Mit einem Schlag - Marcus Werner - E-Book

Mit einem Schlag E-Book

Marcus Werner

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Beschreibung

Schule sch…, Eltern sch…, Freunde – welche Freunde bitte? Nico ist echt aufgeschmissen. Um einen Schlussstrich unter sein jämmerliches Leben zu ziehen, beschließt er, die Provinz und seine Eltern hinter sich zu lassen. Weg aus Herford! Ein WG-Zimmer in Köln, ein Job als Kabelträger bei einer Fernsehshow und Mädels der Premiumklasse um ihn rum sollen die Wende bringen. Doch dann verletzt er sich am ersten Tag an so einem dämlichen defekten Stromkabel der Kamera – und danach ist Mit einem Schlag wirklich alles anders! Denn irgendwie kann Nico plötzlich Gedanken lesen …

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Seitenzahl: 277

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Marcus Werner

Mit einem Schlag

Wie ich dann doch noch zum Helden wurde

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Widmung1 Na?2 Kategorie A3 Kategorie B, C und D4 Entlarvung5 Ausgetrickst6 Husten7 Mahnwache8 Raus!9 Kacke10 Brotkugel11 Ein perfekter Schlag12 Böses Erwachen13 Doch nicht14 Andeutungen15 Hirn gehackt16 Touareg-Affe17 Scharfes Zeug18 Quitt!19 Und ich so: Hä?20 Absturz21 Thriller22 Weg!23 Einsatzzentrale24 Post!25 Krise, die hundertfünfzigste26 Jetzt oder nie!27 Perfekter Tag28 Nicht mehr lange
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Dieses Buch widme ich meiner kleinen Nichte Emmi,

die genau an jenem Tag geboren wurde, an dem ich

die ersten Zeilen zu diesem Roman geschrieben habe.

 

War echt Zufall!

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1 Na?

Ich bin nicht verrückt. Und ich bin auch nicht dumm. Das Verrückte und Dumme ist nur, dass ich in meinem Leben schon viel zu viel Zeit verplempert habe. Zum Beispiel damit, meinen Eltern beweisen zu wollen, dass es für sie nicht von Nachteil wäre, mich als Sohn zu lieben.

Oder meinen Lehrern, mich als Mensch zu respektieren.

Und meinen Mitschülern, mich zum Freund zu haben, statt mich fertigzumachen.

Ich kapiere die Menschen einfach nicht. Und sie mich auch nicht. Und das hat einen guten Grund.

Also, ich will mal so sagen: Insgesamt waren meine Bemühungen, von den Menschen um mich herum gemocht zu werden, bislang eine Vollpleite. Wenn ich mal locker über den Daumen gepeilt Bilanz ziehe, dann sieht es nämlich so aus: beschissen.

Eigentlich hatte ich weder richtige Eltern noch Freunde. Aber jeder meint, mich so gut zu kennen, dass er mich für einen Idioten hält. Sogar die Medien haben mich «Clown» genannt. Und wenn die Menschen etwas aufschnappen, was sie für verrückt und dumm halten, dann gute Nacht. Das habe ich mittlerweile kapiert. Sogar bei dem Sender, bei dem ich gerade arbeite, hielten sie mich für bescheuert. Dabei bin ich da nur reingeschlittert. Vom ersten Job mit wehenden Haaren mitten in die Kacke. Lebensgefahr inklusive.

 

Mein jämmerliches Scheißleben! Warum hatte ich eigentlich Angst davor, es zu verlieren? Bislang habe ich so ziemlich alles dafür getan, es mir selbst zu ruinieren. Aber als mir andere ans Leder wollten, da haben sich die Überlebenssäfte zusammengebraut. Meine Mutter würde sagen: «Mein Gott, typisch. Immer genau das Gegenteil von dem, was andere wollen.»

Und dann würde sie mir irgendwann eine klatschen. Und mein Vater würde aus dem verrauchten Wohnzimmer schreien: «Petra, nimm ein Messer, das klatscht nicht so laut.»

Dann würde er schäbig lachen (und husten). Natürlich hätte er es nicht so gemeint. Aber ich hätte lieber einen Vater, der keine Scherze darüber macht, wie man am besten seinen Sohn abmurkst, ohne andere beim Formel-1-Gucken zu stören.

Wenn ich eben gesagt habe, ich hatte nie richtige Eltern, dann meine ich damit, sie waren für mich im Grunde schon lange gestorben. Leute, die beim WDR-Talkradio Domian anrufen, sprechen in Fällen wie meinem von ihren «Erzeugern».

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich bin nicht verrückt und auch nicht dumm. Im Gegenteil: Ich habe eine Gabe. Zum Glück weiß davon fast keiner. Wäre beinahe schiefgegangen.

 

Aber okay, eins nach dem anderen, sonst kapiert ja keiner was hier.

Also, ich bin Nico. Und damit geht es auch schon los. Wenn Eltern mit Nachnamen Laus ihrem Sohn den Namen Nico verpassen, dann haben sie einen Scheißhumor. Oder sie sind Sadisten. Oder: Sie sind meine Eltern. Denen war es offenbar wurscht. Dabei war Laus allein schon schlimm genug. Sämtliche Sprüche in Zusammenhang mit blutsaugenden Parasiten hatte ich durch, bevor ich in die Schule kam.

