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Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

In neuer Übersetzung Hercule Poirot und drei seiner Ermittlerkollegen erhalten eine Einladung zu einer exklusiven Partie Bridge. Der Gastgeber aber, ein für seine kuriosen Vorlieben bekannter Gentleman, hat einen ganz besonderen Abend geplant. Denn angeblich handelt es sich bei allen vier Spielern im Nebenzimmer um Mörder auf freiem Fuß. Als der letzte Stich gemacht ist, wird der Gastgeber tot in seinem Sessel aufgefunden, und Poirot weiß: einer seiner Mitspieler muss ihn umgebracht haben.

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Seitenzahl: 291

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Agatha Christie

Mit offenen Karten

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von Michael Mundhenk

Atlantik

Vorwort

Eine Detektivgeschichte, so eine weitverbreitete Überzeugung, ähnelt einem großen Rennen mit einer Vielzahl von Teilnehmern – wahrscheinlich Pferden und Jockeys. »Du tust dein Geld zahlen und deine Wahl treffen!« Der Favorit ist in dem Fall allerdings nach allgemeiner Auffassung genau das Gegenteil eines offiziellen Favoriten auf einer Rennbahn. Mit anderen Worten, aller Voraussicht nach ein absoluter Außenseiter! Finde denjenigen, der am unverdächtigsten erscheint, und in neun von zehn Fällen ist deine Aufgabe erfüllt.

Da ich nicht möchte, dass meine treuen Leser und Leserinnen dieses Buch angewidert in die Ecke schmeißen, ziehe ich es vor, sie im Voraus darauf aufmerksam zu machen, dass dies kein solches Buch ist. Es gibt lediglich vier Teilnehmer, von denen jeder, unter den richtigen Voraussetzungen, das Verbrechen hätte verüben können. Somit scheidet der Überraschungsfaktor zwangsläufig aus. Trotzdem, finde ich, sollten diese vier Personen, von denen jede bereits einen Mord begangen hat und zu weiteren Morden fähig ist, gleichermaßen interessant gestaltet sein. Es handelt sich um vier grundverschiedene Menschentypen, die durch ein ganz persönliches Motiv zum Verbrechen getrieben werden und völlig unterschiedliche Methoden anwenden würden. Sämtliche Schlussfolgerungen müssen also auf einer rein psychologischen Ebene stattfinden, was aber nichtsdestotrotz interessant ist, da das größte Faszinosum letzten Endes ohnehin die Psyche des Mörders ist.

Schließlich ließe sich zugunsten dieser Geschichte noch anführen, dass sie zu Hercule Poirots Lieblingsfällen gehörte. Als er sie seinem Freund Captain Hastings erzählte, fand dieser sie allerdings todlangweilig! Ich bin gespannt, wessen Meinung sich meine Leserschaft anschließen wird.

Agatha Christie

1Mr Shaitana

»Mein lieber Monsieur Poirot!«

Es war eine leise, schnurrende Stimme, eine Stimme, die bewusst als Instrument eingesetzt wurde – nichts daran war impulsiv oder unüberlegt.

Hercule Poirot fuhr herum.

Er verbeugte sich.

Er tauschte einen förmlichen Händedruck.

Irgendetwas in seinen Augen war ungewöhnlich. Man könnte sagen, diese zufällige Begegnung hatte in ihm ein Gefühl geweckt, das zu empfinden er kaum je Veranlassung hatte.

»Mein lieber Mr Shaitana«, erwiderte er.

Beide hielten inne, wie zwei Duellanten en garde.

Um sie herum das sanfte Wogen eines gutgekleideten, gelangweilten Londoner Publikums. Leises Murmeln und affektierte Ausrufe.

»Darling – berückend!«

»Einfach himmlisch, nicht wahr, Liebste?«

Sie waren auf der Schnupftabakdosenausstellung im Wessex House. Eintritt eine Guinee, zugunsten der Londoner Krankenhäuser.

»Mein Bester«, sagte Mr Shaitana, »wie schön, Sie zu sehen! Stehen denn aktuell gar keine Hinrichtungen durch den Strang oder das Fallbeil auf dem Programm? Eine momentane Flaute in der Welt des Verbrechens? Oder soll hier heute Nachmittag etwa ein Raubüberfall stattfinden – das wäre wirklich zu köstlich.«

»Leider nicht, Monsieur«, antwortete Poirot. »Ich bin rein privat hier.«

Mr Shaitana wurde kurzzeitig von einem hübschen jungen Ding mit dichten Pudellöckchen auf einer Seite des Kopfes und drei Füllhörnern aus schwarzem Stroh auf der anderen abgelenkt.

»Liebste«, sagte er, »warum sind Sie nur nicht zu meiner Gesellschaft gekommen? Es war wirklich ein bezaubernder Abend! Allerlei Leute haben doch tatsächlich mit mir gesprochen. Eine Frau sagte sogar: ›Sehr erfreut‹ und ›Auf Wiedersehen‹ und ›Herzlichen Dank‹ – aber sie stammte natürlich auch aus einer der neuen Gartenstädte, die Ärmste!«

Während das hübsche junge Ding eine angemessene Antwort gab, gestattete sich Poirot, eingehend die haarige Zierde auf Mr Shaitanas Oberlippe zu studieren.

Ein schöner Schnurrbart, ein sehr schöner Schnurrbart, vielleicht der einzige in ganz London, der Monsieur Hercule Poirots Schnauzbart Konkurrenz machen konnte.

»Aber er ist nicht so üppig«, murmelte er in sich hinein. »Nein, er ist eindeutig in jeder Hinsicht inférieur. Tout de même, er zieht die Blicke auf sich.«

Mr Shaitanas ganze Erscheinung zog die Blicke auf sich – darauf war sie getrimmt. Er hatte es auf eine mephistophelische Wirkung angelegt. Er war groß und schlank, sein Gesicht lang und melancholisch, die Augenbrauen stark betont und pechschwarz, und er trug einen Schnurrbart mit gezwirbelten Enden sowie einen kleinen schwarzen Knebelbart. Seine Kleidung war ein Kunstwerk – exquisit geschnitten, aber einen Hauch bizarr.

