Wir dürfen jetzt nichts überstürzen! - Marcus Werner - E-Book

Wir dürfen jetzt nichts überstürzen! E-Book

Marcus Werner

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Beschreibung

"Typisch deutsch" steht heute für ängstlich, umständlich, kleinkariert, kratzbürstig. Wir werden nach hinten durchgereicht und finden das total ungerecht. Weil die anderen Nationen einfach nichts von uns lernen wollen. Wir gehen nur bei grün über die Straße – auch in ausgestorbener Nacht. Unsere Beamte faxen gern – und die Arztpraxen drucken gern. Wir gönnen uns aus Nostalgie zwei Regierungssitze – und alle 200 Meter eine Apotheke. Wir schmeißen tonnenweise Essen weg – und nehmen unser Brot mit in den Urlaub. Wir stehen sonntags gern vor verschlossenen Läden – und rennen unter der Woche vor wie Kinder, wenn eine neue Kasse öffnet. Wir lassen uns am Karfreitag das Tanzen verbieten – und zahlen dafür auch noch Kirchensteuern. Wir finden Schmuddelmünzen besser als Kartenzahlung. Wir haben Angst vor Atom, Öl, Fracking, Biomasse, Wasserkraft, Solar, Wind – und vor veganer Wurst. Und fragen uns dann: Wird das noch mal was mit uns? Der Fernsehmoderator, Kolumnist und Autor Marcus Werner meint: "Ja, gerne!", und blickt mit dem Humor der Verzweiflung auf sein Land, legt den Finger in die Wunde – das quält und tut gleichzeitig gut wie das Jucken, wenn die Wunde heilt.

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Marcus Werner

Wir dürfen jetzt nichts überstürzen!

Marcus Werner

Wir dürfen jetzt nichts überstürzen!

40 Gründe, warum Deutschland abschmiert

Originalausgabe

1. Auflage 2024

© 2024 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR

Türkenstraße 89, 80799 München

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Ivan Kurylenko (hortasar covers)

Layout und Satz: Carsten Klein

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-288-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-289-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-290-7

Inhalt

Ist-halt-so-Land

Nachts in Deutschland. Keine Autos, die Ampel ist rot. Und wir halten an.

Deutsche Brotkultur heißt: Aufkleber mitessen

Fetisch Pünktlichkeit: Die Bahn macht uns zu Minutenmasochisten

Banane, Bierflasche, Bratpfanne: Warum trennen wir Müll nicht alphabetisch?

Fachkreftemangel: Der Duden raupt uns Chancen

Die deutschen Apotheken: Neu bedeutet Gefahr

Beim Einsteigen bleiben unsere Manieren draußen

Fahrtauglichkeitstests: Dann doch lieber die Pedale verwechseln!

Der Fischstäbcheneffekt: Uns fehlt die Freude an Verboten

Nicht die Verwaltung ist digitalfeindlich – wir alle sind es!

An der Kasse: Schlangestehen macht uns zu Egomonstern

Deutschlands Zerrissenheit zeigt sich auch am Bügeleisen

Der Flugspaß ist uns abgestürzt

Nervenkiller Selbstscankasse: Wir klauen offenbar zu viel

Das Tempolimitchaos zerstückelt unsere Städte: 20, 40, 30 (bis 17 Uhr)

Unsere Klingelschilder sind Spiegelbild des deutschen Problems

Ruhrgebiet: So groß und doch lieber nur klein-klein

Unsere Liebe zum Kuhfurz ist gefährlich

Wir haben den Kindergarten umgepflügt

Wir lassen uns vom Kundenservice anlügen, wissen es und sagen: »Tja.«

Schwarz-Rot-Gold an den Weihnachtsbaum?

Homöopathie auf Staatskosten: Und wir diskutieren das noch!

Das Ladenschlussgesetz: Irgendwas mit am 7 Tage ruhen

Der kurze Dienstweg ist jetzt lang: »Erst ein Ticket aufmachen!«

Pfandregelung ohne Bürokratie: Und schon wieder wird’s irre im ICE

Hörzu & TV Spielfilm: Wir gucken noch Fernsehen wie zu Dalli-Dalli-Zeiten

Lottozahlen sind bei uns Nachrichten ohne Gewähr

Was unser Ekel vor Insekten über unsere Zukunft aussagt

Wir wollen sparen, sparen, sparen – und leisten uns zwei Regierungssitze

Deutsche Leidkultur: »Lebkuchen im September verdirbt mir Weihnachten.«

Standortnachteil Regionalstolz: Der echte Berliner ist jetzt der Zugezogene

Wasser aus der Leitung schmeckt mir nääächt!

