Mitgift - Ulrike Draesner - E-Book

Mitgift E-Book

Ulrike Draesner

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Beschreibung

Draesners hellsichtiger Roman über das vergiftete Erbe der binären Ordnung und das Recht, Diversität zu leben – nun endlich wieder lieferbar

Nicht einfach, eine Schwester zu sein, wenn die andere so schön ist, so leuchtend, so geheimnisvoll. Auf Anita und Aloe Böhm liegt ein Familiengeheimnis. Im Deutschland der 90er-Jahre weiß niemand damit umzugehen: Anita, die Jüngere, wurde als Intersex geboren. Mit Operationen und Hormonen versuchte man, ihre wahre Körpergeschichte zu tilgen und vor ihr und der Schwester zu verheimlichen. Erst als Studentin stellt Aloe sich den Fragen, die Anitas rigide Einpassung auch für sie, die »Normale« aufwerfen: Was bedeutet es, eine Frau zu sein? Biologisch? Und sozial? Sie beginnt, auf radikale Weise mit der Formbarkeit ihres eigenen Körpers zu experimentieren. Anita wiederum, verheiratet mit einem älteren Mann, versucht wieder zum Intersex zu werden. Endlich gelingt es den Schwestern, sich zu verbünden. Doch bei ihrem letzten Schritt unterschätzen sie die irrationalen Kräfte der Konvention.

Ulrike Draesner brillanter Roman »Mitgift«, erstmals 2002 erschienen, erzählt vom vergifteten Erbe der binären Ordnung und dem Recht auf Diversität. Das Werk, bei seinem Erscheinen der gesellschaftlichen Entwicklung weit voraus, liegt nun in einer von der Autorin dem heutigen Sprachgebrauch angepassten Neuauflage vor.

Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024 für Draesners Gesamtwerk: »Ulrike Draesners Werke halten – mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein – literarische Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest; sie bezeugen dadurch die verwandelnde Kraft der Literatur.« (aus der Begründung der Jury)

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Seitenzahl: 491

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Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Preis der LiteraTour Nord, dem Bayerischen Buchpreis, dem Deutschen Preis für Nature Writing sowie mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds. Draesner, seit 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, lebt in Berlin. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Mitgift in der Presse:

»Einer der intelligentesten Romane dieser Jahre.« NZZ

»Ulrike Draesner zeigt sich in ihrem zweiten Roman als Meisterin der Perspektiven und Blickwechsel.« FAZ

»Diese Mitgift ist ein glänzender moderner Gesellschaftsroman, der Sujet und Figuren mit dem Zeitgeist der 90er-Jahre aktuell vernetzt.« Deutschlandfunk

Außerdem von Ulrike Draesner lieferbar:

Die Verwandelten

hell & hörig

doggerland

Schwitters

Kanalschwimmer

Eine Frau wird älter

Mein Hiddensee

subsong

Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Heimliche Helden

Vorliebe

berührte orte

Schöne Frauen lesen

Spiele

für die nacht geheuerte zellen

gedächtnisschleifen

www.penguin-verlag.de

Ulrike Draesner

Mitgift

Roman

Überarbeitete NeuausgabeMit einem Nachwort von Berit Glanz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Autorin dankt der Stiftung Niedersachsen und der Stiftung Kulturfonds für die Förderung der Arbeit an diesem Buch.

Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Covermotiv: © shutterstock/Jezper

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31170-4V001

www.penguin-verlag.de

Bleibt, an der Stelle des Herzens, ein Hunger.

1

Fliegen

Sie wollen es haben, kalt und schön steht es auf dem Tisch, unter der dicken Schokoglasur, auf der das Kokosfett glänzt. Aloe hat das Rezept noch gewusst, Kalter Hund, Butterkeks, Blockschokolade und Palmin. Wie es knackt, wenn man hineinschneidet, die Gabeln ragen in die Luft, die Gäste strecken die Finger, ihre Augen funkeln dunkelblau, lila und grün. Da ist kaum mehr Luft zwischen dem Kuchen und den Gabeln, nein, es sind Löffel, bunte Löffel; viel Luft ist nur unterm Tisch, denn kein einziger Fuß berührt den Boden, obwohl alle Stühle besetzt sind, alle fünfzehn Stühle um den ausgezogenen Tisch. Die bunten Schuhe, Nike-Sneakers und Salamander-Luftkissen, baumeln an halblangen Beinen, ein Löffel fällt auf den Teppich. Sie schreien nicht mehr so laut wie zuvor, wuseln, kauen und werfen die Augen schon auf das nächste Stück des kurz gewordenen Kuchens, auf den Teller des Nachbarn; nach Ungestüm riechen sie, ihre Sprache kommt hell und laut. Die Kerzen sind, wie um zu ihrer Aufregung zu passen, dünn und kurz, das Zimmer heiß, die Luftballons werden gleich platzen, da passiert es schon, die Gäste johlen. Dicke Fettkrümel kleben am Mund, eine der sieben Kerzen fällt vom Kuchen, »Stefan, pusten«, da rennt er herbei, die kurzen blonden Haare zu einem Schopf über der Stirn zusammengeschoben, wie immer, wenn er aufgewühlt ist, und pumpt die geröteten Wangen auf. Alle schauen, strampeln und klopfen, Limonade sprudelt in den Gläsern, und da spritzen die Flammen auf, so bläst er, und eine Kerze fällt in die Sahneschale, das rote Wachs fließt aus, ein pfennigrunder Fleck im Weiß.

Butterkeks, Kokosfett und Kakao; letzte Woche haben sie vorgekostet, keine Frage – das haben die anderen noch nie gesehen. Das neue Stück zerkrümelt, Splitter fliegen zur Seite, Aloe ist zufrieden: So muss es sein. Schon sind auch die Splitter weg, von kurzen Fingern vom Tischtuch gelesen. Der Geräuschpegel steigt, die Hälfte ist bereits wieder von den Plätzen gestürmt, einer kriecht unterm Tisch, dunkelblauer Cordhosenhintern, eine kreischt. Zwei Mädchen, zwei von vierzehn, sieben Jahre, vierzehn Gäste, in Ordnung, hat Aloe ihrem Stefan gesagt. Zwei Mädchen, und natürlich ausgerechnet dort, neben den Beinen in Pippi-Langstrumpf-Leggings, musste einer auf den Boden. Mühsam haben sie Platzkarten gemalt, Aloe und Stefan, vorgestern Abend, sich eine Sitzordnung ausgedacht, an die sich niemand hält, Stühle werden gerückt. Aloe grinst und schneidet weiter den Kuchen an, Stefan muss sein drittes Stück essen, schon ist es weg – unglaublich, wie Kinderwangen sich ausbeulen können. Benno trinkt ein Glas Milch, er trägt seine neue, rote Brille eigens für Stefan, der das cool findet, cool, und sein bester Freund tippt auf seinem roten Pokémongerät oder wie das inzwischen heißt. Hanna hat ihre Nägel lackiert, bunt, Kaugummis, Knallfrösche, ein Kindergeburtstag im April – viel Industrie, die Natur fällt als Spielplatz noch immer halb aus.

Den Vogel schießt Stefan ab, Ehrensache, diesmal wirklich, da steht es, mitten in der Wohnung, nur der Kuchen, der gewaltig geschrumpfte (Aloe hat einen zweiten im Kühlschrank), hat kurz abgelenkt – von dem weißsilbern strahlenden Shuttle. Hermes ist in blauen Buchstaben aufgedruckt, wie gepinselt, superschön, findet Stefan und kriecht hinein, richtig wie eine Rakete, wie eine im Fernsehen, ragt es hier in den Raum, nur real, herausfordernd und kühl, geräumig genug zum Drinsitzen, notfalls auch zu zweit, mit Hanna allemal.

Der Nachbarsjunge zieht sich die Hosen hoch – die einhändige Männergeste, mit der er es macht, dabei ist er erst sechs, seine Nase läuft, das merkt er nicht. Hamburger in der Küche, davor die letzte Spielerunde, Aloe reißt das Fenster auf, kühle Luft strömt herein.

Meist sagt er »Aloe« zu ihr, und es wird Zeit, ihm die Geschichte zu erzählen.

