Macho Man / Der Boss - Moritz Netenjakob - E-Book

Macho Man / Der Boss E-Book

Moritz Netenjakob

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Beschreibung

Zwei Spiegel-Bestseller in einem Band Von den 68ern erzogen, lebte er dreißig Jahre als Weichei. Jetzt verliebt er sich in eine Türkin. Aber wie überlebt ein Frauenversteher in einer Welt voller Machos? Und was tun, wenn einen die türkische Großfamilie seiner Traumfrau in den Wahnsinn treibt? »Dieses Buch ist eine kleine Sensation! ›Klein‹ im Sinne von ›doch eher groß‹.« Bastian Pastewka »Das Witzigste, was ich seit ewigen Zeiten gelesen habe.« Frank Goosen »Wer sich ablenken, wegschmeißen, totlachen will, der ist bei Macho Man auf jeden Fall richtig.« WDR »›Der Boss‹ ist die gelungene Fortsetzung von ›Macho Man‹: saukomisch, aber nie respektlos, herzlich, romantisch und haarsträubend – ein tolles Buch zum Schieflachen.« Westfalenblatt

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 745

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Moritz Netenjakob

Macho Man / Der Boss

Zwei Romane in einem Band

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Moritz Netenjakob

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Moritz Netenjakob

Moritz Netenjakob, geboren 1970, ist einer der gefragtesten deutschen Comedyautoren. Er war Chefautor von »Wochenshow« und »Switch« und schreibt für Fernsehserien wie »Dr.Psycho« und »Stromberg« (Grimme-Preis). Seit 2006 tourt er mit seinen Bühnenprogrammen durch Deutschland. Zuletzt erschien von ihm »Mit Kant-Zitaten zum Orgasmus«.

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Über dieses Buch

Macho Man: Daniel, Anfang 30, ist gerade verlassen worden. Um die Trennung zu verdauen, fliegt er in die Türkei, wo sein bester Freund Mark als Animateur arbeitet. Dort passiert ein Wunder: Die bezaubernde Aylin, in die der ganze Club verliebt ist, interessiert sich für ihn. Den Schattenparker. Daniel schwebt im siebten Himmel, wird aber sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als er, zurück in Deutschland, Aylins türkische Großfamilie kennenlernt. Soll er nach dem Essen bei den Schwiegereltern in spe spülen helfen? Über Griechen-Witze lachen? Und was tun, als er ins Männercafé eingeladen wird und dann auch noch in die türkische Disco?

Der Boss: Aylin hat endlich »Ja« gesagt. Daniel ist am Ziel seiner Träume. Denkt er. Denn eins ist nicht geklärt: Wer ist der Boss? Daniel? Aylin? Oder die Familie? So tauchen viele diplomatische Probleme auf: Soll es in den Flitterwochen in eine 5-Sterne-Anlage auf den Seychellen gehen oder aufs Gästesofa von Tante Emine? Muss er wirklich Tante X anlügen, damit Onkel Y nicht beleidigt ist? Und was ist die empfohlene Richtgeschwindigkeit beim Überfahren einer roten Ampel innerhalb einer geschlossenen Ortschaft?

Moritz Netenjakob schreibt brüllend komisch und gleichzeitig warmherzig vom deutsch-türkischen Kulturenclash, sodass man am Ende selbst eine türkische Familie haben möchte.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

MACHO MAN

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Zweiter Teil

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Dritter Teil

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Vierter Teil

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Dank

DER BOSS

Erster Teil

1 Noch 6 Wochen, 2 Tage, 1 Stunde, 20 Minuten bis zur Hochzeit.

2 Noch 6 Wochen, 2 Tage, 1 Stunde, 16 Minuten bis zur Hochzeit.

3 Noch 5 Wochen, 4 Tage, 13 Stunden, 25 Minuten bis zur Hochzeit.

4 Noch 15 Minuten weniger bis zur Hochzeit als am Anfang von Kapitel 3.

5 Noch zehn Minuten weniger bis zur Hochzeit als eben.

6 Kurz vor einer Katastrophe.

7 Noch lange genug bis zur Hochzeit, um weitere peinliche Situationen zu erleben.

8 Noch 4 Wochen, 4 Tage, 16 Stunden, 44 Minuten bis zur Hochzeit.

9 Noch 4 Wochen, 4 Tage, 13 Stunden, 27 Minuten bis zum endgültigen Ende meines Einzelkindschicksals.

10 Noch 54 Sekunden bis zum neuen Jahr.

11 4 Stunden, 27 Minuten im neuen Jahr.

Zweiter Teil

12 Noch 3 Wochen, 5 Tage, 14 Stunden, 23 Minuten bis zur Hochzeit.

13 Noch 2 Wochen, 4 Tage, 15 Stunden, 37 Minuten bis zur ersten türkischen Rede meines Vaters.

14 Noch 17 Stunden, 45 Minuten bis zur Hochzeit.

15 Noch 16 Stunden, 25 Minuten bis zur Hochzeit.

16 Noch 15 Stunden, 30 Minuten bis zur Hochzeit.

Dritter Teil

17 Eine Sekunde nach dem Schock.

18 Zwanzig Sekunden nach dem Schock.

19 Vierzig Sekunden nach dem Schock.

20 Fünfundfünfzig Sekunden nach dem Schock.

21 5 Minuten, 21 Sekunden nach dem Schock.

22 Zwei Stunden nach Beginn der OP.

23 20 Minuten vor dem geplatzten Hochzeitstermin.

24 Eine Stunde, 47 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

25 7 Stunden, 23 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

26 11 Stunden, 40 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

27 21 Stunden, 56 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

28 Exakt zwei Tage nach der geplatzten Hochzeit.

29 Zwei Tage und 41 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

30 2 Tage, 9 Stunden und 15 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

31 2 Tage, 9 Stunden und 46 Minuten nach der geplatzten Hochzeit.

32 11000 Jahre nach der Präborealzeit.

33 11000 Jahre und zwei Stunden nach der Präborealzeit.

Vierter Teil

34 2 Tage, 1 Stunde, 35 Minuten vor der Hochzeit.

35 1 Tag, 23 Stunden, 14 Minuten vor der Hochzeit.

36 1 Tag, 15 Stunden, 27 Minuten vor der Hochzeit.

37 16 Stunden, 27 Minuten vor der Hochzeit.

38 Noch zweieinhalb Stunden nackte brüllende Menschen und einmal schlafen bis zur Hochzeit.

Fünfter Teil

39 Fünf Minuten vor der zweiten geplatzten Hochzeit.

40 9 Stunden, 34 Minuten nach der zweiten geplatzten Hochzeit.

41 10 Minuten vor dem künstlerischen Durchbruch von Bernd Banane.

42 2 Stunden, 13 Minuten nach dem Karrierestart von Jupp Süffels.

43 Wann? Wo? Was?

44 2 Stunden, 35 Minuten nach der Hochzeit.

45 28 Stunden, 35 Minuten nach der Trauung, eine Stunde vor der Wahrheit.

46 26 Stunden, 45 Minuten nach der echten und 2 Stunden nach der Fake-Hochzeit.

Danke

Für Hülya

MACHO MAN

Erster Teil

1

»Ja, bitte – Sie wünschen?!«

Die Stewardess hat meinen Blick missverstanden. Ich will mit ihr flirten. Sie denkt, ich will was bestellen. Das passiert mir immer. Warum kann sie nicht einfach zurücklächeln? Andere Männer schaffen das doch auch: Sie lächeln, die Stewardess lächelt zurück. Es muss doch einen Unterschied geben zwischen dem Ich-will-flirten-Blick und dem Ich-will-was-bestellen-Blick. Selbst die Relativitätstheorie habe ich ansatzweise verstanden, aber das …

»Also, was jetzt? Wollen Sie was bestellen?«

»Äh, ja, äh, eine Cola, bitte!«

»Die müssen Sie aber selbst bezahlen.«

»Kein Problem.«

Ich habe natürlich keinen Durst. Im Gegenteil, ich muss aufs Klo. Aber das würde ja irgendwie scheiße klingen: »Entschuldigung, ich hatte nur vergeblich versucht, mit Ihnen zu flirten.«

Wenn ich alle Getränke zusammenrechne, die ich im Laufe meines Lebens aufgrund missglückter Flirts bestellt habe – ich käme locker auf ein Eigenheim.

Natürlich sitzt auch nicht die attraktive Studentin neben mir, die direkt vor mir eingecheckt hat, sondern ein 50-jähriger Typ von der Deutschen Vermögensberatung, der nach einer Mischung aus »Cool Water« und abgestandenem Zigarettenqualm duftet. Ich glaube, es gibt eine geheime Dienstanweisung an alle Mitarbeiter sämtlicher Fluggesellschaften: Setzen Sie niemals eine attraktive Frau neben Daniel Hagenberger.

Nicht dass mir das wichtig wäre. Auch ein angetrunkener Vermögensberater, der auf seinem iPod James Blunt hört, hat seine liebenswerten Seiten. Ich hätte mich einfach ein klein wenig mehr über die Studentin gefreut. Vielleicht hört es sich ein bisschen so an, als wäre ich notgeil, aber das stimmt nicht. Ich hatte nur ziemlich lange keinen Sex mehr, und da passiert es nun mal früher oder später, dass man, also unter hormonellem Gesichtspunkt … Okay, ich bin notgeil. Aber ich bin kein primitiver Anbagger-Typ. Ich habe Respekt vor Frauen. Das Problem ist: Frauen haben keinen Respekt vor mir.

