Mit Hand und Herz - Schwester Raphaela Händler - E-Book

Mit Hand und Herz E-Book

Schwester Raphaela Händler

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tatkraft aus Gottvertrauen: Fasziniert vom Leben Albert Schweitzers kennt Raphaela Händler nur ein Ziel – Ärztin in Afrika zu werden. Im Vertrauen auf Gottes Führung tritt sie nach dem Medizinstudium in den Orden der Missions-Benediktinerinnen ein. Mit diesem radikalen Schritt lässt sie ihr altes Leben hinter sich. 1969 wird sie nach Tansania gesandt. Als Frauenärztin holt Schwester Raphaela Tausende Kinder auf die Welt, geht als Pionierin zu Buschdoktoren und traditionellen Dorfhebammen. Die Krankheit AIDS stellt sie vor neue Herausforderungen, weit über die Medizin hinaus. Klug und heiter erzählt die tatkräftige Nonne von hoffnungsvollen Erfolgen, aber auch von schmerzlichen Phasen der Einsamkeit und Ablehnung. Ihr Weg inspiriert, eigene Träume zu verfolgen und dem Leben zu vertrauen. Raphaela Händler ist die bekannteste Nonne Deutschlands: Ihre Fangemeinde reicht von Thomas Gottschalk bis George Clooney

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 440

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Besuchen Sie uns im Internet unter

www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2014 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung

GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: Lisa Nicola, Meerbusch

Karten: Eckehard Radehose, Schliersee

eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7766-8193-2

Inhalt

Vom Danken und Staunen

Kindheit und Jugend (1940–1959)

Vom Loslassen und Verlieben

Ordensschwester und Ärztin sein (1959–1980)

Physikum und endlose Flitterwochen (1959–1963)

Aus Ursula wird Raphaela (1963–1969)

Endlich Afrika! (1969)

Ewige Profess (1970)

Angesteckt – ein Traum ist in Gefahr (1971–1978)

Fachärztin werden – trotz aller Hindernisse (1978–1980)

Tansania (1980–1994)

Gesundheit für alle

St. Walburg’s wächst

Unterm Sternenhimmel

Eine schlimme Diagnose: Unheilbar

Hoffnung und eine neue Freundin

Neue Ärzte in Nyangao

Auf Reisen mit Lisa Nicola

Aids – Der Anfang der Pandemie

Lebensmüde

Sabbatjahr und innere Stärkung

Namibia (1996–2005)

Ein anderes Afrika entdecken

Stellung gegen Abtreibung beziehen

Verbündete finden und von Sambia lernen

Dr. Lucy Steinitz und die ABCD-Methode

Auf Betteltour

Workshops für Ordensleute

Catholic Aids Action wird groß

Die Devise heißt: Fit bleiben

Internationaler Druck

Kürzertreten wollen

Reisen und Abschied nehmen

Tansania (2005–2013)

Eine neue Aufgabe: Priorin

Ein Herz für Kinder

Spirituelle Erneuerung und eine Prozession

Ins deutsche Fernsehen

UZIMA – Gemeinsam gegen HIV/Aids

Mama Priori und die jungen Schwestern

Bildung für viele

Am Sterbebett

Das Prioratskapitel tagt

Wer ist George Clooney?

Eine verrückte Idee

Auf Regen warten

Der Papst und »Ein Herz für mich«

Frohe Weihnachten – Heri ya Noeli

Wiedersehen mit Subira Alto

Ausgelassen ins neue Jahr tanzen

Eine neue Priorin

Goodbye am Ozean

Nachwort

Hilfreiche Informationen

Karten

Namibia

Tansania

Vom Danken und Staunen

Als ich die Tür öffne, weht das Moskitonetz über meinem Bett im sanften Luftzug, der durchs Fenster strömt. Es ist ein heißer Tag, wie alle Tage im Süden Tansanias. Ich atme tief ein. Afrika! Der Geruch dieses Kontinents, die Geräusche, die Landschaften und das Licht sind mir vertrauter geworden als manche Erinnerung an meine westfälische Heimat. Ich liebe den afrikanischen Himmel und den warmen Indischen Ozean an der Ostküste, wie auch den eisigen Atlantik an Namibias Westküste, wo ich viele Jahre gelebt habe.

Ich schaue aus dem Fenster und genieße die Aussicht, die über Jahre hinweg allmorgendlich das Erste war, was ich sah. Neben den Mangobäumen steht Theklas Hütte. Dort hat die erste benediktinische Ärztin, Schwester Dr. Thekla Stinnesbeck, ab 1927 ihre Patienten empfangen, vor allem Inder, die damals noch in großer Anzahl hier lebten und Vertrauen in die deutsche Ärztin setzten. Von weither kamen die Patienten den beschwerlichen Weg nach Ndanda angereist. Sr. Thekla war eine Visionärin und Pionierin und in vieler Hinsicht ein Vorbild für mich. Wenn Zweifel, Kummer und Einsamkeit mich heimsuchten, habe ich an sie und an andere starke und weise Ordensfrauen gedacht und mir gesagt: Wenn diese Frauen es geschafft haben, dann schaffe ich es auch. Es war nicht immer einfach, aber schließlich habe auch ich – in meinem Hospital in Afrika – unzählige Patienten behandeln und Leben retten dürfen. In der Nähe von Theklas Hütte, einem offenen Pavillon, wiegt sich mein geliebter Bambus im Wind. Das sanfte Schwingen des mächtigen Gewächses, begleitet von changierenden Grüntönen, wird mir fehlen, genauso wie der blühende Jacarandabaum im Hof. Im Garten reihen sich Beete mit farbenfrohen Blumen aneinander, aus denen die Schwestern blühende Sträuße für die Kapelle und unseren Speiseraum – das Refektorium – binden. Zum Namenstag findet jede Schwester ein Sträußchen an ihrem Platz. Ich schaue hinauf auf das Makonde-Plateau. Etwas entfernt schlängelt sich ein roter Lehmweg durch die satte Landschaft des Südens. Wenn es ausreichend regnet, haben die Menschen genug zum Essen, so wie in diesem Jahr.

Viele Straßenkilometer in dieser Region sind noch nicht asphaltiert und machen das Reisen beschwerlich. Am Ndanda-Bach haben Mönche vor Jahrzehnten ein kleines Wasserkraftwerk gebaut, das ausreichend Strom für unser Krankenhaus und einige Klostergebäude liefert. Weiter oben, in den Bergen, gibt es eine Quelle mit einem See, wo das sauberste Wasser des südlichen Afrikas sprudelt. Dorthin fahre ich gern, um zu schwimmen, oder an den Indischen Ozean bei Mtwara, wo ich meine wenigen Ferientage am liebsten verbringe. Im kristallklaren Wasser zeigen sich dort bei Ebbe wunderbare Korallenriffe, bunte Pflanzen und Fische und laden zum Schnorcheln ein. Dabei habe ich mir schon manchen Sonnenbrand eingefangen.

In den kleinen Dörfern, die zu Ndanda zählen, wird Landwirtschaft betrieben. Etwa 25 000 Menschen leben hier durch den Anbau von Mais, Reis, Casava und den wenigen Fruchtsorten, die auf diesen Böden gedeihen. Die Hitze Afrikas hat mir oft schwer zugesetzt, und auch nach über vier Jahrzehnten auf diesem Kontinent fehlen mir manchmal die vier Jahreszeiten, wie wir sie aus Europa kennen.

In einem Interview für eine Filmproduktion habe ich kürzlich gesagt: »Ich lebe hier, weil es hier Aufgaben für mich gibt, die ich tagtäglich vor Augen habe. Und nach dem Willen Gottes ist es gut, dort zu sein, wo Hilfe gebraucht wird. Und das ist für mich seit vielen Jahren Afrika.« Das klingt wenig romantisch, aber meine Zuneigung zu Afrika und seinen Menschen ist vielfältig, und es braucht mehr als nur einige Worte, um dies zu beschreiben.

Andere Aufgaben an anderen Orten warten nun auf mich, aber ich habe die Hoffnung, dass mein Wirken hier nach dem Willen Gottes noch lange Früchte tragen wird. Manchmal werde ich gefragt, ob ich ein Rezept für den Erfolg meiner Projekte habe. Dann gebe ich gern eine typische Raphaela-Antwort: »Eine Vision haben, etwas wagen, Hilfe suchen und die Idee umsetzen! So einfach ist das!«

Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten, vor denen manch eine Helferin oder ein Helfer zurückschrecken mag. Und mein Rezept ist sicher nicht frei von Nebenwirkungen. Auch mich hat die Arbeit mit meinen Schützlingen jeden Tag neu herausgefordert, und ich muss mir heute immer wieder dieselbe Frage stellen: Was ist der Wille Gottes? Im Lauschen auf mein Herz und auf die Menschen um mich versuche ich es herauszufinden.