Am Abend isst sie das letzte Stück Kalter Hund. Stefan liegt im Bett, fix und fertig, mit einem Riesenbauch. Topfschlagen und Überraschungstüten abgreifen, die Gewinne müssen sich sehen lassen, die Gäste hatten genaue Vorstellungen davon, was sie wollten, und Aloe hat sich angestrengt. Jetzt ist auch sie fertig, und es ist still in ihrer Wohnung, fünf Stockwerke über der Stadt, die Schreie der Kinder hängen noch in der Luft, Krümel liegen auf dem Teppich, einmal als Mädchen hatte Aloe eine Weile nackt auf dem Teppich sitzen müssen, ohne Krümel, ihre Mutter hatte die hilflosesten Vorstellungen von Erziehung gehabt und sie im Wohnzimmer eingesperrt, »schäm dich«, und außen an der Glasfüllung der Tür war Anita hochgewachsen wie eine Pflanze, schattig und beweglich, und hatte Grimassen gezogen. Ihre Schwester Anita. Sie streift sich die Hose ab, hakt den BH auf, ruft Frank an, er weiß nicht, dass sie nackt auf dem Bett sitzt, und sie sagt es ihm nicht. Morgen Abend kommt er, über Nacht. Als sie sich das Nachthemd über den Kopf zieht, blitzen ihre Brüste im Spiegel auf, rund und weiß. Sie löscht das Licht.

Im Halbtraum erscheint ihr eine Frau unter Wasser, in einem tiefen, leuchtenden Blau, wissend lächelt sie Aloe an, geradezu liebevoll, und immer pocht Aloes Herz an dieser Stelle so sehr. Seltsam luzide, energisch, formvollendet der Körper der Schwimmerin im Blau. Anita. Gelegentlich fragt Stefan nach ihr, und es wird Zeit, ihm auch das zu erzählen, was er noch nicht weiß. Oder soll sie schweigen, wie ihre Eltern vor fast vierzig Jahren schwiegen über Anita und darüber, wer sie »wirklich« war oder gewesen wäre. Was machte es mit ihm, wenn sie es ihm sagte? Und was, wenn sie es weiterhin versteckte?

Aloe steht wieder auf. Sie kann die Lichter draußen sehen, die Spitzen einiger Bäume, Dächer. Es ist still, sie friert, die Heizung schaltet über Nacht automatisch ab. Sie schlängelt sich in den Kimono, den Erika, ihre Tante, ihr vor Kurzem aus Japan geschickt hat. Noch mit dem Gürtel beschäftigt, geht Aloe hinüber in ihren living room, weil sie das Hauptzimmer so nennt, living room. Als lebte man dort besonders stark. Es riecht ein bisschen wie an Weihnachten, wenn man als Kind am Morgen des ersten Feiertages zum Tannenbaum und den Geschenken schleicht, während alles noch schläft. Sie braucht die Stehleuchte nicht anzuschalten, um das Shuttle zu sehen. Den halben Tag hat Stefan in dem hellen Raketenkopf gesessen. Er wollte wissen, wie man »Hermes-Shuttle« ausspricht, und sie hat es ihm gesagt.

Was »Hermes« bedeutet, hat er nicht gefragt.

Sie denkt daran.

Ob Stefan mehr ahnt, als sie annimmt? Er ist noch ein Kind, also ein Mensch mit begrenzter Sehnsucht. Welch unsinniger Gedanke. Kinder wirken vielleicht so, weil sie, was sie ersehnen, nicht sagen können. Sie brauchen sichtbare Dinge dafür. Also wollte er ein Shuttle. Ein richtiges, großes, mit dem man zum Mond fliegt – zum Hineinkriechen, im living room.

Und wenn er vor ihr steht, mit der Hitze seines Körpers, seinem kindlich eifrigen Puls, mit Trauer und Lust, und diesem Spannungsmix in den Augen aus Wissen und Neugier, was macht sie, wenn er sie ansieht, als wisse er, was sie nicht sagen kann, eine Mischung aus Erregung und Sehnsucht im Blick, was macht sie, wenn er wieder sagt: Erzähl mir von ihr.

Sie sackte in die Lehne zurück, ihre Knie drückten in den Rücken des Vordermannes. Flugzeuge wurden auch jedes Jahr enger. Es roch nach Kaffee und Fertigfood, über den Lautsprecher knisterten die üblichen Ansagen. Aloe versuchte, die Zeitung aufzuschlagen, stieß an den ausgefahrenen Ellbogen ihres Sitznachbarn. Foto des Jahrhunderts titelte die Woche und zeigte Armstrongs Schuhabdruck im Mond. Zart gekrümmte Kämme über tiefen Tälern – alles schien bis in die letzte Pore eingefangen zu sein: jedes Sandkorn, die Riffelung eines Stiefels, Schuhgröße 52 mindestens, ja, selbst das Erstaunen des Bodens über diesen ungewohnten, allerersten Tritt, festgehalten im Bild. Wahrscheinlich war es gefälscht, das nahm inzwischen jeder an bei jedem Bild, aufgenommen nach dem ersten Schritt des Astronauten, egal, es verblüffte Aloe erneut: wie weich der Mond aussah, wie weich.

Wahllos hatte sie beim Einsteigen nach der Zeitung gegriffen und noch auf den Namen der Maschine geschielt, der im Schlitz zwischen den gefältelten Gummilippen der Gangway und der Einstiegsluke zu sehen war. Auf der Heckflosse tanzte ein Mädchen mit roten Herzaugen und grünem Shirt. Sie rollten zur Startbahn. Aloes Nachbar, ein Dreißigjähriger im Anzug mit pinkgelbgestreifter Krawatte, schob seinen Aktenkoffer unter den Vordersitz, da stoppte die Boeing abrupt. Drei Sprühgeräte, metallische Megaspinnen, torkelten wie betrunken heran und überstäubten die Maschine mit rosa Salzsauce. Es war Ende März und schneeig kalt. In dicken Schlieren floss der Schaum am Fenster herab, unmittelbar vor Aloes Gesicht.

Endlich fuhr der Pilot die Motoren hoch – klappt es, klappt es nicht –, endlich die Kraft, die einen in den Sessel drückt, sich dann zurückzieht, ein dezentes Tier, nicht unbedingt geheuer, das sich für den Rest der Reise damit begnügt, an den Passagierohren zu knabbern, please remain seated, um sich, kurz vor Ende, fasten your seat belts, dank eines Luftloches erneut in Erinnerung zu bringen. Mitten im schönsten Absacken, zwischen dem Dröhnen der Turbinen, ist ein zartes Schmirgeln, ein Reiben, ein verdammt schadenfrohes, freudiges Jaulen zu hören. Sie faltete die Zeitung zusammen, »…don Heathrow, fourteen degrees celsius, thank you for choosing Br…«, der Lautsprecher knisterte, »hope to see you again soon«. Aloes Sitznachbar schlief, sie nahm sich zwei Schokoladenherzen aus dem Korb der Stewardess, seines auch.

»Hope to see you again soon.« Jetzt kam sie bitte erst einmal an. Die Zeitung flappte wie ein Eselsohr über den Rand ihrer Tasche, als Aloe sich leicht benommen in der faltigen Nabelschnur voranhakte, die das Flugzeug mit der Abfertigungshalle verband. Dendriten wucherten aus, Transporterproteine flogen an. Heathrow, ein überdimensioniertes Zellmodell aus Plastik. Blutaustausch. Sich an Lukas lehnen, auftanken – bald.

Die Sonne schien, der Tower blitzte. Der Mensch stürze aus einer ovalen Fruchtkapsel auf die Welt, hatte Lukas gesagt, krieche, laufe, kauere sich in Stahlkapseln, beschleunige, hebe ab, aus dem Wasser über die Erde in die Luft, bald Richtung Sonne, hatte Lukas gesagt, als sei es das Selbstverständlichste: Masse 1,989 × 1030 kg, Radius 696 000 km, Oberflächentemperatur 5785 K, 15 × 106 K im Kern und die Corona Millionen Grad heiß. Sonnenfinsternis im August in drei Jahren, hatte Lukas, Physiker, Kontaktlinsenträger, Raumfahrer, begeistert gewusst und am Telefon vor ein paar Tagen endlich gemeint: »Natürlich, komm.« Sie hatte, so das Reisebüro, das letzte Ticket für diesen Flug gebucht. So ging es zwischen ihnen: zackige Bewegungen. Keine Planung, keine Zukunftsideen. Es war ihr recht, dachte sie, als sie die Gepäckhalle betrat.