Aber dann, mit sieben oder so, bin ich heulend aus der Schule nach Hause gerannt. Das weiß ich noch ganz genau. Meine Klassenkameraden hatten nämlich eine CD und einen Discman dabeigehabt. Damals gab’s noch kein MP3. Die CD war von diesem Witzemacher Helge Schneider, der ja eigentlich echt ganz gut ist. Aber mit dem, was er auf dieser CD erzählt hatte, hat er den ersten Sargnagel in meinem Leben eingehauen.

Er erzählte da irgendwas von einer kleinen Katze, die er im Wald an einem Bächlein entdeckt hatte. Offenbar war diese Katze ausgesetzt worden, denn sie hatte ein Schild um den Hals, und auf diesem Schild stand ihr Name: Orang-Utan Klaus.

Das Publikum im Saal musste sich dem Gelächter auf der CD nach die Hosen vollgepisst haben vor Lachen über diesen Scheißnamen. Und Helge Schneider dröhnte noch: «Das ist doch kein Name für eine Katze!»

Meine Klassenkameraden fanden mehrheitlich: Das ist durchaus ein Name für einen Menschen. Der neue Name für einen von ihnen. Für mich. Da wusste ich: Ich bin keiner mehr von ihnen. Seitdem war ich für sie Orang-Utan Laus.

An diesem Tag rannte ich also nach der Schule flennend nach Hause, warf mich meiner erschrockenen Mutter direkt in der Haustür tränenüberströmt in die Arme und fragte mit erstickter Stimme: «Warum heißen wir mit Nachnamen Laus?»

Da raunte meine Mutter: «Weil dein Papa auch so heißt.» Meine Mutter kicherte und streichelte mir meinen Kopf. «Hättest du etwa lieber wie ich früher geheißen?»

«Ja», schluchzte ich.

NATÜRLICH hätte ich lieber Kotbach geheißen als wie eine Katze mit einem Affennamen.

 

Meine Mutter war eigentlich eine Gute. Obwohl: Nein, das kann man so nicht sagen. Sie hatte bestimmt ein gutes Herz. Aber wie heißt es so schön: Sie konnte es nicht so richtig zeigen. Und ihre Prinzipien bezogen sich eigentlich immer nur auf ihren Sohn. Ansprüche an sich selber hatte sie keine. Beispiele:

Mit der Kohle, die sie jedes Jahr verraucht hat, machten andere Familien Urlaub auf den Malediven.

Ihre Körperpflege reichte an manchen Tagen gerade mal so eben, um beim Bäcker ein paar Brötchen zu holen. Und mehr als das tat sie an diesem Tag dann auch kaum. Arbeiten war nicht ihre große Leidenschaft. Haushalt, das war so ihr Ding. Ich schätze, dafür bräuchte man bei uns pro Tag rund zwei Stunden. Sie konnte das allerdings locker auf geschlagene zehn Stunden ausdehnen und dazu noch maulen, dass ihr keiner hilft.

Hat man im Alter von 48 noch Träume? Den großen Traum meiner Mutter konnte sie sich gepflegt abschminken: eine eigene Kneipe irgendwo in einer großen Stadt. Als trockene Alkoholikerin fasste sie ja noch nicht mal mehr eine Bierflasche an, die mein Vater leer gezogen hat. Ich glaube, der realistischste Traum meiner Mutter heute wäre, bei klarem Kopf 60 zu werden.

 

Außerdem hätte sie sich ruhig mal ihren Damenbart wegmachen können. Um den hätte sie jeder 13-Jährige beneidet.

Ach, ich weiß auch nicht. Ich glaube, die hatte sie nicht mehr alle. Aber irgendwie hatte sie mich wahrscheinlich lieb.

Anders mein Vater: Der tickte zwar noch sauber, aber Vatergefühle konnte ich bei ihm keine entdecken. Was mich aber am meisten beunruhigt hat: Es war mir egal.

Früher hatte er noch meine Hausaufgaben kontrolliert. Aber nur, um mir zu zeigen, dass er schlauer ist als ich: «Samma, bist du bescheuert oder tust du nur so? Seit wann ist 7×8 gleich 42? Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!»

Ab der neunten Klasse kapierte er meinen Schulstoff selber nicht mehr und stand wie ein Idiot da («Mykorrhiza? Kenne ich nicht, muss man auch nicht wissen. Wozu lernt ihr so einen sinnlosen Quatsch? Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!»).

Irgendwann hatte ich ihn dann versehentlich nachts dabei erwischt, wie er gerade verkrampft vorm PC hing und sich bei einem Porno einen runtergeholt hat. Er rief noch: «Samma, kann man hier nicht mal in Ruhe – raus!»

Seitdem redeten wir nicht mehr miteinander. Ist halt so.

 

Ich bin also Nico Laus. 16 Jahre alt. Und mein letzter Geburtstag war eine Katastrophe. Aber dazu später mehr.

 

Erst mal zu der Frage: Warum hatte Orang-Utan Laus keine Freunde?

Antwort: Weil mir die Menschen einfach zuwider waren. Und das beruhte leider auf Gegenseitigkeit. Es gab immer nur eine Ausnahme: mein Kumpel Tobi.

 

Ich würde mein Umfeld von damals in vier Kategorien einteilen.

