Miss Sara Sampson - Gotthold Ephraim Lessing - E-Book

Miss Sara Sampson E-Book

Gotthold Ephraim Lessing

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Beschreibung

In Lessings bürgerlichem Trauerspiel, 1755 erschienen und uraufgeführt, scheitert die Liebesbeziehung des attraktiven, aber charakterschwachen Mellefont zu der jungen, tugendhaften Sara an der Skrupellosigkeit seiner früheren Geliebten. Klassenlektüre und Textarbeit einfach gemacht: Die Reihe »Reclam XL – Text und Kontext« erfüllt alle Anforderungen an Schullektüre und Bedürfnisse des Deutschunterrichts: * Reclam XL bietet den sorgfältig edierten Werktext – seiten- und zeilengleich mit der entsprechenden Ausgabe aus Reclams Universal-Bibliothek. * Schwierige Wörter werden am Fuß jeder Seite erklärt, ausführlichere Wort- und Sacherläuterungen stehen im Anhang. * Ein Materialienteil mit Text- und Bilddokumenten erleichtert die Einordnung und Deutung des Werkes im Unterricht. * Natürlich passen auch weiterhin alle Lektüreschlüssel, Erläuterungsbände und Interpretationen dazu! E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 182

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Gotthold Ephraim Lessing

Miss Sara Sampson

Ein Trauerspiel in fünf AufzügenReclam XL | Text und Kontext

Herausgegeben von Wolfgang Keul

Reclam

2020, 2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Durchgesehene Ausgabe 2023

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961736-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-016163-0

www.reclam.de

Inhalt

Personen

Erster Aufzug

Erster Auftritt

Zweiter Auftritt

Dritter Auftritt

Vierter Auftritt

Fünfter Auftritt

Sechster Auftritt

Siebenter Auftritt

Achter Auftritt

Neunter Auftritt

Zweiter Aufzug

Erster Auftritt

Zweiter Auftritt

Dritter Auftritt

Vierter Auftritt

Fünfter Auftritt

Sechster Auftritt

Siebender Auftritt

Achter Auftritt

Dritter Aufzug

Erster Auftritt

Zweiter Auftritt

Dritter Auftritt

Vierter Auftritt

Fünfter Auftritt

Sechster Auftritt

Siebenter Auftritt

Vierter Aufzug

Erster Auftritt

Zweiter Auftritt

Dritter Auftritt

Vierter Auftritt

Fünfter Auftritt

Sechster Auftritt

Siebenter Auftritt

Achter Auftritt

Neunter Auftritt

Fünfter Aufzug

Erster Auftritt

Zweiter Auftritt

Dritter Auftritt

Vierter Auftritt

Fünfter Auftritt

Sechster Auftritt

Siebenter Auftritt

Achter Auftritt

Neunter Auftritt

Zehnter Auftritt

Eilfter Auftritt

Anhang

1. Zur Textgestalt

2. Anmerkungen

3. Leben und Werk

4. Literaturgeschichtliche Einordnung

5. Entstehung und Quellen

6. Die Form des Dramas

7. Rezeption

8. Das Stück auf der Bühne

9. Literaturhinweise

Fußnoten

[3]Personen

SIR WILLIAM SAMPSON

MISS SARA, dessen Tochter

MELLEFONT

MARWOOD, Mellefonts alte Geliebte

ARABELLA, ein junges Kind, der Marwood Tochter

WAITWELL, ein alter Diener des Sampson

NORTON, Bedienter des Mellefont

BETTY, Mädchen der Sara

HANNAH, Mädchen der Marwood

DER GASTWIRT und einige Nebenpersonen

[5]Erster Aufzug

Erster Auftritt

Der Schauplatz ist ein Saal im Gasthofe.

Sir William Sampson und Waitwell treten in Reisekleidern herein.

SIR WILLIAM.

Hier meine Tochter? Hier in diesem elenden Wirtshause?

WAITWELL.

Ohne Zweifel hat Mellefont mit Fleiß das allerelendeste im ganzen Städtchen zu seinem Aufenthalte gewählt. Böse Leute suchen immer das Dunkle, weil sie böse Leute sind. Aber was hilft es ihnen, wenn sie sich auch vor der ganzen Welt verbergen könnten? Das Gewissen ist doch mehr, als eine ganze uns verklagende Welt. – Ach, Sie weinen schon wieder, schon wieder, Sir! – Sir!