Aloe in England. Tatsächlich wechselte der Gummibelag. Alles sanft und gleitend, fragile freight, handle with care.

An der vordersten, lang nicht mehr gestrichenen Säule zwischen den schäbiggrauen Gepäckbandschleifen hing das Uralttelefon. Schwer, schwarz, irreal. Sie hob den Hörer ab. Wahrscheinlich würde sie so lange hierherreisen, bis es einmal klingelte, während sie an ihm vorbeiging. Am Ende waren es diese geheimen, mit niemandem geteilten Spielchen, an denen man sich erkannte, dachte Aloe.

Die Zolltüren vor ihr glitten auf und gaben den Blick frei auf ein Plakat an der gegenüberliegenden Wand. Werbung für den Sommer: eine attraktive Frau unter Wasser; oder Werbung für Taucherbrillen, denn was die Frau trug, war gelb und grün und riesengroß. Das helle kräftige Blau des Wassers, ein ernstes junges Gesicht. Der Körper überaus weiblich, wenn auch keine Claudia-Schiffer-Brüste, dazu die trainierten Arme, Schultern, Beine. Jede Linie erinnerte Aloe an Anita, obwohl sie keineswegs an Anita erinnert sein wollte, die nun also offensichtlich sogar für internationale Agenturen modelte? Aber nein, das war nicht ihre Schwester, das war ein Sehfehler. Aloe telefonierte nur selten mit ihren Eltern in Schwandt, aber vom Modelerfolg der Jüngsten erzählte Ingrid jedes Mal.

Ein Wirbel bunter Schildchen empfing Aloe, Mrs Yoe Ken Min, Mr Hutchinson from Sidney, gedruckte TUI-Sternenkränze oder Agence-française-Wimpel, turbantragende Sikhs, Augenbrauenpunks, eine Afrikanerin, die sich ihr Baby über den Kopf hielt, »flight BA 746 from Munich, 5.15 pm, arrived« – nur Lukas war nicht da.

Nicht, dass sie überpünktlich gelandet wären. Nicht, dass Aloe wahnsinnig schnell durchgekommen wäre. Lukas’ Problem mit der Zeit. Nicht, dass das etwas Neues gewesen wäre. Trotzdem ärgerte es sie. Dass sie sich hatte herlocken lassen.

Aloe setzte sich auf eine der Drahtflechtbänke vor den Schiebetüren zum Straßentunnel; von dort aus konnte sie kein Plakat sehen, keines, und packte den Laptop aus.

Lukas, Astrophysiker, maß Zeit nicht in Verabredungen, sondern in kosmischen Proportionen. Das Universum war ein Sack. Säcke bestanden aus Gewebe, Gewebe hatten Löcher. Die Frage war, wo die Löcher hinführten und woraus sie ihrerseits bestanden. Nichts als Metaphern, sagte Lukas stirnrunzelnd. Die innere Musik von Zahlen erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Der Sack war natürlich nicht drei- oder vierdimensional, er hatte n Dimensionen. Vorstellen konnte man sich das nicht, in Formeln erdenken durchaus. Die innere Musik der Zahlen stand, so Lukas, für Schönheit und Ruhm. Erster Anlauf: Betrachten wir das Universum als einen Sack voller Planeten und Kugeln, umrankt von Geräusch. Voller Löcher, schwarz; voller Sterne wie Milch. Manchmal tippte Lukas Sternenmuster mit dem Zeigefinger auf Aloes Brust, manchmal schrieb er ihren Namen mit den Zehen und lächelte Lächeln Nummer zwei: eine Mischung aus Clownerie und Verlegenheit. Er konnte seine Lächeln wählen wie Kleidungsstücke aus einem reich gefüllten Schrank. Das verschmitzte Grinsen, das Runde-Augen-Wunder-Lachen, das verschwörerische. Aloe liebte Nummer sechs, das ihn aussehen ließ wie einen Jungen aus einem Roman von Mark Twain.

Er brachte ihr bei, dass »und« und »oder« logisch zusammengehören. Menschenlogisch nicht, sagte sie, womit sie sich täuschte. Das war ihr halb bewusst, sie hätte es allerdings keinesfalls zugegeben, allemal nicht vor Lukas, der kaum etwas von Anita wusste, und auch von ihr, Aloe, nicht allzu viel, obwohl sie schon länger zusammen waren. Zurzeit lebte Lukas weit weg von Aloe. Sie hätte sich fragen können, warum sie sich so jemanden gesucht hatte. Man konnte es auch übertreiben mit der Fragerei. Es gefiel ihr besser, sich stattdessen als arme Verlassene zu fühlen.

Ein befriedigender Zustand. Sie empfand ihn besonders stark, wenn sie mit Lukas telefonierte oder ihm Briefe schrieb. Befriedigend dramatisch.

Wenn sie für sich war, hatte sie dieses Gefühl nicht. Aloe lebte seit ein paar Monaten wieder in Deutschland. Lukas würde im Juni nachkommen, wenn auch sein letztes Semester in Oxford zu Ende ging. Dort hatten sie den Großteil ihrer gemeinsamen Zeit verbracht, zwei Jahre; es war wunderbar und ein wenig traurig zugleich, nun für vierzehn Tage zurückzukehren.

Ein Hund pisste gegen einen Koffer, der nicht so aussah, als bliebe er lange an diesem Platz. Die Taxifahrer, die durchaus so aussahen, standen vor ihren leeren Wagen, winkten Aloe, verbeugten sich, sangen im Chor: Wir heitern die Traurigen auf, bestärken die Verzagten – wir sind das Letzte, was sich von selbst versteht. Das zumindest tippte sie in ihren Laptop. Als sie aufschaute, pisste der Hund gegen den Koffer. Selber Koffer, anderer Hund.

»Tut mir leid, wartest du schon lange?«

Er war keineswegs außer Atem. Jedenfalls nicht so, wie er es wenigstens durch Rennen der letzten 200 Meter hätte simulieren können.

»Da bist du ja«, sagte Lukas zufrieden. Er stand ihr gegenüber und grinste. Auch sie musste lächeln, konnte es gar nicht verhindern. Da war sie also.

Hand in Hand gingen sie Richtung Bushaltestelle. Kurz drehte Aloe sich noch einmal um, halb aus Versehen, halb um zu kontrollieren, ob sie auch nichts vergessen hatte. Die Frau auf dem Plakat, die Frau im Wasser schien ihr zuzuzwinkern – ein flinker Blick im Vorübergehen, eine Täuschung, ein Bild.

Aloe schämte sich, weil sie sich so freute, als der Bus über die Brücke auf Magdalen College zufuhr, die sandsteinwarmen Türme, die kriechenden Oxforder Straßen, die grüngoldenen, im Wind klimpernden Schilder der Läden. Selbst die uniformierten, stets glatt rasierten Porters lächelten ihr zu, hello, my dear, als sie über die hohe Schwelle durch den engen, nach Mäusen riechenden Einstieg ins College kroch, da im rissig-grauen, hölzernen Tor aus dem 15. Jahrhundert prinzipiell nur das Schlupftürchen geöffnet wurde. In der Lodge ragten Umschläge aus den Brieffächern, ein Mädchen drückte sich in die einzig windgeschützte Ecke des Torraumes, unter dem pinkfarbenen, flatternden Blatt von This Week On. Grace, die Collegekatze, geringelter Schwanz, beige-gold-dunkles Braun, wandelte über den kreisrunden Rasen des Front Quad wie ein blühender Ginsterstock.

Lukas’ Zimmer ging auf den Garten hinaus, man blickte auf das Dach der ehemaligen Squash-Courts, wo seit 1994 die Biologiestation untergebracht war. Aloe stand am bodenlangen Fenster, begrüßte die schiefe Linde, die beige gemusterte Eckbank – alles wie es gewesen war, als sie selbst im Nachbarcollege Kunstgeschichte studiert hatte und Lukas über den Weg gelaufen war. Oder er ihr.