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2 Kategorie A

Auch die Arschloch-Kategorie genannt. Zu dieser Gruppe zähle ich all jene, die mich für ein Weichei hielten, nur weil ich nicht gegen sie ankam mit ihrem Psychoterror à la Orang-Utan Laus. Außerdem hatten sie noch viel mehr perfide Ideen.

Um nur eine weitere zu nennen: Normalerweise macht man doch Schulkameraden zur Sau, indem man ihnen eine in die Fresse haut oder ihnen die Hose runterzieht und das Ganze inklusive Pimmel dann bei YouTube raushaut. Was hätte ich darum gegeben, wäre es nur solcher Kleinkram gewesen?

In der neunten Klasse, da war ich noch 15, waren die Typen in meiner Klasse mit ihren Muskeln schon weiter: Das größte Großmaul von allen war Falk, 16 (einmal hängengeblieben), 1,88 groß, geschätzte 80 Kilo, kein Gramm Fett, nur gestählte Muskeln, dichtbehaarte Unterschenkel unter hochgekrempelter Trainingshose, idiotisch nah beieinanderstehende Augen und immer so eine fragende Mimik drauf mit hochgezogenen Brauen und in Falten gelegter Stirn, als wolle er wissen: «Is wat, oder wat is?»

Warum ziehen die größten Trottel eigentlich immer am weitesten die Augenbrauen hoch? In meiner Schule rannten Typen rum, die haben mit 13 schon Stirnfalten wie Großmütter. Vor lauter blödem Gucken. Das merken die gar nicht. Weil um sie herum die anderen Idioten genauso idiotisch gucken mit ihren idiotischen Idiotenfalten auf der Idiotenstirn. Diese Idioten!

Teilweise sogar schon die Mädels. Das macht dann wirklich den allerblödesten Eindruck, denn es wirkt so, als wären diese Mädels am liebsten idiotische Jungs. Mädels, die schon Stirnfalten haben, die spucken auch auf die Straße, sagen Sachen wie «Missgeburt, halt’s Maul», und die schlagen andere Weiber mit der Faust in den Magen.

Falk war also so ein Stirnfalten-Idiot. Aber unseren Respekt genoss er dennoch. Oder besser: Er genoss unsere Angst. Spätestens seit sich herumgesprochen hatte, dass er an der Hauptschule, von der er auf unsere Gesamtschule geflogen kam, seinem Sportlehrer drei Backenzähne ausgeschlagen hatte, nachdem dieser ihn an einem schönen Sommertag nach einem Fußballfoul vom Platz gestellt hatte.

Und als der Lehrer sich auf der Tartanbahn liegend gerade das Blut aus dem schockbleichen Gesicht wischte, soll Falk von oben gespottet haben: «Vielleicht pfeifen Sie ja mit Zahnlücke besser.»

Da war er 13. Wenn so ein Typ in der Klasse ankündigt: «Alle gegen Orang-Utan», dann sind schnell viele dabei.

Falks königlicher Handlanger Philip hatte damals die Aufgabe aufgebrummt bekommen, über das Wochenende einen Plan zu entwickeln, wie man mich fix und fertig machen konnte. Das wurde übrigens völlig unverhohlen in meiner Gegenwart besprochen, kurz vor Beginn der dritten Stunde – im Klassenraum.

Falk: «Philip, Folgendes: Orang-Utan soll am Ende nicht einfach heulend in der Ecke sitzen, klar? Das soll was ganz Besonderes werden, kapiert? Das soll der nie wieder vergessen. Der soll ein Denkmal gesetzt kriegen hier an der Schule.»

Philip: «Wie meinst du das?»

«Welche Stelle war unklar, Alter?»

«Die mit dem Denkmal.»

«Dann denk – mal.»

Ich werde nie vergessen, wie Falk begann, sich über sein eigenes Wortspiel wegzuschmeißen. Mit seinen engen, verzerrten Schweinsäuglein, mit seiner pickeligen Verbrechervisage. Dann riss er grinsend die Augen auf, trocknete sich die Tränen und glotzte mich immer noch feixend an, als wolle er sagen: «Was is, Orang, haste keinen Humor?»

«Na ja, eigentlich schon, aber wenn ich lache, trittst du mir bestimmt in den Sack, hab ich gedacht.»

Falk lächelte großväterlich und raunte: «Komm mal her, Süßer.» Er legte seinen muskelwurstigen Arm um meinen Hals und zog mich zu sich heran.

Mein Gesicht klebte nun an seinem T-Shirt, und zwar genau an der Stelle, die von seiner Achsel klatschnass geschwitzt war. Der Typ roch nach Mann, aber wusch sich noch wie ein Junge. Deo? Null. Es stank beißend – nach Krankenhausmüll im Sommer oder so.

Mein Puls jagte hoch auf 180. Ich spürte, dass ich aufs Klo musste. Falk streichelte mein Gesicht. Dann brüllte er: «Ey, hier: Kennt ihr das?»

Mit dem freien Ohr vernahm ich, wie die anderen verstummten und sich zu uns umdrehten. Falk fuhr mit der bretthart angespannten Hand von oben nach unten durch mein Gesicht. Am Kinn angekommen, presste er seine Handkante mit Wucht unter meine Nase. Ich hörte von innen die Knorpel knacken. Dann schrie Falk lachend: «Gesichts-Einbahnstraße!»

