Mit Kant-Zitaten zum Orgasmus - Moritz Netenjakob - E-Book

Mit Kant-Zitaten zum Orgasmus E-Book

Moritz Netenjakob

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der deutsche Weg zum Glück Früher marschierten sie im Stechschritt, heute besuchen sie Bauchtanzkurse: Die Deutschen haben sich ganz schön verändert – nur mit Gefühlen haben sie es noch immer nicht so.In seinem neuen Buch erzählt Moritz Netenjakob die lustigsten Geschichten aus dem deutschen Alltag – zum Staunen, Wiedererkennen und Lachen.Im Grunde sind die Deutschen ein lustiges Völkchen: Sie geben sich redlich Mühe, alles richtig zu machen, und versagen genau deshalb. Und da nichts komischer ist, als an sich selbst zu scheitern, stellt Moritz Netenjakob mit genüsslichem Spott ein Ensemble aus liebenswerten Neurotikern zusammen, die konsequent an der Tücke des eigenen Charakters verzweifeln.In »Die Deutschen und Erotik« will ein Lehrerehepaar sein Sexleben durch ein erotisches Rollenspiel an einer Hotelbar wieder in Schwung bringen – er als heißblütiger Italiener, sie als russische Prostituierte – und verheddert sich dabei in der eigenen political correctness. In »Die Deutschen und Gefühle« findet ein Ehepaar aus der Eifel die passende Antwort auf eine Ufo-Attacke: Anzeige wegen Falschparkens. Und in »Die Deutschen und die Ordnung« pocht ein Schwabe beim Stierlauf von Pamplona auf die Einhaltung von DIN-Normen.In seinen Geschichten gelingt Moritz Netenjakob das Kunststück, exakte Alltagsbeobachtung, beißende Satire und warmherzige Figurenzeichnung zu einem Panoptikum deutscher Befindlichkeiten zu verweben, das vor allem eins ist: sehr, sehr komisch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 322

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Moritz Netenjakob

Mit Kant-Zitaten zum Orgasmus

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Moritz Netenjakob

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zurück

Inhaltsverzeichnis

VorwortERSTER TEILKapitel 1 FußballKapitel 2 Deutsche vs. GefühleKapitel 3 Germanische ErotikKapitel 4 Unterdrückte AggressionenKapitel 5 Deutschland und seine Märchen (1)Kapitel 6 Die deutsche BürokratieKapitel 7 Die totale VerkopfungZWEITER TEILKapitel 8 Der Deutsche und die Ordnung (1)DRITTER TEILKapitel 8 Der Deutsche und die Ordnung (1)Kapitel 9 Entertainment made in Germany (1)Kapitel 10 Proll-KulturKapitel 11 Die totale EmanzipationKapitel 12 Deutschland und die KlassenfrageKapitel 13 Entertainment made in Germany (2)Kapitel 14 AltersweisheitKapitel 15 Die deutsche DisziplinKapitel 16 Pubertät vs. FeminismusDRITTER TEILKapitel 17 Glaube vs. FaktenKapitel 18 Die Liebe zu ZahlenKapitel 19 Episches TheaterKapitel 20 Der Deutsche und die Ordnung (2)Kapitel 21 Entertainment made in Germany (3)Kapitel 22 Deutschland und seine Märchen (2)Kapitel 23 Der deutsche EhrgeizKapitel 24 Historische KomplexeKapitel 25 HeimatliebeANHANGRana – Tempelhure, Kriegsheldin, MutterDie krakachochstanische Nationalhymne in der Übersetzung von Prof. Heiner Spratz20 Zentimeter – ein Meilenstein der PimmellyrikSongtext – Betroffenheit auf KosDank
zurück

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

 

früher dachte ich, wir Deutschen unterscheiden uns nicht so sehr von anderen Nationen. Okay, wir achten vielleicht ein klein wenig mehr auf Pünktlichkeit als afrikanische Naturvölker und tanzen einen Hauch weniger elegant als die Brasilianer – aber sonst?

Inzwischen weiß ich, dass wir viel eigenartiger sind, als wir glauben. Woher ich das weiß? Ganz einfach: Ich habe eine Türkin geheiratet. Und durch die Augen einer anderen Kultur sieht plötzlich alles anders aus. Als mein Schwager zum ersten Mal nach Köln kam, fand er den Dom faszinierend. Noch faszinierender fand er es allerdings, als ein Auto freiwillig am Zebrastreifen anhielt.

Vielleicht ist ja vieles, was wir für normal halten, in Wirklichkeit typisch deutsch?[1] Nicht nur, dass Worte wie »Fremdrasen« und »Fahrstuhlmitbenutzungspauschale« kaum in andere Sprachen zu übersetzen sind. Es ist vor allem unser Umgang mit Gefühlen. Dank meiner türkischen Familie weiß ich: Es gibt auch andere Möglichkeiten des emotionalen Ausdrucks als Leserbriefe an die FAZ.

Wie man Gefühle zeigt, habe ich von meinen türkischen Verwandten gelernt. Ob es bei einer defekten Waschmaschine die bessere Lösung ist, hysterisch zu werden und die Firma Miele mit orientalischen Flüchen zu belegen anstatt durch sachliche Analyse festzustellen, dass der Stecker nicht in der Dose ist, bleibt dahingestellt.

Aber in diesem Buch geht es nicht um Türken, sondern um uns Deutsche: einen Filmproduzenten, der nicht will, dass die Titanic sinkt, einen Fußballreporter, der seiner Tochter »Hänsel und Gretel« erzählt, und Intellektuelle, die das Werk von DJ Ötzi kulturhistorisch einordnen.

Und so hoffe ich, dass dieses Buch nicht nur annähernd die Gagdichte der Deutschen Steuergesetze erreicht, sondern auch, dass sich bei der Lektüre eine neue Art der Heimatliebe entwickelt. Denn seien wir ehrlich: Früher marschierten wir im Stechschritt, heute besuchen wir Bauchtanzkurse – das ist doch eine erfreuliche Entwicklung.

zurück

ERSTER TEIL

Kapitel 1Fußball

Beim Fußball zeigt sich die deutsche Seele besonders deutlich: In derselben Zeit, die ein südamerikanischer Reporter braucht, um »Gooooooooooooooooooooooooool« zu schreien, hat Marcel Reif bereits vier Abwehrfehler analysiert und dabei Begriffe wie »Totalaussetzer«, »Arbeitsverweigerung« und »Frechheit« verwendet. Nur wenn der Ball in einem Rekordgeschwindigkeits-Tiki-Taka durch die gegnerischen Reihen fliegt und dann per Fallrückzieher oder einer ähnlich spektakulären Aktion unhaltbar im Winkel versenkt wird, lässt er ein gönnerhaftes »Tja. So einfach kann Fußball sein« hören.

