass sie das nicht mehr tat.

»Was für einen Mann?«, fragte Marjorie. »Und gibt es noch mehr davon? Ich weiß, ich bin nur bei den Schuhen, aber du kannst ihm sagen, ich würde wirklich alles tun.«

»Er ist Agent.«

»Hast du seine Lizenz gesehen, oder was auch immer man als Agent so hat?«

»Nein. Aber ich glaube ihm.«

»Warum?«

»Weil ich gestern bei ihm im Büro war. Er hat eine Sekretärin, einen Schreibtisch …«

»Das machen doch alle.«

»Was?«

»Sekretärinnen und Schreibtische haben. Um Leute zu betrügen. Ich bin gespannt, ob der Schreibtisch noch da ist, wenn du heute wieder hingehst.«

»Er hat Aktenschränke.«

»Manchmal bist du ganz schön naiv, Barbara.«

»Aber wie soll er mich denn betrügen?«

»Ich werde das nicht aussprechen.«

»Du meinst, Leute schaffen sich eine Sekretärin, einen Schreibtisch und Aktenschränke an, um ein Mädchen zu verführen? Kommt mir ziemlich aufwendig vor.«

Marjorie überzeugte das nicht, aber Barbara hatte ihre eigenen Schlüsse gezogen.

»Hat er dir Geld gegeben?«

»Noch nicht. Aber er hat es versprochen.«

»Hast du etwas getan, um das Geld zu verdienen?«

»Nein!«

»Oje.«

»Aber das ist doch gut, oder?«

»Davon würde ich nicht ausgehen. Wenn er dir schon Geld gibt, weiß Gott, was er erwartet.«

 

Barbara wäre sich dumm vorgekommen, wenn Brian nicht sofort angefangen hätte, sie zum Vorsprechen zu schicken. Sie hatte kein Telefon, also begann sie den Tag mit einem Stapel Dreipennymünzen und einem Spaziergang zur Telefonzelle an der Ecke; wenn er nichts für sie hatte, hatte er seine Sekretärin angewiesen, ihr das sofort zu sagen, damit sie gar nicht erst eine zweite Münze einwarf.

Das erste Vorsprechen war für eine Farce mit dem Titel In My Lady’s Chamber. Darin ging es um … ach, egal, worum es ging. Es ging um junge Frauen in Unterwäsche, um lüsterne Ehemänner, die mit den Hosen um die Knöchel erwischt wurden, und um deren schreckliche, freudlose Ehefrauen. In Wahrheit ging es um Leute, die es nicht trieben, obwohl sie es wollten. Ein Großteil der britischen Komödien drehte sich darum, hatte Barbara bemerkt. Es kam immer irgendetwas dazwischen, bevor sie es tun konnten, nie kam es erst hinterher raus. Das deprimierte sie.

Das Stück sollte in einem Theaterclub in einer Seitenstraße der Charing Cross Road aufgeführt werden. Der Regisseur hatte zu Brian gesagt, der Lord Chamberlain hätte es in einem richtigen Theater wahrscheinlich nicht haben wollen.

»Das ist natürlich totaler Unsinn, dem Lord Chamberlain ist das piepegal. Aber sie hätten gerne, dass man das glaubt«, sagte Brian.

»Warum soll man das denn glauben?«

»Du hast das Stück doch gelesen«, sagte er. »Es ist miserabel. Im West End würde das keine zwei Abende lang gespielt. Aber so können sie ein paar Tickets an die Trottel verkaufen, die glauben, sie bekommen dafür etwas richtig Anstößiges.«

»Es ist überhaupt nicht lustig.«

»Es ist nicht das kleinste bisschen lustig«, sagte Brian. »Aber es ist eine Komödie. Du hast gesagt, du willst Komödien.«

Er bestrafte sie, das war ihr klar. Er würde ihr ein paar schreckliche Auftritte vermitteln, und dann würde sie bald im Badeanzug in einer Quizshow stehen und er wäre glücklich.

Am Abend vor dem Vorsprechen las sie das Stück noch einmal. Es war noch schlechter, als sie gedacht hatte, und dennoch wäre sie vor lauter Verlangen, darin mitzuspielen, beinahe in Ohnmacht gefallen.

Die Figur hieß Polly, und sie war diejenige, mit der die Hauptrolle, der Ehemann mit der spröden, strengen Gattin, es nicht treiben konnte, immer und immer wieder. Sie setzte sich an einen Tisch in dem schmuddeligen kleinen Club, und der Regisseur, ein müder Mann in den Sechzigern, mit nikotinfleckigem, weißem Haar, las den Gegenpart. Sie sprach ihre Rolle – selbstbewusst, wie sie fand, und ein bisschen schnippisch.

»›Doch nicht hier! Nicht, wenn deine Frau oben ist.‹«

Er schüttelte sofort den Kopf, als sie den Mund aufmachte.

»Bist das wirklich du, oder versuchst du irgendwas?«

Sie war noch nie mit jemandem in einem Zimmer gewesen, der so vornehm war. Ihr Vater hätte allein dieses Treffen als Beweis gelten lassen, dass ihr Leben in London ein erstaunlicher sozialer Aufstieg war.

Sie fing noch einmal an, ohne irgendetwas anders zu machen, denn sie verstand nicht, was er meinte.

»Das bist du, oder?«

»Was?«

»Das.« Er zeigte auf ihren Mund. »Der Akzent.«