St. John’s Mobiliar, St. John’s Bettwäsche, St. John’s Garten, blendend getoppt von den träumenden Türmen der Stadt, splendidly topped by the dreaming spires, sie grinsten über die Perfektion dieser Postkartenimitation und ihre schiefe Übersetzung, schauten sich von der Seite an. Sie telefonierten wenig, Geld war kein Heu. Aloe füllte zuhause Lagerlisten aus, tippte Versicherungsanträge, Zeit totschlagen im Büro eines Museums, das sie, »da kannst du froh sein«, aufgenommen hatte, während Lukas in der Bodleian an seiner Gleichungslogik saß.

Mengen liebten sie beide, Mengenlehre und Massendemos waren sie gewohnt. Lukas dachte dabei an Zahlen, Aloe an Körper, sie wollte über die Fotografie von Massen im 20. Jahrhundert promovieren, die zwei Wochen hier für die Recherche nutzen.

»Vera«, flüsterte Lukas an ihrem Hals, halb zog er sie, halb schob sie ihn durch den kleinen hellen Gang mit dem Waschbecken in sein Schlafeck, Höhle und Wunderkammer: ein Bett, groß wie zwei englische Kolonialreisekisten, eng nebeneinandergestellt, weich. Sie lagen nur da, schauten sich an. Wollte Lukas Aloe necken, nannte er sie Vera, von Aloe Vera, oder weil Vera »Wahrheit« heißt, und sie so wahrheitsliebend und streng …, sagte er, etwa wenn sie sich beschwerte, dass er wieder zu spät kam, was sie diesmal unterlassen hatte, damit er weiter »Alla« sagte. »Alla« gefiel ihm, in seiner perfekten Buchstabensymmetrie glich es aufs Wunderbarste einer Formel. Außerdem war der Name in Oxford praktisch, die Engländer konnten ihn aussprechen. Vor dem Fenster, an das Lukas ein eigens für Aloe ausgeliehenes Tischchen gerückt hatte, waberten ein paar fransige Wolken vor Himmelsblau. Nacheinander begannen die Oxforder Türme mit ihrem change ringing, und Aloe grinste noch danach wie ein Honigkuchenpferd. Einmal hatte sie bei einer Probestunde mitgemacht, man suchte ständig neue Studierende, die die Seile bedienten. Im Kreis stand man unter den aus dem Dachstuhl hängenden Zügen der einzelnen Glocken. Auf Befehl des Dirigenten sprang jeder an sein Seil – und beugte und streckte sich daran für eine halbe Stunde, als nähme er an einem bizarren Aerobic-Programm teil. Die Musik war als Choreografie notiert; der Dirigent dirigierte Arme, die an den Seilen in die Höhe griffen, daran zogen, rhythmisch ausschwangen. Takt und Reihenfolge zu halten, bedurfte vieler Übungsstunden und genauer Einfühlung in die Schwingungsträgheit der Glocken, und ehe ein Lämmchen mit dem Schwanz geschlagen hatte – englische Redewendung –, hatte Aloe sich damals im Labyrinth der Melodievarianten verirrt. Am besten war es gewesen, am Ende rotgeschwitzt im Turm zu stehen und dem Nachvibrieren der Glocken mit dem gesamten Körper zu lauschen.

Leise und zart, fröhlich, alt und neu zugleich hallten auch jetzt die Lieder über den Park – nicht gegen, sondern wundersamerweise miteinander.

Aloe nahm Lukas in die Arme und strich ihm übers Gesicht. Er hörte wie sie auf das Läuten, und Aloe fragte sich, ob er an die Ablehnung seines Promotionsstipendiums dachte. Dabei war er selbst daran schuld – hatte die Antragsfrist verpasst. Die Oxforder Bürokratie machte keine Ausnahme, nicht einmal für ihn. Im letzten Sommer waren sie beide mit dem Studium fertig geworden; Lukas hatte ein Sonderstipendium für eine einjährige Forschungsreihe bewilligt bekommen, weswegen Aloe allein nach Deutschland zurückgekehrt war. Ihr schien es richtig, dort das Geld für die Promotion selbst zu verdienen. Dass sie nun hier war, sollte Lukas Appetit auf die sogenannte Heimkehr machen – schließlich wollten sie dann zusammenziehen. Die beiden Wochen waren als eine Art Probelauf gedacht. Bislang hatten sie nur hier in Oxford zusammengelebt, jeder mit einem eigenen Zimmer in seinem College, das Privatheit und Zuflucht gewährte. Einen Test brauchte es, Aloe hatte darauf bestanden. Vielleicht hatte sie es auch gesagt, um Lukas zuvorzukommen, sollte er einen Test für nötig halten. Aloe war dreißig. Sie fand, dass es nahelag, an eine gemeinsame Wohnung zu denken. Und in ein paar Jahren vielleicht an eine Familie.

Die hall war voller kurzer schwarzer Talare. In drei langen Doppelreihen saßen die Studierenden auf Holzbänken, lärmten an Holztischen, bestellten Wein unter den Augen der ebenfalls in schwarze, allerdings lange gowns gehüllten Dons am High Table, die wirklich eine Stufe höher saßen, wahrscheinlich, damit man nicht so genau sah, um wie vieles besser die ihnen servierten Speisen waren (weit genug vorn roch man es). Dort, mitten unter den anderen students, zwischen braunen, schwarzen, rötlichen, blassen, sommersprossigen, runden, eckigen, kahlen, pickligen, stoppligen, puppigen, gepuderten, schweißigen Gesichtern, zwischen genauso vielen Englisch-Varianten wie Mündern, musste Aloe schreien, um sich überhaupt verständlich zu machen. Lukas saß ihr gegenüber, toothsome, handsome, chewing. Schon kam das Tischgebet benedictae domine nos, unverständliches englisches Latein, schmeichelnder Klang. Spätestens, wenn du etwas isst, weißt du, wo du bist.

»Was glaubst du, was für Nächte ich hier habe«, rief Lukas, als sie müde und satt die enge, nach Putzmittel riechende Treppe zu seinem studio wieder hinaufstiegen. Unten hing eine Tafel mit Namensschildchen, die man mit einem lauten Klacken auf in oder out schieben konnte. Lukas hatte seines auf out gelassen.

Aloe fixierte den Bleistiftstummel auf seinem blitzblanken Schreibtisch, der der Sitzecke gegenüberstand. Lucky Luke lehnte an der Fensterbank und beschwerte sich über Oxford. Das war nett gemeint. »Der Feueralarm, Alla. Jede Woche mindestens einmal, immer nachts, das gesamte College raus. Und wieder hat einer von diesen ständig bekifften, besoffenen oder verpennten Freshmen die Muffins im Toaster anbrennen lassen.« Er gab sich verzweifelt: »Alarmsystem hypersensitive, Beispiel für kollektive Angst.«

Aloe zog die linke Augenbraue hoch, die, die sich gern allein bewegte. Warum erzählte er das? Da er ihr sein einziges Glas gegeben hatte, nippte er jetzt bei ihr, schmeckte nach und nahm einen zweiten Schluck. Das tiefe Rot des Portweins glänzte und sah fast wie etwas Lebendiges aus, umschlossen von Lukas’ Hand.

»Und erst das Duschproblem, Alla.«

Alle Duschen Gemeinschaftsduschen, alle Duschen bold and straight an der Wand in Kopfhöhe eingedübelt, bombenfest, und das Wasser zum Abgewöhnen kalt.

»Wie in den Staaten, und weißt du, warum?«

Wusste sie nicht.

»Schau dir die Kloformen an.«

»Wo?«

»In den Staaten.«

»Jetzt bin ich hier.«

»Sechs Monate, ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.«

Sie standen voreinander, umarmten sich.