Die halbe Klasse grunzte hämisch.

Und Falk: «Kapiert ihr das?»

«Klar, logo, geil», kam es aus allen Ecken.

«Erklär», rief Falk. Und offenbar meinte er Marie, die anfing zu stammeln: «Na ja, Ei-Einbahnstraße halt.»

«Ich gebe dir gleich Ei-Einbahnstraße, du dumme Hure. Wer hat’s kapiert? LOS!»

Schweigen. Falk zog mein Gesicht aus seiner nassen Achsel, presste meinen Kopf an seine Brust und glotzte mir schweinsäugig von oben tief in die Augen: «Orang, erklär den anderen mal den Witz.»

«Na ja, also …»

«LAUTER!»

«Na ja, also …»

«Das Na ja, also brauchst du nicht noch einmal lauter zu wiederholen, du Pisser. Erklär jetzt.»

Ich schmeckte, wie mir Blut aus der Nase in den Rachen sickerte: «Du konntest gut mit der Hand von oben nach unten fahren, aber von unten nach oben geht nicht. Da ist die Nase zu steil. Deshalb Gesichts-Einbahnstraße.»

Falk gab mir einen absichtlich nassen Kuss auf meine Stirn. Dann ließ er mich los. Fast wäre ich zusammengesackt.

«Na, also. Wer noch einmal behauptet, Orang-Utan Laus ist bescheuert, der kriegt’s mit mir zu tun.»

Schweigen. Falk grinste mich an, wie ein stolzer Vater seinen Sohn. Das Blut lief mir warm über den Mund. Und ich wünschte mir den Tod übers Wochenende.

Montag würde die Hölle auf Erden. Denn auf Philip war Verlass.

 

Während Philip sich unter Garantie Samstag/Sonntag in seinem Zimmer verkrochen hatte, um für Falk meine psychische Hinrichtung zu entwerfen, hatte ich mich in meinem Zimmer versteckt, um ein paar Liter Tränen zu vergießen und dabei zu überlegen, was ich für Möglichkeiten hatte, der angekündigten Qual zu entgehen.

Ich hatte alles durchdacht:

Für einen Sprung aus dem Fenster war mein Zimmer nicht hoch genug.

Pulsadern aufschlitzen? Ich konnte kein Blut sehen, schon gar nicht mein eigenes.

Im Ernst: An diesem Wochenende habe ich zum ersten Mal über Selbstmord nachgedacht. Nicht im Sinne von: Dann werdet ihr sehen, was ihr angerichtet habt, aber dann ist es zu spät, ätschibätsch! Sondern im Sinne von: Selbst wenn ich in die Hölle komme: Solange Falk noch lebt, bin ich dort sicher.

Vielleicht hätte ich mir wirklich das Leben genommen an diesem Wochenende, wenn mir nicht ein guter Kompromiss eingefallen wäre. Ich würde einfach am Montag nicht in die Schule gehen.

War das eine geniale Idee? Echt jetzt!

Nico, der erfolglose Streber in der Achten, fing in der Neunten an zu schwänzen. Zum allerersten Mal. Ehrlich!

Ich brauchte nur noch einen beweisbaren Grund, um vom Unterricht fernzubleiben.

Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Es war schon Sonntagabend. Und die Panik hatte mich fest in ihren Klauen. So fest, dass ich nicht auf die Idee kam, am Tag drauf einfach zu Hause tschüs zu sagen und dann von Herford mit dem Bus nach Bielefeld zu tingeln, um dort in einem Bäckereicafé auf den Abend zu warten. Aus heutiger Sicht dusselig.

Aber eins wusste ich: Die Auffahrt vor dem Haus, auf der wie alle Bewohner auch meine Eltern ihr Auto geparkt hatten, war von der Straße kommend ein wenig abschüssig bis hin zur Regen-Ablaufrinne in der Mitte.

Jetzt ist wichtig zu wissen, wie diese Ablaufrinne aussah. Also: Die Rinne war etwa zehn Zentimeter breit, von einem Metallgitter verdeckt und etwa acht Meter lang. Jenseits der Rinne stieg die Auffahrt schließlich wieder leicht an, bis sie an den Garagentoren endete. Scheinbar belanglose Details, aber jetzt kommt’s: Nach meinen Berechnungen würde ein Auto, das man diesseits der Regenrinne im Leerlauf abstellte und bei dem man dann die Handbremse löste, sachte losrollen, über die Regenrinne klappern und vor den Garagen zum Stehen kommen. Würde man seinen Ellenbogen auf Höhe der Regenrinne in die Rollbahn des Autos halten, würde man sich wohl oder übel den Arm brechen. Und ein gebrochener linker Arm, das wäre bei einem Linkshänder wie mir ein brillanter offizieller Grund für ein Fernbleiben vom Unterricht.

Ich weiß nicht, warum. Aber mir fiel nichts Besseres ein. Damals war ich begeistert.

Draußen regnete es, und es wurde langsam dunkel. Meine Mutter stand in der Küche und hackte mal wieder Zwiebeln für Bolognese. Die Italiener über uns im Haus nannten uns schon Spaghetti-Fresser. Mama manschte die Soße immer aus reinem Schweinehack zusammen. Rind war ihr zu teuer. Die 50 Cent sparte sie lieber für Zigaretten.