Den Rest der Zeit seziert er Fehler und weist taktische Schwächen nach. Er erkennt das Nichtumsetzen spieltechnischer Vorgaben und das Nichtvorhandensein von Struktur. Ihm fallen die Abwesenheit von Mut, Konsequenz und Willenskraft auf. Genau deshalb gilt er vielen als der beste Fußballreporter unseres Landes – was mehr über unser Land aussagt als über Marcel Reif. Mit Marcel Reif als Kommentator haben Fußballspiele den Wohlfühlfaktor einer mündlichen Lateinprüfung. Und genau so wollen wir’s haben.

Reif ist natürlich kein Einzelfall. Da schießt Mario Gomez bei der EM 2012 das entscheidende 1:0 im Eröffnungsspiel – von jeder anderen Nation wäre er doch danach auf Händen durch die Stadt getragen worden. Man hätte Kinder und Plätze nach ihm benannt … Was passiert bei uns? Mehmet Scholl steht mit einem Morgen-beginnt-der-dritte-Weltkrieg-Gesicht neben Gerhard Delling und sagt: »Irgendwie haben mir seine Laufwege nicht gefallen.« Und anstatt ihm dafür eine in die Fresse zu hauen, nickt Delling betroffen, und am nächsten Tag diskutiert die gesamte Nation über den »Problemfall Gomez«. Sind wir denn total bescheuert? Lassen Sie mich diese Frage einmal so beantworten: Ja.

Es macht die Sache allerdings auch nicht besser, wenn eine Frau versucht, die negative Grundeinstellung ihres Mannes durch einen Perspektivwechsel zu korrigieren – wie unser folgender Ausflug zu Hartmut und Lisbeth Breuer zeigen wird, einem sympathischen älteren Ehepaar in der Eifel …

Deutschland gegen Armenien

Hartmut Breuer sitzt angespannt in seinem Kunstledersessel und starrt auf den Fernseher. Bei jedem Ballkontakt eines deutschen Spielers zuckt er mit dem rechten Fuß. Eine Angewohnheit, über die seine Frau Lisbeth seit Jahrzehnten den Kopf schüttelt. Bei der WM 2006 hat sich Hartmut im Eröffnungsspiel einen Muskelfaserriss geholt. Vor dem Fernseher. Gut, dass Lisbeths Lachanfall in dem Gemisch aus Torjubel und Schmerzensschreien unterging.

Aber jetzt ist die Stimmung angespannt. Null zu null gegen Armenien – und das in der 85. Minute. Was für eine Blamage! Als Podolski gerade aus zwanzig Metern abzieht, tritt Hartmut mit voller Wucht gegen den Fuß des Wohnzimmertisches, und die Salzletten fallen auf den Perserteppich, den er vor einigen Jahren einem Dönerbudenbesitzer in Prüm abgekauft hat. Dass Lisbeth jetzt vor seinen Füßen die Salzletten zusammenkehrt, nimmt er nicht wahr. Erst als sie den Tischstaubsauger einschaltet, wird er ungehalten:

»Lisbeth, jetzt lass dat. Wie soll man sisch denn da konzentrieren?«

Lisbeth schaltet den Tischstaubsauger aus.

»Ja, wieso, isch denk, dat Spiel is’ in Hannover. Dat hören die doch gar nit.«

»Verdammt, jetzt mach mal!!!«

»Ja, wat denn? Isch denk, isch soll ausschalten?!«

»Ja, doch nit du. Der Özil. Der soll endlich mal zaubern.«

Vor dreißig Jahren, als er noch für die Eisbachtaler Sportfreunde auf Torjagd ging, hätte Hartmut nicht lange gefackelt. Da hätte er schon mindestens zwei Dinger reingemacht. Lisbeth setzt sich aufs Sofa und nippt an ihrem Irish Coffee:

»Hartmut, jetzt gönn dat doch den Armeniern! Dat is’ für die doch mal wat ganz Besonderes.«

»Lisbeth, isch sage dir seit 85 Minuten: Es is nit lustig, gegen Deutschland zu sein. Bei Länderspielen sind wir immer für uns!«

»Ja, wenn dat jetzt die Eifel wär, aber von den Nationalspielern kommt ja nit einer aus der Eifel. Zum Beispiel.«

»Jetzt schieß!«

In Hannover trifft Müller das Außennetz. In der Eifel trifft Hartmut erneut das Tischbein. Diesmal müssen die Erdnüsse dran glauben.

»Den hat er aber schön gehalten, Hartmut. Toll, dat die in so ’nem kleinen Land so ’nen tollen Torwart haben. Dat is’ doch toll, Hartmut!«

»Nein, es is’ nit toll! Fußball is’ kein Spaß. Fußball is’ ein Spiel, dat seine Freude gerade aus der Parteilichkeit gewinnt.«

Hartmut atmet tief durch. Spätestens in diesem Moment bereut er, dass er das Spiel nicht mit seinem besten Freund Josef Lommersberg im Goldenen Hirsch gucken kann. Aber der Goldene Hirsch heißt seit drei Wochen Green Palace und bietet vegetarische Speisen an. Tofu steht für Hartmut auf einer Stufe mit Giftgas – wobei ihm Terroristen grundsätzlich sympathischer sind als Vegetarier.

»Ja, Hartmut, isch bin doch parteilich. Isch bin halt heute mal für Armenien.«

»Dat is’ doch Mist. Parteilich heißt immer: für Deutschland. Dat kann man sich nit aussuchen. Dat is’ genauso wie mit der Haarfarbe. Die kann man sich auch nit aussuchen.«

»Wieso, isch kann mir die Haare doch färben!«

»Aber es sieht scheiße aus! Dat sind Deutsche und da haben wir gefälligst Respekt vor zu haben … jetzt spiel ab, du Arschloch!«

»Aber die armen Armenier, die sind doch von den Türken quasi ausradiert worden – und trotzdem spielen sie heute noch Fußball. Dat is’ doch toll.«

Hartmut sieht seine Frau fassungslos an, die diesen Moment der Aufmerksamkeit genießt und ihre Arme in die Höhe reckt:

»Armenien! Armenien!«

Hartmut muss sich einen Moment sammeln. Dann schaut er Lisbeth tief in die Augen.

»Schatz, wir sind jetzt seit vierzig Jahren verheiratet. Und in diesem Moment riskierst du alles, was wir uns aufgebaut haben …«

Die nun folgende drückende Stille wird von einem Schiedsrichterpfiff unterbrochen.