Der Heilige Benedikt beginnt seine Regel mit dem Wort: »Höre!« So steht es auch im Mutterhaus von uns Missions-Benediktinerinnen in Tutzing an einem der bunten Kirchenfenster geschrieben: Höre. Es bedeutet das Horchen auf Gottes Wille mitsamt der vollen Bereitschaft des Ge-horchens. Dieses Hören ist grundlegend für meine Spiritualität.

Noch einmal schaue ich mich in meinem Zimmer um, schiebe das Moskitonetz zur Seite und stelle meine Tasche aufs Bett. Ordensfrauen leben in Bescheidenheit und reisen zumeist mit leichtem Gepäck, zumindest wenn es sich um die persönlichen Dinge und weniger um die bei den Adressaten beliebten Kurierdienste handelt. Aus Richtung Deutschland kommend, war mein Gepäck immer schwer von Medikamenten, Schokolade, Käse, Seife, Teelichtern für unsere Kapelle und anderen Besonderheiten, die es in Tansania nicht gibt. Doch nun bleibt mir nicht viel zum Packen. Mein persönliches Hab und Gut ist überschaubar und auch die Kleiderfrage stellt sich nur begrenzt. Mir genügen zwei schlichte graue Kleider für den täglichen Gebrauch und ein weißes für die Gottesdienste in Afrika sowie ein schwarzes Kleid für Deutschland. Heute gebe ich mein Zimmer auf, das ich weitgehend so verlasse, wie ich es vor acht Jahren vorgefunden habe. Im Kloster Tutzing werde ich dort schlafen, wohin man mich führt. Es gibt keine Wohnung, nicht mal einen Schrank von mir, sondern nur einen Koffer, der im Klosterkeller in Tutzing abgestellt ist. Ich bin weitgehend ohne Besitz, übrigens auch eine Regel Benedikts: Der Mönch darf kein Privateigentum besitzen. Außer einigen Erinnerungsstücken und Souvenirs für Familie und Freunde in Deutschland habe ich nur meinen Laptop, ein paar CDs und Bücher. Beim Ablegen meiner Gelübde vor 50 Jahren habe ich mich für ein Leben in Armut entschieden. Gleichzeitig sind Millionenbeträge durch meine Hände geflossen, so viel, dass ich aus dem Stegreif nicht sagen könnte, um welche Summen es sich im Einzelnen handelte und in welche Medizin- und Bildungsmaßnahmen für die Armen sie geflossen sind. Ich besitze zwei Paar Schuhe, eines davon steht in unserem Mutterhaus, weil ich es in Afrika nicht benötige, warme Winterschuhe, die ich mir 1994 in England kaufen musste. Aber Sandalen sind mir sowieso viel lieber.

Ich habe mich nie als arm empfunden, aber Armut war in meiner Umgebung stets präsent. Bittere Armut, Hunger, Krankheiten, Epidemien, gar Pandemien und allergrößte Not.

Während ich die letzten Gegenstände vom Nachttisch nehme, höre ich Geräusche von Stühle- und Tischerücken und Lachen aus dem Versammlungssaal, wo die Abschiedsfeier für mich und die Willkommensfeier für die neue Priorin, Sr. Terese, vorbereitet wird.

Seit Jahrzehnten lebe ich in Afrika und kann heute nur staunen, was aus meinen Träumen geworden ist. Schon als junges Mädchen wollte ich Ärztin für Afrika werden und den Notleidenden helfen. Damals war Albert Schweitzer mein großes Vorbild. Alle Berichte über sein Hospital und das Lepradorf im heutigen Gabun habe ich begierig aufgesogen. Was der charismatische Mann mit dem üppigen Schnurrbart nicht alles für die Kranken in Lambaréné, in Westafrika, getan hatte! Ich war Teenager, als er den Friedensnobelpreis bekam und sein Bild in allen Zeitungen war. Albert Schweitzer wollte ich nacheifern und Missionsärztin werden! Aber wie? Wenig ermutigend nannte meine Mutter zwei triftige Gründe, warum ich keinesfalls geeignet wäre, Ärztin zu werden: »Ursula, erstens kannst du noch nicht einmal ein Huhn ausnehmen, und zweitens bist du viel zu schüchtern. Du kannst nicht mit den Leuten reden.«

Ich erinnere mich noch gut an ihre Worte aus den späten Fünfzigerjahren, also müssen sie mich – damals hieß ich noch Ursula Händler – nachhaltig beeindruckt haben. Heute kann ich frei von jedem Bedauern sagen: Meine Mutter hatte vollkommen recht! Zum Teil, denn ein Huhn habe ich bis heute nicht ausgenommen, Ärztin für Afrika bin ich aber trotzdem geworden. Und mein einst zurückhaltendes Wesen wandelte sich Schritt für Schritt. Bis zum Ende meines Noviziats und der Ablegung meiner Ordensgelübde traute ich mir bereits einiges zu. An der Seite von Jesus Christus habe ich die notwendige Sicherheit gefunden. Im Kloster war ich meiner Berufung nachgegangen und durfte mein eigenes Charisma in der Gemeinschaft der Schwestern entdecken und erfahren, ganz so, wie es der Heilige Benedikt vorgesehen hat. Damals bekamen Frauen, die Ordensschwestern werden wollten, bei der sogenannten Einkleidung, wenn sie ins Noviziat aufgenommen wurden, einen neuen Namen. Für mich hatte meine Novizenmeisterin den aus dem Hebräischen stammenden Namen »Raphaela« gewählt, was nichts anderes heißt als Rapha-el, Gott heilt (Altes Testament, Buch Tobit). Aus Ursula Händler war Schwester Raphaela geworden.

Wenn ich auf mein reiches Leben zurückschaue, dann wundere ich mich in Dankbarkeit und Staunen, wie viel – durch mich – im Leben von anderen geschehen konnte. Dabei bin ich selber doch so einfach und nicht mal besonders talentiert, schon gar nicht als Führernatur aufgewachsen. Im Gegenteil, ich war ein stilles Mädchen, das sich stets untergeordnet hat. Wie konnte all das geschehen? Wie konnte ich die Geschicke so vieler Menschen lenken? Manchmal finde ich Antworten in der Spiritualität, und manchmal ist es nur ein kurzer Satz, dessen Bedeutung in meinem Innern widerhallt: Der Samen keimt und wächst, und der Bauer weiß nicht wie. Diese Worte stammen aus dem Evangelium von Markus (Mk 4,27) und sollen wohl sagen: Gott hat das gemacht! Er hat mein Herz und meine Hand gebrauchen wollen.

Als ich zum ersten Mal hinausgeschickt worden war, um als junge Ärztin in einem heillos überfüllten Buschkrankenhaus zu praktizieren, hätte Schüchternheit mir nicht geholfen. Und erst recht nicht, als ich Jahre später Chefärztin wurde und ein wunderbares Team um mich hatte. Wir arbeiteten Tag und Nacht im Hospital und taten gleichzeitig einen entscheidenden Schritt hinaus zu den Kranken in entlegene Ansiedlungen. Das war eine Herzensangelegenheit von mir und das schönste Projekt meines Lebens. Es hatte sogar einen Namen: Ein Hospital geht in die Dörfer. Wir haben die Sterblichkeit der Mütter und die der Säuglinge erheblich reduzieren können und viele Leben gerettet.

Schüchternheit ist heute vermutlich eine der letzten Charaktereigenschaften, die man mit mir in Verbindung bringt. Ein Millionenpublikum hat in den letzten Jahren meine Fernsehauftritte an der Seite von bekannten nationalen und internationalen Filmstars erlebt. Viele Zuschauer fanden mich angeblich cool, souverän und überzeugend. Beim Anblick des nervösen Treibens hinter der Bühne, bei dem sogar Showgrößen wie aufgescheuchte Hühner herumliefen, hatte ich zu mir selbst gesagt: »Na ja, ich brauche nicht nervös zu sein, ich tue das hier für Jesus und für die Kinder. Wir alle sind ja Kinder Gottes, und darin sind wir alle gleich.« Auf roten Teppichen, hinter der Bühne und bei den After-Show-Partys habe ich einige Stars näher kennengelernt. George Clooney und Sharon Stone waren mir vorher kein Begriff gewesen, nicht einmal Thomas Gottschalk kannte ich.