»Puritanismus pur«, sagte Lukas. »Bloß nichts zu Gesicht bekommen. Von creature comfort reden, dabei die Duschen so in die Wand rammen, dass man die Duschköpfe niemals runterkriegt …«

»… runter«, sagte sie, »zu den lower parts.«

Womit sie Lukas provozieren wollte, so zurückhaltend wie er heute war. Sie ärgerte sich. Flog sie extra her »… You are quite a sight«, mehr hatte er nicht gesagt, sie nicht anders als flüchtig geküsst. Jetzt starrte er ihre dunkelgrünen, neuen Strümpfe an, be on my side, bee in my site – ihr Kopf summte, und nicht nur er. Aloe, Opossum: anschmiegsam, schauspielerisch talentiert, frisch. Lukas lag auf dem Rücken, auf seinem Bett. Ihre Brüste sloping within her nightdress as a shegoat’s udder in Magdalen Gardens. Ah, die Bilder im Kopf passten sich dem Ort schon an. Irgendein Vers. Wirklich jetzt: Ihre Brüste glitten unterm Nachthemd wie das Euter einer Ziege im Garten von Magdalen? Das Attraktivste an ihrem Busen waren die großzügigen braunrosa Höfe ihrer Warzen, gemalt wie auf dem Waldnymphenbild von Delvaux. Als sie an das Tischchen stieß, wachte Lukas’ Notebook auf, Unterwasserranken, Fische, strahlendes Bildschirmschonerblau. Tiefseefische erzeugen spezielle Leuchtstoffe am Bauch oder in den Rückenflossen, um sich gegenseitig zu erkennen. »Galatheathauma«, hatte Lukas gesagt, »Laternenfisch«. Aloe saß auf ihrem englischen Freund, vertraut und fremd, schaute in das Blau. Ein leuchtend rotgelber Anglerfisch verschwand hinter einer Pflanzenranke, sie schaute in Blauorange, heftig und jäh stöhnte Lukas auf, oder war das ihre Stimme, ihr Ich? Das Bett, das nicht für zwei gedacht war, knarzte nicht sonderlich laut.

Mit dem Kopf auf ihrer Brust war Lukas eingeschlafen, vorsichtig schob Aloe ihn zur Seite. Durch den Fensterspalt zog ein Schwall frischer Luft, der nach englischem Rasen roch und nach fünfhundert Jahren Tee mit Milch. Das College wurde nachts abgeschlossen, allein durch ein Drehgitter, das auf einen vierstelligen Code reagierte, der sich glorios durcheinanderbringen ließ, insbesondere nach sieben Pint Bier, kam man noch rein. Ein paar Studenten rüttelten daran, bestimmt kamen sie vom Nachbarcollege Keble. Vorm Fenster trieben helle, flockige Wolken, auf einem Ast der Linde saß eine Möwe. Sie musste von der Isis gekommen sein, so hieß hier die Themse; die Engländer hatten sich ihre akademische Ochsenfurt über Isis, die altägyptische Göttin, gelegt. Die Möwe schaute Aloe an und flog weg.

Lukas lag da und schlief. An manchen Tagen fand Aloe es eigenartig, dass ein anderer Mensch ein Herz haben sollte wie sie. Auch die Möwe hatte ein Herz. Und falls die Möwe ein Nest hatte, lagen darin Eier, und in jedem der Eier schlug ebenfalls ein Herz. Ein roter, mehrsträngiger Muskel. Der also schlug auch bei Lukas unter den Rippen, das Erste, was man im Ultraschall von einem Fötus sieht. Nach drei Wochen bereits zu erkennen, pulste rasend schnell, sogar Aristoteles habe das bereits notiert, nach Studien an Hühnereiern, und dafür auf Griechisch den Ausdruck »das ist der springende Punkt« geprägt, so Anita vor ein paar Wochen bei einer ihrer seltenen Begegnungen. Genau, so etwas lerne man im Jurastudium, hatte ihre Schwester gesagt: Lebensbestimmung – wann fängt es an, wann hört es auf.

Es liegt nahe, Gott in seiner Unteilbarkeit als Kommunikation zu begreifen, dachte Aloe der weggeflogenen Möwe hinterher. Kommunikation, irgendwo dort oben in der Tiefenschichtung des Raums. Der Himmel über der Linde war simpel schwarz.

Das brachte nichts. Auch ohne weitere Kommunikation wusste Aloe, warum sie nicht schlief. Ihr Magen knurrte, ihr Magen tat weh. Seit Wochen aß sie wenig, um wieder abzunehmen, was sie bei der Arbeit an der Dissertation zugelegt hatte. Das Buffet, das vor ihrem inneren Auge erschien, duftete umso verlockender, und wie von selbst glitt sie zurück in den Herbstnachmittag hier in Oxford vor mehr als zwei Jahren, zu dem es gehörte. Ein aus Harvard angereister Professor hatte unter dem Titel »Methode und Wanderung« einen Vortrag zu Vogelflug und seinen griechischen Deutern gehalten bis hin zu den »Nomaden der Moderne«, die auf Flugplätzen lebten. Aloe war mit anderem ausgewähltem Wissenschaftsnachwuchs unter einem knisternden Lautsprecher draußen vor den Scheiben des holzgetäfelten, mit Inkunabeln tapezierten Bibliotheksraumes gesessen, die Knie an die kalte Abtrennung gedrückt. Briten hatten ganz andere Kältegene als Festlandsmenschen. Man hockte bereits eng gedrängt, als sich noch ein Spätkommer mit auf die Bank quetschte. So hatte sie Lukas kennengelernt, »auf Tuchfühlung«. Am Buffet hatten sie sich gegenseitig die besten Häppchen gezeigt, Lukas erzählte von seiner Arbeit, Aloe von ihrer, ihr Herz hatte gepocht, sie bekam kaum einen Bissen hinunter. Als Astrophysiker arbeitete Lukas mit der Realität. Seine Daten stammten aus wirklichen, sogenannt »handfesten«, wenn auch tatsächlich ungreifbaren Vorkommnissen – man maß Licht oder von soliden Objekten wie Sonden oder Satelliten zurückgelegte Wege. Es ging um Konstellationen, Verhältnisse, Wechselwirkungen. Da allerdings wurden die Daten weicher. Er hatte sie aufmerksam angesehen: »Da fangen die Fantasien an.«

Wer in den Weltraum schaute, sah Vergangenheit. Die Strahlung mancher Himmelskörper brauchte Millionen Jahre zur Erde. Sprich: Kam sie an, sah man den Stern nicht in seiner heutigen Gestalt, sondern als das, was er vor Millionen Jahren gewesen war. Von der Sonne zur Erde ging es in acht Minuten – acht Minuten vor der menschlichen Wirklichkeit her taumelte das Zentralgestirn von Ost nach West. Lukas korrigierte: 499 Sekunden. Er wollte im Universum an einen Punkt blicken, wo man durch so viel Vergangenheit gefallen war, dass die Zukunft bereits sichtbar wurde. Billionstelsekunden vor dem Urknall.

Das sollte begreifen, wer wollte. Schon der Urknall war nichts als eine Hypothese, obwohl sich die von Hubble 1929 entdeckte Hintergrundstrahlung perfekt als sein Nachhall verstehen ließ.

Aloe hatte an die Mäuse gedacht, die sie im Scientific American gesehen hatte. Jedem der Tiere war ein einzelnes menschliches Ohr aus dem Rücken gewachsen. Perfekt.

»Und für welches Ohr soll der Urknall gewesen sein?«

»Für unsere heute«, sagte Lukas, eine bessere Antwort hätten sie nicht.

Er gab zu, dass man die angeblich festen Daten in eine Form drückte und abwartete, welche Figur am Ende dabei herauskam. Ging es gut, war das Modell etwas wie die Wachsfigur beim Bronzeguss, die man als Zwischenglied verwendete. Sie wurde ausgeschmolzen, also zerstört, damit die Statue entstand.

Aloe hatte genickt. Damit kannte sie sich als Kunsthistorikerin aus. Mit jemandem wie Lukas nicht. Er strahlte ein Nachglühen aus, eine ungewöhnliche Hintergrundspannung, die Erregung einer Zeit, die bereits vergangen war oder noch kommen würde.