SIR WILLIAM.

Lass mich weinen, alter ehrlicher Diener. Oder verdient sie etwa meine Tränen nicht?

WAITWELL.

Ach! sie verdient sie, und wenn es blutige Tränen wären.

SIR WILLIAM.

Nun so lass mich.

WAITWELL.

Das beste, schönste, unschuldigste Kind, das unter der Sonne gelebt hat, das muss so verführt werden! Ach Sarchen! Sarchen! Ich habe dich aufwachsen sehen; hundertmal habe ich dich als ein Kind auf diesen meinen Armen gehabt; auf diesen meinen Armen habe ich dein Lächeln, dein Lallen bewundert. Aus jeder kindischen Miene strahlte die Morgenröte eines Verstandes, einer Leutseligkeit, einer – –

SIR WILLIAM.

O schweig! Zerfleischt nicht das Gegenwärtige mein Herz schon genug? Willst du meine Martern durch die Erinnerung an vergangne Glückseligkeiten noch höllischer machen? Ändre deine Sprache, wenn du [6]mir einen Dienst tun willst. Tadle mich; mache mir aus meiner Zärtlichkeit ein Verbrechen; vergrößre das Vergehen meiner Tochter; erfülle mich, wenn du kannst, mit Abscheu gegen sie; entflamme aufs Neue meine Rache gegen ihren verfluchten Verführer; sage, dass Sara nie tugendhaft gewesen, weil sie so leicht aufgehört hat es zu sein; sage, dass sie mich nie geliebt, weil sie mich heimlich verlassen hat.

WAITWELL.

Sagte ich das, so würde ich eine Lüge sagen; eine unverschämte böse Lüge. Sie könnte mir auf dem Todbette wieder einfallen, und ich alter Bösewicht müsste in Verzweiflung sterben. – Nein, Sarchen hat ihren Vater geliebt, und gewiss! gewiss! sie liebt ihn noch. Wenn Sie nur davon überzeugt sein wollen, Sir, so sehe ich sie heute noch wieder in Ihren Armen.

SIR WILLIAM.

Ja, Waitwell, nur davon verlange ich überzeugt zu sein. Ich kann sie länger nicht entbehren; sie ist die Stütze meines Alters, und wenn sie nicht den traurigen Rest meines Lebens versüßen hilft, wer soll es denn tun? Wenn sie mich noch liebt, so ist ihr Fehler vergessen. Es war der Fehler eines zärtlichen Mädchens, und ihre Flucht war die Wirkung ihrer Reue. Solche Vergehungen sind besser, als erzwungene Tugenden – Doch ich fühle es, Waitwell, ich fühle es; wenn diese Vergehungen auch wahre Verbrechen, wenn es auch vorsätzliche Laster wären: ach! ich würde ihr doch vergeben. Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter, als von keiner, geliebt sein wollen.

WAITWELL.

Trocknen Sie Ihre Tränen ab, lieber Sir! Ich höre jemanden kommen. Es wird der Wirt sein, uns zu empfangen.

[7]Zweiter Auftritt

Der Wirt. Sir William Sampson. Waitwell.

DER WIRT.

So früh, meine Herren, so früh? Willkommen! willkommen Waitwell! Ihr seid ohne Zweifel die Nacht gefahren? Ist das der Herr, von dem du gestern mit mir gesprochen hast?

WAITWELL.

Ja, er ist es, und ich hoffe, dass du abgeredeter Maßen – –

DER WIRT.

Gnädiger Herr, ich bin ganz zu Ihren Diensten. Was liegt mir daran, ob ich es weiß, oder nicht, was Sie für eine Ursache hierherführt, und warum Sie bei mir im Verborgnen sein wollen? Ein Wirt nimmt sein Geld, und lässt seine Gäste machen, was ihnen gut dünkt. Waitwell hat mir zwar gesagt, dass Sie den fremden Herrn, der sich seit einigen Wochen mit seinem jungen Weibchen bei mir aufhält, ein wenig beobachten wollen. Aber ich hoffe, dass Sie ihm keinen Verdruss verursachen werden. Sie würden mein Haus in einen übeln Ruf bringen, und gewisse Leute würden sich scheuen, bei mir abzutreten. Unsereiner muss von allen Sorten Menschen leben. – –

SIR WILLIAM.