Jeder vernünftige Engländer, der ihn sah, verspürte den aufrichtigen, brennenden Wunsch, ihm einen Tritt zu verpassen! Mit einem beispiellosen Mangel an Originalität sagten alle: »Da ist Shaitana, dieser verdammte Südländer!«

Die Frauen, Töchter, Schwestern, Tanten, Mütter und sogar Großmütter erwiderten dann, wobei sie ihre Wortwahl je nach Generation variierten, Dinge wie: »Ich weiß, Liebster. Sicher, er ist wirklich schrecklich. Aber so reich! Und diese wunderbaren Gesellschaften! Und er hat immer etwas Amüsantes und Gehässiges über die Leute zu sagen.«

Ob Mr Shaitana Argentinier oder Portugiese oder Grieche war oder aus einem der anderen Länder kam, die die Briten mit ihrer Inselmentalität zu Recht verachteten, wusste niemand.

Drei Dinge standen jedoch außer Frage:

Er führte ein herrliches, wohlhabendes Leben in einem phantastischen Apartment in der Park Lane.

Er gab fabelhafte Gesellschaften: große Gesellschaften, kleine Gesellschaften, makabre Gesellschaften, anständige Gesellschaften – auf jeden Fall wunderliche Gesellschaften.

Er war ein Mann, vor dem fast jeder ein klein wenig Angst hatte.

Warum dem so war, lässt sich kaum definitiv sagen. Möglicherweise war der Eindruck entstanden, er wisse über alle ein bisschen zu viel. Und man wurde das Gefühl nicht los, er habe einen sonderbaren Humor.

Fast immer fanden die Leute, es sei besser, nicht das Risiko einzugehen, Mr Shaitana vor den Kopf zu stoßen.

An diesem Nachmittag verleitete ihn sein Sinn für Humor dazu, Hercule Poirot, diesen lächerlichen kleinen Mann, aufzuziehen.

»Also selbst ein Polizist braucht Entspannung?«, sagte er. »Studieren Sie auf Ihre alten Tage die Künste, Monsieur Poirot?«

Poirot lächelte gutmütig.

»Ich sehe«, sagte er, »dass Sie drei Schnupftabakdosen als Leihgabe für diese Ausstellung zur Verfügung gestellt haben.«

Mr Shaitana winkte bescheiden ab.

»Hier und dort ergattert man halt ein paar Kleinigkeiten. Sie müssen mich einmal besuchen kommen. Ich besitze einige interessante Stücke. Dabei beschränke ich mich weder auf eine bestimmte Periode noch auf bestimmte Gegenstände.«

»Sie sind vielseitig interessiert«, sagte Poirot lächelnd.

»Sie sagen es.«

Plötzlich tanzten Mr Shaitanas Augen, seine Mundwinkel wanderten nach oben, seine Augenbrauen schoben sich in eine phantastische Schräglage.

»Ich könnte Ihnen sogar Gegenstände aus Ihrer Branche zeigen, Monsieur Poirot!«

»Sie haben also Ihr privates ›Schwarzes Museum‹.«

»Ach!« Mr Shaitana schnippte verächtlich mit den Fingern. »Die Tasse des Mörders von Brighton, das Brecheisen eines berühmten Einbrechers – absurde Kindereien! Mit solchem Plunder würde ich mich nie umgeben. Ich sammle nur die besten Objekte ihrer Art.«

»Und was sind Ihrer Meinung nach, aus künstlerischer Sicht, die besten Objekte aus der Welt des Verbrechens?«

Mr Shaitana beugte sich vor und legte zwei Finger auf Poirots Schulter. Dramatisch zischte er die Antwort heraus:

»Die Menschen, die die Verbrechen begehen, Monsieur Poirot.«

Poirots Augenbrauen gingen einen Tick in die Höhe.

»Aha, ich habe Sie erschreckt«, sagte Mr Shaitana. »Mein Guter, mein Bester, Sie und ich, wir betrachten diese Dinge von völlig entgegengesetzter Warte! Für Sie sind Verbrechen eine Frage der Routine: ein Mord, eine Ermittlung, ein Indiz und schließlich – denn Sie sind zweifelsohne ein fähiger Mann – eine Verurteilung. Derartige Banalitäten würden mich überhaupt nicht interessieren! Irgendwelche Versager interessieren mich keinen Deut. Und ein geschnappter Mörder ist zwangsläufig eine Niete. Er ist zweitklassig. Nein, ich betrachte das Ganze vom künstlerischen Standpunkt aus. Ich sammle nur die Besten!«

»Und die Besten wären …?«, fragte Poirot.

»Diejenigen, die ungeschoren davongekommen sind, mein Lieber! Die Erfolgreichen! Die Verbrecher, die ein angenehmes Leben führen, ohne dass je auch nur der Hauch eines Verdachts auf sie gefallen wäre. Sie müssen zugeben, das ist ein amüsantes Hobby.«

»›Amüsant‹ ist nicht unbedingt das Wort, das mir dabei in den Sinn kommt.«

»Hier ist eine Idee!«, rief Mr Shaitana, ohne auf Poirot einzugehen. »Ein kleines Abendessen! Ein Abendessen, damit Sie meine Exponate kennenlernen können! Das ist wirklich ein höchst amüsanter Gedanke. Ich weiß gar nicht, warum er mir nicht schon früher gekommen ist. Ja, ja, ich sehe es genau vor mir … Sie müssen mir allerdings etwas Zeit geben … nicht schon nächste Woche – sagen wir, die Woche darauf. Wären Sie da abkömmlich? Welchen Tag sollen wir nehmen?«

»Übernächste Woche würde mir jeder Tag passen«, erwiderte Poirot mit einer Verbeugung.

»Gut, sagen wir also Freitag. Freitag, den Achtzehnten. Ich werde es mir sofort in meinem kleinen Büchlein notieren. Mir gefällt diese Idee ausnehmend gut.«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, dass sie mir genauso gut gefällt«, sagte Poirot langsam. »Womit ich nicht sagen will, dass ich Ihre freundliche Einladung nicht zu schätzen wüsste – nein, das nicht …«

Shaitana unterbrach ihn.