Mein Vater saß auf der Couch und fluchte über seine eigenen Kreuzworträtsel-Künste.

Ich schlich zum Schlüsselbord an der Wohnungstür.

«Nicochen», quäkte meine Mutter aus der Küche in den Flur. «Schatz! Deck schon mal den Tisch.»

«Jou, gleich», raunte ich zurück.

«Was?», keifte meine Mutter.

«GLEICH!»

«Nix gleich. Sofort!»

«In fünf Minuten.»

Nun mischte sich auch noch mein Vater ein: «Kriegste das mit dem Jungen eigentlich nie auch mal selber geregelt, oder was ist hier los?»

Papa, halt dich einfach raus, dachte ich mir.

Meine Mutter krähte: «Komm, Vadder, mach du deine scheiß Rätsel und tue nicht so, als würde hier nichts ohne dich funktionieren.»

«Wie bitte?», dröhnte nun mein Vater. «Ich lasse mir von meiner Frau nicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe. Ich glaube, es hakt!»

Meine Mutter schaltete die Dunstabzugshaube ein. Das tat sie sonst nie. Das wusste auch mein Vater. Ich hörte ihn seine Bierflasche auf die gläserne Couchtischplatte knallen. Drei Sekunden später tobte er durch den Flur in die Küche: «Samma, hast du sie noch alle? Hier absichtlich Lärm zu machen, wenn ich drüben rede?»

«Heiner! Deine Hausherren-Sprüche kannst du dir sonst wo hinstecken.»

«Sonst wo! Du meinst wohl in den ARSCH UND ICH VERBITTE MIR SO EINEN TON IN MEINEM HAUS!»

Und so weiter. Wie immer.

Ich nahm den Opelschlüssel vom Bord.

 

Der alte Vectra stand im strömenden Regen zwischen einem vergammelten weißen 190er Mercedes ohne Stern und einem blauen Smart. Mit der Schnauze Richtung Regenablaufrinne, dazwischen rund zehn Meter Platz. Und bis zu den Garagen auf der anderen Seite der Rinne insgesamt rund zwanzig Meter. Der Hof war unbeleuchtet. Ich konnte in Ruhe arbeiten. Ich öffnete die Fahrertür, setzte mich ins Trockene, trat die Kupplung und rüttelte am klebrigen Plastikschaltknauf, der seit Werk nicht mehr geputzt worden war. Und meine Eltern hatten den Wagen aus dritter Hand.

Leerlauf. Die nasse rechte Hand schon am Griff der Handbremse, überlegte ich kurz:

 

So geht das nicht.

Natürlich muss ich die Bremse von außen lösen. Im Stehen.

Und dann sofort losrennen, linken Arm auf die Rinne, während die Karre anrollt, fein justieren, knacks und schulfrei.

O Gott: knacks!

Aber so viele Leute haben sich schon den Arm gebrochen und leben noch.

 

Ich stellte mich in den Regen hinter die offene Fahrertür. Jetzt zählte es.

Ich drückte die Tür sanft an die Beifahrertür des Smart, bückte mich in den Vectra, drückte mit dem rechten Daumen den Knopf am Hebel, schob ihn runter mit einem Klack und zog meinen Oberkörper zurück.

Wie ein Schlangenmensch zwirbelte ich mich hinter der Fahrertür hervor, schlug sie zu, rannte an der Motorhaube vorbei, stürzte mich in die Pfütze über der verstopften Rinne, drückte meinen Arm ins Wasser und blickte aus der Gosse auf. Die Schrottkiste bewegte sich nicht einen Millimeter. Keuchend ließ ich die Stirn auf meinen nassen Jackenärmel sinken.

 

Nico, gib nicht auf. Nicht jetzt!

 

Kann man ein Auto hassen? Kann man einen Vectra verachten? Ich blickte der Dreckskarre tief in die Scheinwerferaugen.

 

Ich lasse mir von einem Opel nicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe!

 

Ich verdrehte die Augen und quälte mich aus der Pfütze in den Stand. Wieso rollte der Vectra nicht an? Ich hatte kein Bock auf ewige Recherche. Ich stampfte auf die Kiste zu, trat ihr zweimal an das vordere Nummernschild, schnappte mir das verknotete Bündel namens Abschleppseil aus dem Kofferraum, fummelte es im Gehen auseinander, erfühlte unter der verrosteten vorderen Stoßstange eine Art Öse, befestigte dort das eine Ende des Seils und zog den Rest mir hinterher bis zur Regenablaufrinne.

Ich wischte mir mit meinem verdreckten linken Handrücken die Tropfen von der Nasenspitze. So musste es bei der Bundeswehr sein.

 

Vectra, zick nur weiter, und ich trete dich so zusammen, dass man dich nicht mehr vom Smart nebendran unterscheiden kann.

 

Ich legte mich zurück in die Siffe und zog am Seil. AHA! Der Vectra rollte. Ich ließ das Seil locker und legte meinen Arm parat. Und der Vectra blieb stehen. Herrgott, das gab’s doch nicht! Ich riss mit Gewalt an diesem hirnverbrannten Seil. Und der Vectra rollte wieder. Langsam zuckelte er auch mich zu. Und? JA! Endlich! Er kam. Morgen schulfrei.