Besorget nichts; führt mich nur in das Zimmer, das Waitwell für mich bestellt hat. Ich komme aus rechtschaffnen Absichten hierher.

DER WIRT.

Ich mag Ihre Geheimnisse nicht wissen, gnädiger Herr! Die Neugierde ist mein Fehler gar nicht. Ich hätte es, zum Exempel, längst erfahren können, wer der fremde Herr ist, auf den Sie Acht geben wollen; aber ich mag nicht. So viel habe ich wohl herausgebracht, dass er mit dem Frauenzimmer muss durchgegangen sein. Das gute Weibchen, oder was sie ist! sie bleibt den ganzen Tag in ihrer Stube eingeschlossen und weint.

SIR WILLIAM.

Und weint?

DER WIRT.

Ja, und weint – – Aber, gnädiger Herr, warum [8]weinen Sie? Das Frauenzimmer muss Ihnen sehr nahe gehen. Sie sind doch wohl nicht – –

WAITWELL.

Halt ihn nicht länger auf.

DER WIRT.

Kommen Sie. Nur eine Wand wird Sie von dem Frauenzimmer trennen, das Ihnen so nahe geht, und die vielleicht – –

WAITWELL.

Du willst es also mit aller Gewalt wissen, wer – –

DER WIRT.

Nein, Waitwell, ich mag nichts wissen.

WAITWELL.

Nun so mache, und bringe uns an den gehörigen Ort, ehe noch das ganze Haus wach wird.

DER WIRT.

Wollen Sie mir also folgen, gnädiger Herr? (Geht ab.)

Dritter Auftritt

Der mittlere Vorhang wird aufgezogen.

Mellefonts Zimmer.

Mellefont und hernach sein Bedienter.

MELLEFONT (unangekleidet in einem Lehnstuhle).

Wieder eine Nacht, die ich auf der Folter nicht grausamer hätte zubringen können! – Norton! – Ich muss nur machen, dass ich Gesichter zu sehen bekomme. Bliebe ich mit meinen Gedanken länger allein: sie möchten mich zu weit führen. – He, Norton! Er schläft noch. Aber bin ich nicht grausam, dass ich den armen Teufel nicht schlafen lasse? Wie glücklich ist er! – Doch ich will nicht, dass ein Mensch um mich glücklich sei. – Norton!

NORTON (kommend)

. Mein Herr!

MELLEFONT.

Kleide mich an! – O mache mir keine sauern Gesichter! Wenn ich werde länger schlafen können, so erlaube ich dir, dass du auch länger schlafen darfst. [9]Wenn du von deiner Schuldigkeit nichts wissen willst, so habe wenigstens Mitleiden mit mir.

NORTON.

Mitleiden, mein Herr? Mitleiden mit Ihnen? Ich weiß besser, wo das Mitleiden hingehört.

MELLEFONT.

Und wohin denn?

NORTON.

Ah, lassen Sie sich ankleiden, und fragen Sie mich nichts.

MELLEFONT.

Henker! So sollen auch deine Verweise mit meinem Gewissen aufwachen? Ich verstehe dich; ich weiß es, wer dein Mitleiden erschöpft. – Doch, ich lasse ihr und mir Gerechtigkeit wiederfahren. Ganz recht; habe kein Mitleiden mit mir. Verfluche mich in deinem Herzen, aber – verfluche auch dich.

NORTON.

Auch mich?

MELLEFONT.

Ja; weil du einem Elenden dienest, den die Erde nicht tragen sollte, und weil du dich seiner Verbrechen mit teilhaft gemacht hast.

NORTON.

Ich mich Ihrer Verbrechen teilhaft gemacht? durch was?

MELLEFONT.

Dadurch, dass du dazu geschwiegen.

NORTON.