Meine Auftritte in der Spendengala Ein Herz für Kinder haben umfangreiche Beträge in die Kassen gespült und sind ein wichtiges Standbein für die Menschen in Ndanda, Mtwara und anderen Orten. Kindern und Jugendlichen in unserem Einflussgebiet ist nun der Zugang zu Bildung möglich, was in Tansania, einem der ärmsten Länder Afrikas, keine Selbstverständlichkeit ist. Bildung ist der Schlüssel für alle positiven Entwicklungen. Auch das habe ich als Medizinerin erst lernen müssen. Andere Spenden fließen in die Aufklärung zum Schutz vor HIV-Infektionen. Durch die Unterstützung aus Deutschland ist das Leben vieler Aidskranker und das Schicksal von Aids-Waisen nun nicht mehr hoffnungslos. Und nicht zuletzt können wir mit den Spenden zur Zukunft unseres Ordens beitragen und junge afrikanische Schwestern ausbilden, die unser Wirken fortsetzen.

Ich atme tief ein, voller Dankbarkeit und Staunen. Als es an meine Tür klopft, sind es Sr. Terese und Sr. Regina.

»Es ist Zeit zum Feiern«, sagt unsere deutsche Mitschwester Sr. Regina auf Swahili. Für uns drei ist es eine Fremdsprache, die wir gern sprechen. Sr. Terese, meine Nachfolgerin aus Uganda, musste sie, genau wie wir, erst lernen, bevor sie nach Tansania kam. Als ich mir beim Hinausgehen noch einmal die bunten Stoffe vor meiner Klosterzelle anschaue, möchte ich mich nur ungern von hier verabschieden. Während der Nacht haben die Schwestern den Türrahmen mit Tüchern und Blumen behängt. Diese Gesten ihrer Wertschätzung, Anerkennung und Liebe berühren mich. Vor der Treppe erwarten uns weitere Schwestern und jubeln und lachen. Von unten klingt lauter Gesang herauf, begleitet von Trommeln, Tamburin und Zimbeln. Die Schwestern führen Sr. Terese und mich an unsere Plätze. Der geschmückte Kapitelsaal ist voller Frauen, die aufgeregt durcheinanderplappern, manche in ihren Ordenskleidern, manche in afrikanischen Kleidern und andere in Kostümen, die sie offenbar für eine Aufführung tragen. Kaum haben wir uns gesetzt, beginnen sie mit ihrem Programm.

In Versen und Gesängen drücken die Schwestern ihre Gefühle und ihren Dank aus. Sie beherrschen das Kunststück, mich mit Wehmut zu verabschieden und im nächsten Moment ihre neue Priorin herzlich willkommen zu heißen. Tanzend und singend bringen sie ein Geschenk nach dem anderen. »Pokea! Pokea!«, schallt es. Nimm an! Nimm an! Ich stehe auf, tanze mit ihnen, nehme ihre Geschenke in die Hände, tanze damit weiter und halte sie hoch über alle Köpfe. »Fungua! Fungua!«, singen sie nun. Öffne es! Ihre Präsente sind nach der neuesten Mode aufwendig verpackt und mit Schleifen und Bändern verziert. Ich überlege, ob ich sie wirklich gleich auswickeln soll, denn in Tansania ist es traditionell üblich, ein Geschenk erst nach dem Fest zu betrachten. »Je, nifungue kweli?« Soll ich wirklich? Welch eine Frage! Die Schwestern möchten jetzt auf der Stelle meine Reaktion erleben. Und so wickle ich bunte Tücher, Holzschnitzereien und Bilder aus, halte sie hoch und zeige sie herum. Der Jubel wird immer größer. Man hängt mir bunte Ketten um den Hals und animiert mich zum Weitertanzen.

Im nächsten Moment gehen einige Schwestern an die Stirnseite des Saals, wo Platz freigehalten wurde, und nehmen ihre Positionen für eine Aufführung ein. Sie haben Rollenspiele eingeübt, mit denen sie zurückblicken auf unsere gemeinsame achtjährige Vergangenheit. Aufmerksam lausche ich ihren Worten und bin überrascht, als sie in ihrem Spiel auf das große internationale Treffen unserer Kongregation anspielen, bei dem wir vor fünf Jahren Gastgeber waren. So etwas hatte es in unserem kleinen Ndanda – 160 Kilometer von der Küstenstadt Mtwara entfernt im tiefen Busch – bis dahin nicht gegeben. Schon kurz nach meiner Installation als Priorin musste ich 2006 zum Generalkapitel nach Rom reisen und hatte dort für das nächste Treffen der Priorinnen aus aller Welt nach Tansania eingeladen. Die Schauspieler und das Publikum lachen laut auf, als sie in ihrem Sketch an das große Einkaufen im 550 Kilometer entfernten Dar-es-Salam anspielen, wo es einen modernen Supermarkt mit internationalen Nahrungsmitteln gibt. Ein derartiges Warenangebot kannten die wenigsten. Dort haben wir Einkaufswagen durch die Gänge geschoben und Vorräte angeschafft, die auch Europäerinnen, Asiatinnen und Nord- und Südamerikanerinnen schmecken. Noch immer gibt es bei uns im Süden Tansanias keine großen Geschäfte, was ich ausdrücklich begrüße. Wir im Süden sind noch immer das Armenhaus eines armen Landes und die Modernisierung schreitet nur langsam voran. Die vermeintlichen Verlockungen der Städte kennen hier viele nur vom Hörensagen. Das Leben dreht sich nach wie vor um Familie, Kinder, Wetter, Ernte, Gesundheit und den Tod.

Ich staune über alle Maßen über die vielen Details, an die unsere Schwestern sich erinnern, und freue mich über die Erwähnung einer Wallfahrt zu den historischen Stätten unserer benediktinischen Vorreiterinnen in Tansania. Nur wenigen Ordensfrauen aus den Anfängen der Mission war ein langes Leben gegönnt, manche starben gar eines gewaltsamen Todes, die meisten waren von Tropenkrankheiten heimgesucht worden. Inzwischen ist diese Wallfahrt fester Bestandteil unseres Ordens und sie hält die Historie, einschließlich der unrühmlichen Aspekte seitens der kaiserlichen Kolonialpolitik, weit über die Schwesternschaft hinaus wach.

Und dann präsentieren sie einen Sketch, der auf meine fortwährende Anregung anspielt, sich doch bitte schön umfassend aus den Medien zu informieren. Dafür habe ich vor Jahren eigens einen Fernseher angeschafft und diverse Zeitungen abonniert. Mir ist es wichtig, dass die Schwestern erfahren, was außerhalb des Klosters vor sich geht, denn wir stehen ja vor Gott für die Anliegen der ganzen Welt. Insgeheim hoffte ich in all den Jahren, diese Informationsquellen würden unseren Gesprächsstoff erweitern, der sich für meinen Geschmack viel zu oft im Kreis bewegt.

Zum Schluss bedanken sich die tansanischen Schwestern überschwänglich für ihre Ausbildung in Beruf und Studium, die nur durch den Orden möglich war.

Als eine letzte Zeremonie werden Sr. Terese und ich zum kata-keki gebeten, zum cut-a-cake, dem beliebten Kuchenanschneiden. Die Schwestern mögen dieses Ritual, mit dem viele Feste zu einem Abschluss kommen. Ich setze das Messer an und versuche, möglichst gleichförmige Stücke abzuschneiden, aber wie so oft sind Fertigkeiten aus dem Haushaltsbereich nicht meine große Stärke. Hier war ich immer eine kleine Drückebergerin und habe mich nur gefügt, wenn es keine Alternative gab. Während meiner Ausbildung als Novizin in den Sechzigerjahren hatte ich zwar schon mein Physikum in der Tasche, musste aber, nichtsdestotrotz, genau wie alle anderen Schwestern, im Haushalt und auch auf dem Feld arbeiten. Ich kann bis heute weder Kochen noch Handarbeiten. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich die verschiedenen Nahttechniken zum Vernähen von Wunden problemlos beherrsche. Gewebevereinigungen bei Patienten fielen mir nie schwer, bei Textilien hingegen sehr.

Die Zeit vergeht viel zu schnell, bald schaut eine der Schwestern aus Mtwara auf die Uhr. Die Straßenverhältnisse und die meisten Autos sind schlecht und Unfälle an der Tagesordnung. Gern möchten sie vor Einbruch der Nacht in ihrem Konvent sein. Schon verstauen einige Schwestern Kanister mit sauberem Trinkwasser aus der Ndanda-Quelle im Wagen. In Mtwara ist das Stadtwasser kaum genießbar und muss abgekocht werden.