»Möchten Sie zollfreie Waren aus unserem Board-Shop?«

Da ist sie, meine große Chance: der Duty-free-Verkauf. Jetzt hole ich meine letzte Trumpfkarte aus dem Ärmel: Humor! Mit meiner Reiner-Calmund-Imitation knacke ich sie garantiert …

»Ja, zollfreie Waren, dat is natürlisch unglaublisch jünstisch, dat is völlisch klar, da brauchen wir überhaupt nit drübber diskutieren, da hab isch jestern erst mit dem Ruddi Völler drüber jesprochen …«

Die Stewardess schaut mich irritiert an, macht aber professionell weiter:

»Wir haben heute Yves Saint Laurent im Angebot.«

»Yff Sankt Loräng? Spielt der nit bei Olympick Lyon?!«

Jetzt schaut die Stewardess nicht mehr irritiert, sondern angewidert.

Na toll. In jeder Kontaktanzeige steht Humor an erster Stelle. Aber in Wirklichkeit kommt man damit nicht mal ansatzweise weiter. Gut, da steht auch »Mann mit Humor« und nicht »ein Typ, der mit der Stimme von Reiner Calmund eine Plüsch-Boeing vom Board-Shop kauft«.

 

Ja, ich habe eine Plüsch-Boeing gekauft. Ja, wahrscheinlich hält mich die Stewardess jetzt für schwul. Aber ich wollte nicht »Cool Water« kaufen, weil mich das immer an den Typen von der Deutschen Vermögensberatung erinnert hätte. Und immerhin war es auch nicht so peinlich wie der Moment, als sich der Start verzögerte, weil ich kurz vor dem Abheben noch mal zum Gepäckfach musste, um mein Asthma-Spray rauszuholen. Eventuell hat mich die Stewardess schon zu dem Zeitpunkt auf ihrer Liste möglicher Geschlechtspartner relativ weit hinten eingeordnet.

Moment mal … Schaut mir die Stewardess etwa gerade in den Schritt?! Ach so, sie überprüft die Sicherheitsgurte, weil wir in eine Zone mit Turbulenzen kommen. Ausgerechnet jetzt, wo sich die mittlerweile fünf Colas heftig in meiner Blase bemerkbar machen. Zum Glück ist mir von den Turbulenzen bald so schlecht, dass ich sonst kaum noch etwas wahrnehme.

Ich hole eine Kotztüte raus – Aufdruck: »Vielen Dank für Ihre Kritik« – haha, sehr originell. Um es kurz zu machen: Die »Cool-Water«-Zigaretten-Duftmischung erweitert sich um die Nuancen »Cola« und »Magensäure«. Immerhin ist der Druck von der Blase jetzt geringer. Und der Mann von der Deutschen Vermögensberatung hat sich mit Sekt und Cognac schon so weit in Urlaubslaune gesoffen, dass er nicht sauer wird. Er meint, ich müsste die Reinigungsrechnung seiner Hose einfach nur bei meiner Haftpflicht einreichen. Was zur Folge hat, dass ich noch im Flugzeug bei der AachenMünchener eine Haftpflicht abschließe.

Was ich selbst nicht mehr vermutet hätte: Dieser Flug hat für mich ein Happy End! Kaum sind wir gelandet, finde ich mich in den Armen der Stewardess wieder, die mir zärtlich die Wangen tätschelt … Es ist mir auch klar, dass ich das niemals geschafft hätte, wäre ich nicht bei der Landung ohnmächtig geworden. Aber irgendeinen Nutzen müssen schließlich auch Panikattacken haben.

 

An der Gepäckausgabe überfällt mich wie immer panische Angst, dass mein Koffer durch eine tragische Verwechslung in Kolumbien landet und dort vom korrupten Flughafenpersonal für eine Tagesration Koks versteigert wird … Ich habe dann immer die Vision eines kolumbianischen Teenagers, der in meinen Klamotten durch Bogota streift … Das wäre wirklich zum Heulen – vor allem, weil es in den Slums wahrscheinlich wenige 1. FC-Köln-Fans gibt, die sich über den T-Shirt-Aufdruck »Lieber eine Schwester im Puff als einen Bruder bei Bayer Leverkusen« freuen würden.

Als mein Koffer endlich auf dem Gepäckband erscheint, schließe ich vor lauter Freude bei dem inzwischen nur noch lallenden Typ von der Deutschen Vermögensberatung die Auslandskrankenversicherung ab, gegen die ich mich während des Fluges noch erfolgreich gewehrt habe. Aber im Gegensatz zu den fünf Colas, der Plüsch-Boeing und meiner zweiten Haftpflicht (kurz vor meiner Ohnmacht fiel mir ein, dass ich schon eine bei der ARAG habe) ist das mal eine sinnvolle Investition. Glaub ich jedenfalls.

2

Zwei Wochen Fünf-Sterne-Anlage zum Sonderpreis in Antalya: Das Zimmer ist top, die Sonne scheint auf den Balkon, links die unendliche Weite des Meeres, rechts das majestätische Taurus-Gebirge – wenn nicht im Zimmer-TV »Zwei bei Kallwass« laufen würde, könnte man glatt von einer Idylle sprechen.

Ich schalte den Fernseher aus, obwohl es mich als Sohn eines Germanistik-Professors eigentlich interessieren müsste, wenn die deutsche Sprache durch Neologismen wie »Bumsbrötchen« oder »Pissbuden-Lui« bereichert wird.

Ich gehe runter zum Pool und treffe meinen besten Freund Mark. Er arbeitet hier im Rixa-Diva-Hotel als Animateur und hat mich zu diesem Urlaub überredet.

»Mensch, Mark, du Penner, ey, freut mich panikmäßig, deine Fresse zu sehen!«

»Ey, Daniel, alter Säufer, was geht panikmäßig ab? Wie steht’s mit den Bräuten?«

Zur Erklärung muss ich sagen, dass Mark und ich immer mit der Stimme von Udo Lindenberg sprechen, wenn wir uns treffen. Warum, das wissen wir selbst nicht so genau. Ein Ritual, ein Spaß, eine Marotte – keine Ahnung. Männer machen so was. In der Bronx klatschen sich die Rapper minutenlang obercool ab – Mark und ich imitieren Udo Lindenberg. Wo ist da der Unterschied? Gut, über uns schütteln die Mädels den Kopf, und mit den Rappern gehen sie ins Bett – aber sonst?

Das hat irgendwann angefangen, und nachdem wir zusammen den Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2005 gesehen haben, ist es zu einem Zwang geworden. Da ist Udo Lindenberg mit einer Pistole aufgetreten, die einen Knoten im Lauf hatte, und hat zu Reinhold Beckmann gesagt: »Keine Panik, das ist ’ne Friedensknarre … Und wenn wir hier gewinnen, dann fahr ich in die USA und dann sag ich: Ey Georgyboy, gegen den Krieg – schöne Grüße aus Deutschland.«

Da haben wir Tränen gelacht und reden seitdem wie Udo Lindenberg.

»Ey, wie war der panikmäßige Flug, Alter?«

»Alles easy, dübndüdüüü …«

Wie man sieht, eignen sich Udo-Lindenberg-Imitationen auch großartig, um von der Realität abzulenken. Und was sind Geschichten über Kotzen, Ohnmacht und unnötige Versicherungen gegen ein genuscheltes »Dübndüdüüü«?! Nach fünf Minuten wechseln wir dann aber doch meistens zu unseren normalen Stimmen.

»Und? Wie läuft’s so bei dir?«

»Super. Echt. Und bei dir?«

»Auch super.«

»Und sonst so?«

»Nee, echt. Alles super.«

»Klasse.«

Ich habe ja nicht gesagt, dass wir mit normaler Stimme ehrlicher sind. Leider muss ich zugeben, dass Mark und ich in dieser Hinsicht zu fast 100 Prozent dem männlichen Klischee entsprechen. Was aber nicht heißt, dass wir gar nicht emotional werden können …

»Hast du am Samstag das Spiel gegen Wolfsburg gesehen?! Ey, das kann doch echt nicht wahr sein!«

»Warum hat uns das Schicksal nur mit diesem Verein bestraft?«

Tja. Wir sind beide Fans des 1. FC Köln. Ich bin sicher, dass wir da irgendeine karmische Schuld abarbeiten müssen. An dieser Stelle kommt es in der Regel zu einer kurzen zweifachen Beckenbauer-Imitation.

»Ja gut äh, sicherlich, der Christoph Daum, er kokst nicht mehr, deshalb fehlt ihm die Power, die Energie …«

»Ja, gut, äh … klar.«

So was macht einfach mehr Spaß, als ehrlich über seine Gefühle zu reden. Dann hätte ich nämlich sagen müssen, dass ich meine Trennung noch längst nicht überwunden habe und seitdem versuche, meine Einsamkeit mit erotischen Abenteuern zu übertünchen, die aber nicht stattfinden, weil ich die Frauen entweder gar nicht anspreche oder aber Getränke bestelle. Das hätte die ganze Stimmung irgendwie runtergezogen. Und dann hätte sich auch herausgestellt, dass Mark total frustriert ist, weil seine türkischen Mit-Animateure jeden Tag deutsche Touristinnen abschleppen und er seit Beginn der Saison leer ausgegangen ist.

Das ist aber auch echt gemein: Türkische Männer können einfach besser flirten. Die sind mit der Kellnerin schon im Bett, wenn ich noch an der dritten Cola nippe. Keine Ahnung, wie sie das machen.

Während ich schweigend neben Mark an der Pool-Bar sitze, die erste Piña Colada meines Ultra-All-inclusive-Angebots genieße und darüber nachdenke, ob türkische Männer auch eine Minute lang bewusst atmen, bevor sie einen Flirtversuch starten, habe ich eine Erscheinung: eine Frau. Lange braune Haare, dunkle Knopfaugen, süßer Schmollmund und ein Körper, der einer Modelkarriere auf keinen Fall im Weg stehen würde. Mit einem Wort: Traumfrau. Eine Frau, die mich innerlich so aufwühlt, dass ich Mark tiefste Einblicke in meine Seele gewähre:

»Ey, panikmäßig geil, die Alte. ’ne echte Hammer-Braut.«

»Aylin?! O ja. Aber vergiss sie einfach.«

»Warum?«

»Ist doch egal. Vergiss sie einfach.«

Was soll’s. Auf meiner Festplatte gibt es sowieso kein Programm für den Umgang mit Frauen wie Aylin. Ich bin in den 70er-Jahren aufgewachsen, in den Zeiten der Frauenbewegung. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass man Frauen achtet und respektiert. Das hat mir früher schon auf Partys sehr geholfen: Während die Mädels mit anderen Jungs knutschend in der Ecke lagen, habe ich sie geachtet und respektiert … Und irgendwer musste ja auch die ganzen Nudelsalate essen.