»Aber es verletzt Ihr bürgerliches Zartgefühl? Mein Lieber, Sie müssen sich von dieser beschränkten Polizeimentalität freimachen.«

»Stimmt«, erwiderte Poirot bedächtig, »wenn es um Mord geht, habe ich eine durch und durch bürgerliche Gesinnung.«

»Aber warum nur, mein Lieber? Eine stupide, stümperhafte, bestialische Angelegenheit – ja, darin stimme ich Ihnen zu. Aber Mord kann auch eine Kunst sein! Ein Mörder kann ein Künstler sein.«

»Oh, das räume ich ein.«

»Ja, und?«, fragte Mr Shaitana.

»Er ist immer noch ein Mörder!«

»Aber, mein lieber Monsieur Poirot, wenn man etwas außerordentlich gut macht, dann ist das allein doch schon eine Rechtfertigung! Sie wollen, absolut phantasielos, jedem Mörder Handschellen anlegen, ihn einsperren und ihm schließlich zu früher Morgenstunde das Genick brechen. Ich finde, ein wirklich erfolgreicher Mörder sollte aus der Staatskasse eine Pension erhalten und zum Abendessen eingeladen werden!«

Poirot zuckte mit den Schultern.

»Ich bin für den künstlerischen Aspekt eines Verbrechens nicht so unempfänglich, wie Sie denken. Für einen perfekten Mord kann ich durchaus Bewunderung entwickeln – ich kann auch für einen Tiger Bewunderung entwickeln, dieses herrliche gelb-braun gestreifte Tier. Aber ich würde ihn von außerhalb seines Käfigs bewundern. Ich würde nicht hineingehen. Es sei denn, ich wäre dienstlich dazu verpflichtet. Denn, verstehen Sie, Mr Shaitana, der Tiger könnte losspringen …«

Mr Shaitana lachte.

»Ich verstehe. Und der Mörder?«

»Könnte morden«, erwiderte Poirot ernst.

»Mein Lieber, was sind Sie doch für ein Schwarzmaler! Dann werden Sie also nicht kommen, um meine Sammlung von – Tigern kennenzulernen?«

»Im Gegenteil, ich komme sehr gerne.«

»Wie mutig!«

»Sie verstehen mich anscheinend nicht richtig, Mr Shaitana. Meine Worte waren so etwas wie eine Warnung. Sie baten mich gerade zuzugeben, dass Ihre Idee, eine Sammlung von Mördern anzulegen, amüsant sei. Ich sagte, mir sei dabei ein anderes Wort als ›amüsant‹ in den Sinn gekommen. Nämlich das Wort ›gefährlich‹. Ich könnte mir vorstellen, Mr Shaitana, dass Ihr Hobby gefährlich ist.«

Mr Shaitana lachte, ein ausgesprochen mephistophelisches Lachen.

»Ich darf Sie dann also am Achtzehnten erwarten?«

Poirot deutete eine Verbeugung an.

»Sie dürfen mich am Achtzehnten erwarten. Mille remerciements.«

»Ich werde eine kleine Gesellschaft geben«, sagte Shaitana sinnierend. »Vergessen Sie es nicht. Um acht Uhr.«

Er entfernte sich. Poirot blickte ihm ein Weilchen hinterher.

Langsam und nachdenklich schüttelte er den Kopf.

2Ein Abendessen bei Mr Shaitana

Die Tür zu Mr Shaitanas Apartment öffnete sich lautlos. Ein grauhaariger Butler zog sie auf, um Poirot eintreten zu lassen. Er schloss sie ebenso geräuschlos und nahm dem Gast gewandt Mantel und Hut ab.

Mit leiser, ausdrucksloser Stimme murmelte er:

»Wen darf ich melden?«

»Monsieur Hercule Poirot.«

Ein leises Stimmengewirr drang ins Vestibül, als der Butler eine Tür öffnete und verkündete:

»Monsieur Hercule Poirot.«

Mit einem Glas Sherry in der Hand kam Shaitana, ihn zu begrüßen. Wie immer war er tadellos gekleidet. Seine Augenbrauen schienen sich betont spöttisch zu wölben, wodurch er an dem Abend noch mephistophelischer wirkte.

»Darf ich Sie vorstellen – kennen Sie Mrs Oliver?«

Als versierter Effekthascher genoss er Poirots überraschtes Zusammenzucken.

Mrs Ariadne Oliver war weithin bekannt als eine der führenden Autorinnen von Detektiv- und anderen Sensationsgeschichten. Sie schrieb schwatzhafte (wenn auch nicht unbedingt grammatikalisch korrekte) Artikel über den Hang zum Verbrechen, Berühmte Verbrechen aus Leidenschaft oder Mord aus Liebe versus Mord aus Habgier. Außerdem war sie eine hitzköpfige Feministin, und wenn irgendein spektakulärer Mordfall die Zeitungsspalten füllte, erschien mit Sicherheit ein Interview mit Mrs Oliver, in dem sie sagte: »Wenn doch nur eine Frau an der Spitze von Scotland Yard stünde!« Sie glaubte fest an die weibliche Intuition.

Ansonsten war sie eine umgängliche Dame mittleren Alters, hübsch, wenn auch etwas ungepflegt, mit schönen Augen, kräftigen Schultern und einer Menge widerspenstiger grauer Haare, mit denen sie ständig herumexperimentierte. Einmal wirkte sie hochintellektuell – die Haare straff aus der Stirn zurückgekämmt und im Nacken zu einem großen Knoten zusammengebunden –, ein andermal trug Mrs Oliver ihr Haar plötzlich madonnenhaft gewellt oder tauchte mit Unmengen von leicht zerzausten Locken auf. An diesem Abend probierte sie Ponyfransen aus.

Sie begrüßte Poirot, den sie anlässlich eines literarischen Dinners kennengelernt hatte, mit einer angenehmen Bassstimme.

»Superintendent Battle kennen Sie ja sicherlich«, sagte Mr Shaitana.

Ein großer, vierschrötiger Mann mit hölzernem Gesicht trat näher. Bei seinem Anblick bekam man jedoch nicht nur das Gefühl, er sei aus Holz geschnitzt, Superintendent Battle gelang es außerdem, den Eindruck zu vermitteln, besagtes Holz stamme von einem Schlachtschiff.