»Dat war nie im Leben abseits, du Blindschleiche!«

»Hartmut, isch weiß gar nit, wat du dich so aufregst. Dat is’ doch nur ein Spiel!«

»Nur ein Spiel? Nur ein Spiel??? Jetzt sag isch dir mal eins … Äh … okay, dat is’ zwar nur ein Spiel, aber ein ganz wichtiges!«

»Und wat is’ daran so wichtig?«

»Na, wenn wir hier ausscheiden, dann sind wir raus!«

»Die Armenier sind doch bestimmt auch traurig, wenn sie raus sind. Wat haben die denn sonst? Ein paar Berge und Bäume.«

»Lisbeth, im Fußball darfst du dich niemals von deinen Gefühlen leiten lassen. Verstehst du …«

Hartmut steht auf und schwelgt pathetisch in seinen Erinnerungen:

»… nach dem Krieg, da lag eine Nation am Boden. Und aus diesen Trümmern hat uns ein Mann herausgeschossen: Helmut Rahn mit seinem Linksschuss zum drei zu zwei gegen Ungarn. Seitdem trägt eine ganze Nation dieses Spiel in ihrem Herzen. Diesem Spiel haben wir alles zu verdanken: dat Wirtschaftswunder, die Wiedervereinigung, die Landstraße nach Manderscheid – alles! Und jetzt sitzt du hier und willst unser ganzes Volk verraten, nur um ein paar herumlungernde Bauern in irgendwelchen Bergen glücklich zu machen!«

Hartmut schaut seine Frau mit funkelnden Augen an und atmet schwer. Erst die Stimme von Marcel Reif holt ihn zurück in die Gegenwart:

»Und Tor für Armenien in der letzten Minute – ein Totalaussetzer von Per Mertesacker, und das Verhalten von Bastian Schweinsteiger grenzt an Arbeitsverweigerung … das ist eine absolute Frechheit!«

Hartmut sinkt zurück aufs Sofa und sieht verzweifelt mit an, wie eine Traube armenischer Spieler den Torschützen jubelnd unter sich begräbt. Lisbeth setzt an, etwas zu sagen, aber Hartmut kommt ihr zuvor:

»Lisbeth, wenn dir unsere Ehe irgendwat bedeutet: sag … jetzt … nichts.«

Kapitel 2Deutsche vs. Gefühle

Wenn meine türkischen Familienmitglieder traurig sind, würden sie am liebsten mit dem Megafon das gesamte Viertel davon in Kenntnis setzen. Wir Deutschen ziehen es vor, verkrampft zu lächeln und zu behaupten, es gehe uns gut.

Wir misstrauen Gefühlen. Sie sind für uns ein lästiges evolutionäres Überbleibsel – aus Epochen, in denen es noch keine Süddeutsche Zeitung gab.

Und in der Öffentlichkeit funktioniert es gar nicht. Früher stand auf Plakaten für Unterhaltungsveranstaltungen immer: »Es darf gelacht werden« – wir sind wohl das einzige Volk der Welt, das zum Lachen eine Erlaubnis braucht. Und seit ich selbst auftrete, weiß ich: Es gibt immer ein paar Leute im Publikum, die halten sich die Hand vor den Mund und unterdrücken panisch den Lachreflex, nach dem Motto: »Ich merke mir lieber die Gags und lache dann zu Hause.«

Preisverleihungen in Deutschland gehen auch immer in die Hose – verkrampfte Schauspieler stammeln wirres Zeug in die Kamera oder lesen peinliche Witze vom Blatt ab – und es zählt noch zu den besseren Momenten, wenn Martin Semmelrogge den Filmpreis in die Kamera hält und mit schiefem Grinsen anmerkt: »Ja, wurde auch Zeit, dass ick die Scheiße mal bekomme!«

Deshalb verleihen wir so gerne Preise an Amerikaner. Die können’s halt. Selbst irgendeine kalifornische Trine, die in den Achtzigern mal eine Nebenrolle im Denver-Clan hatte und inzwischen, nach fünfzig Liftings und mit drei Kilo Botox in den Lippen, aussieht wie eine aufblasbare Sexpuppe, der man Knackwürste auf den Mund geklebt hat – selbst diese schlechte Parodie eines Stars schafft innerhalb von einer Minute das, wofür sich deutsche A-Promis zuvor zwei Stunden vergeblich abgemüht haben: das Publikum emotional zu berühren.

Bei der Bambi-Verleihung wurde zu diesem Zweck bis zum bitteren Ende jedes Jahr wieder der arme Jopi Heesters von der Bettpfanne runtergezerrt … Aber wir Deutschen können uns einfach nicht richtig freuen. Da kriegt Udo Lindenberg den Preis fürs Lebenswerk – normalerweise ja der Moment, wo man vor Rührung heulend am Boden liegt – und nuschelt: »Ja, bin hier voll gänsehauttechnisch unterwegs und freue mich auch panikmäßig über dieses … goldene Insekt … und ich bedanke mich bei … äh … egal, ciao!«

Freude ist einfach nicht so unser Ding. Auch als vor einiger Zeit Google Street View eingeführt wurde, gab es in keinem Land Probleme. Die Franzosen haben sich entspannt einen Merlot eingegossen: »Oooh, ssüpperr, jetzt ’abe isch die gonze Schön’eit von Pariii in meine Läpptöpp …«

Auch die Italiener haben sich gefreut: »Aaah, das isse geniale, wenn isse bin inne Ausland, iss kanne trotzdem gehe spaziere durche die Strasse vonne Roma in meine Lappatoppa!«

Und wie haben wir Deutschen reagiert? Wir haben das getan, was wir am besten können. Wir haben uns empört: »Ja, aber jetzt kann man ja mein Haus sehen!« Ich weiß nicht, wem das schon aufgefallen ist – aber im wirklichen Leben kann man auch unsere Häuser sehen … Sogar in 3-D.

Wir können uns einfach nicht richtig freuen. Selbst wenn wir drei Millionen Euro im Lotto gewinnen, beschweren wir uns fünf Minuten später, dass man keinem Anlageberater trauen kann – und Freunden oder Verwandten ab sofort auch nicht mehr.

Ich bin sicher: Wenn wir Deutschen auf dem Mond gelandet wären, hätte der erste Satz nicht gelautet: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit«, sondern: »Alles grau – keine Atmosphäre – da hätte ich auch gleich in Bitterfeld bleiben können.«

Angeblich zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen ja erst in der Krise. Schauen wir uns doch einmal an, wie einige unserer Mitbürger auf den Angriff eines riesigen Ufos reagieren würden …

Independence Day

Mittwoch, irgendein 7. August in der Zukunft:

 

Das Hoch »Wilma« beschert der Nation einen wunderbaren Sommertag:

Vierzig Kilometer Stau auf der A3; in einem Kindergarten für Industriellen-Sprösslinge liest Peer Steinbrück für 30000 Euro aus dem Struwwelpeter vor; Dieter Bohlen schreibt ein Musical über seinen Penisbruch – kurz gesagt: In Deutschland ist alles in Ordnung.