Aber ganz so weit war ich noch nicht: O Gott, jetzt nur den Schmerz aushalten. Der Vectra rollte schneller und starrte mich mit seinen dunklen Glasaugen an. Er hatte leichten Linksdrall. Ich robbte durch die Pfütze in die blitzschnell neuerrechnete Rollbahn und hielt meinen Arm hin. Oder war es plötzlich doch ein Rechtsdrall? Scheiße, der Vectra wurde schneller und hatte mich mittig im Visier. Mann, bei diesem Karacho stellte sich ernsthaft die Frage: Erwischt er meinen Arm oder meinen Hals? Was bei einem Auto eine sehr relevante Frage war. Verdammt, es war zu riskant! Verdammt, war die Kiste schnell.

Nicht falsch verstehen: Mich verließ nicht der Mut, es packte mich schlicht die Vernunft. Scheißidee, dachte ich, nahm alle meine Kräfte zusammen und warf mich mit einem Satz in die etwas weiter entfernte Pfütze. Der Vectra rauschte dunkel an mir vorbei, eine Haaresbreite neben meinem rechten Fuß. Mein Kopf sank in das Abwasser. Himmel, dachte ich gerade, da tat es einen Schlag an meinem rechten Arm, und mit einem brennenden Schmerz rutschte das Abschleppseil aus meiner Faust.

Ich riss den Kopf hoch und konnte gerade noch sehen, wie der Vectra an den Pfosten zwischen zwei Garagentoren donnerte. Und wie laut! Ein Hund bellte. Ich dachte sofort: an meine Eltern. Ich war geliefert. Ich sehnte mich für eine kurze Sekunde auf den Schoß von Falk.

Dann sah ich, wie der Vectra rückwärts auf mich zugerollt kam. Ich hatte keine Zeit nachzudenken. Nur eins spürte ich instinktiv: Im Fall einer Verletzung würde der Ärger meiner Eltern der Erleichterung weichen, ihr Sohn habe den Autounfall überlebt.

Ich sprang dem Vectra seitlich entgegen, und als er mit der Hinterachse die Regenablaufrinne überrollte, merkte ich mir die Position, stürzte mich auf den nassen Asphalt und streckte, so schnell und so weit ich noch konnte, den linken Arm exakt, aber EXAKT an diese Stelle.

Der vordere rechte Reifen drückte meine Hand fest auf das Metallgitter. Ich spürte den Druck – aber keinen Schmerz. Ich presste meine Augenlider zusammen und wartete auf das Knacken. Der Reifen rollte von meiner Hand, und der Vectra kam kurz darauf zum Stehen. Ich öffnete langsam die Augen – und starrte entsetzt auf meine Finger: Es hatte nicht geknackt!

 

Warum wird man nicht verletzt, wenn man von einem Auto überfahren wird?

 

Mit ausgestrecktem Arm ließ ich mein Gesicht zu Boden sinken. Ich hörte mein eigenes Herz rasen. Und plötzlich spürte ich, wie jemand mit ganzer Kraft meine Hand am ausgestreckten Arm drückte. Ich blickte entsetzt auf: Es war der Vectra. Er war zurückgekommen, um mir zu meinem Misserfolg zu gratulieren. Und auf den Zentimeter genau war er auf meinen Fingerknochen zum Stehen gekommen. Hatte es jetzt geknackt? Natürlich nicht. Aber ich kam nicht mehr weg.

 

Nach einer Dreiviertelstunde im strömenden Regen hatte ich endlich Stolz gegen Verzweiflung eingetauscht und begann, wie ein kleiner Bengel um Hilfe zu schreien.

 

Warum wird man nicht verletzt, wenn man von einem Auto überfahren wird?

 

Nur eine leichte Verbrennung vom Abschleppseil und ein vorübergehender Tinnitus von der Ohrfeige meiner Mutter. Die bekam ich, nachdem sie mich gefragt hatte, was ich hier draußen unter dem Autoreifen täte, und ich geantwortet hatte: «Profil-Check.»

Ansonsten war ich verletzungsfrei geblieben.

 

Warum wird man nicht verletzt, wenn man von einem Auto überfahren wird?

 

Diese Frage wühlte in mir, als meine Eltern mir noch am selben Abend für den Rest des Jahres das Taschengeld strichen (es war März), mit der Begründung, das Geld ginge mit in den Topf für die Stoßstange, die Motorhaube, den linken vorderen Kotflügel und die Renovierung der Garagenzeile – und als Strafe. Basta. Quengel nicht.

Mehr als Taschengeld streichen blieb ihnen auch nicht. Die Drohung «Du kommst ins Heim» war schon lange keine mehr. Im Heim hätte ich mich wenigstens niveauvoll unterhalten können.

 

Warum wird man nicht verletzt, wenn … usw.?

 

Die Frage ließ mich auch nicht los, als ich am Montag nicht in die Schule ging. Ich ging die ganze Woche nicht in die Schule. Sondern zog in Bielefeld von Bäckerei zu Café zu Kino. Ich schwor mir, später niemals einen Opel zu fahren.