Vortrefflich! in der Hitze Ihrer Leidenschaften, würde mir ein Wort den Hals gekostet haben. – Und dazu, als ich Sie kennen lernte, fand ich Sie nicht schon so arg, dass alle Hoffnung zur Bessrung vergebens war? Was für ein Leben habe ich Sie nicht, von dem ersten Augenblicke an, führen sehen! In der nichtswürdigsten Gesellschaft von Spielern und Landstreichern – ich nenne sie, was sie waren und kehre mich an ihre Titel, Ritter und dergleichen, nicht – in solcher Gesellschaft brachten Sie ein Vermögen durch, das Ihnen den Weg zu den größten Ehrenstellen hätte bahnen können. Und Ihr strafbarer Umgang mit allen Arten von Weibsbildern, besonders der bösen Marwood – –

MELLEFONT.

Setze mich, setze mich wieder in diese Lebensart: sie war Tugend in Vergleich meiner itzigen. Ich vertat mein Vermögen; gut. Die Strafe kömmt nach, und [10]ich werde alles, was der Mangel Hartes und Erniedrigendes hat, zeitig genug empfinden. Ich besuchte lasterhafte Weibsbilder; lass es sein. Ich ward öfter verführt, als ich verführte; und die ich selbst verführte, wollten verführt sein. – Aber – ich hatte noch keine verwahrlosete Tugend auf meiner Seele. Ich hatte noch keine Unschuld in ein unabsehliches Unglück gestürzt. Ich hatte noch keine Sara aus dem Hause eines geliebten Vaters entwendet, und sie gezwungen, einem Nichtswürdigen zu folgen, der auf keine Weise mehr sein Eigen war. Ich hatte – Wer kömmt schon so früh zu mir?

Vierter Auftritt

Betty. Mellefont. Norton.

NORTON.

Es ist Betty.

MELLEFONT.

Schon auf, Betty? Was macht dein Fräulein?

BETTY.

Was macht sie? (Schluchzend.) Es war schon lange nach Mitternacht, da ich sie endlich bewegte, zur Ruhe zu gehen. Sie schlief einige Augenblicke, aber Gott! Gott! was muss das für ein Schlaf gewesen sein! Plötzlich fuhr sie in die Höhe, sprang auf, und fiel mir als eine Unglückliche in die Arme, die von einem Mörder verfolgt wird. Sie zitterte, und ein kalter Schweiß floss ihr über das erblasste Gesicht. Ich wandte alles an, sie zu beruhigen, aber sie hat mir bis an den Morgen nur mit stummen Tränen geantwortet. Endlich hat sie mich einmal über das andre an Ihre Türe geschickt, zu hören, ob Sie schon auf wären. Sie will Sie sprechen. Sie allein können sie trösten. Tun Sie es doch, liebster gnädiger Herr, tun Sie es doch. Das Herz muss mir springen, wenn sie sich so zu ängstigen fortfährt.

MELLEFONT.

Geh, Betty, sage ihr, dass ich den Augenblick bei ihr sein wolle – –

[11]BETTY.

Nein, sie will selbst zu Ihnen kommen.

MELLEFONT.

Nun so sage ihr, dass ich sie erwarte – Ach! – – (Betty geht ab.)

Fünfter Auftritt

Mellefont. Norton.

NORTON.

Gott, die arme Miss!

MELLEFONT.

Wessen Gefühl willst du durch deine Ausrufungrege machen? Sieh, da läuft die erste Träne, die ich seit meiner Kindheit geweinet, die Wange herunter! – Eine schlechte Vorbereitung; eine trostsuchende Betrübte zu empfangen. Warum sucht sie ihn auch bei mir? – Doch wo soll sie ihn sonst suchen? – Ich muss mich fassen. (Indem er sich die Augen abtrocknet.) Wo ist die alte Standhaftigkeit, mit der ich ein schönes Auge konnte weinen sehen? Wo ist die Gabe der Verstellung hin, durch die ich sein und sagen konnte, was ich wollte? – Nun wird sie kommen, und wird unwiderstehliche Tränen weinen. Verwirrt, beschämt werde ich vor ihr stehen; als ein verurteilter Sünder werde ich vor ihr stehen. Rate mir doch, was soll ich tun? was soll ich sagen?

NORTON.

Sie sollen tun, was sie verlangen wird.

MELLEFONT.

So werde ich eine neue Grausamkeit an ihr begehen. Mit Unrecht tadelt sie die Verzögerung einer Zeremonie, die itztohne unser äußerstes Verderben in dem Königreiche nicht vollzogen werden kann.