»Bevor du gehst, noch ein Wort der Weisheit«, lautet die Bitte der Schwestern. Noch einmal schaue ich in die Runde. Manche Gesichter sind mir seit Jahrzehnten vertraut. Sr. Andrea steht neben mir. Mit unserer amerikanischen Schwester habe ich schon in den Siebzigerjahren zusammengearbeitet.

Ich schaue Sr. Regina an, die auf mich zukommt und mich umarmt. Sie hat Tränen in den Augen, und auch ich muss schlucken. Sr. Regina kam als Chirurgin aus Deutschland hierher und hat einige Jahre im St. Benedict’s Hospital praktiziert. So manches Mal hat sie mich an mich selbst und meine eigene Arbeit in meinem Krankenhaus erinnert, im 45 Kilometer entfernten Nyangao. Nach langen Gesprächen und gemeinsamen Überlegungen habe ich Sr. Regina eine große Verantwortung im Kloster übertragen, die sie freudestrahlend angenommen hat, auch wenn sie fernab ihrer medizinischen Ausbildung liegt. Sie ist unsere neue Novizenmeisterin.

Geduldig warten die Schwestern auf ein Wort von mir.

»Liebe Schwestern, was kann ich anderes sagen als Danke! Mit euch zusammen danke ich immer wieder Gott, für all das, was Er mit uns getan hat in den letzten acht Jahren, seitdem ich bei euch bin. Erinnert ihr euch, dass ich kaum Hoffnung auf das Überleben unseres Klosters in Ndanda hatte? Und jetzt gibt es so viel blühendes Leben und Vitalität, wohin wir auch schauen. Nie hätte ich das aus mir heraus gekonnt, es war nur möglich durch die Kraft Gottes. Und auch das ging nur, weil wir alle zusammen einem Ideal folgten. Vor meiner Ankunft 2005 schrieb ich euch einen Brief – erinnert ihr euch?: Together we can make it! Nur zusammen wird es weitergehen. Gott hat noch viel mit uns und durch uns vor. Er möchte unsere Herzen und unsere Hände gebrauchen, um zu den Menschen zu gelangen, die unsere Hilfe brauchen. Ich danke euch für all eure Mitarbeit. Und ich bitte euch um Verzeihung für alles, was ich falsch gemacht habe und womit ich Schwestern verletzt habe. Meine große Bitte an euch lautet: Seid jetzt ganz offen für alles Neue, das da kommen mag und begrüßt es zusammen mit Sr. Terese. Es wird gut weitergehen.«

Bevor es noch später wird, gehen wir gemeinsam an die hintere Außentreppe, um ein letztes Erinnerungsfoto aufzunehmen, 30 Schwestern, die Aspirantinnen und Postulantinnen nicht eingerechnet, eine Mut machende Anzahl. Das Ablichten unserer Schwestern ist immer wieder eine fototechnische Herausforderung, weil die sehr dunklen und sehr hellen Gesichter sich schwerlich klar und deutlich zusammen auf einem Bild einfangen lassen. Unsere weiße Kleidung bringt die automatische Belichtungsmessung der Kamera zusätzlich an ihre Grenzen. Die Gesichtszüge mancher Afrikanerinnen lassen sich häufig auf den Fotos kaum noch erkennen und bleiben im Dunkeln, während die Europäerinnen extrem blass und überbelichtet wirken. Nichtsdestotrotz versuchen wir es immer wieder und stellen uns auch heute in Position.

Nun wird es aber höchste Zeit zur Abfahrt. Die Schwestern aus Mtwara stehen bereits vor unserem Minibus. Seitdem wir stolze Besitzer dieses Fahrzeugs sind, das für unsere Sekundarschule gebraucht wird, sind Lehrkräfte und Schüler endlich mobil, ohne teure Fahrzeuge anzumieten. Eine Spende von Ein Herz für Kinder.

Am liebsten möchte ich sofort losfahren, denn langes Hinauszögern erschwert uns den Abschied umso mehr. Wenn Gott will – Mungu akipenda – Inschallah, komme ich ja wieder.

Das Gepäck ist verstaut. Während die einen sich ans Einsteigen machen, singen die anderen noch ein Lied für uns. Als Ruhe eintritt, bete ich ein letztes Mal vor und bitte um den Segen, baraka, für alle. Schließlich stimmen wir gemeinsam das Baba Yetu, das Vaterunser an.

Baba yetu – uliye mbinguni,

jina lako litukuzwe.

Ufalme wako ufike.

Utakalo lifanyike, duniani kama mbinguni.

Utupe leo mkate wetu wa kila siku.

Utusamehe makosa yetu,

kama tunavyowasamehe na sisi waliotukosea.

Usitutie katika kishawishi:

Lakini utuopoe maovuni. Amina.

*

Wir schweigen, als der Minibus Fahrt aufnimmt, jede von uns in ihre eigenen Gedanken vertieft. Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir geht mir Psalm 63,2 durch den Kopf. Er gehört zu den Psalmen, die mich – mein gesamtes religiöses Leben lang – immer wieder beschäftigt haben und mir Kraft und Verständnis geben. Ja, so ist es, denn für mich ist Gott kein lebloses Objekt oder etwas Fernes und Unerreichbares, nein, er ist mein Gott, mein Du, meine Sehnsucht. Aber ich besitze ihn nicht und ich sehe ihn auch nicht. Wo ist dieser Gott? Meine Suche beginnt immer wieder aufs Neue. Meine Seele, mein Herz dürstet nach Gott wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser. Wie oft habe ich solch ausgedörrte Böden in den Tropen gesehen, Land, das nichts hervorbringen kann ohne Wasser. So ergeht es mir ohne Gott. Dieses Gefühl stellt die Mitte meiner klösterlichen Berufung dar – diese Anziehung durch Gott. Gott suchen – ganz so, wie es unser Ordensvater St. Benedikt und die Mönchsliteratur beschreiben. Dieses Suchen wird immer im Zentrum meines Lebens stehen. Aber das Suchen nach Gott führt mich nicht in eine Kontemplation, weder ins beschauliche Betrachten noch in eine ständige Meditation, die nichts mehr zu tun haben will mit der Welt außerhalb der Gedanken. Nein, es ist ganz anders: Gott ist uns sichtbar geworden in Jesus Christus, Gott hat ein menschliches Gesicht. Mein Jesus Christus identifiziert sich mit den Menschen, besonders mit allen Schwachen, den Armen, Kindern und Kranken. Was ihr ihnen getan habt, habt ihr mir getan, sagt er bei Matthäus (Mt 25,40). Und so gehören für mich und für alle Missions-Benediktinerinnen Gebet und Taten der Liebe und des Dienstes unbedingt zusammen. Ora et Labora.

Der Minibus rumpelt über die Straße. Am Ende der langen Strecke, in Mtwara, werden wir vom nächtlichen Schein des Indischen Ozeans begrüßt. Silbern schimmert das Meer, der Himmel voller Sterne. Die Grillen zirpen.

Kindheit und Jugend (1940–1959)

Vom Loslassen und Verlieben

Die Nacht habe ich im Beachhouse von Mtwara verbracht, nur einen kurzen Spaziergang vom Konvent entfernt. Als ich aufwache, haben sich die Geräusche der tropischen Nacht gelegt. Die Moskitos, die mein Netz umschwirrten, sind längst fort und die schrillen Gesänge der Zikaden verstummt. Die Jagd von nachtaktiven Tieren und ihr Rascheln zwischen Büschen und Bäumen haben sich gelegt, langsam verschwinden sie in ihren Verstecken. Bevor die Sonne aufgeht, machen sich andere bereit für einen neuen Tag. Es ist zu spät für das gemeinsame Morgengebet mit den Schwestern. Ich könnte rasch hinübereilen in die Scholastika-Kapelle, aber nein, ich bleibe in unserem Emmaus-Häuschen am Strand. Es ist schon eine Weile her, dass ich eine Laudes verpasst habe. Zumeist geschieht dies nur auf Reisen oder in den kurzen Zeiten der Rekreation, die ich mir gegönnt habe. Das gemeinsame Gesangsgebet im Licht des anbrechenden Tages liebe ich ganz besonders. Mit jedem neuen Morgen wird die Auferstehung gepriesen, denn so, wie die aufgehende Sonne die Nacht vertreibt, ist Christus aus der Nacht des Todes auferstanden. Und wie der Mensch nach Seiner Auferstehung in den himmlischen Lobpreis einstimmt, begrüßen Gläubige den neuen Tag.