 

Berlin Kanzleramt, 8 Uhr 45:

Für Angela Merkel beginnt ein neuer Tag.

 

Hamburg, Hotel Atlantic, 8 Uhr 47:

Für Udo Lindenberg endet ein alter Tag.

 

Manderscheid in der Eifel, Schwalbenweg 12, 8 Uhr 50:

Hartmut und Lisbeth Breuer haben es sich mit Filterkaffee und aufgebackenen Brötchen auf den Plastikmöbeln ihrer Gartenterasse gemütlich gemacht. Während Lisbeth gerade ein Sudoku der Apotheken-Umschau löst, stellt Hartmut zum 47. Mal fest, dass immer noch ein Ast der nachbarlichen Tanne auf sein Grundstück ragt. Da geschieht das Unglaubliche: Der Himmel verdunkelt sich – ein Ufo mit gigantischen Ausmaßen schwebt über Deutschland. Hartmut ist empört:

»So et reicht mir jetzt, Lisbeth! Dat is’ doch nit mehr normal! Da kommt nit ein einziger Sonnenstrahl in den Garten. Such die Nummer von der ARAG raus – isch zeig den Schmitz jetzt an, dat Arschloch!«

»Du hör mal, Hartmut, könnte dat nicht sein, dat der Schatten gar nit von der Tanne is’, sondern von dem Ufo da oben?«

Hartmut schaut nach oben und sieht nichts als Stahl und blinkende Lichter:

»Dat gibbet doch gar nit … Dat is’ ja …«

Hartmut legt die Hände an den Mund und brüllt nach oben:

»HEY!!! Nimmst du vielleicht mal dat Ufo da weg, du Tünnes?!«

Lisbeth trägt eine Sieben in ihr Sudoku ein und schüttelt den Kopf.

»Hartmut, jetzt lass die doch in Ruhe. Die suchen bestimmt nach ’nem Parkplatz.«

»Hast du gesehen, wie groß dat Ufo is’? Da is’ Manderscheid gar nit drauf ausgerichtet.«

»Aber der Fremdenverkehrsverein hat neulich erst eine neue Broschüre rausgegeben: ›Manderscheid ist immer eine Reise wert.‹ Vielleicht haben die dat ja gelesen?«

»Warum sollten Außerirdische die Broschüre von unserem Fremdenverkehrsverein lesen – die haben doch im All genug Probleme: explodierende Sonnen, schwarze Löcher …«

»Ja, ein Grund mehr, nach Manderscheid zu kommen. Seit wir hier wohnen, is’ noch nie eine Sonne explodiert.«

»Gut, wir haben natürlich auch ausgezeichnete Wanderwege. Dat könnte schon sein, dat sich dat im All ’rumgesprochen hat …«

 

Berlin, 9 Uhr 06:

Das Ufo pulverisiert den Potsdamer Platz. Zweieinhalb Stunden später tritt unsere Retterin Angela Merkel vor die Fernsehkameras und zeigt einmal mehr politische Führungsstärke:

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie einige vielleicht schon mitbekommen haben, schwebt ein Ufo von mehreren Hundert Kilometern Durchmesser über unserem Land und hat Berlin angegriffen. Zunächst einmal kann ich Sie beruhigen: Das Holocaust-Mahnmal wurde nicht beschädigt.

Ansonsten darf ich Ihnen versichern, dass ich mit den Aliens Klartext sprechen werde. Sollten die Aliens unserer Sprache allerdings nicht mächtig sein, werden wir uns bemühen, eine Kommunikationsform zu finden, in der wir Klartext reden können – vorausgesetzt natürlich, dass Klartext in dieser Kommunikationsform überhaupt möglich ist. Sollten die Aliens nonverbal über Gehirnströme kommunizieren, werde ich versuchen, Klartext zu denken … beziehungsweise, wenn sie sich über Symbole verständigen, Bilder zu finden, die dem Klartext auf einer visuellen Ebene entsprechen. Ich danke Ihnen.«

 

Zur gleichen Zeit am Potsdamer Platz:

Ein SAT1-Kamerateam findet in den Trümmern das Bekennerschreiben einer libanesischen Terrorgruppe, die zu weiteren Massakern mit Toten aufruft. Wenig später stellt sich heraus: Es handelt sich doch nicht um eine libanesische Terrorgruppe, die zu Massakern mit Toten aufruft, sondern um ein libanesisches Restaurant, das Mussaka mit Bohnen anbietet.

 

Zu diesem Zeitpunkt läuft auf RTL bereits eine Sondersendung, in der die führenden Intellektuellen des Landes Wege aus der Krise aufzeigen: Henry Maske, Daniela Katzenberger und Bernd, das Brot.

Immerhin hat Frau Katzenberger einen konkreten Ratschlag: Sie ist davon überzeugt, dass im Falle eines Laser-Angriffs tätowierte Augenbrauen besser halten als echte.

 

Manderscheid, 15 Uhr 31:

Als Hartmut nach seinem Mittagsschlaf auf die Terrasse tritt, wird er sauer und ruft in Richtung Raumschiff:

»So, dat reicht mir jetzt. Wenn Sie nit umgehend meinen Blick auf den Himmel frei machen, rufe isch die Polizei!«

Nichts passiert.

»Na gut. Ich zähle bis drei. Eins … zwei … Hallo?!«

Nichts passiert.

»Bitte, Sie haben et so gewollt.«

Hartmut stapft wütend ins Wohnzimmer, wo Lisbeth gerade an einem Irish Coffee nippt, während sie im Fernsehen die aktuellen Berichte verfolgt:

»Hartmut, die sagen, dat Ufo wär’ größer als ganz Deutschland. So einen großen Parkplatz haben wir in Manderscheid doch gar nit.«

Hartmut hat schon zum Telefonhörer gegriffen.