Superintendent Battle galt als Scotland Yards bester Mann. Er wirkte stets behäbig und recht einfältig.

»Ich kenne Monsieur Poirot«, sagte er.

Sein hölzernes Gesicht verzog sich kurz zu einem Lächeln, dann kehrte die gewohnte Ausdruckslosigkeit in seine Miene zurück.

»Colonel Race«, fuhr Mr Shaitana fort.

Begegnet war Poirot Colonel Race noch nie, doch er wusste von ihm. Race war ein dunkelhaariger, attraktiver, tiefgebräunter Mann von fünfzig Jahren, der für gewöhnlich in einem abgelegenen Vorposten des Empire anzutreffen war – insbesondere, wenn die Zeichen dort auf Sturm standen. »Secret Service« klingt melodramatisch, beschreibt dem Laien aber ziemlich genau Art und Umfang von Colonel Race’ Aktivitäten.

Mittlerweile hatte Poirot die Quintessenz der humoristischen Absichten seines Gastgebers erkannt und wusste sie zu schätzen.

»Die anderen Gäste kommen etwas später«, sagte Mr Shaitana. »Vielleicht meine Schuld. Ich glaube, ich habe ihnen Viertel nach acht gesagt.«

Doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Butler meldete:

»Dr. Roberts.«

Der Mann, der angerauscht kam, als träte er eiligen Schrittes an ein Krankenlager, wirkte wie eine Parodie seiner selbst. Er war eine gutgelaunte Person mittleren Alters mit frischer Gesichtsfarbe, kleinen glitzernden Augen, dem Ansatz einer Glatze, einer Neigung zur Körperfülle und dem allgemeinen Habitus eines sauber geschrubbten und desinfizierten Arztes. Er trat freundlich und selbstsicher auf. Man hatte das Gefühl, seine Diagnose würde korrekt sein, seine Behandlung angenehm und pragmatisch – »während der Genesung vielleicht ein Gläschen Sekt«. Ein Mann von Welt!

»Ich hoffe, ich komme nicht zu spät«, sagte Dr. Roberts leutselig.

Er schüttelte dem Gastgeber die Hand und wurde den anderen vorgestellt. Besonders erfreut schien er, Battle kennenzulernen.

»Sie sind doch eine der großen Nummern bei Scotland Yard, oder? Das ist ja interessant! Sie haben sicher keine Lust zu fachsimpeln, aber ich warne Sie, ich werde es versuchen. Hab mich schon immer für Verbrechen interessiert. Vielleicht keine gute Angewohnheit für einen Arzt. Darf ich meinen nervenschwachen Patienten gar nicht erzählen – hahaha!«

Erneut öffnete sich die Tür.

»Mrs Lorrimer.«

Mrs Lorrimer war eine gutgekleidete Dame von sechzig Jahren. Sie hatte feingeschnittene Züge, wunderschön frisierte graue Haare und eine klare, schneidende Stimme.

»Ich hoffe, ich habe mich nicht verspätet«, sagte sie und ging auf den Gastgeber zu.

Dann wandte sie sich um und begrüßte Dr. Roberts, den sie bereits kannte.

Der Butler meldete:

»Major Despard.«

Major Despard war ein großer, schlanker, attraktiver Mann, dessen Gesicht von einer Narbe auf der Schläfe leicht verunziert wurde. Als die Vorstellungsrunde abgeschlossen war, zog es ihn naturgemäß an Colonel Race’ Seite, und schon bald unterhielten sich die beiden über Sport und tauschten Safari-Erfahrungen aus.

Die Tür öffnete sich ein letztes Mal, und der Butler meldete:

»Miss Meredith.«

Eine junge Frau Anfang zwanzig trat in den Raum. Sie war mittelgroß und hübsch. Ihre großen grauen Augen standen weit auseinander, und dichte braune Locken fielen ihr in den Nacken. Ihr Gesicht war gepudert, aber nicht geschminkt. Mit langsamer, recht schüchterner Stimme sagte sie:

»Oje, bin ich die Letzte?«

Mr Shaitana wartete ihr mit einem Sherry und einem blumigen Kompliment auf. Seine Art der Vorstellung war förmlich, fast schon feierlich.

Miss Meredith blieb, an ihrem Sherry nippend, neben Poirot stehen.

»Unser Freund ist peinlich korrekt«, sagte Poirot lächelnd.

Die junge Frau stimmte ihm zu.

»Ich weiß. Heutzutage verzichten die meisten eher auf eine Vorstellung. Sie sagen einfach: ›Ich nehme an, Sie kennen die Anwesenden‹, und lassen es dabei bewenden.«

»Egal, ob es stimmt oder nicht?«

»Egal, ob es stimmt oder nicht. Es bringt einen manchmal in Verlegenheit, aber das hier ist, finde ich, noch einschüchternder.«

Sie zögerte, dann fragte sie:

»Ist das Mrs Oliver, die Schriftstellerin?«

In diesem Augenblick erhob Mrs Oliver, die sich mit Dr. Roberts unterhielt, dröhnend ihre Bassstimme:

»Sie können die weibliche Intuition nicht einfach wegdiskutieren. Frauen wissen so etwas.«

Sie vergaß, dass sie Ponyfransen trug, und versuchte vergeblich, sich das Haar aus der Stirn zu streichen.

»Das ist Mrs Oliver«, sagte Poirot.

»Die Die Leiche in der Bibliothek geschrieben hat?«

»Genau die.«

Miss Meredith runzelte die Stirn.

»Und dieser hölzern wirkende Mann – ein Superintendent, hat Mr Shaitana gesagt?«

»Von Scotland Yard.«

»Und Sie?«

»Und ich?«

»Ich weiß alles über Sie, Monsieur Poirot. Sie waren es, der die ABC-Morde wirklich aufgeklärt hat.«

»Mademoiselle, Sie versetzen mich in die stürmischste Verlegenheit.«

Miss Meredith zog die Brauen erneut zusammen.