Im benachbarten Konvent stand mir in den letzten Jahren ein eigenes Zimmer zur Verfügung, denn als Priorin hatte ich hier, besonders in der heißen Phase der Bauvorhaben, viel zu tun. Ständig bin ich zwischen Ndanda und Mtwara hin- und hergependelt, oft habe ich selbst am Steuer gesessen, aber ich habe auch nicht Nein gesagt, wenn es einen Fahrer gab. Dann konnte ich während der Fahrt Baupläne und Abrechnungen wälzen. Es gab Zeiten, in denen ich mich eher wie eine Bauleiterin oder Managerin fühlte, weniger wie eine Ordensfrau und Priorin. Nun habe ich meine Aufgaben abgegeben und bin wohl so etwas wie eine Freifrau. Darunter kann ich mir zwar noch nichts Konkretes vorstellen, aber Pflichten muss ich derzeit keine erfüllen. Die Last der Verantwortung fühle ich noch schwer auf meinen Schultern, denn eine Priorin ist für alles verantwortlich, insbesondere für das Wohlergehen der Schwestern und in gewisser Weise auch für ihr Seelenheil. Allein diese Aufgabe erfordert enorme Kräfte, denn es wird erwartet, den Schwestern den richtigen Weg zu weisen. Aber das ist nun mal die Aufgabe eines Abtes, wie die Stellung einer Priorin bei den Männern genannt wird, und der Heilige Benedikt, unser Ordensgründer, hat es im 6. Jahrhundert in seiner klugen Regel festgeschrieben. Keine leichte Aufgabe, besonders wenn ich daran denke, dass sich hier nur eine einzige Novizin in der Ausbildung zur Ordensschwester befand, als ich kam, und es jetzt 14 sind.

Ach, wenn ich an das gestrige Fest denke, spüre ich, wie gut es mir getan hat. Es war regelrecht heilsam, denn mir ist deutlich geworden, dass auch alte Wunden – aus meiner Zeit als Chefärztin im Krankenhaus von Nyangao, das ebenfalls zum Priorat Ndanda zählt – gänzlich verheilt sind. Man hatte mir damals, im Jahre 1994, sehr wehgetan, woraufhin ich das Land verlassen habe und erst elf Jahre später zurückgekehrt bin. Nichts davon belastet nun noch mein Herz.

Nur noch wenige Tage in Afrika, dann werde ich wieder in Deutschland sein und mich erholen, Familie und Freunde besuchen, mich medizinisch durchchecken und vor allem meine schmerzenden Knie genauer unter die Lupe nehmen lassen.

Ich schaue auf das Meer, wickle mir eine Kanga um die Hüften und gehe auf die kleine Terrasse. Ein Fischerboot fährt vorbei, das Segel gebläht vom Wind. Die Sonne steigt aus dem Meer und wirft dem Morgen ein zartes Orange über, das den Strand beinah golden schimmern lässt. Noch ohne Schatten zu werfen, wiegen sich Palmen in der morgendlichen Brise. Es ist angenehm warm, die schönste Stunde des Tages, bevor Hitze und Feuchtigkeit alles durchdringen. Ein Hibiskus steht in voller Blüte, korallenrot leuchtet es aus seinen Kelchen. Ich gehe hinüber zum überdachten Pavillon und setze mich nieder. Das Geräusch von Regen auf Palmenblättern höre ich gern, und an diesem Ort klingt es besonders schön. Doch die große Regenzeit ist seit Wochen vorüber und es wird wohl keinen Schauer mehr geben. Ein Gummibaum mit seinen fleischigen Blättern überragt den Pavillon und wirkt wie ein Schirm. Schon ändern sich die Farben, das Orange verblasst und wandelt sich über dem Meer zu bläulicher Klarheit, die Palmen zeigen ihr Grün und der Strand sein helles Grau.

Werde ich loslassen können? Die Verantwortung tragen jetzt andere, aber eine enge Bindung lässt sich nicht so einfach lösen. Ich könnte bleiben, hier ist mein Kloster. Viele Priorinnen nehmen nach ihrer Amtszeit ein Sabbatjahr und kehren dann zurück. Nach acht Jahren full power denke ich nicht einmal im Traum an ein Altenteil, denn nie zuvor habe ich so viel Nachhaltiges bewirken können wie in jüngster Zeit, nie zuvor hatte ich so viel Kraft und Mut, nie zuvor waren mir die Zusammenhänge von mangelnder Bildung, Armut, Krankheit und frühzeitigem Tod in diesem Land so deutlich vor Augen gewesen, nie zuvor hatte ich so viel Wissen und nie zuvor waren hilfreiche Projekte, die weit mehr sind als Tropfen auf den heißen Stein, so greifbar und umsetzbar. Tausende junge Menschen haben durch die Arbeit der Missions-Benediktinerinnen von Ndanda nun eine Zukunft außerhalb eines Teufelskreises von Unwissenheit und Not. So viele Projekte, die ich nun loslassen muss. Gott war mir auf allen meinen Wegen immer ein verlässlicher Partner. Auf ihn habe ich mich verlassen und bin nicht enttäuscht worden.

Nein, eine Ordensfrau ist mit 73 keineswegs im Rentenalter, zumal wir ein Dasein als Rentnerinnen ohnehin nicht kennen. Bei uns gibt es Schwestern, die mit über 90 Jahren noch agil sind und ihre täglichen Aufgaben im Kloster mit Hingabe, Liebe und Dankbarkeit erfüllen. Für betagte Schwestern ist in unserer gesamten weltweiten Kongregation bestens gesorgt. Von den knapp 1400 Schwestern, die in 18 Ländern arbeiten und 26 verschiedene Nationalitäten haben, lebt nur ein Bruchteil in Deutschland. Aber wenn eine von den älteren deutschen Schwestern das Bedürfnis dazu verspürt oder aus gesundheitlichen Gründen aus dem Ausland ins Mutterhaus nach Tutzing gehen möchte, kann sie im eigens dafür eingerichteten Haus St. Benedikt leben. Im Kloster mit dem angeschlossenen Hospital existiert zudem eine Infirmerie, eine Kranken- und Pflegestation, von der aus die Schwestern einen direkten Zugang zur Galerie der Klosterkapelle haben, die seit unserer Einhundertjahrfeier 2004 mit ihrer modernen und hellen Ausstrahlung viele Gäste anzieht. Unser Mutterhaus hat seine Tore weit geöffnet für Besucher, ganz anders als noch zu meiner Zeit als Novizin.

*

Im Beachhouse am Indischen Ozean sind um diese frühe Morgenstunde nur Meeresrauschen und Vogelgezwitscher zu hören. Ich verhalte mich still und schaue aufs Meer. Nach einer Weile vernehme ich aus der Ferne das Knattern von Mopeds, Frühaufsteher wie ich, die zu ihrem Arbeitsplatz fahren. Inzwischen hat sich das Meer zurückgezogen. Es ist Ebbe und die Sonne ist hoch aufgestiegen. Der Strand liegt in voller Größe vor mir und lockt mich zu einem kurzen Spaziergang, bevor er unter der aufkommenden Hitze glüht. Gleißendes Licht lässt den Sand beinah weiß und das Meer türkisblau schimmern. Kein Mensch weit und breit. Wo bis vor Kurzem das Hochwasser stand, ist der Sand noch feucht und knirscht unter meinen Füßen. In der Nähe gibt es ein Korallenriff, wohin ich in den letzten Jahren manchmal ging, um die normale und vertraute Welt zu vergessen. Dort bin ich mit Brille und Schnorchel in die Unterwasserwelt abgetaucht und war den Korallen und exotischen Fischen ganz nah, ein lautloses und buntes Paradies. Die Leichtigkeit meines Körpers im Meer und die fremdartige Fauna haben mich auftanken lassen. Mir genügten immer nur wenige Tage, um neue Kraft zu schöpfen. Als die Sonne aufsteigt, gehe ich zurück zum Garten.