»Polizei Manderscheid, guten Tag.«

Hartmut bemüht sich in Gesprächen mit der Polizei stets um korrektes Amtsdeutsch:

»Guten Tag. Hier spricht Hartmut Breuer am Apparat befindlich. Isch wollte zwecks der Meldung eines Falschparkers, äh … eine Meldung … äh … melden.«

»Verstanden. Wo steht das Fahrzeug denn aktuell?«

»In der Luft.«

»In … der … Luft … Ist notiert. Hausnummer?«

»Nein, dat is’ keine Straße. In der Luft.«

»Ach, Sie meinen das Ufo?«

»Genau. Dat is’ Ihnen also auch schon aufgefallen?«

»Ja.«

Hartmut nickt kurz anerkennend, dann sammelt er sich:

»Gut. Trotz mehrfacher Aufforderung hat sich dat Ufo bislang geweigert, den Platz zu räumen. Isch würde also von der Vorgehensweise her vorschlagen, Sie rufen den Abschleppdienst.«

»Es tut mir leid, Herr Breuer, aber …«

»Leider konnte isch dat Nummernschild auch mit Fernglas bisher nit einsehen.«

»Wie gesagt: Es tut mir leid, Herr Breuer, aber …«

»Nun hat mir meine Frau, Lisbeth Breuer, soeben mitgeteilt, dat dat Ufo von der Abmessung her eine größere Ausdehnung aufweist als wie Deutschland … so dat sich dat Nummernschild eventuell im Ausland befindlich zu sein … äh … tut.«

»Herr Breuer, darf ich jetzt auch etwas sagen?«

»Selbstverständlich, Herr äh … ja.«

»Gut. Also: Der Tatbestand des Falschparkens trifft nicht zu.«

»Wat soll dat heißen – dat Ufo parkt nit falsch?«

»Nun, mangels Bodenkontaktes liegt hier in Manderscheid keinerlei Verkehrsbeeinträchtigung vor.«

»Dat parkt mir die Sonne zu. Dat kann doch nit erlaubt sein.«

»Tut mir leid, das Zuparken der Sonne ist nicht Gegenstand der Straßenverkehrsordnung.«

»Na toll.«

»Aber ich verspreche Ihnen, sollte sich aus dem großen Ufo ein kleineres Ufo lösen und in Manderscheid parken, ohne von außen leserlich eine Parkscheibe angebracht zu haben, dann ist das eine Ordnungswidrigkeit, die die Aliens bezahlen müssen. Auf Wiederhören.«

»Wiederhören.«

Hartmut knallt wütend den Hörer auf die Gabel des Wählscheibentelefons, das sie vor über vierzig Jahren zur Hochzeit geschenkt bekamen.

»Typisch Polizei. Isch kriege neulich ein Knöllchen, nur weil isch kurz zum Orthopäden musste. Aber so ein Ufo kommt natürlich ungeschoren davon.«

 

München, 19 Uhr 20:

Horst Seehofer hat aufgrund der Schwere der Ereignisse eine wichtige Pressekonferenz angekündigt. Aber leider sind alle verfügbaren Journalisten schon zur Säbener Straße gefahren – denn sie interessiert nur eins: Was sagt Pep Guardiola?

»Äääääh … Ssunäckst einmal ich mokte ssage … ääh … Ich bin nikt ssufrieden mit die Perfohmanz von deutsche Defens. Bei Bayer di Munche äh … verteidige Lahm, verteidige Boateng, verteidige van di Beutel … also wird verteidigte von die Profis. Aber Deutsse Lande wird verteidigte von der Leyen.

Un … äh … naturlik: Bayer di Munche chatte mehr Finans als chatt di Deutsse Lande … äh … Un … äh … naturlick – Ufo makt ssehr gute Perfohmanz, Attack kreiert viele Schansses … imme gefälik … Abä fu Deutsse Lande is Heime-Sspiel … äh … muss kreiere mehr Kontrol über die Perfohmanz. Äh …. Fu Kansse Frau Mekel iss sse sse swere … aber äh … is immer alles is moglik. Bei Bayer di Munche niemals sage unmoglik. Sage Becke di Bauer und Chermann Girlande … äh … sage immer wenn is unmoglik, muss make andere Perfohmanz, damit in die End is doch nix unmoglik.«

 

Hamburg, 20 Uhr 40:

Udo Lindenberg sitzt wieder an der Bar des Hotel Atlantic und hat immer noch nichts mitgekriegt. Da endlich sieht er die blinkenden Lichter des Ufos …

»Ey, das ist ja voll der panikmäßige Hammer … Pink Floyd ist wieder auf Tour!«

 

Donnerstag, 8. August:

Der Horror geht auch am zweiten Tag weiter: Millionen Ami-Touristen trauern um Schloss Neuschwanstein, das Siebengebirge wurde zum Viergebirge – nur eine positive Nachricht: Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist endlich unter der Erde.

 

Die deutsche Presse reagiert unterschiedlich: Die BILD-Zeitung titelt: »Ufo stört Nackt-Shooting bei Germany’s next Topmodel. (Bilder vom Ufo und den Models auf Seite 2–10.)«

Die Berliner Zeitung vermutet, dass die Aliens eigentlich friedlich landen wollten und erst dann sauer wurden, als sie merkten, dass der Hauptstadtflughafen noch nicht fertig ist.

Und die Bunte zieht Konsequenzen aus der aktuellen Lage. Sie beendet die Rubrik »Leute von morgen«.

 

Osnabrück um 6 Uhr 30:

Coppenrath und Wiese bringen das Ufo als Torte auf den Markt.

 

Osnabrück um 6 Uhr 31:

Das Ufo bringt Coppenrath und Wiese als Puzzle auf den Markt.

 

9 Uhr 15 im ARD-Vormittagsprogramm:

Entsetzte Zuschauer fürchten, dass die Aliens bereits die ARD übernommen haben. Kurz darauf die Entwarnung: Es war nur die Wiederholung des Musikantenstadls.

 

München, Punkt 10 Uhr:

Das bayrische Amtsgericht verkündet, dass Aliens auch mit Presseausweis nicht zum NSU-Prozess zugelassen werden.

 

10 Uhr 36:

Das Deutsche Raumfahrt-Zentrum empfängt vom Ufo einen Zahlencode, bei dem es sich eventuell um eine Botschaft handeln könnte. Die Uni Bayreuth verweigert den Aliens daraufhin präventiv den Doktortitel wegen Plagiats – weil im Zahlencode die letzte Gewinnziffer vom Spiel 77 entdeckt wurde.

 

Reichstag, 11 Uhr 05:

Die Abgeordneten schweigen für eine Minute.

 

Ehemaliger Reichstag, 11 Uhr 06:

Die Abgeordneten schweigen für immer.

 

Vier Stunden später in Hamburg:

Die Deutsche Rock-Elite trifft sich an der Bar des Hotel Atlantic, um für die Opfer der Aliens das größte Benefizkonzert der Geschichte auf die Beine zu stellen. Udo Lindenberg wird bereits seit einer Stunde von Peter Maffay wach gerüttelt. Lindenberg zieht sich den Hut vor die Augen:

»Ey, sag mal, Peter, bist du bescheuert? Es ist mitten in der Nacht!«

»Das ist nicht die Nacht, das ist der Schatten eines riesigen Ufos, das ganz Deutschland pulverisiert.«

»Mensch Peter, was hast du denn eingeworfen, ey, gib mir auch was von dem Zeug!«

 

13 Uhr 08 in Berlin:

Zur allgemeinen Überraschung findet Thilo Sarrazin die Besucher aus dem All gar nicht so schlimm: Im Gegensatz zu den Türken zeigten sie mehr Eigeninitiative und kassierten wenigstens keine Sozialleistungen.