Fressen, saufen, rauchen ist unsere Leitkultur

Der Nacht-ICE ist ein Schlafentzug

Wir geizen mit den Konferenzkeksen

Küche für 42 000 Euro, aber kein Ei aufschlagen können

Wenn hier etwas gaga ist, dann unser Ton auf »Kleinanzeigen«

Sorry, dass wir was bestellt haben!

Das deutsche Gastroprinzip in Zeiten fehlender Fachkräfte: Bist du devot, ist der Kellner lieb zu dir

Chaos durch Falschparker-Asis: Wir müssen das Verpfeifen neu lernen

Meinungsfreiheit heißt seit Corona: Ich muss dir meinen Stuss nicht begründen

Wir gehen mit Fahrradhelm auf dem Kopf ins KaDeWe

Und jetzt tschüss, Stuss!

Ist-halt-so-Land

Viele Landsleute sagen: Das Glas ist nicht halb leer, das Glas ist ganz leer. Tja, das ist so, weil: Deutschland schmiert ab. Und dafür gibt es Gründe. Einige davon sind einfach peinlich, andere treiben einen in den Wahnsinn.

Es gibt Nörgler, die behaupten: Deutschlands einstige Stärken sind heute unsere Schwächen. Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt: Wenn man es genau betrachtet, ist zurzeit fast alles auf eine beklemmende Art scheiße.

Wir halten uns für diszipliniert und ordnungstreu, aber wenn bei Lidl eine zweite Kasse aufmacht, schmeißen die Leute aus dem Gang mit den Fruchtsaftgetränken panisch ihr Sandwichtoast vor aufs Band – wie sonst auf Malle ihre Handtücher auf die Liege.

Selberscannen geht aber auch nicht. Jedes einzelne Mon-Chéri-5er-Stängelchen löst lauten Alkoholalarm aus. Bin ich schon 18? Das ließe sich mittels der Bezahlkarte überprüfen. Aber, nee, so was möchten wir Deutschen irgendwie nicht. Zu digital. Zu unheimlich. Da muss dann schon eine Dame des Hauses höchstpersönlich anzuckeln, um die Kasse wieder freizugeben. Nur, wann kommt die? Was, wenn die an Kasse 2 noch Münzen zählen muss, weil einer der vielen Barzahler sein dickes Portemonnaie endlich wieder dünn bekommen möchte?

Immerhin: Bei meinem Edeka um die Ecke kann man jetzt Punkte in einer App sammeln. Dann kommt der Kassenbon sogar aufs Handy statt auf den Streifen aus Papier. Läuft!

Wobei, blöd ist natürlich, dass im gesamten Laden kein Mobilfunkempfang ist. Deshalb hat der Inhaber extra ein Kunden-WLAN eingerichtet. Kundenservice top. Die Kassiererinnen sagen immer gleich dazu: »Ins WLAN kommen Sie wahrscheinlich nicht rein.« Ein Azubi gab mir an der Kasse jüngst den Tipp: »Öffnen Sie die App schon vor dem Einkauf draußen. Vor der Tür unter freiem Himmel geht’s meistens.«

Verstehen Sie? Diese deutsche Mittelmäßigkeit meine ich. Diese Muss-irgendwie-auch-so-gehen-Haltung, die zieht uns runter.

Früher haben wir über die Deutsche Bahn gelacht, heute weinen viele, wenn sie eine Flugreise buchen müssen. Wenn dann der Online-Check-in nicht klappt, heißt es an der Hotline des deutschen Reiseanbieters: »Ja, das ist normal. Unsere App taugt nämlich nichts.«

Und an Bord dürfen Sie leider nicht aufstehen, um den Flugbegleitern auf Knien zu danken, wenn die Ihnen einen kleinen, einzeln verpackten Keks kostenlos überreichen. Das ist heute der deutsche Luxus über den Wolken.

Wir lachen über Behördenfaxe und lassen die digitalen Funktionen unseres Persos sperren. Während die Menschen in Dänemark oder Estland fast keine Post mehr auf Papier bekommen, brauchen wir im Sommerurlaub jemanden, der den heimischen Briefkasten leert. Der Bundesrepublik Deutschland und den Bundesländern aber unsere E-Mail-Adresse geben? Ha-hallo? Datenschutz!