Jetzt kommt Aylin auf uns zu. Mein Herz schlägt schneller, mein Mund wird trocken. Die Zeit dehnt sich, sodass in meinem Kopf Platz für eine Riesenmenge unnötiger Gedanken entsteht, von denen ich hier nur einen kleinen Teil auflisten möchte:

Ist mein Hosenschlitz zu?

Ich muss mich jetzt schnell vor eine weiße Wand stellen, damit meine Haut nicht ganz so käsig aussieht.

Ich darf jetzt nicht Reiner Calmund imitieren.

Sooo käsig ist meine Haut doch gar nicht. Die Unterarme sind schon fast hellbeige.

Die ersten zehn Sekunden sind die wichtigsten. Da entscheidet sich alles.

Ich nehme ab sofort nicht mehr Lichtschutzfaktor 50, sondern nur noch 10.

Mein Gott, ist die schön.

Ich sollte sie nicht so sehr auf ihr Äußeres reduzieren.

Schwachsinn, bisher kenne ich doch nur ihr Äußeres.

Okay, vielleicht nehme ich doch Faktor 20, aber dafür bleibe ich dann länger draußen.

Ich darf jetzt keine Erektion kriegen, das würde man bei der Leinenhose sofort sehen!

Ich muss an was Unerotisches denken … Fußball. Wenn es hier Internet gibt, kann ich Köln gegen Eintracht Frankfurt im Live-Ticker verfolgen.

Sag mal, spinnst du?! Du begegnest deiner absoluten Traumfrau und machst dir Sorgen wegen dieser Gurkentruppe!

Etwa in diesem Moment spricht Aylin Mark an.

»Du Mark, gleich vier, wir müssen die Wasserballtore aufbauen.«

»Okay. Übrigens, das ist ein Freund von mir, der macht hier zwei Wochen Urlaub … Daniel, Aylin.«

»Hallo, Daniel. Freut mich.«

Sie gibt mir die Hand. Ich nehme sie. Ich muss jetzt irgendwas sagen. Es muss intelligent sein. Intelligent und witzig. Vielleicht ein philosophisches Zitat? Nein, es sollte was Eigenes sein. Aber es muss knallen. Etwas, an das sie sich noch Jahre später erinnern wird.

»Hi.«

Na ja, »Hi« war vielleicht nicht ganz die optimale Lösung, aber immerhin. Besser als beim Abiball, als mein Anbaggerversuch bei der schönen Gaby Haas damit endete, dass ich drei Stunden mit ihrer hässlichen Freundin über das Militärregime in Nicaragua diskutiert habe … Da kommt mir die Idee, dass es vielleicht besser wäre, jetzt Aylins Hand loszulassen. Mir wird für eine Sekunde sehr heiß. Dann lasse ich los. Aylin lächelt mir kurz zu und verschwindet. Ich bin verliebt. Ich weiß, das klingt lächerlich. Ich kenne diese Frau seit einer halben Minute. Das kann nur eine durch Hormonstau verursachte chemische Reaktion sein. Sicher. So was habe ich auch oft erlebt: Die Hormone geraten kurz in Wallung und beruhigen sich wieder. Aber diesmal spüre ich, dass es etwas anderes ist. Ich kann nicht sagen, warum.

3

Am nächsten Morgen sitze ich auf der Sonnenterrasse des Rixa Diva mit Schafskäse-Rührei und türkischem Tee. Nur 100 Meter entfernt im Meer sind schon die ersten Surfer am Start. Surfen wirkt auch ungeheuer cool auf Frauen. Wenn man’s kann. Mit meinem ersten und einzigen Versuch habe ich es immerhin – Marks Videokamera sei Dank – vor zwei Jahren in die Sendung »Upps! Die Pannenshow« geschafft.

Aber die Surfer interessieren mich im Moment nicht. Ich suche Aylin. Wenn sie auftaucht, kann ich ja ein ganz lockeres Gespräch anfangen, so in der Art: »Hi! Erinnerst du dich? Ich bin der Typ, der gestern ›Hi‹ gesagt hat.« – »Ja klar, ich habe die ganze Nacht davon geträumt. Weißt du, es war die Art, wie du es gesagt hast, das war einfach umwerfend. Noch nie hat jemand auf so vielschichtige, unendlich bedeutungs- und gefühlvolle Art ›Hi‹ zu mir gesagt … Das war kein normales ›Hi‹, sondern eins, das einer Frau durch und durch geht. Ein ›Hi‹, das keine Fragen offenlässt, das einen in den Tiefen der Seele berührt …«

Während ich so vor mich hin träume, kommt Mark.

»Dübndüdüüüü …«

»Ey, alter Schwede, wie war die panikmäßige Nacht?«

»Geil!«

Nach weiteren 7 Minuten 23 Sekunden Lindenberg-Imitation sind wir endlich beim Thema: Aylin.

»Also, was ist mit ihr? Warum soll ich sie vergessen? Ist sie lesbisch? Hat sie eine unheilbare Krankheit?«

»Nein. Sie ist Türkin, und sie hat einen Bruder.«

»Och, es hätte schlimmer kommen können.«

»Ach ja?! Was wäre denn noch schlimmer?«

»Zum Beispiel zwei Brüder.«

Mark erzählt, dass Aylin im Hotel Geld als Kinderanimateurin verdient. Ihre Familie lebt aber in Köln. Köln – das ist Schicksal!

»Träum weiter! Das halbe Hotel hat’s schon bei Aylin versucht. An die kommt definitiv keiner ran. Selbst die Türken blitzen bei ihr ab. Außerdem … Du … also …«

»Ja?«

»Na ja, ich meine nur, äh … Du …«

»Du meinst, ich bin nicht der Typ Mann, auf den eine Frau wie Aylin abfahren würde?!«

»Nein, das … äh … Dübndüdüüü …«

So persönlich haben wir noch nie gesprochen. Und im Grunde ist mir auch klar, was Mark sagen wollte: Ein Team aus der Kreisklasse kann sich nicht für die Champions League qualifizieren. Wo er recht hat, hat er recht. Ich habe nicht den Hauch einer Chance – also warum sollte ich mich unglücklich machen?! Das Schöne an einer solch glasklaren rationalen Erkenntnis ist: Bei der nächsten Gelegenheit wirft man sie in die Mülltonne und beweist wieder einmal, dass der Verstand lediglich taugt, um Sudokus zu lösen, Treppenlifte zu reparieren oder die Atombombe zu erfinden.

 

Kurze Zeit später gehe ich also zufällig am Kinderpool spazieren und beobachte, wie Aylin zwei Teams für ein Wasserballmatch bildet. Seufz! Wer selbst in einem verwaschenen Rixa-Diva-Animations-Team-T-Shirt umwerfend aussieht, den kann wirklich nichts entstellen. Und dieses Lächeln! Dieses Lächeln ist definitiv das Bezauberndste, was ich je gesehen habe. Ich glaube, es würde mir reichen, wenn ich sie einfach nur den ganzen Tag angucken könnte. Das Körperliche wird sowieso überschätzt. Und wie sie mit den Kindern umgeht – so liebevoll! Und das auf Deutsch und Englisch. Ich – platsch! Ich habe übersehen, dass sich vor dem Kinderbecken noch der Whirlpool befindet – hatte allerdings Glück, dass die Oberschenkel einer mindestens 100 Kilo wiegenden Frau um die 70 im rot-grünen Blümchen-Badeanzug meinen Aufprall sanft abgefangen haben. Wie man sieht, schadet Fett durchaus nicht immer der Gesundheit. Wenn die Frau nicht hysterisch schreien würde, weil sich meine Nase genau auf ihrer linken Brustwarze befindet, hätte Aylin sicher gar nichts mitgekriegt. So aber sieht sie mich mit klitschnassen Klamotten unter heftigen russischen Flüchen aus dem Whirlpool klettern – was mir immerhin Aylins Lächeln einbringt. Auch wenn es kein Flirt-Lächeln ist, sondern eher dieses Lächeln, das Frauen kriegen, wenn sie Donald Duck gucken. Mir rollt wieder eine Hitzewelle durch den ganzen Körper – zum einen, weil ich es geschafft habe, Aylin für fast eine ganze Sekunde in die Augen zu schauen, zum anderen, weil mir just in diesem Moment auffällt, dass ich im Whirlpool meinen Zimmerschlüssel verloren habe.

»Excuse me, I have lost my, äh, room-key in the whirlpool.«

Der verständnislos-wütende Blick der Russin verrät mir, dass sie der englischen Sprache nicht mächtig ist. Durch die Blubberblasen sehe ich den Schlüssel ausgerechnet zwischen ihren Füßen aufblitzen. Toll, wahrscheinlich ist sie die Frau eines kasachischen Öl-Milliardärs, der mich sofort liquidieren lässt, wenn er sieht, dass ich seiner Olga zwischen den Füßen rumfummle.

Da muss ich jetzt wohl durch. Ich klettere also zurück in den Whirlpool und setze mich zunächst einmal unauffällig auf die andere Seite. Dabei grinse ich Olga entschuldigend an. Ihre Gesichtsmuskeln entspannen sich. Dann versuche ich, den Schlüssel so unauffällig wie möglich mit dem rechten Fuß zu mir herzuziehen. Leider verzerren die vielen Blubberblasen ein wenig die Perspektive, und so erwische ich irgendetwas Weiches. Die Augen der Russin weiten sich beängstigend. Erneut dehnt sich die Zeit und macht Platz für Gedanken …

Scheiße! Wenn sie früher Kugelstoßerin war, dann bin ich verloren!