 

13 Uhr 10 in Berlin:

Nach einer weiteren Strahlenattacke sieht Sarrazin den Menschen aus der Ost-Türkei nun verblüffend ähnlich. Offenbar besitzen die Aliens doch so etwas wie Humor.

 

15 Uhr 30 in Manderscheid:

Lisbeth Breuer sitzt wieder mit einem Irish Coffee vor dem Fernseher, während Hartmut kopfschüttelnd aus dem Garten kommt:

»Also, mal ehrlich, für mich als Mensch is’ dat ohne Sonne ja einfach nur unpraktisch, aber unsere Geranien kriegen doch Probleme mit der Fotosynthese. Da machen sich diese Außerirdischen keine Gedanken drüber.«

»Vielleicht gibt et bei denen im All ja gar keine Geranien.«

»Dat is’ mir egal. Eins schwöre isch dir: Wenn auch nur eine Geranie eingeht, dann schick isch denen die Rechnung vom Obi Gartencenter …«

»Ja, aber du hast doch gar nit die Adresse von denen.«

»Die krieg isch schon raus. Und wenn die im Pferdekopfnebel wohnen. Die kriegen ein Schreiben von unserem Rechtsanwalt.«

»Isch dachte, der wohnt jetzt auf Mallorca.«

»Nein, dat war unser Notar.«

»Ach nee.«

In diesem Moment schauen beide mit offenem Mund auf Live-Bilder im WDR, die zeigen, wie der Kölner Dom in drei Sekunden dem Erdboden gleichgemacht wird.

»Jetzt guck dir dat an, Hartmut – der schöne Dom!«

Hartmut seufzt tief:

»Letzte Woche scheißt der Dackel von Frau Kleinmann vor unsere Einfahrt – heute wird der Kölner Dom pulverisiert. In wat für einer Welt leben wir eigentlich?«

 

16 Uhr 10 im Hotel Atlantic:

Udo Lindenberg ist endlich aufgestanden und sitzt jetzt mit Peter Maffay, Herbert Grönemeyer und Jan Delay an der Bar, um das Benefizkonzert zu besprechen. Während Jan Delay einige unverständliche Laute vor sich hin nuschelt, tunkt Udo Lindenberg sein Croissant zum Frühstück in eine Schale Nordhäuser Doppelkorn:

»Du, sorry, Jan, ich hab panikmäßig kein Wort verstanden, aber ich glaube, du hast recht.«

Peter Maffay schaut mit einem pathetischen Über-sieben-Brücken-musst-du-geh’n-Blick in die Ferne:

»Träume zerbrechen wie eine Träne in der Wüste, aber es ist noch nicht zu spät – wenn wir das Ufo mit einer Atomrakete zerstören.«

Udo Lindenberg runzelt die Stirn, sodass sein Hut fünf Zentimeter nach oben wandert:

»Hey, Peter, alter Pygmäen-Tenor, nix für ungut, aber Gewalt gegen Fremde – das find’ ich irgendwie nich’ so dufte.«

»Aber Udo, die wollen uns alle umbringen.«

»Schon klar, aber da muss man auch mal ’n bisschen Verständnis haben … Das ist ja irgendwie auch ’ne ganz andere Kultur.«

Peter Maffay korrigiert leicht irritiert den Sitz seines Feinripp-Unterhemds unter der Lederjacke und wendet sich Grönemeyer zu:

»Herbert, was meinst du denn zu der ganzen Tragödie?«

Grönemeyer war mit einer In-meiner-Buchstabensuppe-schwimmt-bedeutende-Lyrik-Miene in sich versunken, und beginnt nun vor sich hin zu brabbeln:

»Oooh tutsoweh kannichmehr Gefühle sind verwirrt. Aber ich leeebe noch oho ich leeeeeebe noch – koste jede Sekunde die mir noch bleibt. Habe Angst geh noch nicht weg oooooooh bleibe hier, oooooh ich leeeeeebe noch. Ich leeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeebe noch.«

Udo Lindenberg zieht zum ersten Mal seine Sonnenbrille aus und schaut Grönemeyer tief in die Augen:

»Hey, mach mal locker, Herbert … Trink einfach mal ’n Eierlikörchen.«

 

Zur gleichen Zeit in Berlin:

Der Grüne Hans-Christian Ströbele hat als einziger Bundestagsabgeordneter die Zerstörung des Reichstags überlebt, weil er auf dem Weg zur Debatte mit seinem Fahrrad in einem Gullideckel stecken geblieben war.

Er wird daraufhin kommissarisch zum Bundeskanzler ernannt.

 

23 Uhr in der ARD:

Richard David Precht, Peter Sloterdijk und Ralph Giordano sitzen bei Sandra Maischberger und würden wahrscheinlich intelligente Dinge von sich geben – wenn Reiner Calmund sie nur zu Wort kommen ließe …

»Ja, so ein Angriff aus dem All, da kriegt jede Abwehr der Welt Probleme, dat is völlisch klar, da hab isch mit dem Ruddi Völler schon drübber jesprochen, da müssen wir überhaupt nit drübber diskutieren, isch meine, dieses Ufo, dat is von einem anderen Stern, dat is jenau wie Messi, Ronaldo und Ibrahimovic, die spielen auch Fußball von einem anderen Stern, dat is völlisch klar, da müssen wir überhaupt nit drübber diskutieren … Isch meine: Wenn man pulverisiert wird, dat is natürlisch unanjenehm, da hab’ isch mit dem Ruddi Völler drübber jesprochen, dat is völlisch klar, da müssen wir überhaupt nit drübber diskutieren …«

 

23 Uhr 10 in Hamburg:

Unsere Rockstars im Hotel Atlantic versuchen inzwischen, sich auf eine gemeinsame Alien-Hymne zu einigen. Jan Delay spricht wie üblich, als wären seine Stimmbänder an eine Kirmes-Tröte gekoppelt:

»So, ich hab da mal was komponiert, so cool mit Groove und so, irgendwie zum Chillen, aber auch zum Abfeiern und natürlich auch betroffen irgendwo, also ich sing das jetzt mal vor:

Ayayayayayayaaaaaaaaa – Ufoooooooooooo

Ayayayayayayaaaaaaaaa – Ufoooooooooooo

Ayayayayayayaaaaaaaaa – Ufoooooooooooo«

Lindenberg, Maffay und Grönemeyer sehen ihn ratlos an. Lindenberg lässt seinen Hut ein paarmal auf- und abwandern, und nach einer etwa zwanzigsekündigen Abfolge nasaler Grunzlaute kommen doch noch Worte aus seinem Mund:

»Ja … nee. Pass auf, ich mein, das muss vielleicht mehr so’n bisschen locker-vom-Hocker-technisch und el-schnello-mäßig aus der Hüfte geschossen kommen, irgendwie so:

Dübndüdüüüüü …

Ihr habt uns pulverisiert,

das hat mich inspiriert.