Nicht, dass Sie jetzt denken, das hier sei so ein Buch voll destruktivem Gemecker über die eigene Heimat, in der früher alles besser war. Damals, als die Lebkuchen erst im Oktober in die Läden kamen und nicht schon kurz nach Ostern. Nein, nein! In diesem Buch sollen auch Errungenschaften gewürdigt werden.

Hier: Wir haben damals ruckzuck die beste Coronaimpfung erfunden. Jetzt soll es dank Biontech und deren deutsch-türkischem Gründerpaar dem Krebs an den Kragen gehen. Was zeigt, wie wichtig Fachkräfte aus dem Ausland für unsere Zukunft sind. Früher galt: Wolle mer se reinlasse? Heute sollde mer se nimmer rauslasse. Eigentlich. Aber viele gehen einfach wieder. Weil es hier zu kompliziert, engstirnig und rückständig ist. Für deren Verhältnisse. Die einzigen, die ganz unbürokratisch Fremde reinlassen, sind unsere Offiziere in ihren Webex-Meetings. Und das ist auch wieder nicht gut.

Neulich hat ein Freund beim Brunch gesagt: »Digga …« Ach, eigentlich war es ganz anders, er sagte: »Alter.« Er sagte: »Alter, mein Deutschlandgefühl kotzt mich an.«

Ich wusste sofort, was er meinte. Fast hätten wir uns heulend in den Armen gelegen, aber keine Zeit, der Veggie-Laxx lag in der Sonne und wollte gegessen werden. Zumindest musste er mir seine Gefühle aber nicht genauer beschreiben.

Dieses Deutschlandgefühl: Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben an Ihrem Land, an diesem Deutschland gezweifelt haben? Bei mir war es folgendermaßen: Im Alter von etwa fünf Jahren legte ich die Hand auf den Wassersparspülknopf, nachdem ich auf einen sogenannten Flachspüler gegangen war. Diese Toiletten mit in die Keramik eingebautem Serviertablett. In dem alles etwa drei Millimeter tief im Wasser liegt. Bevor es dann von der Brandung des Spülwassers abgetrieben wird wie ein auf Grund gelaufener Tanker von der aufquellenden Flut. Was soll das? Erst allmählich, zu langsam, haben wir erkannt: Für die Sitzung ohne Spritzung gibt es elegante Designlösungen, die einen nicht in den Selbstekel treiben.

Wie konnte uns Deutschen so etwas wie der Flachspüler nur unterlaufen?

Das frustrierende Deutschlandgefühl speist sich aus vielen Einzeldesastern. Gehen wir es fein säuberlich durch. Detailverliebt, das können wir doch.

Lesen Sie das Buch mit seinen 40, nein sogar 42 Kapiteln mit voller Aufmerksamkeit und Seite für Seite – hat ja schließlich was gekostet!

Nachts in Deutschland. Keine Autos, die Ampel ist rot. Und wir halten an.

Halten Sie an? Natürlich tun Sie das. Wir alle halten an. Und das zeigt nur, wie kaputt diese Nation ist. Im Land der Autoerfinder sitzen wir an ausgestorbenen Kreuzungen vor roten Ampeln, obwohl niemand quert.

Stellen Sie sich zur Einstimmung in dieses Kapitel vor, wie Sie selbst dort mit im Auto sitzen. Es ist tiefste Nacht. Sagen wir mal 4:12 Uhr. Hinter Ihnen steht niemand. Links kommt nichts. Rechts kommt nichts. Nach vorn strebt die leere, tote Straße aus Ihrem Scheinwerferlicht ins Nirgendwo. Ihr Blick fixiert kurz das blendend rote Licht der Ampel, dann den Tacho: 0 km/h.

Ihre Kaumuskeln entspannen sich, die Gedanken treiben dahin. War ja klar, dass ich heute Abend wieder allein nach Hause fahre. Ist das da vorn ein Igel? Ich muss mal wieder tanken. Obwohl – das reicht noch bis Mittwoch. Benzin ist viel zu teuer. Und das Tiramisu war zu trocken. Da gehört mehr Amaretto rein. Morgen mache ich Sport. SAMMA, WAS IST DENN JETZT HIER?

Sie starren der Ampel in ihre rot glühende Fresse! Blicken gedemütigt in alle drei Spiegel. Sie sind allein.

Und was passiert jetzt?

Ich sage Ihnen, was jetzt passiert:

Sie finden sich damit ab.