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3 Kategorie B, C und D

Ich hätte mir die eine Woche Schwänzen übrigens sparen können. Philips Plan hatte kein Verfallsdatum.

Dieser Philip war ein Prachtexemplar der Kategorie B. Auch Speichellecker-Kategorie genannt. Zu dieser Gruppe gehörten alle, die nicht den Mumm hatten, gegen Falk (Kategorie A) aufzubegehren. Also praktisch alle Jungs in meiner Klasse. Ihnen war es im Grunde egal, was mit mir geschah. Und es war einfacher, bei Falk mitzumachen, als sich auf meine Seite zu schlagen. Oh, wenn ich nur an diese Idioten denke, wie sie bei allem immer so super bescheuert mitlachten! Klassen-Marionetten, die meisten mit Stirnfalten.

Gut, ich hatte zwar eine glatte Stirn, aber ich war nun auch nicht gerade der Held. Aber ich stand ja auch in der Schusslinie. Wie hätte ich mich wehren sollen? Wenn ich an meinen Vater denke, wie er früher immer den superschlauen Tipp mit dem Zurückhauen gegeben hatte. Das Wort hauen allein zeigte schon, dass er keine blasse Ahnung hatte. Gehauen wird im Sandkasten. Hier bei uns wurden einem die Klöten aus dem Sack gedrückt.

 

An jenem Montag durchfloss mich das warme Gel der Glückseligkeit: Falk war nicht da. Wie ich erfuhr, hatte Falk seinen Sklaven Philip zwar per SMS angewiesen, die Terror-Maschinerie auch in seiner Abwesenheit anlaufen zu lassen. Trotzdem. Wenn der Diktator selber nicht im Lande war, blieb für mich die Chance, das Duckvolk aus Kategorie B für mich einzunehmen. Und zwar noch vor der dritten Stunde: Sport. In der Jungs-Umkleide startete ich meinen Verzweiflungsversuch.

«Philip?»

«Hm?»

«Ich muss dich sprechen.»

«Keine Zeit.»

«Du bist doch schon umgezogen.»

«Siehst du nicht, dass ich surfe?» Philip zeigte auf sein neues Smartphone.

«Es ist aber wichtig.»

«Kleiner, gib Ruhe.»

«Du bist doch kleiner als ich.» Das stimmte wirklich. Ich war damals noch ziemlich schmächtig, aber schon recht hoch. 1,83. Marke Bügelbrett. Philip hingegen sah wirklich aus wie ein Frühchen: dünnste Arme und Beine, die nur an Knien und Ellenbogen dicker wurden, ein dürrer Bauch, an dem man sogar die blauen Adern hindurchschimmern sehen konnte, und ein Hals wie ein Truthahn. Kein Arsch in der Hose und nix. Den hätte ich gut und gerne zehn Meter weit geschlagen, aber das war nicht mein Stil. Und viel zu gefährlich. Bei den Freunden, die er hatte.

Philip glitt mit seinen Fingern kreuz und quer über das Display: «Ich hau dir gleich auf’n Kopp. Dann biste größer als ich.»

«Philip, du bist doch im Grunde kein Arschloch, obwohl du immer so tust.»

Doch, war er. Aber ihm das so zu sagen, wäre eine Nicht-Taktik gewesen.

«Aber du. Was willst du?»

«Lass uns bitte kurz in den Duschraum gehen.»

Er war neugierig geworden. Philip schlurfte tatsächlich nebenher, sein wohl noch nie rasierter Truthahnhals wankte vor und zurück. Die Duschen waren leer. Wir konnten reden.

«Also?»

«Philip, tu mir das nicht an.»

Der Typ grinste so blöde, ich hätte heulen können vor Abscheu. Er fragte: «Was meinst du?» Der Wichser wusste es doch ganz genau.

«Dein Plan, den Falk in Auftrag gegeben hat.»

«Ach das.»

«Wird das der Vernichtungsschlag? Falk hat es doch so bestellt.»

«Darauf kannst du einen Feuchten lassen, Kleiner.»

«Was wird mir denn passieren?»

«Das merkst du sofort, wenn es so weit ist.»

Es war zum Kotzen. Ich kapierte die Menschen nicht. Wie gerne wäre ich ihm damals ins Hirn gekrochen, um seine Gedanken auszuspähen. Ich musste wissen, was es war.

«Philip?»

«Was?»

«Wird es sehr weh tun?»

«Es wird überhaupt nicht weh tun.»

«Ach.» Irgendwie fühlte ich mich null erleichtert.

«Du wirst nur einfach von der Schule fliegen.»

O nein!

«Wenn ich von der Schule fliege, habt ihr doch gar keinen mehr, den ihr fertigmachen könnt.»

«Och, wenn du weg bist, rückt Tobi nach.»

Ah, Tobi. Den hatte ich noch gar nicht richtig erwähnt, ne? Mein bester Freund. Weil mein einziger. Quatsch, er wäre auch mein bester, hätte ich tausend. Tobi war Kategorie D. Königsklasse. Nicht kleinzukriegender Freund.

Ach so, und Kategorie C: Das waren die ganzen Mädels. Die lebten in einer Parallelwelt. Die fanden den ganzen Falk-macht-alle-fertig-Dreck einfach nur lästig und hielten sich da schön raus. Und schliefen mit den Abiturienten aus der 12. und 13. Konnte ich gut verstehen: Meine Flamme ging auch in eine andere Klasse. Leni.