Wie sagt man auf Russisch: »Warten Sie bitte einen Moment! Bevor Sie mein Genick brechen, möchte ich noch wissen, wie der 1. FC Köln gespielt hat«?

Warum sind in meinem Kopf immer alle Russinnen Kugelstoßerinnen? Das ist doch ein blödes Klischee.

Ich habe mich bisher viel zu selten mit russischer Literatur beschäftigt.

Na und? Dann ist es halt ein beschissenes Klischee! Man muss doch nicht unter Todesbedrohung philosophisch anspruchsvolle Gedanken haben, verdammte Scheiße!

Ich sollte vielleicht mal meinen Fuß wegziehen …

Gott sei Dank, soooo böse scheint die Russin gar nicht zu sein. Puh, noch mal gut gegangen. Sie schaut sogar ziemlich versöhnlich. Ein bisschen zu versöhnlich. O nein – sie hat das missverstanden. Sie will mich küssen. Dabei wirft sie sich mit ihren hundert Kilo auf mich und drückt mich unter Wasser, wo ich eine geballte Ladung Blubberblasen direkt in die Nase bekomme. Eine Rangelei entsteht, die von der Russin als Vorspiel und von mir als Todeskampf wahrgenommen wird. Sie wird immer wilder. Ich nutze den kurzen Moment, in dem sie ihren Blümchen-Badeanzug von der Schulter streifen will, um mich kurz vor dem Erstickungstod mit letzter Kraft an den Beckenrand zu retten. Aus dem Augenwinkel sehe ich Aylin. Ich versuche, möglichst maskulin zu wirken – was relativ schwierig ist, wenn man mit blauen Flecken übersät nach Luft ringend auf dem Boden liegt, einem Wasser aus den Nasenlöchern läuft und neben einem im Whirlpool eine 100 Kilo schwere 70-jährige Russin frivol grinsend den Zimmerschlüssel hochhält.

Aylin kommt zu mir. Eigentlich der perfekte Zeitpunkt für ein romantisches Treffen: Wegen der Schmerzen am ganzen Körper und der Angst vor der Russin spüre ich meine Nervosität kaum noch.

»Hallo, Aylin. Mach dir keine Sorgen – die Frau ist meine Wrestling-Trainerin.«

Aylin lacht. Strike! Ich habe sie zum Lachen gebracht. Mein Gott, was für ein süßes Lachen. Bezaubernd. Ich schmelze dahin.

»Soll ich dich zum Arzt bringen?«

»Nein, nein, es ist nicht so schlimm.«

Verdammt, warum habe ich das nur gesagt? Ich hätte den sterbenden Schwan mimen können, mich bei ihr aufstützen (Körperkontakt!) und sie dabei in ein Gespräch verwickeln können. Stattdessen versuche ich es im aufrechten Gang bis zur Pool-Bar zu schaffen – gegen den Willen meines Körpers. Es muss etwa so aussehen wie eine Ente mit Osteoporose, die über ein Nagelbett watschelt.

Während sich Aylin wieder den Kindern zuwendet, denke ich plötzlich: »Mist, die Russin!« Zu allem Überfluss kriege ich jetzt auch noch Mitleid mit ihr. Vielleicht hat sie ihren Mann im Afghanistankrieg verloren und wartet seitdem vergeblich auf ein sexuelles Abenteuer. Und jetzt lasse ich sie einfach herzlos im Whirlpool liegen. Ich müsste doch wenigstens versuchen, einen netten Rentner für sie zu finden, mit dem sie gemeinsam in ihrer sibirischen Datscha Schneehasen füttern kann.

Machen sich die türkischen Machos eigentlich auch solche Gedanken, oder hat man am Ende sogar mehr Erfolg bei Frauen, wenn man sich solche Gedanken nicht macht? Ich werde aus meinen Überlegungen gerissen, als mich der dicke Stahlanhänger meines Zimmerschlüssels, den die wütende Russin in meine Richtung gepfeffert hat, mit voller Wucht am Hinterkopf trifft. Heute sehe ich die Sterne etwas früher als erwartet. Mein erster Gedanke: Gut, dass ich die Auslandskrankenversicherung abgeschlossen habe.

4

Ich bin der Lieblingspatient der türkischen Hotelkrankenschwester Nursel, denn mit blauen Flecken und einer dicken Beule am Kopf bin ich immer noch cooler als die beiden Alkoholleichen neben mir. Nursel erklärt mir, dass in der Hauptsaison in All-inclusive-Hotels mindestens drei Alkoholvergiftungen am Tag üblich sind. Die Hitliste wird von den Engländern angeführt, dicht gefolgt von uns Deutschen. Ich hätte die Iren auf Platz eins erwartet, aber die sind wahrscheinlich schon zu besoffen, um in den Flieger zu steigen.

Nursel ist Mitte zwanzig und hat ihre Haare zu zwei süßen Zöpfen geflochten. Sie ist eine von diesen dunklen Türkinnen aus der Osttürkei, die eine geheimnisvolle exotische Ausstrahlung haben – noch vor einem Tag hätte ich in ihrer Gegenwart kein Wort rausgebracht, aber jetzt plaudere ich total locker mit ihr. Wenn ich total locker mit einer Frau rede, dann hat das immer nur eine Ursache: Ich will nichts von ihr.

Warum will ich nichts von einer attraktiven exotischen Krankenschwester? Weil mein Herz sich schon gestern für Aylin entschieden hat. Toll: Den Frauen, von denen ich nichts will, zeige ich meine Schokoladenseite, und den Frauen, die ich erobern möchte, präsentiere ich mich als nervliches Wrack … Das ist doch total bescheuert! Danke, Gott[1], das hast du wirklich super hingekriegt. Okay, dass ich keinen Waschbrettbauch habe und mein Bizeps gerade mal dazu reicht, ein Ice Age-Poster aufzuhängen – das nehme ich auf meine Kappe. Ich mache nun mal nicht gerne Hanteltraining – zumal ich im Kraftraum eines Fitness-Studios auf genau die Leute treffe, die mir früher in der Schule mit Edding Penisse in meine Kafka-Bücher gemalt haben. Aber warum zum Teufel bin ich nur dann locker, wenn ich’s überhaupt nicht brauche? Das ist doch ein klarer Schöpfungsfehler!

Übrigens, die Alkoholleichen neben mir entsprechen exakt der Statistik: ein Engländer und ein Deutscher. Das Lustige ist, dass bei Engländern die Alkoholvergiftung fast immer mit heftigen Verbrennungen einhergeht, sodass man den Geruch in der Krankenstation auch für mit Cognac flambiertes Rinderfilet halten könnte. Eigentlich schade, dass der englische Patient komplett einbandagiert ist (fast so wie im gleichnamigen Film) – so kann ich nicht sagen, ob seine Haut karmin-, krebs- oder rubinrot ist.

Im Gegensatz zum Engländer, der im Halbschlaf unablässig das Wort »Fuck« wie ein Mantra vor sich hin murmelt, ist der deutsche Patient bei Bewusstsein – leider. Denn es ist der Typ von der Deutschen Vermögensberatung, der, wie sich herausstellt, aufgrund seiner Alkoholexzesse vergessen hat, meinen Auslandskrankenversicherungsantrag wegzuschicken. Er tröstet mich damit, dass Post aus der Türkei sowieso eine Woche unterwegs ist und ich heute eh noch keinen Versicherungsschutz hätte.

Ich denke kurz darüber nach, ob es durch meine Haftpflicht abgedeckt wäre, wenn ich jetzt Eierlikör in seine Infusionsflasche füllen und ihm ein Antragsformular für eine Sterbeversicherung ins Maul stopfen würde – schäme mich aber augenblicklich für diese Phantasie[2], denn schließlich haben mich meine Eltern zur Gewaltlosigkeit erzogen. Wobei man das Prinzip der Gewaltlosigkeit ernsthaft infrage stellt, wenn man von einem volltrunkenen Vermögensberater kurz vor dem Delirium mit den Vorzügen der privaten Altersvorsorge zugelallt wird.

Ich rate ihm, für seine persönliche Altersvorsorge am besten auf eine neue Leber zu sparen, und verlasse mein Bett. Auf dem Flur der Hotelarztpaxis wird mir das nächste Alkohol-Opfer entgegengetragen. Sprechen kann er nicht mehr, aber Sachsen können ihren Dialekt selbst beim Stöhnen nicht verbergen. Zwei zu eins für Deutschland – hurra!

 

Schwester Nursel gibt mir zwei Aspirin gegen die Schmerzen mit auf den Weg und empfiehlt mir Ruhe. So liege ich den gesamten Nachmittag auf meinem Zimmer und kann mich erneut davon überzeugen, dass Sat.1 und RTL ihre Zuschauer für hirnamputierte Schwachköpfe halten, während MTV und VIVA softpornoartige Hip-Hop-Videos zeigen, die den altersbedingten Hormonstau ihrer Zielgruppe in medizinisch bedenkliche Bereiche treiben. Die ARD analysiert mit leeren Worthülsen die leeren Worthülsen eines SPD-Parteitags, und das ZDF kommt bei »Leute heute« seiner öffentlich-rechtlichen Informationspflicht nach, indem es uns über den neuen Brustumfang von Brigitte Nielsen in Kenntnis setzt. Lediglich 3sat rettet ansatzweise das Niveau – mit einem Bericht über die unterschätzte Gefahr durch Getreideschimmelkäfer.