*

Im Nebengebäude lebt ein Hausmeister, der Tag und Nacht einen Blick auf das Beachhouse und das Grundstück hat, so wie es in Tansania und wohl den meisten afrikanischen Ländern üblich ist. Als ich den Mann in seiner Arbeitskleidung aus dem Häuschen kommen und seine Runde über das Gelände machen sehe, muss ich seltsamerweise an die ersten schwarzen Menschen denken, die mir in meinem Leben begegnet sind. Unverhofft erinnert mich der Hausmeister in seinem grünlichen Overall an die amerikanischen Soldaten, die 1945 in meinem Heimatort aufgetaucht waren. Ich war damals fünf Jahre alt und der Zweite Weltkrieg war gerade beendet. Bis auf den rot entflammten Himmel über Münster, wenn die 20 Kilometer entfernte Stadt nach Bombenangriffen lichterloh brannte, habe ich nur wenige Erinnerungen an den Krieg. Mein Heimatort Nottuln war von Kriegshandlungen verschont geblieben. Dennoch heulten gelegentlich die Sirenen zum Fliegeralarm, und meine Familie eilte schleunigst in unseren Keller, wo sich auch einige Nachbarn einfanden, um in Sicherheit zu sein. Bei den Angriffen auf Münster waren meine Großeltern mütterlicherseits ausgebombt worden. Meine Großmutter hat im Luftschutzbunker überlebt und fand schließlich Unterschlupf bei uns in Nottuln. Das Haus bot ausreichend Platz, hatte mein Großvater väterlicherseits es doch für seine vielköpfige Familie bauen lassen. Er hatte einen florierenden Holzhandel betrieben, den später mein Vater übernahm, aber der Krieg und die Wirtschaftslage ließen im Laufe meiner Kindheit nicht viel von der einstigen Firma übrig. Immerhin waren die Lagerhallen für meine beiden Schwestern und mich ein beliebter Spielplatz. Kaum mehr als ferne Bombennächte, ein heimlich geschlachtetes Schwein und den Einzug meiner ausgebombten Großmutter habe ich vom Krieg im Gedächtnis behalten.

Ganz deutlich kann ich mich noch an die Begegnung mit den ersten schwarzen Männern erinnern, amerikanische Soldaten, die nach Kriegsende im Frühsommer 1945 bei uns vor der Tür standen. Mit ihren Panzern hielten sie unter ohrenbetäubendem Lärm direkt vor unserem Haus neben der Kirche. Noch heute sehe ich sie unter den Bäumen der Lindenallee stehen, frisches Laub über ihren unfassbar dunklen Köpfen, die aus der Panzerluke schauten. Unsere Eltern waren im Haus geblieben, aber meine beiden Schwestern und ich eilten zur Tür, öffneten sie einen Spalt und spähten hinaus.

Die Fremden winkten freundlich, als sie von ihrem Panzer herunterstiegen. Sie lächelten uns an und holten kleine Päckchen aus ihren Taschen. Ich schaute in ihre dunklen Gesichter mit den weißen Zähnen und auf die gleichermaßen dunkle Haut ihrer Hände, die etwas Verlockendes festhielten. Einer kam auf uns zu und sprach einige Worte, die wir nicht verstanden, aber es klang nett. Es hörte sich an wie »Schokolade«, aber er fügte viele weitere unbekannte Worte hinzu. Schon stand er am Treppenabsatz, nur noch wenige Stufen von uns entfernt. Wir starrten wie gebannt auf den Soldaten in seiner Uniform. Ein zweiter Mann folgte, der genauso fremdartig und nett aussah wie der erste. Solche Gesichter hatten wir bis dahin nie gesehen und von Schokolade hatten wir nur geträumt. Man hatte uns erzählt, es sei eine besondere Köstlichkeit, etwas Süßes und von weit her kommend. Wir Mädchen waren begeistert, als die dunkelhäutigen Männer ihre Päckchen öffneten und jede von uns ein Stückchen Schokolade bekam. Christa sagte laut: »Danke«. Sie war immer die mutigste und schlagfertigste von uns, wir Jüngeren taten es ihr sogleich nach. Nun lächelten die Amerikaner noch breiter und sagten etwas, das wir wieder nicht verstanden. Nach einer Weile zogen sie weiter und wir ließen die Köstlichkeit in unseren Mündern schmelzen. Ich war fasziniert von der Schokolade und von den großen schwarzen Männern. Als Erwachsene war ich später manches Mal dankbar für diese erste kindliche und ausgesprochen positive Erfahrung mit Menschen anderer Hautfarbe. Dennoch dauerte es einige Jahrzehnte, bis mir deutlich wurde, wie prägend der Anblick der schwarzen Amerikaner auf die fünfjährige Ursula Händler in Nottuln gewirkt haben muss.

Menschen mit anderer Hautfarbe sah ich danach so schnell nicht wieder. Nur an der Weihnachtskrippe in unserer Kirche gab es eine Missionsspardose in Form einer dunkelhäutigen Kinderfigur, ein sogenanntes Nicknegerlein, das mit dem Kopf nickte, wenn man ein Geldstück hineinwarf. Die Zeit der stumm nickenden Figur, die dankend die Gaben der Weißen annahm, war bei uns glücklicherweise ab Mitte der Sechzigerjahre vorbei. Mit solchen Eindrücken bin ich aufgewachsen und bin im Nachhinein noch froh, dass sie nicht meinem Verständnis von Mission entsprachen, als ich im jugendlichen Alter davon träumte, Missionsärztin zu werden. Ich wollte in Bescheidenheit dort helfen, wo ich gebraucht wurde, und Zeugnis ablegen von Jesus Christus. Das »Nicknegerlein« verschwand und mit ihm viele althergebrachte Vorstellungen der Kirche. Damals existierte noch die Vorstellung, man könne ein Heidenkind aus allergrößter Not für den Betrag von 21 Mark freikaufen. Aus diesem Grund bekam ich exakt diese Summe zur Erstkommunion geschenkt. Ich stellte mir vor, wie ich dazu beitrug, eines dieser Kinder aus Finsternis und Unwissenheit, fernab von den Segnungen der Kirche lebend, nun retten zu können. Das Geld brachte ich sofort zur Kirche und bekam eine kleine Urkunde, auf die ich sehr stolz war. Welches Heidenkind ich wohl gerettet hatte? Woher dieser Brauch rührte, wusste ich damals nicht.

Der Missionsgedanke hat sich seitdem umfassend gewandelt, aber das ist eine andere Geschichte, die mich bis heute tief bewegt. Vieles hat sich in der katholischen Kirche zum Besseren verändert. Nun haben wir sogar einen Papst, der nicht aus Europa stammt, der eine neue Sichtweise in den Vatikan trägt und nicht mehr Heiliger Vater genannt werden will. Er sei der Bischof von Rom im Vorsitz der Liebe. Wenn ich daran denke, dass in den letzten Jahrzehnten immer häufiger Missions-Benediktinerinnen aus Südamerika, Asien und Afrika wichtige Positionen in unserer Kongregation eingenommen haben und ihre Mission in die Welt tragen, dann bin ich umso glücklicher.

Über das »Nicknegerlein« habe ich als kleines Mädchen nicht viel nachgedacht, und auch wenn es mir fragwürdig erschienen wäre, hätte ich mich doch niemals getraut, eine Bemerkung zu machen. Dafür war ich viel zu schüchtern und stand zudem im Schatten meiner zwei Jahre älteren Schwester Christa. Sie war eine Musterschülerin und brachte Bestnoten nach Hause, ohne dafür lernen zu müssen. Bei meinem schulischen Werdegang, angefangen von der Grund- und Realschule in unserem Heimatort, über ein Gymnasium in Münster bis zum Internat der Ursulinen in Werl, traf ich stets zwei Jahre nach Christa auf dieselben Lehrerinnen und Lehrer, die von mir ähnlich gute Leistungen und ein ähnlich forsches Auftreten erwarteten. Doch während meine Schwester in jeder Hinsicht ein extrovertierter Typ war, traute ich mich kaum, den Mund aufzumachen. Manchen Lehrern merkte ich die Enttäuschung darüber an. Immerhin hatte ich während der Grundschule bei Lehrer Kortmann einen Stein im Brett. Der junge Mann war verlobt und er schickte ausgerechnet mich in der großen Pause regelmäßig zum Postamt, um nach eingetroffenen Briefen seiner zukünftigen Frau zu fragen. Manchmal strich er mir flüchtig übers Haar, wenn ich mit einem Umschlag zurückkam. Er muss sehr verliebt gewesen sein.