Nur die Haare standen nicht ab, wie es zum Typus des schrägen, eben dadurch liebenswerten Wissenschaftlers gepasst hätte. Nichts zu machen, kein Einstein-Wolken-Wuchs um Lukas’ Denkerhaupt. Braunschwarze Locken, dicht und kurz. Schmierte er sich Gel hinein, sah er wie ein typischer junger Mann dieser Jahre aus, vollmundig, halb rasiert, Boss-Sakko und kurzärmliges weißes Versace-Hemd.

So jedenfalls war er zwei Tage nach der ersten Begegnung vor Aloes Tür gestanden, um sie ins Kino abzuholen. Aloe erzählte ihm, dass sie ein Sofa kaufen wolle, um von ihrer Aufgeregtheit abzulenken. Sie sprachen über Sofaformen, Sofafarben. Aloe trug ihr burgunderfarbenes RIO-T-Shirt. Der Umweltgipfel in Rio war bereits vor einiger Zeit gescheitert. Das Wetter machte dennoch Spaß, wenn auch weniger. Männer, die ihr sowieso auf die Brüste starrten, flüsterten ihr jetzt unterm Deckshirt der politischen Korrektheit »Rio, oh Rio« nach. Niemand wusste, was sie damit meinten, political correct wurde gerade importiert, virtual reality kam per Telefonsex in Altmans Film Short Cuts an: »virtual is a virgin before« erzählte die hey-honey-come-on-Sexblonde ihrer Freundin, während sie das Baby wickelte; Lukas und sie hatten sich amüsiert.

Untergehakt waren sie nach der Vorstellung im dunkelgelben Schein der englischen Straßenlaternen über die High Street geschlendert, die, solange die Pubs geöffnet waren, leer und verlassen dalag. Von einem Benetton-Werbeplakat linste das rote Auge einer ölverklebten Ente auf ölverklebtem Wasser. Aloe sagte »shit«. Sie hatten sich zum Abschied geküsst, nun ging Lukas weg, ohne sich nach ihr umzudrehen. Als habe er seine Tage und könne deswegen nicht.

Am Abend darauf hatte Aloe Patrizia am Arm gepackt, ihre kluge Freundin Patrizia, die über Codes kulinarischer Verführung in der deutschen Novellistik und amerikanischen Short Story des 19. Jahrhunderts promovierte. Sie kauften eine Tüte salziges Popcorn, die sie bereits vor dem Pub aßen. Grundlage schaffen. Patrizia entblößte ihren hellrosa Mund; wenn sie lachte, sah man das Zahnfleisch ihrer oberen Zahnreihe. Das Popcorn knackte. »Das All ist leer«, sagte Patrizia. »Und das hat er sich ausgesucht. Oder worüber habt ihr euch unterhalten?«

Aloe murmelte etwas von Urknall, Daten etc.

»Allen Ernstes?« Patrizia lachte. »Dem weinst du keine Träne nach. Nicht mal ne faksimilierte.«

Diese Anspielung auf Gottfried Kellers Missbrauchte Liebesbriefe hörte Aloe nicht zum ersten Mal. Patrizia benutzte sie, um abgrundtiefe Verachtung auszudrücken. Bei Keller zwang ein Mann seine Frau, ihm feurige Liebesbriefe zu schreiben, um sie für sein literarisches Werk auszuschlachten. Die Frau, völlig überfordert, schrieb die Liebesbriefe ihres Mannes ab, gab sie als eigene dem Nachbarn weiter, der sie glühend erwiderte, was die Frau wiederum abschrieb und ihrem Mann schickte. Alles wurde aufgehoben und faksimiliert, samt künstlich darauf geweinter Tränen, die aus Salzwasserflecken bestanden.

Das Beispiel entsprach Patrizias Bild von Beziehungen. Sie glaubte an Ironie, Intimität und Perversion. In dieser Reihenfolge. Ihre Heldin hieß Donna Haraway, Patrizia hatte den gesamten post- und cyberfeministischen Jargon slick und dick am Leib.

»… Fixierung auf Bisexualität und Erlösungsgeschichten, dem würd ich was …«

»… bis er sabbernd, gefangen in der Retrophase der Adoration, vor dir kriecht«, ergänzte Aloe, die schon einiges gelernt hatte.

Patrizia kicherte, allerdings nur, bis sie am Boden der Popcorntüte einen toten Käfer entdeckte. Das konnte in England schon mal passieren. Aloe beobachtete, wie ihre Freundin nach kurzem Zögern weiteraß, als wäre nichts. Sie machte es ebenso. Das war man sich schuldig, zumindest in Gesellschaft einer Frau, die begeistert verkündete, Hygiene sollte durch stress management, Sex durch genetic engineering und Reproduktion durch Replikation ersetzt werden. Patrizia erzählte die Liebesbrief-Geschichte weiter: Der Betrug fliegt auf, das Ehepaar lässt sich scheiden, der Mann gerät an eine alte geldgeile Jungfer – da werde die misogyne Tradition abgefeiert, so Patrizia, während die tugendhafte Ehefrau dem Nachbarn ein paar Proben stellt, denn auch der muss sich erst vom Schwärmer zum Realisten entwickeln, bevor man ihn küssen und sicher sein kann, dass es nicht nebenher zehn andere tun. Immer dasselbe.

Aloe war nicht gern mit anderen Deutschen zusammen in Oxford. Patrizia bildete bislang die einzige Ausnahme. Sie war sich nicht sicher, was an der Freundin sie anzog. Die eine Spezialistin für Bilder, die andere für Texte. Am liebsten gingen sie nach dem 18-Uhr-Pub ins Kino, dort kamen Texte und Bilder sich nahe und veränderten sich zugleich so, dass man sie nicht wiedererkannte, nur ein bisschen.

Short Cuts, second go. Aloe wollte testen, ob ihr der Film auch ohne Lukas gefiel.

Patrizia hatte es leicht. An ihren langen Beinen »klebten Männer wie Kaugummis an Schuhen«. So Patrizias liebster Spruch. Sie litt keineswegs unter den Blicken, sie war ja nicht blöd. Im Gegenteil: zog die kürzesten Röcke an und genoss es. Aloe schaute zu. Ihr Gesicht war hübscher als Patrizias, ihre Beine sahen hässlicher aus. Es ist simpler, hübsche Beine zu haben, als ein hübsches Gesicht. Beine ziehen bei jedem. Das war Patrizias zweitliebster Spruch. Getauscht hätte Aloe nicht.

Auf der Toilette in der Filmpause fragte sie sich, ob ihre Freundin ihr Gefühl für Lukas überhaupt verstand. Patrizias süffisantes Dauerlächeln. Als Aloe in den Spiegel über den Waschbecken schaute, waren es allerdings fraglos ihre eigenen Lippen, die sich verzogen: Sie grinste ja über das ganze Gesicht.

In der Klotür rempelten zwei nach Escape duftende girls sie an. Als sie erneut im Foyer stand, benommen, wovon?, kamen in ihrem Kopf nur noch zwei Wörter vor: ja, unbedingt.

Der Film endete mit einem Erdbeben.

Die Musik dröhnte, die Lampen blendeten. Am liebsten hätte Aloe sich von einem Bungeekran, Lastturm oder wenigstens einem Pfeiler gestürzt. Sie murmelte »ciao, bella« Richtung Patrizia und stürzte zum nächsten Telefon. Lukas sagte etwas von Packen, sie achtete nicht darauf, ihr genügte sein: morgen Abend komme er. Aloe rief noch »wir essen zusammen« und hängte so panisch ein, als habe sich der Telefonhörer in einen glühenden Löffel verwandelt. Sie war froh, dass ihre Freundin sie nicht sah.

Am nächsten Morgen stand Aloe um zehn in den Oxforder Markthallen. Der Boden war glitschig, es roch intensiv nach salzigen oder süßen pies sowie frisch geschlachtetem Fleisch. Chronisch halbdämmrig und feucht; die Hallen rotteten vor sich hin. Draußen kroch und schob sich der von London anströmende Verkehr inklusive aller Doppeldeckerbusse über die enge, für Pferdekutschen gebaute High Street mit ihren neogotischen Fassaden und von Abgasen angefressenen Sandsteinen. Aloe lief zwischen Buden, Ständen, Körben und Preisschildern auf und ab, zwischen Hering- und Würstchenduft.