Schließlich lande ich bei KRAL, einer Art anatolischem MTV, wo ein türkischer Macho, der offensichtlich von seiner Freundin verlassen wurde, seinen Gefühlen in einer arabesken Jodelarie freien Lauf lässt. Dabei wirft er sich theatralisch auf den Boden, wird von mehreren Autos überfahren, steht wieder auf, reißt sich die Fetzen seines T-Shirts von der Brust, jammert weiter und wird schließlich erneut überfahren, nur um auch dieses Mal heldenhaft wieder aufzustehen und das Lied mit einem markerschütternden Stoßseufzer zu beenden. Eigentlich sehr gelungener Slapstick, aber wahrscheinlich gilt es in der Türkei als besonders männlich, mit nacktem Oberkörper von Autos überfahren zu werden. Ich sollte das auch mal machen, dann könnte ich gleichzeitig meine gescheiterte Beziehung verarbeiten und Aylin beeindrucken. Aylin – ich muss sie sehen. Sofort. Mir ist egal, was sie denkt. Es ist sowieso hoffnungslos. Ich ziehe mir eine lange Leinenhose und ein langärmliges T-Shirt an, sodass meine blauen Flecken einigermaßen kaschiert sind. Am Pool treffe ich Mark.

»Ey, Mark, alte Stinknase, was geht panikmäßig ab?«

»Daniel, ey, dübndüdüüü … äh, haha, das machen wir immer, wir, äh, das ist so ein Quatsch zwischen uns.«

Mark will gerade mit mehreren Frauen zum Tennis gehen. Da ist es ihm peinlich, Udo Lindenberg zu imitieren. Verräter. Ich ziehe ihn beiseite.

»Sag mal, hast du Aylin gesehen?«

»Ich hab doch gesagt, vergiss sie.«

»Hab ich ja auch. Aber jetzt ist sie mir wieder eingefallen.«

»Bitte – wenn du dich unglücklich machen willst: Sie ist im Amphitheater und übt mit den Kindern Discotänze.«

 

Das Amphitheater ist natürlich nicht antik, sondern von Hotel-Architekten entworfen – aber mit Stil: die Bühne nach hinten offen, mit dem Meer als natürlicher Kulisse. Aylin tanzt gerade direkt vor der untergehenden Sonne einer Horde von Drei- bis Zehnjährigen ein paar einfache Discoschritte vor – genug, um zu sehen, dass sie ihren Körper sehr elegant bewegen kann. Da sieht sie mich und winkt. Ich schaue mich um, um sicherzugehen, dass sie wirklich mich meint. Ich kontrolliere das immer, seit ich in der 11. Klasse einmal Gaby Haas zurückgewunken habe, obwohl sie eigentlich Christoph Berger gegrüßt hatte, der hinter mir stand. Um die peinliche Situation zu überspielen, bin ich dann wie Otto Waalkes mit einem »Jaaaaa – hollerähitiii« weggehüpft. Schon in dem Moment habe ich gemerkt, dass das noch peinlicher war, aber ich konnte mich nicht mehr stoppen. Eine absolut traumatische Erfahrung – auch wenn mein Vater das nicht so schlimm fand. Klar, in seiner Kindheit war der Krieg. Und objektiv gesehen ist es natürlich schlimmer, Bombenangriffe zu erleben, als sich vor Gaby Haas zu blamieren. Aber was ich persönlich als traumatisch empfinde, ist immer noch meine Sache.

Aylin meint wirklich mich. Sie winkt mich zu sich. Ich gehe. Oder besser: Ich schwebe. Und diesmal stürze ich nicht. Na bitte.

»Hey, Daniel, willst du auch mittanzen?«

Aylin lächelt mir zu. Ich brauche etwas zu lange, um die Information zu verarbeiten: Sie will, dass ich tanze. Ich will sie beeindrucken. Tanzen und Aylin beeindrucken – das geht definitiv nicht gleichzeitig.

»Klar, tanzen. Warum nicht?«

Wieso mache ich mir eigentlich Gedanken, wenn ich dann eh immer irgendeinen Mist sage? Aylin fordert mich auf. Ich scanne kurz meine tänzerischen Möglichkeiten ab. Ich habe zwei zur Auswahl:

1.

pseudo-cool verkrampft,

2.

relativ locker, aber wie Udo Lindenberg.

Während ich noch intensiv die eine gegen die andere Möglichkeit abwäge, merke ich, dass sich meine Gesichtsmimik schon für Udo Lindenberg entschieden hat – und der Körper folgt. Die Kinder lachen. Aylin lacht. Vielleicht findet sie mich nicht besonders sexy, aber sympathisch findet sie mich schon. Glaube ich. Wenige Minuten später tanzen alle Kinder wie Udo Lindenberg – sogar englische und russische.

Als die Kinder von ihren Eltern abgeholt werden, muss ich einem fassungslosen englischen Vater erklären, dass seine Tochter nicht von einer spontanen Bewegungsstörung heimgesucht wurde, sondern eine deutsche Rocklegende imitiert – sogar erstaunlich perfekt für eine Sechsjährige. Etwas mehr Probleme habe ich mit der Übersetzung von »Dübndüdüüü« in die englische Sprache.

»So what does it mean – ›dubnduduuu‹?«

»You mean ›Dübndüdüüü‹?! Well, it’s not really a word. It’s äh …«

»It’s not some Nazi thing, is it?!«

»No, no, no!!! Not at all.«

»So what does it mean?«

»Well, it means … äh … turaluralura.«

»You mean, dubnduduuu means turaluralura?«

»Well, not exactly …«

»If I find out that it’s a Nazi word, you’re in deep shit.«

Der Vater verschwindet mit seiner Tochter. Aylin hat das Gespräch mitgehört und lacht. Dabei legt sie mir ihre Hand auf die Schulter.

»Tja, mit solchen Eltern schlag ich mich jeden Tag rum.«

Sie hat ihre Hand auf meiner Schulter. Immer noch. Immer noch. Immer noch. Immer noch. Immer noch. Immer noch. Immer noch. Jetzt nicht mehr. Plötzlich wird mir klar, dass nur noch Aylin und ich im Theater sind. Mein Herz rast. Aylin nimmt meine Hand (sie fasst mich schon wieder an!!!) und zieht mich zur hinteren Bühnenkante, wo wir uns nebeneinander hinsetzen und zusehen, wie die rote Sonne langsam ins Meer taucht wie auf der schönsten Kitschpostkarte. Ein perfekter romantischer Moment. Ausgerechnet jetzt muss ich an das Lied Santa Maria von Roland Kaiser denken, und direkt danach an die bescheuerte Parodie von Mike Krüger – Sand da, Maria. Ein innerer Schutzmechanismus, der verhindert, dass ich zu sehr auf die emotionale Ebene gerate.

»Du bist echt lustig, Daniel.«

»Danke. Du bist auch lustig … Nein, ich meine, du bist, äh, schön.«

Nicht schlecht. Kleiner Lapsus mit dem »auch lustig«, aber schnell korrigiert. Für meine Verhältnisse absolut okay. Aylin lächelt geschmeichelt. Na bitte.

»Woher kennst du Mark?«

»Aus der Schule. Wir sind schon ewig befreundet. Wir haben den gleichen Humor, und das gleiche Pech mit Fußballvereinen und Frauen.«

»Pech mit Frauen?!«

»Na ja, meine Freundin hat mich verlassen … Ich war ihr nicht männlich genug.«

Mist, das war ein Fehler. Aylin soll mich doch männlich finden. In meinem Kopf spulen sich kurz die Ereignisse der letzten 24 Stunden ab – nein, es gibt sowieso keine Chance mehr, dass sie mich männlich findet. Sie findet mich lustig. Lieber den Spatz in der Hand als, äh … war das jetzt auf dem Dach ’ne Taube oder ein Rabe?

»Und warum fand sie dich nicht männlich?«

Gute Frage. Warum fand mich Melanie nicht männlich? Ich hab doch wirklich versucht, alles richtig zu machen. Als sie unbedingt nach Mauritius fliegen wollte, habe ich mir einen Vorschuss besorgt und sie an ihrem Geburtstag mit zwei Flugtickets überrascht. Als sie einen Hund wollte, stand ich am Valentinstag mit einem süßen Dalmatiner-Welpen an ihrem Bett. Als sie nicht mehr wollte, dass ich mich so oft mit meinen Freunden treffe, hab ich mich nicht mehr so oft mit meinen Freunden getroffen. Ich habe doch immer alles getan, was sie sich gewünscht hat … Tja. Wahrscheinlich ist es nicht besonders männlich, alles zu tun, was einem gesagt wird. Hat sie deshalb den Respekt vor mir verloren? Oder lag es daran, dass ich ihr mit der Stimme von Udo Lindenberg zu unserem Jahrestag gratuliert habe?

Ich merke, dass ich eine Minute nichts gesagt habe, und versuche, mir unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen.

»Schon gut. Du musst nicht darüber reden.«

Aylin lächelt mich an und fährt mir tröstend mit der Hand über den Arm. Danach sitzen wir schweigend nebeneinander und sehen zu, wie das letzte Stückchen Sonne hinterm Horizont verschwindet. »Hinterm Horizont geht’s weiter«, dudelt Udo in meinem Kopf. Ich denke, er soll die Klappe halten und mich mit Aylin alleine lassen. Das tut er dann auch. Aylins sanfter Atem vermischt sich mit dem Plätschern der Brandung, während ich ihr Rixa-Diva-Animations-Team-T-Shirt an meinem Unterarm spüre und sich unsere Knie ganz leicht berühren. Ab und zu riskiere ich es, sie anzublicken, während sie ihre Augen auf den Horizont gerichtet hält. Mindestens fünf Minuten genieße ich einfach nur diesen Moment – das ist neuer persönlicher Rekord.

Erst danach meldet sich eine innere Stimme mit der Aufforderung, Konversation zu betreiben. Mir kommen jede Menge völlig ungeeignete Sätze in den Kopf:

Einfach toll, so ein Sonnenuntergang. (Viel zu banal.)