*

Meine Eltern waren ein ungleiches Paar, allein schon wegen des erheblichen Altersunterschieds von 18 Jahren. Meine Mutter hat als 22-Jährige meine älteste Schwester geboren, kaum zehn Monate vor Ausbruch des Krieges. Ich kam schon im nächsten Jahr auf die Welt und Annette im Juli 1941. Im Nachhinein fragte ich mich häufig, wie sie es geschafft hat, während des Krieges und bei schwacher Gesundheit drei kleine Mädchen durchzubringen. Auf Kindheitsfotos sehen wir immer adrett und zufrieden aus, aber was geben Fotos wirklich wieder vom tatsächlichen Leben? Sie muss körperlich wie auch seelisch vollkommen überfordert gewesen sein, aber das ist mir erst als gereifte Frau aufgegangen. Vermutlich hat meine Mutter sich damals einen Schutzschild zugelegt, der aus emotionaler Abschottung bestand. Sie wird sich in den schweren Kriegsjahren und noch lange danach unser Wohlergehen von ihrem Mund abgespart haben, ohne dass wir es je gemerkt haben. Meine Schwestern und ich haben ihr viel zu verdanken und ich habe Hochachtung vor ihrer Leistung. In meiner Erinnerung taucht dazu das Bild meiner kreidebleichen Mutter im Krankenbett auf. Der behandelnde Arzt an ihrer Seite sagte damals zu meinem Vater: »Kaufen Sie auf dem Schwarzmarkt in Münster Butter für Ihre Frau.«

Ob er es tatsächlich getan hat, weiß ich nicht, aber unsere Mutter erholte sich – wie so häufig – und nahm ihre Pflichten wieder ohne zu klagen auf. An zärtliche Zuwendungen oder gar Liebkosungen durch unsere Mutter kann ich mich nicht erinnern. Sie kam jeden Abend zu uns Schwestern ins Zimmer, um mit uns zu beten. Dabei knieten wir gemeinsam vor dem Gnadenbild Unserer Lieben Frau von der immerwährenden Hilfe. Die Ikone mit der Gottesmutter und dem Jesuskind gehörte in mein Leben wie die täglichen Gebete, und beide hatte ich lieb gewonnen. Der goldschimmernde Untergrund auf dem Bild rahmte die Abbildung mit den beiden sanften Gesichtern. Davor brannte stets ein Lichtlein und warf seinen Schein darauf. Die Gottesmutter erschien mir voll grenzenloser Zärtlichkeit zum Kinde. Nach dem Gebet schlüpften wir unter unsere Decken. Einen Gutenachtkuss haben wir nicht bekommen. Es war jeden Abend das gleiche Ritual. Nie konnte unsere Mutter uns einen Kuss geben. »Kinder, ihr müsst fleißig lernen«, sagte sie stattdessen oft zu uns. »Was ihr gelernt habt, kann euch keiner nehmen. Geld kann plötzlich nichts mehr wert sein, das haben wir selbst erlebt, ein Haus kann abbrennen, aber was in euren Köpfen ist, bleibt für immer euer Eigen.« Dann löschte sie das Licht und ging hinaus.

Unser Vater musste nur kurze Zeit als Soldat dienen. Bei Kriegsbeginn war er fast 40 Jahre alt und zunächst wurden nur die Jüngeren an die Front geschickt. Und so war er fast immer zu Hause und dabei ausgesprochen präsent. Solange ich denken kann, gingen wir jeden Sonntag gemeinsam in die Kirche, wo unsere Familie immer auf derselben Kirchenbank saß, mittig auf der rechten Seite. Mein Elternhaus lag nur wenige Schritte von der Stifts- und Pfarrkirche St. Martinus entfernt, einem mächtigen gotischen Bau mit hoch aufragendem Glockenturm. Aus der oberen Etage unseres Hauses konnte man die Kirchenuhr mit den lateinischen Lettern tempus fugit, amor manet sehen, Zeit vergeht, Liebe bleibt. Wie selbstverständlich lernte ich diese und viele andere lateinische Worte und hatte in der Schule nie Probleme mit der Sprache. Für einen Ort mit nur wenigen Tausend Einwohnern gab es neben der beeindruckend großen Kirche auch eine erstaunlich große Anzahl anderer christlicher Bauwerke, die auf ein Damenstift zurückgehen, das den Ort über Jahrhunderte geprägt und Spuren hinterlassen hat.

Während meiner Kindheit ereigneten sich nur wenige einschneidende Veränderungen, bis auf die kurze Zeit, in der englische Alliierte in unserem Haus lebten und wir bei Nachbarn Unterschlupf fanden. Nachdem die Fremden wieder abgezogen waren und meine Eltern sich mit den angerichteten Zerstörungen abfinden mussten, gab es kaum weitere Überraschungen. Wir lebten in einem katholischen Milieu, in dem jeder und jede seinen bzw. ihren festen Platz hatte. Ab und an erinnerte man uns Kinder daran, nicht mit den Evangelischen zu spielen, womit die Kinder der Flüchtlingsfamilien gemeint waren, die zumeist aus Ostpreußen und Schlesien stammten und sich nach dem Krieg in Westfalen ansiedelten. Wir wuchsen quasi in einem geschlossenen System auf, beinah gänzlich ohne einen Störenfried, hätte es da nicht unseren Onkel Josef gegeben. Der Bruder meines Vaters hatte sich von seiner Frau scheiden lassen und wir Kinder erfuhren alsbald, dass dies ein schweres Vergehen sei und sein Verhalten vollkommen inakzeptabel. Ein Skandal! Doch nicht nur das: Onkel Josef wollte sogar ein zweites Mal heiraten. Das führte zwischen meinen Eltern zu heftigen Diskussionen darüber, wie sie sich gegenüber dem Verwandten verhalten sollten. Man konnte ihm ja wohl kaum gratulieren! Meine Schwestern und ich waren noch zu jung, um die Aufregung der Eltern zu verstehen. Es wirkte nicht wie eine Streitigkeit zwischen ihnen, nein, sie schienen ganz einer Meinung zu sein, aber ihre Empörung und Ratlosigkeit ließen ihre Stimmen beben.

Streit gab es jedoch regelmäßig ums Geld. Meine Mutter war Hausfrau und hatte alle Hände voll zu tun, uns zu ernähren und zu versorgen, drei kleine Mädchen in einer schweren Zeit. Ihrer Meinung nach vertrat mein Vater eine allzu laxe Einstellung gegenüber seiner Arbeit in der Holzhandlung und dem neu entstandenen Versicherungsbüro. Immer wieder ermahnte sie ihn zu mehr Engagement. Diese Auseinandersetzungen verliefen manchmal lautstark, was mich in die letzte Ecke des Hauses trieb, um sie nicht anzuhören. Ich hasste es, wenn meine Eltern sich stritten. Innerlich war ich dabei immer auf der Seite meiner Mutter. Sie musste einfach recht haben, denn sie war eine kluge Frau und sie liebte uns.

Unser Vater zeigte sich außerhalb des Hauses gern mit seinen drei braven und aufgeweckten Töchtern, besonders wenn wir fein herausgeputzt am Sonntag um neun Uhr in die Messe gingen. Nach dem Kirchgang plauderte er mit Nachbarn und Bekannten, wobei wir an seiner Seite standen und schweigend warteten, bis seine Gespräche beendet waren. Der nächste Gang führte zum Zeitungsbriefkasten, in dem die Welt am Sonntag steckte. Damit setzte er sich ins Herrenzimmer und trank zum Pressestudium ein Glas Moselwein. Beim Mittagessen befragte er meine Schwestern und mich darüber, was wir von der Predigt behalten hätten. Seine Fragen konnten anfangs nur von Christa beantwortet werden. In der Liturgie überwog in meiner Kindheit noch die lateinische Sprache, was sich erst durch das Zweite Vatikanische Konzil änderte. Unserem Vater gefiel es, sich als gebildeter Christ zu präsentieren.

In seiner Welt ging es im Wesentlichen immer nur um ihn. Nach dem Sonntagsessen und dem Kaffeetrinken mussten wir gemeinsam spazieren gehen. Da kannte er kein Pardon, es war wie eine heilige Pflicht, ob wir nun wollten oder nicht. Begleitet wurden wir zumeist von einigen Verwandten, Onkeln und Tanten, die im Dorf wohnten. Wir Mädchen trotteten den Erwachsenen lustlos hinterher. Niemand kümmerte sich oder spielte gar mit uns. Viel lieber wären wir zu Hause geblieben. Einmal hatten wir im Holzlager eine kleine Theaterbühne aufgebaut. Christa hatte sich wie so oft ein Stück ausgedacht und wir hatten bereits sämtliche Kinder der Nachbarschaft eingeladen. Für einen Groschen Eintritt hätten sie zur Premiere kommen dürfen. Aber unser Vater machte uns einen Strich durch die Rechnung. Widerworte duldete er nicht und die Aufführung musste abgeblasen werden. Er hatte entschieden, dass wir unbedingt am Sonntagsspaziergang teilnehmen mussten. »Christa-Ursula-Annette, ihr kommt mit!«, bestimmte unser Vater, wobei er unsere Namen wie ein einziges Wort aussprach.