Aus welchem Kosmos kommt ihr her?

Scheißegal, wir trinken erst mal Likör …«

Während Grönemeyer frustriert in sich zusammensackt, wirkt Maffay genervt:

»Ja, Udo, das hatte schon sehr viel Schönes – ich weiß nur noch nicht genau wo. Ich meine, die Traurigkeit und Wut müssen sich in einem poetischen Trio mit einer Message vereinen. Pass auf:

Wenn ihr uns pulverisiert

Dann ist alles egalisiert

Freunde Feinde Weisse und Schwarze

Die Religionen und meine Warze.«

 

Udo Lindenberg zündet sich eine Zigarre an:

»Ja, herzlichen Glückwunsch, Peter. Das ist die größte Scheiße, die ich je gehört habe.«

Jetzt erwacht Grönemeyer aus seiner Lethargie und gibt für eine Weile Laute in der Art von »hssss ffftttt kssss hhhhöööööö« von sich, bis er schließlich zur Melodie von Bochum singt:

»Ufo, wo kommst du her?

Ufo, ich kannichmehr.

Oho flieg weeeeeeeeeheheg … Ufo.«

 

Fünf Minuten später:

Nicht das Ufo fliegt weg, sondern das Hotel Atlantic.

 

Freitag, 9. August:

Deutschland ist zu über fünfzig Prozent zerstört. Da geschieht um 11 Uhr 03 das Unfassbare: Das Ufo beschädigt eine Burger-King-Filiale in Bottrop-Kirchhellen. Diese schlimme Attacke auf Amerika lässt Obama nicht ungesühnt und schickt einen Jet mit Bruce Willis nach Deutschland, der das Ufo zerstört. Wir sind gerettet!

 

Kurz darauf in Manderscheid:

Hartmut und Lisbeth Breuer sitzen plötzlich wieder in der Sonne und nicken sich zufrieden zu, als Hartmut beobachtet, wie ein Wrackteil des Ufos mit großem Getöse auf den Marktplatz stürzt. Sofort eilt er nach innen und wählt die 110.

»Polizei Manderscheid, guten Tag.«

»Guten Tag. Isch möchte einen Falschparker melden.«

Kapitel 3Germanische Erotik

Nein, wir gehören nicht zu den erotischsten Nationen der Welt. Unser Sex-Symbol ist Til Schweiger – ein Mann mit einer Stimme, mit der man in Hollywood gerade mal eine Insektenlarve in irgendeinem Animations-Kurzfilm synchronisieren darf. Und unsere sinnlichsten Frauen dürften froh sein, bei Law and Order eine Rolle als Leiche zu ergattern.

Wer einmal in Antalya deutsche Touristen beim Versuch beobachtet hat, Bauchtanz zu praktizieren, wünscht sich den Gedächtnislöscher aus Men in Black – denn diese schrecklichen Bilder kriegt man nie wieder aus dem Kopf.

Und wer das Pech hatte, mal bei Stern TV einen Bericht über unsere Swinger-Szene zu sehen, der weiß: Das Sinnlichste in einem deutschen Swinger-Club ist die Nespresso-Maschine in der Küche.

Was also können wir tun, wenn wir ein sexuelles Abenteuer suchen? Uns auf unsere nationalen Stärken besinnen: Wir sind Kopfmenschen, und die Erotik wird bekanntlich vom Gehirn gesteuert. Gepaart mit zwei anderen deutschen Tugenden – akribische Planung und exakte Durchführung – steht dem Gipfel der Lust dann eigentlich nichts mehr im Weg. Oder doch?

Das Rollenspiel

Jörg sitzt im schwarzen Samtanzug und silbern schimmernden Satin-Hemd an der Bar des Hotel Adlon und nippt nervös an einem Whiskey Sour. Er fühlt sich deutlich overdressed, aber das richtige Outfit ist wichtig für den optimalen Verlauf des Rollenspiels. Er wird für einen Abend lang nicht Jörg Gröning sein, der Geschichtslehrer, sondern Luigi Oliviero, ein italienischer Frauenheld auf Geschäftsreise. Und seine Frau wird für die nächsten Stunden nicht Kerstin Gröning sein, zweifache Mutter und Teilzeit-Yogalehrerin, sondern Olga – eine russische Prostituierte ohne Nachnamen, Unterhose und Tabus. Sie wird ihn zufällig an der Bar treffen, er wird ihr einen oder zwei Cocktails spendieren, und dann werden sie auf dem reservierten Zimmer eine Nacht lang all das tun, was man mit zwei schlafenden Kindern, 87 zu korrigierenden Geschichtsklausuren und der kompletten Prinzessin-Lillifee-Kollektion um sich herum eben nicht tut.

Jörg hatte sich als emanzipierter Pädagoge dafür geschämt, dass ihn die Vorstellung von Sex mit einer Prostituierten erregt. Aber sein Therapeut hat ihm dazu geraten, erotische Wünsche offen auszusprechen. Was auch hervorragend funktioniert hat – abgesehen von den drei Wochen, in denen Kerstin die Scheidung wollte, und den anschließenden acht Monaten intensiver Paartherapie.

Die Tür geht auf, und eine attraktive Frau Mitte dreißig kommt herein: schwarze Lederstiefel mit gigantischen Absätzen, Netzstrumpfhose und Leder-Minirock. Die Lippen knallrot und die langen dunkelbraunen Haare frisch gefönt. Jörg ist nicht der einzige Mann an der Theke, dem die Kinnlade nach unten klappt. Das ist seine Frau! Beziehungsweise eben nicht. Es ist Olga.

Dass Kerstin nun selbst die Prostituierte spielt, war eine Idee der Paartherapeutin. Nach anfänglichem Widerwillen fand Kerstin sogar Spaß an der Vorstellung – und wollte im Gegenzug, dass Jörg einen italienischen Macho gibt. Was Jörg ziemlich verwunderte – schließlich ist Kerstin eine extrem emanzipierte Frau mit Hang zur Esoterik. Wenn er ihre geheimen sexuellen Phantasien hätte raten müssen, wären ihm eher Dinge in den Sinn gekommen wie durch eine tibetanische Flöte in den Bauchnabel pusten oder irgendeinen geheimen Lustpunkt am Ohrläppchen akkupunktieren oder nebeneinandersitzen und sich bewusst zum Orgasmus atmen. Aber ein italienischer Macho? Tja, philosophische Einstellung und erotische Präferenz passen selten zusammen.