NORTON.

So machen Sie denn, dass Sie es verlassen. Warum zaudern wir? Warum vergeht ein Tag, warum vergeht eine Woche nach der andern? Tragen Sie mir es doch auf. Sie sollen morgen sicher eingeschifft sein. Vielleicht, dass ihr der Kummer nicht ganz über das Meer folgt; dass sie einen Teil desselben zurücklässt, und in einem andern Lande – –

MELLEFONT.

Alles das hoffe ich selbst – Still, sie kömmt. Wie schlägt mir das Herz – –

[12]Sechster Auftritt

Sara. Mellefont. Norton.

MELLEFONT (indem er ihr entgegengeht).

Sie haben eine unruhige Nacht gehabt, liebste Miss – –

SARA.

Ach, Mellefont, wenn es nichts als eine unruhige Nacht wäre – –

MELLEFONT (zum Bedienten).

Verlass uns!

NORTON (im Abgehen).

Ich wollte auch nicht dableiben, und wenn mir gleich jeder Augenblick mit Golde bezahlt würde.

Siebenter Auftritt

Sara. Mellefont.

MELLEFONT.

Sie sind schwach, liebste Miss. Sie müssen sich setzen.

SARA (sie setzt sich).

Ich beunruhige Sie sehr früh; und werden Sie mir es vergeben, dass ich meine Klagen wieder mit dem Morgen anfange?

MELLEFONT.

Teuerste Miss, Sie wollen sagen, dass Sie mir es nicht vergeben können, weil schon wieder ein Morgen erschienen ist, ohne dass ich Ihren Klagen ein Ende gemacht habe.

SARA.

Was sollte ich Ihnen nicht vergeben? Sie wissen, was ich Ihnen bereits vergeben habe. Aber die neunte Woche, Mellefont, die neunte Woche fängt heut an, und dieses elende Haus sieht mich noch immer auf eben dem Fuße, als den ersten Tag.

MELLEFONT.

So zweifeln Sie an meiner Liebe?

SARA.

Ich, an Ihrer Liebe zweifeln? Nein, ich fühle mein Unglück zu sehr, zu sehr, als dass ich mir selbst diese letzte einzige Versüßung desselben rauben sollte.

MELLEFONT.

Wie kann also meine Miss über die Verschiebung einer Zeremonie unruhig sein?

[13]SARA.

Ach, Mellefont, warum muss ich einen andern Begriff von dieser Zeremonie haben? – Geben Sie doch immer der weiblichen Denkungsart etwas nach. Ich stelle mir vor, dass eine nähere Einwilligung des Himmels darin liegt. Umsonst habe ich es, nur wieder erst den gestrigen langen Abend, versucht, Ihre Begriffe anzunehmen, und die Zweifel aus meiner Brust zu verbannen, die Sie, itzt nicht das erste Mal, für Früchte meines Misstrauens angesehen haben. Ich stritt mit mir selbst; ich war sinnreich genug, meinen Verstand zu betäuben; aber mein Herz und ein inneres Gefühl warfen auf einmal das mühsame Gebäude von Schlüssen übern Haufen. Mitten aus dem Schlafe weckten mich strafende Stimmen, mit welchen sich meine Phantasie, mich zu quälen, verband. Was für Bilder, was für schreckliche Bilder schwärmten um mich herum! Ich wollte sie gern für Träume halten – –

MELLEFONT.

Wie? meine vernünftige Sara sollte sie für etwas mehr halten? Träume, liebste Miss, Träume! – Wie unglücklich ist der Mensch! Fand sein Schöpfer in dem Reiche der Wirklichkeiten nicht Qualen für ihn genug? Musste er, sie zu vermehren, auch ein noch weiteres Reich von Einbildungen in ihm schaffen?

SARA.