Wir alle finden uns damit ab. Wir lassen die Schultern fallen, bis sie, von vorn betrachtet, die Form eines alten Plastikkleiderbügels haben. Reicht das für die Weltspitze? Lassen Sie mich meine Befürchtung einmal so formulieren: Nein.

Wo bleibt unsere Rebellion an der Ampel nachts um 4:12 Uhr? Wo bleibt unser Wille, diesen und anderen Unsinn aus der Welt zu schaffen? Es sind kleine Blödsinnigkeiten wie diese, die uns in Summe einlullen. Wir sind Ist-halt-so-Land geworden.

Vom ICE gibt es einige Baureihen, bei denen die Türöffnertaste grün aufleuchtet, sobald der Lokführer die Türen freigegeben hat. Im ICE 1 allerdings sehen die Knöpfe während der Fahrt und vor dem Öffnen fast identisch aus, haben sogar kleine perlenartige Punkte in ihrer Mitte, also in einem Fake-Leuchtdioden-Design. Denn sie können nicht leuchten. So stehen regelmäßig Wenigfahrer an den Bahnhöfen im Zug an den Türen, halten ihren Zeigefinger krumm gereckt in Habachtstellung in Höhe ihrer Brustwarzen und warten auf das grüne Licht. Das niemals kommen wird. Bis ein Vielfahrer aus der Schlange von Warteposition zwölf vorkräht: »Drücken!«

Dieser ICE-1-Fail kostet an jedem Bahnhof wertvolle Sekunden, die sich auf einer Strecke von Berlin nach Basel mit Sicherheit zu mehr als anderthalb Minuten Verspätung addieren. 90 Sekunden? Nun, wegen 90 Sekunden Verspätung sind in Japan schon Lokführer gefeuert worden. In Deutschland hängt die Pünktlichkeit nicht am Lokführer, sondern daran, wann Hinz, Kunz oder Özber auf den richtigen Knopf drücken. Wegen 90 Sekunden habe ich schon Anschlusszüge verpasst.

Zurück zur nächtlichen Ampel: Sollen wir also künftig bei Rot an einer einsamen Ampel einfach losfahren? Herrlich wär’s. Aber: Nein!

Wer möchte schon, dass Hinz, Kunz oder Özber entscheiden, wann es vertretbar ist, die StVO StVO sein zu lassen? Selbstjustiz am Steuer – das wäre auf lange Sicht unverantwortbar.

Es gibt zwei Gelegenheiten, bei denen es hierzulande erlaubt ist, bei Rot über die Ampel zu fahren: wenn von hinten ein Tatütata kommt und wenn die Ampelanlage ganz offensichtlich und zweifelsfrei defekt ist. Genau das ist mir im vergangenen Sommer passiert. Ich saß am Steuer, mit im Auto noch drei Freunde: zwei Deutsche, ein Portugiese. Nach vier Ampelphasen, während derer einzig unsere Fahrspur niemals Grün gezeigt bekam und sich die Schlange hinter uns schon zweispurig verknäulte, machte ich Anstalten, das Schlamassel zu entschlamasseln. Ich fuhr vorsichtig über die Haltelinie.

Augenblicklich erschallte es dröhnend von Beifahrersitz und Rückbank.

Freund 1 (deutsch): »Das machst du nicht, das darf man nicht. Das ist doch irre! Das ist Selbstmord. Marcus, du gefährdest auch uns!«

Freund 2 (portugiesisch): »YEAH!!!!!«

Verstehen Sie? Wir brauchen eine Lösung, die zu uns passt. Irgendetwas mit »sagenumwobener Ingenieurskunst«.

In Hamm in Westfalen, das unrühmliche Bekanntheit genießt als die ICE-Doppelzug-Kuppel-Stadt, verhasst bei allen Bahnfahrern, weil das mit dem Kuppeln nur in der Theorie der Siemens-Broschüre funktioniert, also in diesem Hamm gibt es die erste intelligente Ampel Deutschlands.

Mithilfe von angeberischen Vektorberechnungen, in die Daten wie Geschwindigkeit und Fahrtrichtung einfließen, wird ermittelt, wie lange der jeweilige Verkehrsteilnehmer bis zur Ampel braucht. Die KI versucht dann, Wartezeiten zu verkürzen oder ganz abzuschaffen. Etwa indem das System Grünphasen für Fahrradfahrer verlängert (was ja auch für Autofahrer gut ist, denn dann fahren die nicht so oft beim Abbiegen über die Fahrradfahrer drüber, was jedes Mal einen Rattenschwanz an Bürokratie nach sich zieht).