Als sich eben die rote Sonne in deinen Augen gespiegelt hat, das war so schön, da sind mir Wonneschauer über den Rücken gelaufen. (Zu kitschig, und sie könnte mich für schwul halten.)

Und woher kennst du eigentlich den Mark? (Blöde Frage, sie sind einfach Arbeitskollegen.)

Darf ich dich küssen? (So was fragt man nicht, so was macht man einfach, und außerdem würde ich im Falle einer Ablehnung den Moment für immer zerstören.)

Wollen wir zusammen am Live-Ticker die Partie 1. FC Köln gegen Eintracht Frankfurt verfolgen? (Völliger Schwachsinn.)

Konversation in romantischen Momenten – das ist eine Disziplin, für die uns Männern schlicht und ergreifend die Ausbildung fehlt. Warum gibt es das nicht als Schulfach?

»Was sagen türkische Männer eigentlich in solchen Momenten?«

Hab ich das gerade nur gedacht, oder hab ich das gesagt? Ich habe es gesagt.

»Gar nichts. Türkische Männer gucken in solchen Momenten lieber Fußball oder machen sich hinter deinem Rücken an deine beste Freundin ran.«

Ein Anflug von Bitterkeit huscht über Aylins Gesicht. Sieht so aus, als wäre ich nicht der Einzige, der vor Kurzem ein Beziehungsdrama erlebt hat. Wir lächeln uns verständnisvoll an. Zwischen gebrochenen Herzen gibt es eine automatische Anziehung, ein intuitives Verständnis. Plötzlich fühle ich mich Aylin sehr nahe. Wer auch immer das Arschloch war, das sich hinter ihrem Rücken an ihre beste Freundin rangemacht hat – ich würde ihn vor Freude am liebsten abknutschen.

Als Mark einmal Liebeskummer hatte, habe ich ihn mit der Stimme von Reiner Calmund getröstet. Die Stimme von Reiner Calmund eignet sich ausgezeichnet zum Trösten. Sie hat so was Beruhigendes. Und nach nicht mal fünf Minuten hat Mark einen Lachanfall bekommen. Die meisten Frauen würden an dieser Stelle einwenden, dass das ein nicht unbedingt reifer Umgang mit einer Lebenskrise des besten Freundes ist. Eine Frau hätte ihn wohl in den Arm genommen und einfach heulen lassen. Aber so etwas könnte ich natürlich nicht – das würde sofort zu homophoben Angstattacken führen. Also, wenn ich die Wahl habe, entweder eine homophobe Angstattacke auszulösen oder einen Lachanfall – und ich mich dann für den Lachanfall entscheide … Soooo unreif finde ich das nicht.

Und ich weiß auch, dass man eine Frau nicht mit der Stimme von Reiner Calmund tröstet. Der Einzige, der das darf, ist Reiner Calmund. Und selbst da bin ich nicht sicher, ob’s funktioniert.

In diesem Moment, im Amphitheater des Rixa-Diva-Hotels, sage ich einfach gar nichts. Wenn mein Leben ein Film wäre, würde der Regisseur jetzt It must have been love von Roxette drunterlegen. Als ich gerade vor meinem geistigen Auge in Zeitlupe die Tränen aus Aylins Gesicht wische, höre ich eine entfernte Stimme.

»Daniel?! Kommst du?!«

Aylin ist schon am Eingang des Amphitheaters und will abschließen. Ich springe auf, und wir gehen quer durch den großen Palmengarten des Hotels, auf einem nur von Fackeln beleuchteten Weg, zurück zum Poolbereich. Aylin ist wieder gewohnt fröhlich und singt ein türkisches Lied. Dann bleibt sie abrupt stehen.

»Ich habe morgen meinen freien Tag. Hast du Lust auf einen kleinen Ausflug?«

Jetzt bloß nicht zu schnell »Ja« sagen. Lass sie ein bisschen zappeln. Frauen mögen das nicht, wenn man zu Wachs in ihren Händen wird. Ein echter Mann hat seinen eigenen Willen.

»Ja!!!«

Das waren schätzungsweise 0,43 Sekunden. Sicher, das hört sich erst mal schnell an. Aber ohne meine taktischen Erwägungen wär’s mir schon nach »Hast du Lust« rausgerutscht.

Wir sind mittlerweile am Wohnbereich der Animateure angekommen.

»Also dann – bis morgen, Daniel.«

»Ja, dann, äh, bis morgen.«

Aylin verabschiedet sich mit »Küsschen rechts, Küsschen links«, das ist die klassische türkische Art – wobei man natürlich kein Küsschen gibt, sondern nur die Wange hinhält. Und schon ist sie verschwunden. Ich stehe wie angewurzelt da und ärgere mich heftig über meinen letzten Satz: »Ja, dann, äh, bis morgen.« Mit dem »äh« wollte ich mir Zeit verschaffen, denn ich wollte auf keinen Fall »bis morgen« sagen – das hatte Aylin ja schon gesagt.

Natürlich, »bis morgen« ist eine Okay-Antwort auf »bis morgen«, aber ich wollte keine Okay-Antwort geben, sondern eine 1-a-De-luxe-Antwort mit Sternchen. Derselbe Mist wie beim »Hi«.

Halb drei Uhr nachts. Ich liege seit zwei Stunden wach und überlege mir Sätze, die besser gewesen wären als »Ja, dann, äh, bis morgen«. Hier meine Top 5:

5.

»Ja dann – bis morgen.« (Ohne das »äh« ist der Satz definitiv cooler.)

4.

»Okay, wir sehen uns.« (Simpel, aber irgendwie männlich.)

3.

»Bis morgen. Ich freue mich.« (Ich hätte das »bis morgen« aufgegriffen, aber noch etwas Nettes draufgesetzt. Bis 1 Uhr 58 mein Favorit.)

2.

»Morgen ist das heute der Zukunft.« (Habe ich mal auf einem Glückskeks gelesen, und es kann sein, dass ich es nur deshalb gerade genial finde, weil sich unter Schlafmangel die Wahrnehmung verschiebt.)

1.

»Kennen Sie Schnipp-Schnapp – das ist auch ein Spiel für drei Personen.« (Ein Zitat aus dem Loriot-Sketch Skat, das einen hysterischen Lachanfall bei mir auslöst und deshalb auf Platz 1 landet – wie gesagt, unter Schlafmangel verschiebt sich die Wahrnehmung.)

Fünfzehn Minuten später sitzt Aylin mit einer Herz-9-Spielkarte an meiner Bettkante und fragt: »Was ist Trumpf?« Dafür gibt es nur eine Erklärung: Ich bin eingeschlafen und träume.

5

»Sie hat dich zu einem Ausflug eingeladen???«

Mark ist so fassungslos, dass er vergisst, wie Udo Lindenberg zu sprechen.

»Ja. Hat sie.«

»Aylin?!«

»Ja.«

»Die Aylin?!«

»Ja.«

»Dich?!«

»Ja.«

»Nein!«

»Doch.«

»Oh.«

Für einen Moment habe ich das Gefühl, in einer Louis-de-Funès-Dialogschleife gefangen zu sein. Dann kommt Mark langsam zu sich.

»Aber … aber das kann nicht sein. Das widerspricht jeder Wahrscheinlichkeit. Aylin ist … sie ist eine … sie ist … Aylin.«

»Es ist nur ein Ausflug.«

»Aber sie ist … sie ist … sie ist eine andere Liga.«

»Dann ist es halt ein Ausflug in eine andere Liga.«

»Aber du bist … du bist … Daniel.«

»Vielen Dank. Toll, dass mein bester Freund mich so aufbaut.«

»Nein, versteh das nicht falsch. Du bist schon … du bist ein Mann. Irgendwie. Aber weißt du, Aylin …«

»Vielleicht bist du neidisch, dass sie nicht dich gefragt hat?!«

»Ach Quatsch, ich bin doch nicht … Okay, ich bin neidisch. Aber das ist nicht der Punkt.«

»Und was ist der Punkt?«

»Der Punkt ist: Es gibt bestimmte Gesetze, denen man vertrauen kann. Das Universum dehnt sich aus, die Zeit steht in Relation zum Raum, und Frauen wie Aylin sind grundsätzlich mit unsympathischen Machos zusammen. Das ist doch mein einziger Trost: dass Aylin zur Strafe jeden Morgen neben einem Stück schnarchender Muskelmasse aufwacht, das eine zentimeterdicke Gelschicht auf dem Kopfkissen zurücklässt und sich lieber aus dem Fenster stürzen würde, als ihr das Frühstück ans Bett zu bringen. Aber wenn jemand wie du mit Aylin zusammen ist, dann … dann … gibt es gar keinen Trost mehr.«

»Blödsinn. Ich bin nicht mit Aylin zusammen. Wir machen einen Ausflug.«

»Ein Ausflug ist ein Date.«

»Ist es nicht.«

»Ist es doch.«

»Ist es nicht.«

»Ist es doch. Und warum macht man ein Date?«

»Einfach so.«

»Um zusammenzukommen.«

»Dübndüdüüü …«

 

Mark steht auf und geht. Na toll. Mit so einem Satz lässt er mich jetzt alleine. Bis hierhin war ich nur ein kleines bisschen nervös. Jetzt bin ich in Panik. Könnte es tatsächlich sein, dass Aylin etwas mit mir anfangen würde? Ich bin die ganze Zeit davon ausgegangen, dass ich sowieso keine Chance habe. Dadurch war ich einigermaßen locker. Gut, das Wort »locker« ist natürlich ein relativer Begriff. Also, sagen wir: Ich war locker im Vergleich zu einem Eichhörnchen, das sich den Schwanz in einer Bärenfalle eingeklemmt hat, oder im Vergleich zu einem Radprofi, der beim Dopingtest sieht, dass sein Urin blau ist.