»Mr Shaitana«, hob sie an, stockte dann jedoch. »Mr Shaitana …«

»Man könnte sagen«, erwiderte Poirot leise, »er habe eine ›verbrecherische Gesinnung‹. Es sieht jedenfalls ganz so aus. Zweifellos möchte er, dass wir uns in die Wolle kriegen. Er stachelt bereits Mrs Oliver und Dr. Roberts gegeneinander auf. Im Augenblick unterhalten sie sich über nicht nachweisbare Gifte.«

Miss Meredith hielt kurz die Luft an und sagte dann:

»Was für ein seltsamer Mann.«

»Dr. Roberts?«

»Nein, Mr Shaitana.«

Sie erschauerte und fuhr fort:

»Er hat immer etwas leicht Beängstigendes an sich, finde ich. Man weiß nie, was er gerade als amüsant empfindet. Es könnte – es könnte auch durchaus etwas Grausames sein.«

»Wie zum Beispiel die Fuchsjagd, eh?«

Miss Meredith warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

»Ich meinte – ach, etwas Orientalisches!«

»Vielleicht peinigen ihn seine Gedanken«, murmelte Poirot bei sich.

»Wen peinigt er?«

»Nein, nein, ich hatte gesagt, ihn peinigen seine Gedanken.«

»Ich glaube, ich mag ihn nicht so fürchterlich gern«, vertraute Miss Meredith ihm, die Stimme senkend, an.

»Aber das Abendessen werden Sie mögen«, versicherte Poirot ihr. »Er hat eine fabelhafte Köchin.«

Sie sah ihn zweifelnd an, dann lachte sie.

»Also«, rief sie, »ich glaube, Sie sind wirklich ein ganz normaler Mensch.«

»Sicher bin ich ein ganz normaler Mensch.«

»Diese ganzen Berühmtheiten hier«, sagte Miss Meredith, »sind nämlich ziemlich einschüchternd.«

»Mademoiselle, Sie sollten sich nicht einschüchtern lassen – Sie sollten Feuer und Flamme sein! Sie sollten Ihr Autogrammalbum und Ihren Füllfederhalter bereithalten.«

»Na gut, aber ich interessiere mich nicht übermäßig für Kriminalfälle. Ich glaube, Frauen haben dafür einfach nichts übrig: Es sind die Männer, die Detektivgeschichten lesen.«

Hercule Poirot seufzte affektiert.

»Ach ja!«, murmelte er. »Was gäbe ich nicht darum, in diesem Augenblick wenigstens ein Sternchen unter den Filmstars zu sein.«

Der Butler stieß die Tür auf.

»Das Abendessen ist angerichtet«, nuschelte er.

Poirots Vorhersage war absolut korrekt gewesen. Das Essen war köstlich und wurde perfekt serviert. Gedämpftes Licht, poliertes Holz, der blaue Schimmer irischen Kristalls. In dem Halbdunkel wirkte Mr Shaitana am Kopf des Tisches dämonischer denn je.

Charmant entschuldigte er sich für das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen.

Mrs Lorrimer saß zu seiner Rechten, Mrs Oliver zu seiner Linken, Miss Meredith zwischen Superintendent Battle und Major Despard, Poirot zwischen Mrs Lorrimer und Dr. Roberts.

Letzterer flüsterte Poirot flachsend zu:

»Wir werden nicht zulassen, dass Sie das einzige hübsche Mädchen den ganzen Abend über mit Beschlag belegen. Ihr Franzosen, ihr fackelt doch nicht lange, stimmt’s?«

»Eigentlich bin ich Belgier«, murmelte Poirot.

»Ich schätze mal, wenn’s um Frauen geht, ist das gehupft wie gesprungen, mein Bürschchen«, sagte der Arzt vergnügt.

Dann hörte er auf mit der Frotzelei, schlug einen professionellen Ton an und begann, sich mit Colonel Race auf seiner anderen Seite über die jüngsten Entwicklungen bei der Behandlung der Schlafkrankheit zu unterhalten.

Mrs Lorrimer wandte sich Poirot zu und brachte die neuesten Theaterinszenierungen zur Sprache. Ihr Urteil war vernünftig, ihre Kritik treffend. Dann kamen sie auf Bücher zu sprechen, dann auf die Weltpolitik. Er stellte fest, dass sie eine gutinformierte und absolut intelligente Frau war.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches fragte Mrs Oliver Major Despard soeben, ob er irgendwelche unbekannten, ausgefallenen Gifte kenne.

»Nun, da wäre Kurare.«

»Vieux jeu, mein Lieber. Das wurde schon x-mal benutzt. Ich meine etwas wirklich Neues.«

Major Despard erwiderte trocken:

»Primitive Stämme sind ziemlich altmodisch. Die halten sich an das gute alte Zeugs, das schon ihre Großväter und Urgroßväter benutzt haben.«

»Wie langweilig«, sagte Mrs Oliver. »Ich hätte gedacht, die würden beim Zerstoßen von irgendwelchen Kräutern und so ständig herumexperimentieren. Was für eine Gelegenheit für Forscher, denke ich immer. Die könnten einfach nach Hause zurückkehren und ihre reichen alten Onkel mit irgendeinem neuen Mittelchen, von dem noch nie jemand etwas gehört hat, abmurksen.«

»Dafür sollten sie nicht in die Wildnis, sondern in die Zivilisation gehen«, sagte Despard. »Zum Beispiel in die modernen Labore. Da findet man Kulturen von harmlos aussehenden Bakterien, die mir nichts, dir nichts echte Krankheiten verursachen.«

»Das wäre nichts für meine Leser«, entgegnete Mrs Oliver. »Und außerdem kann man sich da sehr leicht mit den Namen vertun: Staphylokokken und Streptokokken und dieses ganze Zeug – ungemein schwierig für meine Sekretärin und obendrein noch ziemlich langweilig, finden Sie nicht? Was meinen Sie, Superintendent Battle?«

»Im richtigen Leben machen sich die Leute nicht die Mühe, allzu raffiniert vorzugehen, Mrs Oliver«, antwortete Battle. »Normalerweise halten sie sich an Arsen, weil es wirkungsvoll und leicht zu beschaffen ist.«

»Unsinn«, sagte Mrs Oliver. »Das hat lediglich damit zu tun, dass Sie bei Scotland Yard viele Verbrechen überhaupt nie aufklären. Wenn Sie dort eine Frau hätten …«

»Wir haben dort tatsächlich …«

»Ja, diese furchtbaren Polizistinnen mit ihren komischen Hüten, die die Leute in den Parks belästigen! Ich meine eine Frau an der Spitze. Frauen verstehen nämlich etwas von Verbrechen.«

»Kriminelle Frauen sind für gewöhnlich äußerst effektiv«, sagte Superintendent Battle. »Behalten einen kühlen Kopf. Es ist erstaunlich, wie unverfroren sie sich immer aus allem herauswinden.«

Mr Shaitana lachte leise.