Klagen Sie den Himmel nicht an! Er hat die Einbildungen in unserer Gewalt gelassen. Sie richten sich nach unsern Taten, und wenn diese unsern Pflichten und der Tugend gemäß sind, so dienen die sie begleitenden Einbildungen zur Vermehrung unserer Ruhe und unseres Vergnügens. Eine einzige Handlung, Mellefont, ein einziger Segen, der von einem Friedensboten im Namen der ewigen Güte auf uns gelegt wird, kann meine zerrüttete Phantasie wieder heilen. Stehen Sie noch an, mir zuliebe dasjenige einige Tage eher zu tun, was Sie doch einmal tun werden? Erbarmen Sie sich meiner, und überlegen Sie, dass wenn Sie mich auch dadurch nur von Qualen der Einbildung befreien, diese eingebildete [14]Qualen doch Qualen, und für die, die sie empfindet, wirkliche Qualen sind. – Ach, könnte ich Ihnen nur halb so lebhaft die Schrecken meiner vorigen Nacht erzählen, als ich sie gefühlt habe! – Von Weinen und Klagen, meinen einzigen Beschäftigungen, ermüdet, sank ich mit halb geschlossenen Augenlidern auf das Bett zurück. Die Natur wollte sich einen Augenblick erholen, neue Tränen zu sammeln. Aber noch schlief ich nicht ganz, als ich mich auf einmal an dem schroffsten Teile des schrecklichsten Felsen sahe. Sie gingen vor mir her, und ich folgte Ihnen mit schwankenden ängstlichen Schritten, die dann und wann ein Blick stärkte, welchen Sie auf mich zurückwarfen. Schnell hörte ich hinter mir ein freundliches Rufen, welches mir still zu stehen befahl. Es war der Ton meines Vaters – Ich Elende! kann ich denn nichts von ihm vergessen? Ach! wo ihm sein Gedächtnis ebenso grausame Dienste leistet; wo er auch mich nicht vergessen kann! – Doch er hat mich vergessen. Trost! grausamer Trost für seine Sara! – Hören Sie nur, Mellefont; indem ich mich nach dieser bekannten Stimme umsehen wollte, gleitete mein Fuß; ich wankte und sollte eben in den Abgrund herabstürzen, als ich mich, noch zur rechten Zeit, von einer mir ähnlichen Person zurückgehalten fühlte. Schon wollte ich ihr den feurigsten Dank abstatten, als sie einen Dolch aus dem Busen zog. Ich rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben! Sie holte mit der bewaffneten Hand aus – und ach! ich erwachte mit dem Stiche. Wachend fühlte ich noch alles, was ein tödlicher Stich Schmerzhaftes haben kann; ohne das zu empfinden, was er Angenehmes haben muss: das Ende der Pein in dem Ende des Lebens hoffen zu dürfen.

MELLEFONT.

Ach! liebste Sara, ich verspreche Ihnen das Ende Ihrer Pein, ohne das Ende Ihres Lebens, welches gewiss auch das Ende des meinigen sein würde. Vergessen Sie das schreckliche Gewebe eines sinnlosen Traumes.

[15]SARA.

Die Kraft es vergessen zu können, erwarte ich von Ihnen. Es sei Liebe oder Verführung, es sei Glück oder Unglück, das mich Ihnen in die Arme geworfen hat; ich bin in meinem Herzen die Ihrige, und werde es ewig sein. Aber noch bin ich es nicht vor den Augen jenes Richters, der die geringsten Übertretungen seiner Ordnung zu strafen gedrohet hat – –

MELLEFONT.

So falle denn alle Strafe auf mich allein!

SARA.

Was kann auf Sie fallen, das mich nicht treffen sollte? – – Legen Sie aber mein dringendes Anhalten nicht falsch aus. Ein andres Frauenzimmer, das durch einen gleichen Fehltritt sich ihrer Ehre verlustig gemacht hätte, würde vielleicht durch ein gesetzmäßiges Band nichts als einen Teil derselben wieder zu erlangen suchen. Ich, Mellefont, denke darauf nicht, weil ich in der Welt weiter von keiner Ehre wissen will, als von der Ehre, Sie zu lieben. Ich will mit Ihnen, nicht um der Welt willen, ich will mit Ihnen um meiner selbst willen verbunden sein. Und wenn ich es bin, so will ich gern die Schmach auf mich nehmen, als ob ich es nicht wäre. Sie sollen mich, wenn Sie nicht wollen, für Ihre Gattin nicht erklären dürfen; Sie sollen mich erklären können, für was Sie wollen. Ich will Ihren Namen nicht führen; Sie sollen unsere Verbindung so geheim halten, als Sie es für gut befinden; und ich will derselben ewig unwert sein, wenn ich mir in den Sinn kommen lasse, einen andern Vorteil, als die Beruhigung meines Gewissens, daraus zu ziehen.