Aber wenn ich wirklich eine Chance haben sollte … Ich bekomme eine Hitzewallung, die jede Frau ab Ende dreißig für einen spontanen Eintritt ins Klimakterium gehalten hätte. Jetzt schnell die Ratio anschalten. Wozu bin ich denn bei Intellektuellen aufgewachsen?! Also: Ich suche einfach nach Anzeichen, die mir zeigen, ob ich eine Chance habe. Ganz simpel. Wenn ich dann feststelle, dass ich keine Chance habe, lohnt es sowieso nicht, sich aufzuregen. Und wenn ich eine Chance habe, dann … ja, darüber mache ich mir später Gedanken …

Übrigens, sollte Aylin nicht längst da sein? Na ja, zehn Minuten, das ist absolut im Rahmen. Keine Frau ist pünktlich bei einem Date. Pünktlich sein heißt: Ich will dich! Ein viel zu klares Signal. Gut, ich war pünktlich, aber das weiß sie ja nicht. Oder vielleicht doch? Hat sie mich vom Fenster aus gesehen und sich dann gedacht: »Ich gehe doch nicht zu ’nem Date mit so einem penetranten Pünktlichkeits-Freak«?

20 Minuten … Ich versuche, beim Warten einen coolen Eindruck zu vermitteln. Okay, das nervöse Mit-dem-Knie-Wippen gibt Abzüge in der B-Note … 25 Minuten. Ich schalte um auf meinen inneren Udo-Modus und denke: »Keine Panik. Dübndüdü. Alles easy …«

Eine halbe Stunde – da wäre man auf eine weniger attraktive Frau schon ein kleines bisschen sauer … Aber auf Aylin würde ich … ja, wie lange würde ich eigentlich auf sie warten? Ein Leben lang? O ja. Ein Leben lang. Seufz!

35 Minuten. 35 Minuten und eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, fünf Sekunden … Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Ich werde eins mit meinem Atem. Ich brauche mein Asthma-Spray.

40 Minuten. Ein Leben lang, das klingt erst mal romantisch, aber wenn man drüber nachdenkt, würde »ein Leben lang« in einem 5-Sterne-All-inclusive-Hotel bei 495 Euro pro Woche und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 76 Jahren knapp 300000 Euro kosten. Wie soll ich die denn verdienen, wenn ich die ganze Zeit auf Aylin warte?!

Eine Stunde – jetzt halte ich es für denkbar, dass ihr dieser Ausflug möglicherweise nicht ganz so wichtig ist wie mir. Mein innerer Udo möchte eine Flasche Eierlikör auf ex trinken. Mein Spiegelbild im Fenster hat die Körperspannung einer spanischen Schlammschnecke. Im Geiste gehe ich mehrere Möglichkeiten durch, Mark möglichst amüsant von diesem Desaster zu berichten. Mein Favorit bisher: »Ich habe die türkische Fassung von Warten auf Godot uraufgeführt – aber das Publikum war am Strand.«

 

Da! Genau 73 Minuten und 28 Sekunden nach dem vereinbarten Zeitpunkt kommt Aylin zu meinem Tisch. Zum ersten Mal sehe ich sie ohne das Rixa-Diva-Animations-Team-T-Shirt. Stattdessen trägt sie ein kurzes Top, das den Blick nicht nur auf ein atemberaubendes Dekolleté, sondern auch auf einen süßen Bauchnabel freigibt.

»Hi!«

Das darf ja wohl nicht wahr sein. Jetzt hab ich schon wieder »Hi« gesagt. Kein »Guten Morgen«, kein Kompliment, nichts.

»Kommst du, Daniel? Der Bus fährt gleich ab.«

»Okay, ich äh …«

Ich stehe auf. Küsschen links, Küsschen rechts. Dann gehe ich mit Aylin zum Ausgang. Sie streichelt mir kurz mit der Hand über den Rücken. Das erste Zeichen, dass sie was von mir will … Mist, warum hab ich nicht einfach nur »Okay« gesagt, sondern dieses blöde »ich äh« hinterhergeschoben?! So was Blödes aber auch … Aufhören! Ich kann mich doch nicht für jeden verdammten Satz kritisieren. Irgendwann einmal werde ich etwas Intelligentes zu Aylin sagen, aber dieser Moment liegt definitiv nicht in der näheren Zukunft. Hat sie eigentlich erwähnt, warum sie 73 Minuten und 28 Sekunden zu spät war? Nein?! Egal.

 

Wir steigen in einen »Dolmuş«, einen öffentlichen Minibus für 15 Fahrgäste. Der Fahrer hat sich entschlossen, dem Klischee Genüge zu tun: Er trägt einen breiten schwarzen Schnurrbart und dünstet die Jahresernte einer anatolischen Knoblauchplantage aus. Er macht offensichtlich auf Türkisch eine anzügliche Bemerkung zu Aylin, denn Aylin antwortet sehr hart und genervt. Sie kann also auch anders. Wir ergattern zwei Plätze in der letzten Reihe. Leider kann ich den so entstehenden Körperkontakt mit Aylin nur kurz genießen: Der Fahrer fährt in dem festen Glauben, dass jeder Passagier ein Scout von McLaren-Mercedes sein könnte, der neue Talente für die Formel 1 sucht. Vielleicht möchte er aber auch den Film Speed nachspielen, wo der Bus explodieren würde, wenn er langsamer als 80 km/h fährt.

Das Positive: Ich habe so viel Angst um mein Leben, dass ich kaum noch nervös wegen Aylin bin – und das, obwohl wir in den Kurven regelrecht zusammengequetscht werden. Auch als die Straße ins Taurus-Gebirge führt und zur Seite hin gefühlte 10000 Meter zum Meer abfällt, veranlasst das unseren türkischen Räikkönen nicht im Geringsten, das Tempo zu drosseln. Die einzige erkennbare Vorsichtsmaßnahme besteht darin, vor den Kurven kurz zu hupen, um eventuellen Gegenverkehr zu warnen. Wobei der einzige potenzielle Erfolg dieses Manövers darin bestünde, dass man mit 80 statt mit 100 km/h frontal zusammenstoßen würde – und auch das nur, wenn der entgegenkommende Fahrer anders als in der Türkei üblich die Stereoanlage nicht bis zum Anschlag aufgedreht hätte. Ich klammere mich mit letzter Kraft am Sitz fest. Aylin beobachtet mich amüsiert.

»Du bist süß, echt.«

»Süß? Ich habe Angst um mein Leben.«

»Genau das finde ich doch süß.«

»Hä?«

»Kein türkischer Mann würde zugeben, dass er Angst hat. Er würde immer noch so tun, als hätte er alles im Griff.«

»Interessant. Und wie verbirgt er seinen Angstschweiß? Ich meine, wenn ich weiter so schwitze, siedeln sich Algen auf mir an.«

Aylin lacht. Doch das nehme ich nur akustisch wahr, denn meine Augen sind starr nach vorne gerichtet: Der Busfahrer steuert gerade mit Vollgas auf einen Abhang zu. Ach du Scheiße! Gibt es Selbstmord-Attentäter, die mit Minibussen in Badebuchten fliegen? Als ich gerade mit meinem Leben abschließe, reißt der Fahrer im letzten Moment das Steuer rum.

Wie kann Aylin bei diesem Höllenritt nur so locker bleiben? Sie scheint meine Gedanken zu erraten:

»Mach dir keine Sorgen. So fahren hier alle.«

»Alle???«

»Ja. Im türkischen Straßenverkehr gibt es nur eine Regel: Es gibt keine Regel.«

Wie zum Beweis brettert unser Dolmuş gerade mit 100 km/h durch eine geschlossene Ortschaft. Mehrere Ziegen, Hühner und Hunde retten sich in letzter Sekunde, während zwei Opas mit Strickmützen, an denen der Bus mit einer Entfernung von maximal fünf Zentimetern vorbeidonnert, ungerührt weiter Wasserpfeife rauchen. Was soll man sich auch groß darüber aufregen, wenn ein Wahnsinniger einen um ein Haar totfährt?! Die Ampel und das 30 km/h-Schild am Ortseingang sind ohnehin nur Dekoration, falls sich zufällig mal ein EU-Kommissar ins Dorf verirrt.

 

Etwa drei Kilometer hinter dem Dorf macht der Fahrer ohne Vorwarnung eine Harakiri-Vollbremsung, die ich wie durch ein Wunder ohne mehrfachen Rippenbruch überlebe. Was ist passiert? Spielende Kinder? Ein Erdloch? Dinosaurier? Weit gefehlt! Die Ursache für diesen waghalsigen Stunt war … eine Haltestelle. Wir stehen auf und verlassen diese Todeskutsche, gegen die sich jede Achterbahn wie ein Kinderkarussell anfühlt. Während ich – noch unter Schock und am ganzen Körper zitternd – die letzte Stufe nehme, fährt der Fahrer mit Vollgas und quietschenden Reifen weiter, sodass ich als Zugabe auch noch auf dem Boden lande.

Aylin nimmt mich an der Hand (noch ein Zeichen!) und zieht mich auf einen kleinen Weg, der durch einen Kiefernwald führt. Es sind diese Mittelmeerkiefern, die einem sofort das Gefühl geben, im Urlaub zu sein. Vielleicht haben wir die in ein paar Jahren auch in Deutschland?! Der Klimawandel hat nicht nur negative Seiten. Nach fünf Minuten Fußmarsch stehen wir an einer kleinen Bucht, die links und rechts von Felswänden eingerahmt ist. Der weiße Sandstrand fällt flach ins Meer ab und vermischt sich dort mit dem Wasser zu dem kräftigen Türkis, das ich bisher nur vom Malediven-Bildschirmhintergrund meines Laptops kannte. Außer Aylin und mir ist niemand hier. Ich bin beeindruckt: eine Idylle.