Die beiden Forellen, schleimiger Fisch mit silbrigen, am Rücken dunkler glänzenden Schuppen, glitten lautlos in ihre Tüte. Als sie sie in der College-Etagenküche überm Spülbecken aus dem durchweichten Zeitungspapier schlug, den Hahn aufdrehte, das klare Wasser hervorsprudeln sah, als sähe sie es zum ersten Mal – wie es auf die Fischkörper prallte und an den Schuppen zerstob –, fiel ihr endlich ein, wonach sie all die Zeit gesucht hatte: nach einer Regel für die Nacht. Aß Lukas den Fisch mit Zartgefühl, würde sie mit ihm schlafen. Sonst nicht.

Hungrig sah er aus, als er kam. Die Forellen, mit Thymian und Zitrone im eigenen Saft geschmort, schwang Aloe elegant auf einer weißen Platte auf den Tisch. Die Schwänze hingen über den Rand. Geübt riss Lukas seiner Forelle den Kopf ab. Kratzte die Haut weg. Schaute in den abgerissenen Kopf. Saugte die Bäckchen aus.

Er liebe Innereien. Schade, dass die Fische so clean seien. Die Bäckchen kämen den Innereien am nächsten. Es schmecke hervorragend, was sie gekocht habe. Ihm schmecke es besonders.

Aloe nahm nur das weiße Fleisch. Trank einen Schluck Wein. Hohl und blind lag der Kopf von Lukas’ Fisch auf dem Abfallteller. Nein, mit dem wirklich nicht.

Patrizia hatte ihr beigebracht, Männer gezielt so zu setzen, dass sie den gesamten Abend hindurch ihre Bücherwand anstarren mussten. Damit sie wussten, worauf sie sich einließen. Lukas beachtete die Bücher nicht. Aloe spürte, wie das T-Shirt mit den Papageien an ihren Brustwarzen rieb, als sie die Teller zusammenstellte. Vier Papageien zwitscherten, was für ein Radau, die Schöpfe wippten, zirpten, schrien auch, da, tief im Gebüsch: Lukas knöpfte ihre Hose auf. Gut, dachte sie eine Stunde später, ich wollte nicht mit ihm ins Bett, gut war es doch.

Die Erregungschemie, längst zerschmolzen in ihrem Gehirn, spülte durch ihre Adern. Lukas’ Hemd lag auf dem Boden, er hockte hinter ihr, griff nach ihren Brüsten, presste sie. Wie kühle, eben erst geschlüpfte Schlangen strichen ihr seine Finger zwischen Hüfte und Bauch, Bauch und Brust. Sie drehte sich, wollte ihn fangen, geschickt wich er aus. Lukas kommen lassen, dachte Aloe, sah, als sie die Augen wieder öffnete, seine Zähne blitzen. Er hockte vor ihr, packte sie an beiden Brustwarzen und atmete lauter als ihr Schrei.

Mistkerl.

Da roch etwas nach Erdbeeren. Alles hätte Aloe erwartet, das nicht. Sie hielt inne. Die Stirn, die Nase, die Wangen gegen Lukas’ Bauch gedrückt. Es konnte gar nicht nach Erdbeeren riechen. Lukas strich ihr mit der Hand über den Kopf. Als hielte er mit ihr den Atem an. Erdbeeren. Sie roch, dass er es roch, wie sie.

Gemächlich, jeden Zentimeter betonend, schob Lukas sich die Unterhose über die Pobacken und sein steifes Glied. Als er einen Augenblick lang nicht aufpasste, zog Aloe die Beine unter ihm weg und stand auf.

»Ich will einen Drink.«

»Und was?«

Lukas, nackt, ging in die Etagenküche, die Tür ließ er offen. Sie hörte, wie er den Kühlschrank öffnete. Mit Schweppes und Gin kam er zurück. Er war einen halben Kopf größer als sie, leicht gewelltes Haar, ein Mann, der etwas Weiches ausstrahlte, Typ Yoga statt Fitnessstudio. Schmaler Po, wenig Beinmuskeln, das bisschen Fahrradfahren ins Institut half da nicht, erstaunlich muskulöse Schultern, vermutlich einer, der gut schwimmen konnte, mit Zug.

Der Widerschein der Flaschen, der Gläser auf dem Tisch, Lukas’ Silhouette davor, Mulden aus Licht und Dunkelheit. Aloe stand hinter der quer in den Raum geschobenen Kommode, oben nackt, unten für Lukas unsichtbar, eine Art halbierte Frau, aus einem Gemälde geschnitten. Sie genoss die nachgiebige Kälte des Holzes unter ihren Brüsten, des Holzes, das wie sternenbeschienenes Wasser schimmerte, auch wenn von draußen Neonlicht in den Raum fiel. Ihr Mund schloss sich trocken und heftig um den Strohhalm. Lukas hatte an alles gedacht.

Auch er saugte. Aloes Körper tat weh, wollte weiter, er spielte mit, und Lukas spielte mit ihr – sie trank, Eiswürfel klimperten, nur dieses Geräusch.

Seine Zunge schmeckte wie der Drink, rollte in ihren Hals, über ihren Nacken, ihre Brüste, zwischen die Beine. Lukas kniete; es war, als flögen sie in einen Wald, gemeinsam einen frisch geschlagenen Parcours entlang, kräftige Insekten, zwischen Stämmen, dunkel und summend. Etwas polterte, Aloes Glas rollte über die Kommode, zersprang, pass auf, sagte Lukas, hielt eine Scherbe hoch, ließ sie funkeln im Licht.

Jede Berührung erzeugte elektrische Stöße, es zischte und raschelte, sie umschloss mit den Armen die Dunkelheit an der Stelle, an der sie Lukas eben losgelassen hatte. Fand seinen Kopf, der wie Pilze im Wald roch, nach Nüssen und Feuchtigkeit. Sie packte zu, biss ihn in den Hals. War es der ausgelaufene Drink?; es wurde heißer, dunkler um sie. War es Lukas?, er zog sie hinter der Kommode hervor, drängend, haarig, erregt. Sie wusste, sie stürzt, sah Lukas’ Schatten über die Flaschen huschen, hörte sich kaum. Ihr Körper drehte sich, schmolz, heulte, reizte gegen Lukas an. Als dehnten sich ihre Knochen, als entkleidete Lukas sie ihrer Haut, streckte ihr Muskeln und Sehnen – als riefe er sie »bei ihrer wahren Gestalt«.

Mit einer keuchenden Hand strich sie ihm über den Rücken, stieß ihn nach unten, atmete in der rhythmischen Hysterie ihrer Nerven und Muskeln. Es war, als flögen ihre Füße, eilten wie in einem rückwärtslaufenden Film den Weg des eigenen Schattens durch den Abend zurück, als Lukas ihr die Knie auseinanderdrückte, sich zwischen ihren Beinen auf den Boden kniete, ihren Unterkörper zu sich zog und ohne Zögern in sie drang – hinunter, hinein in dieses seidig-schnelle-zerrissene-lachend-wahnsinnige-was-auch-Immer, das sie war, oder ist, darunter, darin.

Salzige Tücher zerbröckelten, ihre Hand tastete, glitt, fasste nichts, erstickt von Fremdheit, die Augen nach unten, fiel sie in den Boden, in dunkle Leere, ein rasendes Geschoss, durch den Nullpunkt gedreht, schlang die Beine um Lukas, saugte sich fest – über sich – unter – in. Bis er kam.

Und sie.

Sie geriet in eine blättrige, fluoreszierende Welt. Als grüner Widerschein rutschte Lukas von ihr. Er floh, wurde dunkel, verfärbte sich mit jedem Schlag ihrer Lider, ein Chamäleon, aufgestört in seinem Baum. Aloe lauschte auf etwas, einen Flügelschlag, ein Echo des Waldes, in dem sie eben noch geatmet hatten. Das Grün, das sie sah, war der Widerschein der Lampe im Flur.

Lukas deckte sie mit dem Laken zu, dabei rückte er ein Stück von ihr ab. Sein Auge, im Kegel der Straßenlampe – sie vergaß es nicht: ein Reflex, ein sich beschleunigendes Flimmern, der nicht belichtete Teil eines Films. Ihr T-Shirt lag in der Mitte des Zimmers auf dem Boden, ein einsamer Haufen halb toter Papageien.