»Gift ist die Waffe der Frauen«, sagte er. »Es gibt sicher eine Menge Giftmörderinnen, denen man nie auf die Schliche gekommen ist.«

»Natürlich«, sagte Mrs Oliver vergnügt und nahm sich eine üppige Portion mousse de foie gras.

»Auch einem Arzt bieten sich gute Gelegenheiten«, fuhr Mr Shaitana nachdenklich fort.

»Einspruch«, rief Dr. Roberts. »Wenn wir unsere Patienten vergiften, dann rein aus Versehen.« Er lachte herzhaft.

»Wenn ich jedoch einen Mord verüben wollte …«, spann Mr Shaitana seinen Gedanken fort.

Er hielt inne – eine Pause, die die anderen aufmerken ließ.

Alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Ich glaube, ich würde es ganz einfach halten. Es passieren doch ständig Unfälle – zum Beispiel ein Jagdunfall oder irgendein Haushaltsunfall.«

Dann zuckte er mit den Achseln und ergriff sein Weinglas.

»Aber wer bin ich schon, solche Dinge zu sagen, wo hier derart viele Experten versammelt sind …«

Er trank. Das Kerzenlicht warf den rötlichen Schimmer des Weins auf das Gesicht mit dem gezwirbelten Schnurrbart, dem kleinen Knebelbart, den phantastischen Augenbrauen …

Einen Augenblick herrschte Stille.

Dann sagte Mrs Oliver:

»Ist es zwanzig vor oder zwanzig nach? Ein Engel zieht vorüber … Meine Füße sind nicht überkreuzt – es muss ein schwarzer Engel sein!«

3Eine Partie Bridge

I

Als die Gesellschaft in den Salon zurückkehrte, stand dort ein Bridgetisch. Es wurde Kaffee serviert.

»Wer spielt Bridge?«, fragte Mr Shaitana. »Mrs Lorrimer, das weiß ich. Und Dr. Roberts. Spielen Sie, Miss Meredith?«

»Ja. Allerdings nicht so fürchterlich gut.«

»Ausgezeichnet. Und Major Despard? Gut. Wie wär’s, wenn Sie vier hier spielen?«

»Gott sei Dank geht es jetzt mit dem Bridge los«, flüsterte Mrs Lorrimer Poirot zu. »Ich bin eine der passioniertesten Bridgespielerinnen aller Zeiten. Und es wird immer schlimmer. Mittlerweile weigere ich mich einfach, zu einem Abendessen zu gehen, wenn danach nicht Bridge gespielt wird! Dann schlafe ich nämlich ein. Es ist mir regelrecht peinlich, aber so ist es nun mal.«

Sie hoben ab, um die Spielpartner zu bestimmen. Mrs Lorrimer spielte mit Anne Meredith gegen Major Despard und Dr. Roberts.

»Frauen gegen Männer«, sagte Mrs Lorrimer, während sie Platz nahm, und begann, routiniert die Karten zu mischen. »Die blauen Karten, meinen Sie nicht, Partnerin? Ich spiele starkes Zwei-in-Farbe.«

»Sehen Sie zu, dass Sie gewinnen«, sagte Mrs Oliver, deren feministische Gesinnung sich wieder regte. »Zeigen Sie den Männern, dass nicht immer alles nach ihrem Willen geht.«

»Die haben doch nicht die geringste Chance, die Ärmsten«, sagte Dr. Roberts vergnügt, während er das zweite Spiel mischte. »Ich glaube, Sie geben, Mrs Lorrimer.«

Major Despard nahm Platz. Er sah Anne Meredith an, als hätte er soeben erst bemerkt, dass sie auffallend hübsch war.

»Heben Sie bitte ab«, sagte Mrs Lorrimer ungeduldig. Er zuckte zusammen und hob die Karten, die sie ihm hingeschoben hatte, mit einer entschuldigenden Geste ab.

Mit geübter Hand begann Mrs Lorrimer auszuteilen.

»Nebenan ist noch ein Bridgetisch«, sagte Mr Shaitana.

Er ging zu einer zweiten Tür, und die anderen vier folgten ihm in ein kleines, gemütlich eingerichtetes Raucherzimmer, in dem ein weiterer Bridgetisch bereitstand.

»Einer von uns kann nicht mitspielen«, sagte Colonel Race.

Mr Shaitana schüttelte den Kopf.

»Ich mache nicht mit«, sagte er. »Bridge gehört nicht zu den Spielen, die mich amüsieren.«

Die anderen beteuerten, sie könnten genauso gut aussetzen, doch da er ihr Angebot entschieden ablehnte, nahmen sie schließlich Platz. Poirot und Mrs Oliver gegen Battle und Race.

Mr Shaitana sah ihnen ein Weilchen zu, lächelte mephistophelisch, als er merkte, mit welchem Blatt Mrs Oliver zwei Sans-Atout ansagte, und kehrte lautlos in den Salon zurück.

Dort war man mittlerweile vollkommen ins Spiel vertieft – die Gesichter waren ernst, die Gebote kamen zügig. »Ein Cœur.« »Passe.« »Drei Treff.« »Drei Pik.« »Vier Karo.« »Kontra.« »Vier Cœur.«

Mr Shaitana blieb einen Augenblick stehen und sah ihnen, in sich hineinlächelnd, zu.

Dann durchquerte er den Salon und setzte sich in einen Ohrensessel vor dem Kamin. Ein Tablett mit Getränken war hereingebracht worden und stand auf einem Beistelltisch. Auf den Kristallstöpseln funkelte der Widerschein des Feuers.