Was kostet so ein Ding? Zwei Millionen Euro pro Anlage? Nein. 750 000? Nein. Die Kosten für die Ampel liegen der Stadt Hamm zufolge bei 80 000 Euro. Dafür muss eine alte Frau zwar lange stricken, aber dafür ist die alte Frau dann nachts auch früher zu Hause.

Zum Schluss noch ein Totschlagargument: In Südafrika fährt man nachts grundsätzlich bei Rot über die Ampel, damit man beim Halten nicht von Autoklaubanden erschossen wird. Es kann nicht sein, dass es hierzulande erst so weit kommen muss, damit wir zu später Stunde nicht ewig an der Ampel stehen.

Ich spüre es: Ich habe Sie überzeugt.

Deutsche Brotkultur heißt: Aufkleber mitessen

Früher haben wir unserer schwedischen Verwandtschaftshälfte gern deutsches Brot mitgebracht. Alles andere hatten die da oben selbst, aber beim Thema Brot wurde es kritisch. Aus deutscher Sicht ist das ja auf der ganzen Welt so:

»Wie war der Urlaub?«

»Toll. Aber das Brot – nee!«

Früher, da hat meine Mama unseren Leuten in Stockholm einfach Schwarzbrot mitgebracht. Heute muss vorher alles genau besprochen werden. Per Teams. Und das liegt an Starbucks und deren Nachahmern! All diese Caféketten haben uns weltweit darauf konditioniert, als Reaktion auf die Frage »Was willst du essen/trinken?« im Kopf einen Desktop mit unzähligen Kategorien aufzufächern. Detailfragen zum Produkt wurden im alten Jahrhundert nur beim Italiener gestellt und beantwortet: »Mit doppelt Käse. Aber ohne Oliven.« – »Scharf?« – »Nein danke.« In den Nullerjahren wurde »ein Kaffee« zum Überbegriff für rund 72 Unterpunkte. Es ist Starbucks sogar gelungen, uns deren Tassengrößenbezeichnungen unterzujubeln, die ohne längliche Diskussionen das Lebensmittelzertifikat »ballaballa« verdienen:

Die kleinste Tassengrößte heißt

tall

, das ist Englisch für »groß«.

Die mittlere Tassengröße heißt

grande

, das ist Italienisch für »groß«.

Die große Tassengröße heißt

venti

, das ist Italienisch für »Winde«.

Und wir machen das mit. Finden Sie das etwa nicht devot oder dämlich?

Na ja, es gibt Wichtigeres: unser Brot. Gefühlt gibt es eigentlich nur zehn Sorten. Weißbrot, Mischbrot, Sauerteigbrot, ein kerniges Vollkornbrot, Rosinenbrot (im Winter mit Augen und Plastikpfeife), dann was mit Kümmel, was mit Zwiebeln, Pumpernickel, Brezeln und das Ganze für sonntags als Brötchen. Irgendwie so. Und natürlich ein paar bröckelige glutenfreie Sorten für diejenigen, die mal eine Unverträglichkeit ausprobieren wollen.

In Wirklichkeit ist das anders. Ich habe mal mit einer großen bekannten Suchmaschine gegoogelt: Es gibt offenbar über 3000 registrierte deutsche Brotsorten. Von A wie Alter Fritz und Apfelweinbrot bis Z wie Zeusstange und Zwillingskruste. Verschiebt sich das Zutatenmischverhältnis also um ein einziges Atom, gibt es einen neuen Namen: Knorzebrot, Mini-Maxi, Saftheini.

Irgendwann stand die Branche also vor einem Problem: Wie sollte man als Kunde diese regelrechten Markennamen so weit auseinanderhalten, dass man die Bäckereifachangestellten nicht zur Weißglut brachte mit Hinweisen wie: »Das Knubbelige da neben dem Kubischen.«

»Das?«

»Nein, das ist doch wohl nicht knubbelig, das ist feist.«

Die kurzsichtige Lösung: Brotsortenbeschriftungsaufkleber. Und da haben wir es wieder. Wir wollen in Deutschland alles perfekt machen. Und vergessen die Sache mit dem Zu-Ende-Denken: Da pappen nun Großbäckereien Aufkleber auf Brote, auf denen der Name der Brotbackmischung steht. Und wenn man den Aufkleber zu Hause auf dem Küchenmittelblock vom Brot abpult, bleiben Klebstoff und Papierfetzen an der rauen Kruste hängen.