MELLEFONT.

Halten Sie ein, Miss, oder ich muss vor Ihren Augen des Todes sein. Wie elend bin ich, dass ich nicht das Herz habe, Sie noch elender zu machen! – Bedenken Sie, dass Sie sich meiner Führung überlassen haben; bedenken Sie, dass ich schuldig bin, für uns weiter hinaus zu sehen, und dass ich itzt gegen Ihre Klagen taub sein muss, wenn ich Sie nicht, in der ganzen Folge Ihres Lebens, noch schmerzhaftere Klagen will führen hören. [16]Haben Sie es denn vergessen, was ich Ihnen zu meiner Rechtfertigung schon oft vorgestellt?

SARA.

Ich habe es nicht vergessen, Mellefont. Sie wollen vorher ein gewisses Vermächtnis retten. – Sie wollen vorher zeitliche Güter retten, und mich vielleicht ewig darüber verscherzen lassen.

MELLEFONT.

Ach Sara, wenn Ihnen alle zeitliche Güter so gewiss wären, als Ihrer Tugend die ewigen sind – –

SARA.

Meiner Tugend? Nennen Sie mir dieses Wort nicht! – Sonst klang es mir süße, aber itzt schallt mir ein schrecklicher Donner darin!

MELLEFONT.

Wie? muss der, welcher tugendhaft sein soll, keinen Fehler begangen haben? Hat ein einziger so unselige Wirkungen, dass er eine ganze Reihe unsträflicher Jahre vernichten kann: so ist kein Mensch tugendhaft; so ist die Tugend ein Gespenst, das in der Luft zerfließet, wenn man es am festesten umarmt zu haben glaubt; so hat kein weises Wesen unsere Pflichten nach unsern Kräften abgemessen; so ist die Lust, uns strafen zu können, der erste Zweck unsers Daseins; so ist – Ich erschrecke vor allen den grässlichen Folgerungen, in welche Sie Ihre Kleinmut verwickeln muss! Nein, Miss, Sie sind noch die tugendhafte Sara, die Sie vor meiner unglücklichen Bekanntschaft waren. Wenn Sie sich selbst mit so grausamen Augen ansehen, mit was für Augen müssen Sie mich betrachten!

SARA.

Mit den Augen der Liebe, Mellefont.

MELLEFONT.

So bitte ich Sie denn um dieser Liebe, um dieser großmütigen, alle meine Unwürdigkeit übersehenden Liebe willen, zu Ihren Füßen bitte ich Sie: beruhigen Sie sich. Haben Sie nur noch einige Tage Geduld.

SARA.

Einige Tage! Wie ist ein Tag schon so lang!

MELLEFONT.

Verwünschtes Vermächtnis! Verdammter Unsinn eines sterbenden Vetters, der mir sein Vermögen nur mit der Bedingung lassen wollte, einer Anverwandtin die Hand zu geben, die mich ebenso sehr hasst, als[17]ich sie! Euch, unmenschliche Tyrannen unserer freien Neigungen, euch werde alle das Unglück, alle die Sünde zugerechnet, zu welchen uns euer Zwang bringet! – Und wenn ich ihrer nur entübriget sein könnte, dieser schimpflichen Erbschaft! Solange mein väterliches Vermögen zu meiner Unterhaltung hinreichte, habe ich sie allezeit verschmähet, und sie nicht einmal gewürdiget, mich darüber zu erklären. Aber itzt, itzt, da ich alle Schätze der Welt nur darum besitzen möchte, um sie zu den Füßen meiner Sara legen zu können, itzt da ich wenigstens darauf denken muss, sie ihrem Stande gemäß in der Welt erscheinen zu lassen, itzt muss ich meine Zuflucht dahin nehmen.

SARA.

Mit der es Ihnen zuletzt doch wohl noch fehlschlägt.

MELLEFONT.

Sie vermuten immer das Schlimmste. – Nein; das Frauenzimmer, die es mit betrifft, ist nicht ungeneigt, eine Art von Vergleich