Mr Shaitana, von jeher ein Beleuchtungskünstler, hatte die Illusion erzeugt, als würde der ganze Raum lediglich durch das Kaminfeuer erhellt. Eine kleine Schirmlampe an seiner Seite spendete ihm auf Wunsch genügend Licht zum Lesen. Dezente Leuchten schufen eine gedämpfte Atmosphäre. Ein etwas stärkeres Licht schien auf den Bridgetisch, von wo weiterhin monotone Ausrufe ertönten.

»Ein Sans-Atout«, klar und entschieden – Mrs Lorrimer.

»Drei Cœur«, ein aggressiver Unterton in der Stimme – Dr. Roberts.

»Kein Gebot«, eine leise Stimme – Anne Meredith.

Wie immer eine kurze Pause, bevor Major Despards Stimme ertönte. Er war nicht unbedingt ein langsamer Denker, als vielmehr jemand, der sich seiner Sache gern sicher war, ehe er den Mund auftat.

»Vier Cœur.«

»Kontra.«

Mr Shaitana, das Gesicht vom flackernden Kaminfeuer beschienen, lächelte.

Er konnte überhaupt nicht aufhören zu lächeln. Seine Lider zuckten ein wenig …

Seine Gesellschaft amüsierte ihn.

II

»Fünf Karo. Spiel und Rubber«, sagte Colonel Race. Dann zu Poirot: »Alle Achtung, Partner. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie es schaffen würden. Glück gehabt, dass sie kein Pik angegriffen haben.«

»Hätte wohl auch nicht viel geändert«, sagte Superintendent Battle, ein sanfter, großherziger Mensch.

Er hatte Pik gereizt. Seine Partnerin, Mrs Oliver, hatte ein Pik gehabt, doch »irgendetwas hatte ihr gesagt«, ein Treff anzugreifen – mit katastrophalen Folgen.

Colonel Race sah auf die Uhr.

»Zehn nach zwölf. Noch eine Runde?«

»Mich entschuldigen Sie bitte«, sagte Superintendent Battle. »Aber ich gehöre zu denen, die mit den Hühnern zu Bett gehen.«

»Ich auch«, erklärte Hercule Poirot.

»Dann sollten wir zusammenzählen«, sagte Race.

Das Ergebnis der fünf Rubber war ein überwältigender Sieg des männlichen Geschlechts. Mrs Oliver hatte drei Pfund und sieben Shilling an die drei anderen verloren. Der größte Gewinner war Colonel Race.

Mrs Oliver war zwar eine schlechte Bridgespielerin, aber eine gute Verliererin. Fröhlich beglich sie ihre Schulden.

»Heute Abend lief bei mir aber auch alles schief«, sagte sie. »Manchmal ist das so. Gestern hatte ich die herrlichsten Karten. Dreimal hintereinander hundertfünfzig Honneurs-Prämie.«

Sie erhob sich, nahm ihr besticktes Abendtäschchen und konnte es sich gerade noch rechtzeitig verkneifen, sich das Haar aus der Stirn zu streichen.

»Ich schätze mal, unser Gastgeber ist nebenan«, sagte sie.

Sie ging durch die Verbindungstür, und die anderen folgten ihr.

Mr Shaitana saß in seinem Sessel vor dem Kamin. Die Bridgespieler waren in ihr Spiel vertieft.

»Fünf Treff kontriert«, sagte Mrs Lorrimer mit ihrer kühlen, schneidenden Stimme.

»Fünf Sans-Atout.«

»Fünf Sans-Atout kontriert.«

Mrs Oliver trat an den Bridgetisch. Das versprach, ein spannendes Spiel zu werden.

Superintendent Battle gesellte sich zu ihr.

Colonel Race ging zu Mr Shaitana hinüber, Poirot folgte ihm.

»Muss mich auf die Socken machen, Shaitana«, sagte Race.

Mr Shaitana antwortete nicht. Sein Kopf war nach vorne gefallen, er schien zu schlafen. Race warf Poirot einen kurzen, seltsamen Blick zu und trat etwas näher an den Sessel heran. Plötzlich stieß er einen erstickten Schrei aus und beugte sich vor. Poirot war augenblicklich neben ihm und sah, worauf Colonel Race deutete – auf etwas, was ein besonders kunstvoll verzierter Frackknopf hätte sein können, es jedoch nicht war …

Poirot beugte sich vor, nahm eine von Mr Shaitanas Händen und ließ sie wieder fallen. Er begegnete Race’ fragendem Blick und nickte. Colonel Race erhob die Stimme.

»Superintendent Battle, auf ein Wort.«

Der Superintendent ging zu ihnen hinüber. Mrs Oliver sah weiterhin bei dem kontrierten Fünf-Sans-Atout-Spiel zu.

Obwohl er behäbig wirkte, war Superintendent Battle äußerst reaktionsschnell. Seine Augenbrauen gingen sofort in die Höhe, und als er bei ihnen war, fragte er leise:

»Stimmt etwas nicht?«

Mit einem Nicken deutete Colonel Race auf die reglose Gestalt im Sessel.

Während sich Battle hinabbeugte, blickte Poirot nachdenklich auf den Ausschnitt von Mr Shaitanas Gesicht, den er sehen konnte. Mit dem geöffneten Mund wirkte es jetzt ziemlich einfältig – der diabolische Ausdruck war komplett verschwunden …

Hercule Poirot schüttelte den Kopf.

Superintendent Battle richtete sich auf. Er hatte den Gegenstand, der wie ein Extraknopf an Mr Shaitanas Hemd aussah, ohne ihn zu berühren, untersucht – es war kein Extraknopf. Er hatte die schlaffe Hand angehoben und wieder fallen gelassen.

Jetzt stand er da, emotionslos, kompetent, soldatisch – bereit, die Sache in die Hand zu nehmen.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, sagte er.

Seine erhobene Stimme klang hochoffiziell, ganz anders als bisher, weshalb sich ihm alle Köpfe am Bridgetisch zuwandten, während Anne Merediths Hand über einem Pik-Ass des Dummys verharrte.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen«, sagte er, »dass unser Gastgeber, Mr Shaitana, tot ist.«

Mrs Lorrimer und Dr. Roberts erhoben sich. Despard starrte stirnrunzelnd vor sich hin. Anne Meredith hielt kurz die Luft an.