Und so knibbeln und popeln und spucken wir am Abendbrottisch nun alle Aufkleberfetzen über den Aufschnitt. Es sei denn, jemand erbarmt sich und weicht die Brotkruste vor dem Aufschneiden mit einem nassen Lappen ein, damit sich der Aufkleber abziehen lässt.

Seit ich denken kann, gelingt es anderen Nationen, Bananen, Gurken, Orangen mit Aufklebern zu bestücken, die sich restlos nach kurzem Zippeln entfernen lassen. Mit diesem vertrauten Rsst-Geräusch. Ist unsere Aufkleberkultur reif, zu diesem Weltstandard aufzuschließen? Ich traue uns das zu. Vielleicht kann Brüssel uns mit einer entsprechenden Regelung unterstützen.

Fetisch Pünktlichkeit: Die Bahn macht uns zu Minutenmasochisten

Im Alter von 13 Jahren habe ich mich mit einem Klassenkameraden zu unserer ersten Judostunde verabredet. Der Klassenkamerad kam knapp 20 Minuten zu spät. Ich habe ihn damals ernsthaft für geisteskrank gehalten.

Ich war als Kind ein sehr pünktlicher Mensch, müssen Sie wissen. Manchmal kam ich zu früh zu einer Verabredung und habe dann mit dem Fahrrad noch eine Runde um den Block gedreht, was gefährlich war, weil ich den Blick immer auf den Sekundenzeiger meiner Junghans-Armbanduhr gerichtet hatte. Bei so was fährt man als Kind gern mal frontal vor einen Bus.

Heute ist das alles anders. Denn heute habe ich eine BahnCard 100. Da richte ich mich beim Thema Pünktlichkeit notgedrungen nach anderen. Wie die es halt einrichten können!

Gemäß der offiziellen Fahrgastrechte ist eine Verspätung ohnehin erst ab 60 Minuten relevant. So weit sind wir mittlerweile. Bei 60 Minuten!

Wie stehen Sie zum Thema Pünktlichkeit? Wollen wir jetzt die Sekundenknauser sein, über die Touristen – wieder zurück im heimatlichen Spanien, Italien und Frankreich – halb belustigt und halb mit schlechtem Gewissen auf Insta berichten: »Wenn man in Deutschland zehn Minuten zu spät kommt, ziehen die schon ’ne Flunsch.« Und wir denken uns: Freundchen, ab drei Minuten.

Wenn wir dieses Selbstverständnis beibehalten wollen, dann müssen wir aktuell mit einer Identitätskrise zurechtkommen, die von morgens bis zur Tagesschau andauert. Nach Letzterer kann man sich noch nicht einmal mehr die Uhr stellen. Zwar startet die Tagesschau pünktlich auf die Sekunde, aber wegen DVB-T, Streaming und digitalem HD-Kabel kommt der magische Gongschlag des Ersten Deutschen Fernsehens in jedem Haushalt zu einem anderen Zeitpunkt vom Sideboard über die Schnittchenplatte gescheppert.

Auch bei vielen Geschäftsterminen muss man nicht mehr pünktlich erscheinen. Denn die sind ja meist online. Und da geht immer: »Sorry, irgendwie kam ich bei Teams/Zoom/Webex nicht rein.«

»Ja, das kenne ich.«

Pünktlichkeit: na ja. Man holt sich erst noch einen Kaffee, drückt dann auf »Beitreten« und redet sich raus. Ist das noch Lässigkeit oder schon innere Verwahrlosung? Entscheiden Sie selbst!

Wenn wir den Pünktlichkeitsanspruch vollends aufgeben und sich die neue deutsche Gleichgültigkeit in den kommenden Jahren international herumspricht – wer sind wir dann noch? Die mit dem Bundeskanzler mit Augenklappe und ohne Tempolimit.

Banane, Bierflasche, Bratpfanne: Warum trennen wir Müll nicht alphabetisch?

Ich würde das mit den klimaunfreundlichen Fernreisen ja sofort sein lassen. Aber ich kann nicht anders. Blaues Meer, weißer Strand, Kaktusse (Doch! »Kaktusse« kann man auch sagen!), fremde Sprachen, inspirierende Gerüche und Geschmäcker, Sonne – ach, es ist gar nicht dieser 1990er-Kitsch, für den ich in den Flieger steige. Was mich an fernen Ländern so fasziniert: Man kann da einfach den ganzen Müll zusammen wegschmeißen. Den ganzen Sack unbesehen rein in den stinkenden Container! Ahhhhhh, ausspannen. Kopf aus, Seele baumeln lassen.