Kerstins Weg zur Bar gibt Abzüge in der B-Note, denn Zwölf-Zentimeter-Stilettos verlangen ein anderes Körpergefühl als ihre Birkenstock-Latschen. Auf dem Weg vom Taxi zum Hotel ist sie mit dem Absatz in einer Ritze stecken geblieben und war erstaunt, wie viele Männer ihr plötzlich helfen wollten. Sie setzt sich direkt neben Jörg.

»’allo …«

»Hallo. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Luigi Oliviero. Und Sie?«

»Isch bin Olga. Meine ’eimat ist Rüssland.«

»Aha. Das erstaunt mich aber, denn Sie sprechen mit einem französischen Akzent.«

»Was?«

»Eine Russin würde das r rollen und könnte das h aussprechen.«

»Du kritisierst meine Aussprache? Das glaub ich jetzt nicht, Jörg.«

»Tut mir leid, ich … Egal. Du siehst toll aus, ich bin absolut … erregt.«

Kerstin lächelt, zieht ihre Jacke aus und gibt so den Blick auf ein durchsichtiges Netz-Oberteil frei, das den schwarzen BH mehr betont als verdeckt.

»Wow, du bist … wow.«

»Donke … Isch bin auch ’ingerissen von deine schöne Kleidüng …«

»Das freut mich … sehr sogar … Aber es ist trotzdem ein französischer Akzent.«

»Na und? Du hast gar keinen Akzent.«

»Viele Italiener haben keinen Akzent. Das ist doch nur ein Klischee mit dem ›isse kanne nure spresse, wenn isse hänge eine e an jedese Worte …«

»Aber ich finde es nun mal erotisch, wenn einer so redet.«

Jörg seufzt.

»Okay. Bitte … Also, isse habe misse nur gefragte, warume eine Fraue ausse Russelande sprisste mite eine französische Akzente …«

Kerstin seufzt:

»Ich korrigiere mich. Ich finde es erotisch, wenn ein Italiener so redet.«

»Siehst du, ich wusste das. Ich hab’ mir das nämlich reiflich überlegt. Und ein Italiener, der Hochdeutsch spricht, ist absolut plausibel, wenn er hier geboren wurde. Aber eine Russin mit französischem Akzent – das macht das ganze Bild kaputt!«

Kerstin seufzt und überlegt eine Sekunde lang, ob sie sich einfach umdrehen und den nächstbesten Typen anbaggern soll. Dann atmet sie dreimal tief durch, so wie es ihr Meditations-Coach empfohlen hat, und setzt ein verführerisches Lächeln auf.

»Weißt dü, meine Mütter ist aus Fronkraisch und ’at meine Vater in Moskau kennengelernt. Isch bin Rüssin, aber mein Mütter ’at immer Fronzösisch mit mir gesprochen.«

»Oh perfekt. Sehr gut. Eine ausgezeichnete Erklärung.«

»Jörg, würdest du es bitte unterlassen, alles zu bewerten.«

»Natürlich, tut mir leid. Also, Olga … Was machen Sie hier in Berlin?«

Kerstins Augen werden feucht.

»Isch ’abe eine fürschtbare Schicksalsschlag erlebt, und jetzt … verdiene isch mein Geld … indem isch die Wünsche von Männer erfülle …«

»Mein Gott, du hast richtig geweint. Du spielst ja brillant!«

»Jörg, du bist dabei, es zu versauen.«

»Tschuldigung, ich … Okay, und was war das für ein Schicksalsschlag?«

»Meine Eltern sind mit dem Flügzeug abgestürzt, und dann bin isch ’ier nach Dötschlond gekommen, weil isch dachte, isch ’abe die große Liebe gefünden … Aber mein Frönd ’at misch einfach auf die Strisch geschickt …«

»Was? Das gibt’s doch gar nicht! Warum haben Sie sich das gefallen lassen?«

»Egal. Räden wir nischt von mir. Räden wir von dir …«

»Wissen Sie, es gibt hier in Deutschland Frauenhäuser, da können Sie sofort hingehen. Also wenn Sie wollen, kann ich eine Adresse für Sie …«

»Jörg, du machst es kaputt.«

»Entschuldigung, aber ich habe gedacht, du bist eine glückliche Prostituierte – eine Frau, die quasi ihr Hobby zum Beruf gemacht hat.«

»Jörg, …«

»Ich kann doch nicht mit einer Frau schlafen, die zur Prostitution gezwungen wird, das ist doch furchtbar.«

»Jörg, dass du keinen Akzent hast, okay. Aber du bist ein italienischer Macho und willst mich ins Bett kriegen und nicht ins Frauenhaus, okay?«

»Natürlich. Stimmt. Mein Fehler. Ich mache es einfach so wie Richard Gere bei Julia Roberts in Pretty Woman. Ihre Vergangenheit ist traurig, aber er holt sie ja da raus.«

»Aber Richard Gere ist kein Italiener.«

»Schon klar. Stell dir einfach vor, er wäre einer. Beziehungsweise, denk gar nicht an Richard Gere, denk einfach an … denk an nichts.«

Jörg sammelt sich kurz und schaut sie dann mit seinem besten Flirtblick an:

»Okay, Olga. Vergangenheit ist Vergangenheit. Für mich zählt nur die Gegenwart.«

Kerstin lächelt beeindruckt:

»A’a.«

»AA?!«

»Ich wollte ›aha‹ sagen, aber ich kann ja kein h sprechen, Brummselbärchen.«

»Ach so, verstehe. Aber vielleicht solltest du mich heute Abend nicht Brummselbärchen nennen. Das ist irgendwie …«

»Natürlich, du hast recht, Brummsel… Jörg … Luigi.«

»Also, Olga: Für mich zählt nur die Gegenwart. Und in dieser Gegenwart spüre ich nur eins: das brennende Verlangen, meine Gurke in deine Aubergine zu schieben …«

Kerstin schaut Jörg leicht angewidert an.

»… beziehungsweise meine Steckrübe in deinen Blumenkohl … Äh, also … die Gemüsemetaphern tun mir leid – ich weiß nicht, was ein italienischer Macho sagt, wenn er mit einer Frau ins Bett will.«

Kerstin seufzt.

»Jörg, ein echter Italiener würde etwas Romantisches sagen. Darüber, dass ich wunderschöne Augen habe.«