»Mensch, sind Sie sich sicher?«

Dr. Roberts, dessen professionelle Instinkte geweckt waren, durchmaß den Salon mit den schwungvollen Schritten eines Arztes, der an das Bett eines Sterbenden eilt.

Allein durch seine massige Gestalt verstellte Superintendent Battle ihm wie aus Versehen den Weg.

»Einen Augenblick, Dr. Roberts. Könnten Sie mir erst einmal sagen, wer diesen Raum heute Abend betreten und verlassen hat?«

Roberts starrte ihn an.

»Betreten und verlassen? Ich verstehe Sie nicht. Niemand.«

Der Superintendent ließ den Blick wandern.

»Stimmt das, Mrs Lorrimer?«

»Absolut.«

»Weder der Butler noch einer der anderen Bediensteten?«

»Genau. Als wir uns an den Bridgetisch gesetzt haben, brachte der Butler dieses Tablett da herein. Danach ist er nicht mehr aufgetaucht.«

Superintendent Battle sah Despard an.

Despard nickte zustimmend.

Anne sagte einigermaßen atemlos:

»Ja – ja, das stimmt.«

»Mensch, was soll denn das alles?«, fragte Roberts ungeduldig. »Lassen Sie ihn mich doch einfach untersuchen, vielleicht ist es lediglich ein Ohnmachtsanfall.«

»Es ist kein Ohnmachtsanfall, und es tut mir sehr leid, aber bis der zuständige Amtsarzt hier eintrifft, wird ihn niemand berühren. Meine Damen und Herren, Mr Shaitana wurde ermordet.«

»Ermordet?« Ein entsetztes, ungläubiges Aufstöhnen von Anne.

Ein starrer, ein sehr starrer, leerer Blick von Despard.

Ein scharfes, schneidendes »Ermordet?« von Mrs Lorrimer.

Ein »Allmächtiger!« von Dr. Roberts.

Superintendent Battle nickte bedächtig. Er sah aus wie ein chinesischer Porzellanmandarin. Sein Gesicht wirkte völlig ausdruckslos.

»Erstochen«, sagte er. »So ist es. Erstochen.«

Dann schoss er eine Frage ab:

»Hat jemand von Ihnen im Laufe des Abends den Bridgetisch verlassen?«

Er sah vier Gesichter, vier entgleitende, unschlüssige Mienen. Er sah Angst, Verständnis, Entrüstung, Bestürzung, Entsetzen, aber etwas wirklich Hilfreiches sah er nicht.

»Also?«

Es entstand eine Pause, dann sagte Major Despard – der aufgestanden war und jetzt, das schmale, intelligente Gesicht Battle zugewandt, dastand wie ein Soldat bei einer Parade – leise:

»Ich glaube, jeder von uns ist irgendwann vom Bridgetisch aufgestanden, entweder um sich einen Drink zu holen oder um Holz im Kamin nachzulegen. Ich habe beides getan. Als ich zum Kamin ging, schlief Shaitana in seinem Sessel.«

»Er schlief?«

»Ja, so schien es mir.«

»Vielleicht schlief er«, sagte Battle. »Oder er war bereits tot. Damit werden wir uns gleich befassen. Ich möchte Sie jetzt bitten, sich in den Nebenraum zu begeben.« Er wandte sich an die schweigsame Gestalt neben sich: »Colonel Race, vielleicht begleiten Sie die Herrschaften?«

Ein kurzes Nicken des Einverständnisses.

»In Ordnung, Superintendent.«

Die vier Bridgespieler schritten langsam durch die Tür.

Mrs Oliver setzte sich am anderen Ende des Raumes in einen Sessel und begann leise zu schluchzen.

Battle griff zum Telefonhörer und sprach in die Muschel. Dann sagte er:

»Die örtliche Polizei kommt sofort. Auf Anweisung von oben werde ich den Fall übernehmen. Der zuständige Amtsarzt wird augenblicklich hier sein. Was meinen Sie, wie lange er bereits tot ist, Monsieur Poirot? Ich würde sagen, weit über eine Stunde.«

»Das sehe ich auch so. Schade, dass man es nicht genauer weiß, dass man nicht sagen kann: ›Dieser Mann ist seit einer Stunde, fünfundzwanzig Minuten und vierzig Sekunden tot.‹«

Battle nickte abwesend.

»Er saß direkt vor dem Kamin. Das macht schon einen kleinen Unterschied. Über eine Stunde, aber nicht mehr als zweieinhalb – das wird unser Arzt sagen, darauf möchte ich wetten. Und niemand hat etwas gehört, und niemand hat etwas gesehen. Erstaunlich! Was für ein verzweifeltes Wagnis. Schließlich hätte er schreien können.«

»Hat er aber nicht. Das Glück blieb dem Mörder treu. Wie Sie gerade sagten, mon ami, es war eine absolute Verzweiflungstat.«

»Irgendeine Idee, Monsieur Poirot, was das Motiv sein könnte? Irgendetwas in der Richtung?«

Bedächtig erwiderte Poirot:

»Ja, dazu kann ich etwas beisteuern. Sagen Sie, hat Ihnen Mr Shaitana, hat er Ihnen gar keinen Hinweis darauf gegeben, was für eine Art von Gesellschaft Sie heute Abend hier erwarten würde?«

Superintendent Battle sah ihn neugierig an.

»Nein, Monsieur Poirot. Er hat kein Wort gesagt. Wieso?«

Von weitem hörte man eine Klingel schellen und einen Türklopfer anschlagen.

»Das sind unsere Leute«, sagte Superintendent Battle. »Ich gehe und lasse sie herein. Ihre Geschichte hören wir uns gleich an. Erst einmal müssen die Routinearbeiten erledigt werden.«

Poirot nickte.

Battle verließ den Raum.

Mrs Oliver schluchzte noch immer.

Poirot ging zum Bridgetisch hinüber. Ohne etwas zu berühren, studierte er die Spielzettel. Ein- oder zweimal schüttelte er den Kopf.

»Dieser kleine Dummkopf! Oh, dieser kleine Dummkopf«, murmelte Hercule Poirot. »Sich als Teufel zu verkleiden und zu versuchen, den Leuten Angst einzujagen. Quel enfantillage!«