Zu Hause denken wir unentwegt an Müll. Selbst am Bahnsteig. Burgerpapier ist zwar nach allgemeinem Dafürhalten ganz klar kein Glas, aber ist es nun Papier im Sinne des dreigliedrigen Mülleimers? Oder Restmüll wegen der Mayo dran? Beraubt Soße das Papier seines ursprünglichen Status? Oder wie sagt man das? Tja, das wissen Sie auch nicht so genau, oder?

Und das liegt nicht an Ihrer unendlichen Dummheit (die Sie, so wie ich Sie kenne, sicherlich nicht Ihr Eigen nennen), sondern an denen da oben – oder zumindest an denen in den Amtsstuben mit vertrocknetem Farn und den vergilbten Faxgeräten.

Das Regelwirrwarr ist nämlich irrsinnig.

Danke, Merkel/Scholz/…………… (Raum für Notizen).

Wir waren mal wer – beim Müll. Heute ist unser Glücksgefühl längst tot. Da regt sich nichts mehr beim Einwurf. Wir sind seit Dekaden vom System eingelullt worden, sodass wir nichts mehr hinterfragen. Und sind nun überrascht, wenn Einwanderer in speziellen Mülltrennseminaren an unserem Mülltrennirrsinn verzweifeln, einfach weil sie fragen: Warum?

Hier ein paar Regeln, die man beachten muss, um in Deutschland Müll zu trennen:

Verpackungen mit dem grünen Punkt gehören in die gelbe Tonne. Aber auch Verpackungen ohne grünen Punkt gehören in die gelbe Tonne.

Die Verpackung muss »restentleert« sein. Das bedeutet, dass ein kleiner Rest eben gerade

nicht

entleert sein muss. Wir Deutschen haben dafür ein neues Wort geschaffen: »löffelrein«. Was aber, wenn sich in einer Plastikflasche mit Chlorreiniger noch ein Schluck befindet? Hier gilt: Nicht mit dem Löffel rein!

Bratpfannen und Gießkannen aus Plastik gehören manchmal in die gelbe Tonne, manchmal nicht. Das hängt von der Kommune ab. Wer etwa in Berlin lebt (da ist die gelbe Tonne eine praktische Wertstofftonne) und seine Familie in Frankfurt am Main besucht (etwa um dort eine alte Bratpfanne zu entsorgen), droht sich beim Mülltrennen zu blamieren (Frankfurt ist eine Bratpfannen-in-den-Restmüll-Metropole).

Manchmal wird nach Weißglas, Grünglas und Braunglas getrennt. Manchmal nur nach Weißglas und Buntglas. Manchmal werden Grünglas und Braunglas in getrennten Containern gesammelt und dann auf dem Lastwagen zusammengekippt. Aber der Deckel muss ab. Obwohl bei den Recyclern riesige Magnete die Deckel herausfischen können. Viele Deckel sind aber nicht magnetisch. Und wohin kommt die halb volle Ketchupflasche?

Papier und Pappe werden in der Papiertonne gesammelt. Das Papier muss dafür irgendwie löffelrein sauber sein. Muss man besagtes Burgerpapier mangels Löffel ablecken? Was, wenn Käse dran ist, der schon erkaltet ist und damit nicht mehr zungenprobat entschleckt werden kann? Wie viele Kubikmeter Papier werden durch eine Scheibe Essiggurke kontaminiert? Ich habe schon Menschen beim Blick in den Mülleimer weinen sehen.

Es gibt Glasflaschen mit Pfand und welche ohne. Auf energieintensiven Glasflaschen ist weniger Pfand als auf Einwegplastikflaschen. Mehrwegplastikflaschen gibt es auch. Bei Saft: kein Pfand. Bei Limonaden und Wasser: Pfand. Tee- und Kaffeegetränke, wenn sie kalt (!) getrunken werden sollen: Pfand. Schlecht gekühlt: trotzdem Pfand. Alles eine Frage der Lobbyarbeit in der jeweiligen Branche. Bier: Pfand. Wein: nein.