Er war ein eifriger Kirchgänger, der bei seinen täglichen Besuchen der St. Martinus Kirche stets auf Knien vor dem Marienaltar betete. Sein Lieblingsplatz in der Kirche war von einem Meister der Steinmetzkunst aus Baumberger Sandstein gefertigt worden. Unser Vater schaute sich immer wieder die prächtige Darstellung vom Heiligen Dominikus an, der von Maria den Rosenkranz empfängt. Vor der Renovierung der Kirche in den Fünfzigerjahren fehlte am Marienaltar eine kleine Ziersäule aus dunklem Marmor. Das muss meinen Vater gewurmt haben, denn er nahm kurzerhand Maß und ersetzte die fehlende Säule durch einen täuschend echt aussehenden Schlauch, den er entsprechend präpariert hatte. Damit war sein bevorzugter Gebetsort wieder perfekt.

Heller Baumberger Sandstein begleitete mich durch meine gesamte Kindheit. Überall in unserem Ort finden sich noch heute Verzierungen an Häusern, es gibt sogar komplette Gebäude aus diesem schönen Stein und zahlreiche Kruzifixe in Lebensgröße, die in Vorgärten und an Weggabelungen aufgestellt wurden. Damit war ich aufgewachsen und kannte es nicht anders. Die Pfarrei, das ehemalige Damenstift und das Kloster von Nottuln mit dem Friedhof, die ehemalige Vogtei und sämtliche angrenzende Gebäude gehörten quasi zu unserem erweiterten Wohnzimmer, und so waren mir nicht nur die katholischen und zumeist mittelalterlichen lateinischen Begrifflichkeiten von früh an vertraut, sondern auch eine allgegenwärtige Frömmigkeit. Sobald ich aus dem Haus trat, begegneten mir lebensgroße Heiligenfiguren. Unsere Eltern fuhren an kirchlichen Festtagen gern zur Benediktinerabtei nach Gerleve, und selbstverständlich waren wir drei Schwestern immer dabei. Dort habe ich die Gesänge des gregorianischen Chorals zum ersten Mal gehört und war schon als Kind ergriffen davon. Es schien mir die schönste Art, Gott zu preisen.

In unserem Ort gab es kein Gymnasium, und so schickten meine Eltern zunächst Christa und zwei Jahre später auch mich aufs Gymnasium nach Münster. Bei unseren Großeltern bezogen wir ein kleines Zimmer und kamen nur an den Wochenenden nach Hause. Diese Jahre, von der achten bis zehnten Schulklasse, habe ich als besonders belastend in Erinnerung. Zunächst einmal waren Christa und ich nichts weiter als die Mädchen vom Lande, die sich in der Stadt nicht auskannten und aus relativ einfachen Verhältnissen kamen. Wir besaßen ein schlichtes Kleid für die Woche und ein anderes für den Sonntag. Unsere Mutter sparte sich unsere Ausbildung von äußerst begrenzten Mitteln ab, während unser Vater den guten Zeiten vor dem Krieg nachtrauerte. Als treibende Kraft im Haushalt nahm unsere Mutter kurzerhand Schülerinnen in Kost und Logis, die in Nottuln den Realschulzweig der Liebfrauenschule besuchten. Die Einkünfte aus dieser zusätzlichen Einnahmequelle steckte sie in unsere Ausbildung. Unsere kleine Schwester Annette ging ebenfalls auf die Liebfrauenschule, und so blieb ihr das Gymnasium in Münster und das Zusammenleben mit unseren Großeltern erspart. Dort bekam man deutlich zu spüren, was eine lieblose Ehe ist. Obwohl liebevolle Gefühlsregungen auch in unserem Elternhaus weitgehend unbekannt waren, fehlte bei unseren Großeltern beinah jegliche zwischenmenschliche Wärme. Der wesentlich jüngere zweite Ehemann unserer Großmutter war ihr weder ein Partner noch eine Stütze. Oma liebte uns Mädchen auf ihre sehr eigene Art, fast wie zwei Puppen, mit denen sie spielen konnte. Unter ihrem Dach war ich unglücklich und fühlte mich isoliert. Zusätzlich litt ich darunter, keine Freundin zu haben, und hoffte in all den Jahren vergeblich, von einer Mitschülerin in freundschaftlicher Absicht angesprochen zu werden. Ich hätte wohl alles dafür gegeben, zum Spielen oder gemeinsamen Lernen eingeladen zu werden, aber selbst brachte ich den Mut nicht auf, einen ersten Schritt zu tun. Und so ging ich nach dem Unterricht allein nach Hause und lernte. Ein ausgesprochen langweiliges und trauriges Leben zu Beginn der Fünfzigerjahre. Christa suchte sich hin und wieder kleine Fluchten aus der unterkühlten Atmosphäre. Wenn meine Schwester ins Kino wollte, dann ging sie ins Kino. Und auch wenn ich liebend gern mitgegangen wäre, traute ich mich nicht, es zu sagen. Christa zeigte kein Verständnis für meine Schüchternheit und machte auch keinen Versuch, mir dabei zu helfen, diese Zurückhaltung zu überwinden.

Ich war brav, fromm und dann plötzlich auch noch groß! Es dauerte nicht lange, bis ich Christa, meine Mutter und, als 13-Jährige, sogar meinen Vater in der Körpergröße eingeholt hatte, obwohl er kein kleiner Mann war. Unauffällig konnte ich mich mit diesem Körper nicht mehr machen, aber daran gewöhnte ich mich schnell und schenkte diesem Umstand keine große Beachtung.

*

Irgendwann mussten auch unsere Eltern gespürt haben, dass Christa und ich nicht bis zu unserem Abitur in Münster bleiben konnten. Es wurden keine großen Worte darüber verloren, aber sie merkten durchaus, dass wir in Münster nicht glücklich waren. Zunächst schickten sie meine große Schwester und einige Zeit später dann auch mich auf das katholische Internat der Ursulinen in Werl, wo wir die Unter- und Oberprima absolvierten.

Schon nach wenigen Wochen in Werl – Christa war bereits Studentin an der Universität – ging es mir besser und ich fühlte mich in der Gemeinschaft der anderen Schülerinnen und der unterrichtenden Ordensschwestern wohl. Nur in den Schulferien kam ich nach Hause und freute mich vorab auf meine Eltern und auf Annette. Die Ferien wurden für mich mit jedem Mal mehr zu einer gefühlsmäßigen Achterbahn. Kaum war ich in Nottuln angekommen, auf das ich mich doch so gefreut hatte, fühlte ich eine gewisse Leere, und schon nach kurzer Zeit in meinem Elternhaus war ich enttäuscht und musste mir eingestehen, dass ich mich nicht daheim fühlte. Tief in meinem Herzen zweifelte ich sogar an der Liebe meiner Mutter und meines Vaters. Dann wollte ich doch lieber wieder ins Internat.

Für mich bedeutete der Besuch des Neusprachlichen Mädchengymnasiums mit Frauenoberschulklassen der Ursulinen in vieler Hinsicht eine Fortführung von vertrauten Ritualen und vertrauter Umgebung, wenn auch an einem anderen Ort. Alte Gemäuer, Kapellen, Kirchen und Gebetszeiten waren mir seit Langem vertraut und lieb geworden. Neu war für mich als Internatsschülerin jedoch, dass ich jeden Morgen in die Frühmesse ging und mit den Schwestern betete, obwohl es von uns Pensionärinnen, wie die offizielle Bezeichnung der Internatsschülerinnen lautete, nicht erwartet wurde. Nur am Sonntag mussten wir unsere schlichten blauen Kleider anziehen und gemeinsam in die Klosterkapelle gehen.

Wie alle Jugendlichen stellte auch ich mir die Frage, was ich später aus meinem Leben machen wollte. Albert Schweitzer und sein Urwaldkrankenhaus schwirrten mir seit Jahren immer wieder im Kopf herum. Afrika! Der Schwarze Kontinent war damals noch unendlich weit entfernt, beinah unerreichbar. Es waren zumeist furchtbare Geschichten des Leidens der Menschen, die damals erzählt wurden. Ich war immer froh, wenn mir in der Nottulner Pfarrei, bei meinen Eltern oder bei den Ursulinen Berichte von Missionaren in die Hände fielen. Der Weinberg, eine Zeitschrift der Oblatenmissionare, entführte mich in fremde Welten, und auch die Weissen Väter und Weissen Schwestern