Ach, wenn ich doch nur gewusst hätte, was Leni von mir denkt. Leni war so süß. Zumindest grüßte sie immer so nett, als würde sie mich ernst nehmen. Das war – ja süß halt. Und sie hatte eine super Figur. Von allem nicht zu viel und nicht zu wenig. Braune Haare und braune Augen. Mein Typ. Und sie war nett zu mir. Gut, viel gequatscht hatten wir noch nicht. Aber einmal saß ich gemeinsam mit ihr im Gang auf der Heizung, eher aus Zufall, weil wir in der kurzen Pause gleichzeitig darauf zugesteuert waren.

«Passen wir beide drauf, oder? Sind doch beide schlank.»

Ich Idiot habe damals nur große Augen gemacht und gesagt: «Klar.»

Wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich sagen müssen: «Ich danke Gott, dem Schicksal oder wahlweise dem Universum dafür, dass es uns hier und jetzt zusammengebracht hat. Und wäre die Heizung zu schmal für uns beide, ich hätte dich auf Händen zu einer breiteren getragen.» Das hätte ich hingekriegt. Echt!

Mehr geredet hatten wir damals nicht. Der Heizkörper war brütend heiß, und wir mussten ständig aufstehen und uns an unseren Jeans rumzupfen, um uns nicht die Backen zu versengen. Das war lustig. Da hatten wir was gemeinsam: heiße Ärsche. Aber mehr als das lief nicht. Noch nicht! Aus dem Augenwinkel hatte ich versucht, sie zu beobachten, um ihre Gedanken zu erforschen. Aber letztendlich hätte ihre Mimik alles bedeuten können, von Hoffentlich küsst er mich jetzt bis Hoffentlich haut er bald ab. Leni.

 

Wo war ich stehen geblieben? Ach so, Philip meinte also, wenn ich weg bin, rückt Tobi nach.

Ich sparte mir sinnlose Haltet-Tobi-da-raus-Appelle, denn Philip zog plötzlich wieder sein Phone aus der Hosentasche. Er tippte seine PIN ein: 9999. Der Typ war blöder, als ich dachte. So eine billo PIN und dann auch noch direkt vor meinen Augen. Mit seinem neuen Smartphone fehlte dem Schwachmaten ganz klar die Routine.

Philips Visage lief blutrot an. Er glotzte nervös auf das Display.

Ich fragte trocken: «Nachricht von Falk?»

Als würde er Falks Hass aus seinem Telefon tanken, packte Philip mir blitzartig zähnefletschend an den Hals. «Ja, Mann, leck mich, klar?»

Er ließ nicht los, während er wieder auf das Display starrte.

Ich versuchte zu schlucken, es ging nicht. Ich hätte einfach nur kurz mein Knie zwischen seine Beine knallen und ihm dann mit der Handkante von unten an die Nase hauen müssen. Aber danach hätte ich mich direkt selber verbrennen können. Philip hatte Falk. Statt zu treten, krächzte ich deshalb einfach irgendwelche mitleiderweckenden jämmerlichen Geräusche.

Philip ließ mich los, schlug mit der Faust auf den Knopf an der Wand, der zur Dusche über mir gehörte, ich bekam für eine Sekunde einen Schwall abgestandenes, saukaltes Wasser auf den Kopf, und Philip schob ab, zurück Richtung Umkleide. Scheiße.

Von außen hörte ich hämische Sprüche: «Ha, Philip und Orang alleine unter der Dusche» und so. Dann hörte ich eine Ohrfeige schallen, und danach war Ruhe.

Ich stand wie angewurzelt und war dankbar. Dankbar darüber, dass keiner der anderen meine Demütigung hatte beobachten können. Die Plörre lief mir über die Kopfhaut den Nacken hinab und sickerte in mein Sportshirt. Ich hatte natürlich keinen Bock, so in der Halle aufzulaufen. Was mir mein Interview gebracht hatte? Nichts? O doch.

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4 Entlarvung

Denn jetzt kam Tobi ins Spiel. Zumindest gleich. Mein bester Freund, wie gesagt. Ich hörte unseren Sportlehrer Herrn Ruprecht die Tür zur Halle aufschließen: «Fertig, Männers? Dann mal Muskeln warm machen. Zack, zack.»

Der Heini war selber ein total dünnes Hemd, machte aber bei uns immer einen auf Drill. Kein anderer Lehrer übte in Sport Krafttraining mit den Jungs. Ruprecht schon. Wir nannten ihn deshalb Hubknecht. Weil er uns wie seine Knechte Gewichte stemmen ließ.

Unter Gejohle und Geklatsche trappelte der aufgekratzte Tross mit quietschenden Schuhsohlen raus. Heute stand Basketball an. Und mir war sonnenklar: Tobi würde in der Kabine auf mich warten.

Als es ruhig wurde, kam er in den Duschraum. Offensichtlich hatte er absichtlich mit dem Umziehen gebummelt, denn er schlich in oller Calvin-Unterhose und sonst nix um die Ecke.

«Alter, du siehst lächerlich aus, wie du da stehst mit deiner klatschnassen Trottelfrisur.»

Er grinste sein Prinz-Charming-Lächeln.