Händler müssen Einwegpfandbehälter nur zurücknehmen, wenn sie Verpackungen aus der jeweiligen Materialkategorie Glas, Blech oder Plastik selbst verkaufen, unabhängig davon, ob sie das Getränk der jeweiligen Marke wirklich anbieten. Aber Achtung: Wenn Ihr Laden kleiner ist als 200 Quadratmeter, dann müssen Sie nur die bei Ihnen verkauften Verpackungen wieder zurücknehmen. Gut bewertete Lasermessgeräte gibt es bei Amazon ab rund 30 Euro. Damit berechnen Sie die Grundfläche des Ladens in Windeseile.

Können Sie noch? Mehrwegflaschen müssen

immer

nur dort angenommen werden, wo sie auch verkauft wurden.

Halogenlampen dürfen in die schwarze Tonne, LED-Lampen sind Sondermüll.

Sollen Lebensmittelreste auf den Kompost, dürfen keine gekochten Lebensmittel dabei sein, sonst kommen die Ratten. In der braunen Tonne, auch Biotonne genannt, ist verarbeitetes Essen okay. Milchprodukte wie Quark dürfen in die Biotonne, Milch selbst aber nicht. Fischgräten dürfen rein. Das Bundesumweltministerium hat dafür einst eine Empfehlung herausgegeben: Gräten bitte in Zeitungspapier einwickeln. Aber doch wohl nicht in bunt bedrucktes!

Die Naturrinde vom Käse in die braune Tonne. Ist die Rinde künstlich, kommt es darauf an: Wachsrinde kommt in die graue Tonne, Plastikrinde in die gelbe, wobei man sich natürlich darüber streiten kann, ob die Rinde eine Verpackung ist. Wenn nein, darf sie nur in die gelbe Tonne, wenn diese eine Wertstofftonne ist.

Frittierfett als reines Naturprodukt gehört nicht in die Biotonne, sondern in die graue. Dort darf wiederum kein Mineralöl entsorgt werden. In der Biotonne aber natürlich auch nicht. Speiseöl aus der Pfanne darf nicht in den Abfluss gegossen werden, sondern muss in den Restmüll. Weil das Öl flüssig ist, muss es aber in einen Behälter (der eigentlich in den Glas- oder Verpackungsmüll müsste, aber Öl schlägt Verpackung. Stich!).

Nach aktuellen Schätzungen von Branchenexperten besteht der Müll in der gelben Tonne, in die ja Verpackungsmüll reinsoll, zu 40 bis 60 Prozent aus dem falschen Abfall. Streichen Sie also bitte die Schlagzeile »Die Deutschen sind Mülltrennweltmeister« aus Ihrem Kopf.

Natürlich gibt es für den peinlichen Murks im Deutschen wieder ein spezielles Wort: »Fehlwurfquote«. Wenn es hochkommt, dann liegt die Fehlwurfquote in der Gelben Tonne demnach bei 60 Prozent. Im Grunde ist es also eigentlich ein riesiger Haufen stinkender Restmüll mit einer kunterbunten Beimischung von 40 Prozent Verpackungsmüll. Wir können es einfach nicht! Und ganz ehrlich: Welcher Mensch von Verstand will das können? Mülltrennen ist höchstens etwas für Leute, die sich nicht zu fein sind, die Zahl Pi bis auf die 7-millionste Stelle hinterm Komma auswendig zu lernen.

Ich denke nur mal laut: Wenn das System mit rund der Hälfte oder sogar 60 Prozent falschem Müll seit Jahren läuft, wäre es dann so schlimm oder nicht sogar von Vorteil, wenn wir Verpackungen gar nicht mehr vom Restmüll trennten? Die gelbgraue Tonne! Es gibt längst automatisierte Anlagen, die das mit dem Trennen besser können als jeder Mensch. Himmel, wenn KI, dann doch wohl bitte hier!

Rund 40 Prozent des von uns löffelrein ausgekratzten, abgeleckten, in der Miele vorgespülten und mit dem Seidentuch polierten Verpackungsmülls wird übrigens verbrannt. Nennen Sie mich einen Lügner, und Sie blamieren sich. Der ganze deutsche Mülltrennprozess ist laut Fachleuten heillos veraltet. Stand 1980 reicht! Nicht! Aus! Für Weltspitze!

Mein Vorschlag zur Güte: Sobald wir nicht mehr trennen müssen, fliegt niemand mehr in Urlaub.

Fachkreftemangel: Der Duden raupt uns Chancen

Dass das mit der Rechtschreibung ein großer Feler ist, weiß ich seid meiner Kindheit. Damals habe ich zu meiner Lehrerin, Frau Westphal, gesagt: »Ich verstehe das nicht.«