»Hier ist eine Kaserne in der Nähe. Deshalb dürfen sie hier keine Hotels bauen. Keine Hotels – keine Touristen.«

Da soll noch mal einer was gegen das türkische Militär sagen … Während ich kurz darüber nachdenke, ob es nicht unmoralisch ist, wenn man als Kriegsdienstverweigerer derart vom Militär profitiert, zieht sich Aylin aus und steht im Bikini vor mir. Ich versuche, nicht so geil zu wirken, wie ich es tatsächlich bin. Deshalb konzentriere ich mich, während ich mich ebenfalls entkleide, auf die Schönheit der Landschaft und werfe nur ein paar verstohlene Seitenblicke auf meine Traumfrau. Ist das nicht eigentlich ziemlich verlogen? Sind in Wirklichkeit nicht die Machos ehrlicher, die jetzt sagen würden: »Ey, du siehst unglaublich geil aus – ich will dich flachlegen, und zwar hier und sofort«?!

»Daniel, soll ich dich eincremen?«

Mein Mund ist zu trocken, um diese Frage zu beantworten. Aber immerhin bin ich noch nicht so verkrampft, dass ich nicht mehr nicken kann.

»Okay, dann leg dich auf den Bauch.«

Ich lege mich auf den Bauch. Was zu einem der schönsten Momente meines Lebens werden könnte, wird zur Tortur – weil ich nur einen einzigen Gedanken habe: Ich darf jetzt keine Erektion kriegen, denn gleich muss ich mich wieder auf den Rücken drehen. Also versuche ich, an erektionsverhindernde Dinge zu denken …

die hässliche Freundin von Gaby Haas[3]

aufgeweichte Kartoffelchips

Johannes B. Kerner

den Barbarossaplatz (in Köln; unbestritten unter den Top 3 der hässlichsten Plätze der Welt)

die Ödipus-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus[4]

Warum mache ich mir eigentlich das Leben zur Hölle, nur weil ich sensibel und einfühlsam sein will?! Warum zum Teufel darf ich keine Erektion kriegen, wenn meine Traumfrau mir den Rücken eincremt? Ein brennender Neid auf alle Machos steigt in mir hoch. Ein Macho würde es einfach genießen. Und wenn er sich dann auf den Rücken dreht und sie seine Erektion bemerkt, würde er sie einfach küssen und kurz darauf wilden animalischen Sex mit ihr haben. Und ich liege hier und denke an Johannes B. Kerner. Das Leben ist nicht fair!

 

»So, dreh dich um.«

Ich drehe mich um. Jetzt habe ich eine Perspektive auf ihre Brüste, die an das Spätwerk von Russ Meyer erinnert. Selbst der Gedanke an den Barbarossaplatz kann nicht verhindern, dass ich erregt bin. Ich versuche, mich mit aller Kraft auf die Ödipus-Inszenierung zu konzentrieren. Ein brüllender Ödipus, der drei Stunden lang mit einem quietschenden Rollstuhl im Kreis fährt, während die anderen Griechen im Raum verteilt an Säulen verharren und ihren Text so laut in eine schäbige Fabrikhalle schreien, dass man auch beim besten Willen nichts versteht – das bekäme bestimmt von der Stiftung Warentest in der Kategorie »Erektionsverhinderungsleistung« Bestnoten.

Aber die Erinnerung an dieses Kleinod des modernen Theaters verblasst, und ich bin wieder im Hier und Jetzt. Und da kniet gerade die schönste Frau der Welt über mir und cremt mir, während ihre Haare meinen Bauch streicheln, die Oberschenkel ein. Das ist exakt der Moment, in dem ich die Kontrolle über die Steuerung meiner Blutzirkulation verliere. Und was passiert? Nichts. Aylin scheint es nicht einmal zu bemerken. Sie versorgt noch meine Unterschenkel und Füße, drückt mir die Sonnencreme in die Hand und legt sich auf den Bauch. Während ich sie sanft eincreme, kommt mir das Lied Du hast den schönsten Arsch der Welt in den Kopf. Ein viel zu primitives Lied für einen so vollkommenen Moment. Mein sexuelles Verlangen wird so stark, dass ich mir erneut den Barbarossaplatz vorstelle.

 

Was hatte ich für ein Pech, ausgerechnet in den 70ern aufzuwachsen. Zwei Dinge sind da passiert: Die Nazi-Vergangenheit wurde endlich aufgearbeitet, und die Frauen haben sich emanzipiert. Beides an und für sich lobenswerte Dinge. Aber als emanzipierter Mann hatte man es nicht leicht damals: Es war ein Fehler, dass man Deutscher war, und es war ein Fehler, dass man einen Penis hatte. Ein Deutscher mit Penis – die historische Arschkarte.

Genau so ein Mann ist mein Vater. Mein männliches Rollenvorbild. Jemand, der sich für seine Nationalität und für sein Geschlecht schämt. Jemand, der nervös das Zimmer verlässt, wenn bei Fußball-Länderspielen die deutsche Nationalhymne gespielt wird. Jemand, der monatelang mit einem »Zehn Jahre EMMA«-T-Shirt herumgelaufen ist.

Das ist doch unfair. Türkische Männer schämen sich weder für ihr bestes Stück noch für ihr Vaterland. Ich meine, ein Türke mit deutschem Pass könnte sich doch aus Solidarität zumindest ein kleines bisschen für die deutsche Geschichte mitschämen. Aber nix da. Nein, Türken lernen von ihren Vätern zwei Dinge: Sei stolz, ein Mann zu sein, und sei stolz, ein Türke zu sein. Türkische Väter sind Helden, die jeden Tag für eine gute Sache ihr Leben aufs Spiel setzen (mit »gute Sache« meine ich zum Beispiel: den Busfahrplan einhalten). Und was hat mein Vater mir mit auf den Lebensweg gegeben? Dass man darauf achten sollte, sich in seinen Sex-Phantasien eine gleichberechtigte Partnerin vorzustellen.

Genau so ein Blödsinn führt am Ende dazu, dass man beim Eincremen eines perfekt geformten orientalischen Popos an den Barbarossaplatz denkt. Als ich fertig bin, schaut mir Aylin lange in die Augen. Sie lächelt.

»Du bist unglaublich, Daniel.«

»Ich? Wieso?«

»Jeder türkische Mann hätte das ausgenutzt und mich bedrängt. Aber du … Du bist einfach so … elegant.«

Bestimmt werde ich jetzt rot. Ich lächle und weiche ihrem Blick aus. Dann nimmt Aylin meinen Kopf in beide Hände und küsst mich. Auf den Mund. Ich bin so verblüfft, dass mir nicht einmal blöde Gedanken kommen. Ich spüre sanft ihre Lippen, dann ihre Zunge. Es ist ein leiser, zärtlicher Kuss. Ich kann nicht sagen, wie lange er dauert. Die Dimension der Zeit verliert ihre Bedeutung – und der Barbarossaplatz ist sehr, sehr weit weg.

6

Etwa eine Stunde später liegen wir nebeneinander auf der Decke, die Aylin mitgebracht hat.[5]Ich kann mein Glück gar nicht fassen. Diese Traumfrau neben mir hat mich tatsächlich geküsst. Ich bin berauscht. In solchen Momenten merkt man, dass der menschliche Körper jede Menge Drogen auf Lager hat, die er in bestimmten Situationen ausschütten kann. Toll. Mein Gehirn ist Drogenproduzent und mein Körper der Dealer. Ich weiß nicht genau, welches Enzym verantwortlich ist, wenn man glaubt, einen halben Meter über dem Boden zu schweben – aber es fühlt sich verdammt gut an …

»Daniel, würdest du bitte gucken?«

Ich gucke Aylin an. In einem Comic hätte mir der Zeichner jetzt Herzchen in die Pupillen gemalt. Aylin lacht.

»Du sollst nicht mich angucken, sondern die Soldaten da.«

Erst jetzt sehe ich im Augenwinkel, dass hinter uns ein halbes Dutzend türkische Soldaten in Uniform stehen und Aylin auf den Hintern starren. Mein Körper verabreicht mir eine andere Droge, die die Wirkung der vorherigen neutralisiert: Adrenalin.

Mein Pulsschlag verdoppelt sich in einer halben Sekunde. Mein Körper ist bereit zur Flucht. Wenn ich jetzt schnell ins Meer laufe und nach rechts schwimme, müsste irgendwann Griechenland kommen. Ich darf aber das Asthma-Spray nicht vergessen! Funktioniert das überhaupt im Wasser? Nein, besser, ich stelle mich einfach tot …

Die Soldaten starren immer noch auf Aylins Hintern. Was machen überhaupt Soldaten in dieser perfekten Idylle? Ach, stimmt ja: Diese perfekte Idylle gibt es ja nur, weil die Soldaten da sind. Perfekte Idylle und Soldaten – das gehört halt in der Türkei zusammen …

Sehr gut, dieser Gedanke hat mich kurz von meiner Panik abgelenkt. Aber jetzt ist sie wieder da – zumal selbst Aylin langsam unruhig wird.

»Also – würdest du bitte gucken? Wenn du sie böse anguckst, dann verschwinden sie.«

Das scheint mir eine gewagte These.

»Äh, Entschuldigung, aber könnte es nicht sein, dass es eher so ablaufen würde: Ich gucke böse, die Soldaten fühlen sich provoziert, schlagen mich zusammen, und wenn ich zwei Wochen später das Bewusstsein wiedererlange, bin ich in irgendeinem türkischen Gefängnis, wo ich von meinem Zellengenossen, einem sadistischen Vierfachmörder, nach weiteren fünf Jahren endlich genug Türkisch gelernt habe, um zu verstehen, dass ich eventuell einen Anwalt bekomme, wenn ich endlich gestehe, dass ich ein PKK-Terrorist bin, der Istanbul in die Luft sprengen will?«

»Daniel, das ist mein Land. Hier kenne ich die Regeln. Und die lauten: Du guckst böse, sie verschwinden.«

»Ich würde dir ja gerne glauben, aber …«