Augenblicklich war Lukas von ihr heruntergerollt. Aloe hatte wach gelegen und gewartet, ob er etwas sagen würde, er, der nichts gesagt hatte, der völlig ungeplant, fand sie, in ihrem Bett lag, eine Art Unfall doch.

Und wie hatte der Morgen nach dieser ersten Nacht ausgesehen? Als sie aufgewacht war, hatten die stinkenden Fischreste noch auf dem Tisch gestanden. Nichts da Zartgefühl etc. Rucolastiele schwammen im Schüsselöl. Eine Fliege glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen blau auf dem Tischtuch.

Halb gebeugt war Aloe im Morgenmantel in der Küche gestanden und hatte die Reste in den Abfalleimer gekratzt. Die Gräten klebten auf dem Porzellan, feine weiße Striche. Sie wusste, ohne sich umzudrehen, dass Lukas hinter ihr an der Tür lehnte. Es roch nach Müll aus dem Eimer. Lukas flüsterte, seine Eltern hätten ihn als greinendes Baby neben einem Müllhaufen gefunden. In der sauberen Schweiz. Ein Kind neben der Müllhalde. Neben weißen Porzellanfiguren, Badepuppen aus den Zwanzigern. Alle ohne Kopf, abwechselnd an den Händen oder Armen oder Beinen abgebrochen, blanke hübsche Torsi.

»Ich bin Spezialistin für Statuen«, sagte Aloe, halb scherzend. Lukas ging nicht darauf ein.

»In der Müllhalde all diese Püppchen, und ich dazwischen, in einem Weidenkorb.«

Sie glaubte es, für den Bruchteil einer Sekunde. Konnte man in so einem Moment lügen? Und wie.

»Mosessyndrom, Lukas.«

Er schaute sie an wie ein Kaninchen, dem man Kaninchenbraten vorsetzte.

»Was soll das denn sein?«

»Männer, die permanent der Einzige und Beste sein wollen.«

Er wog ein Messer in der Hand, strich mit dem Daumen über die Klinge. Eine blitzartige Erkenntnis (der will Nähe, der hält Nähe nicht aus, der lügt, damit du ihn nicht siehst) sauste an Aloe entlang. Lukas hielt sie von hinten umarmt und zog sie zum Bett zurück.

Aloe wusste, sie machten ein Bild. Die Figuren innen schwebten über dem Bett; die Figuren im Laken, Lukas und Aloe, verkrallten sich ineinander. Lukas’ Atem, sein kratzender Bart auf Aloes Brust. Die Geschichte mit dem Müllhaufen glaubte sie endgültig nicht, ein warmer Julitag zog auf, sie schloss die Augen, der Swing begann von vorn, hin und her zwischen Sehnsucht und Sättigung.

Runde zwei: So sah man an einem ersten Morgen ohne RIO-T-Shirt aus – gut und verschwitzt. Virtual is what’s really vertical. Ein logischer Satz, befand Lukas, logische Schlussfolgerung: Hätten wir nicht Hunger und Durst, blieben wir im Bett.

In der Küche roch es noch immer nach Fisch. Lukas kam tropfend aus dem Bad: wo das Shampoo sei?

Wie er dastand, nass und froh. Aloe gefiel sich an diesem Morgen, alles gefiel ihr, der Verkehrslärm, der zum geöffneten Fenster hereindrang, sackte weg, Lukas neben ihr, nackt vor ihr, um sie herum, tropfendes Glück. Und weil das Gefallen gar nicht mehr aufhörte, weil Lukas so wunderbar roch und alles richtig war, sagte sie nicht nur »das Shampoo ist aus, wie das Kaffeepulver auch«, sondern »bleib doch noch«.

Er schlug vor rauszugehen. Zusammen. Die Pubs öffneten mittags, also jetzt.

Zigarettenpackungen wurden an den Tischen als Werbegeschenke verteilt. Lukas mit nassen Haaren, Bartstoppeln, im kurzärmligen Hemd. Aloe rührte in ihrem Tee mit Milch und lächelte das Milchkännchen an. Als sie es merkte, trank sie hastig einen Schluck. Die alten Plots – er liebt sie, sie liebt seinen Kollegen, der ihre beste Freundin kennenlernt, die mit dem Typ vom Club Med etc. – gingen endlos, unverändert weiter. Bloß schroffer vielleicht, scheinbar bunter. A ist gleich A, sagte Lukas, ein Satz, den die philosophische Tradition freudig jeden Tag von Neuem an alle verschenke. Selbstidentität stimme schlechthin. Lukas, Astrophysiker und Talking-Heads-Fan, David Byrne, der Bandleader, sehe aus wie Wittgenstein, der übrigens, so Lukas (Milchkaffee in Minischlucken mehr kauend als trinkend), Füchse auf dem Boden seines Waldschulzimmers briet, in Österreich, während seiner jahrelangen Pause von der Sprachphilosophie. Lukas sprach davon, weil alles, was sich bewegte, ihn interessierte. Alles, was sich veränderte. Auch Sprache war ein Modell.

»Und was machst du in deinen Pausen?«, hatte sie gefragt.

Die Sonnenbrille versteckte Lukas’ Augen. Links neben seinem Mund erschien ein Grübchen. Die Vollkörperdarstellungen russischer Mafiabosse auf russischen Edelgrabsteinen würden wöchentlich größer, goldumrandet auf Granit prange der Turnschuh-Lederweste-Mercedesschlüsselmann, um die 35, mit dem Erfolg im Gesicht und dem Körper im Kristallsarg darunter, wie Schneewittchen, das gefalle ihm. Die Ausdehnung des Universums habe in den letzten Millionen Jahren wider Erwarten nicht abgenommen, sondern sich beschleunigt. In seinen Pausen lese er entweder Formel-1-Magazine oder schaue sich Weltraumbilder an. Pumpe man beispielsweise Flüssigkeit in die Leiche des Bosses, weiche die blaublasse Gesichtsfarbe einer elfenbeinartigen, die der der Schälchen gliche, auf denen beim Leichenschmaus direkt am Grab die Kaviarperlen lägen.

Alles Schwarze sei, in der Küche, ein Versprechen, sagte Aloe, Geschlecht ein perforativer Akt, so vor zwanzig Jahren, jetzt tobe man und sage: performativ.

Lukas nahm die Sonnenbrille ab, absichtslos lächelten sie sich für Sekunden nachgerade schüchtern an.

Allein zurück in ihrem College, war Aloe als Erstes in den Duschraum gegangen und hatte sich die Badewanne reserviert. Eine halbe Stunde später lag sie endlich darin (das Wasser lief unendlich sparsam ein). Ob etwas passiert war? Angeblich half ein heißes Bad, Sperma auszuspülen. Dafür war es ein bisschen spät. Ihr wurde heiß; dann fiel ihr ein, dass ihre Periode sowieso in zwei Tagen kommen müsste. Als sie sich abrubbelte, schnüffelte sie an ihrem Arm. Selbst nach dem Bad roch die Haut nach Lukas, roch und roch.

Auf ihrem Schreibtisch entdeckte sie einen niedrigen Stapel Postkarten. Geschenk von Lukas (was der so in der Tasche trug, zu einer Einladung zum Abendessen). Aloe schaute die Abbildungen an, ohne diesem neuen Mann den Gefallen zu tun, weiter über seine Motive nachzudenken. Eine trainierte, stark geschminkte Frau, Oberkörper in einem roten Lederbody, schwarze Weichgummistiefel bis übers Knie, Brustwarzen frei, blickte in die Kamera, als ginge es sie nichts an. Sie erledigte eine Aufgabe, kühl, geschäftstüchtig, mit der Präzision eines Insekts, das einem anderen den Hinterleib in Stücke säbelt. Weder Genuss noch Ekel spiegelten sich auf ihrem Gesicht; ihre Genitalien wirkten in ihrer exakten Geometrie fast abstrakt. Verschiedene Positionen. Die Frau gefiel Aloe. Auch sie wollte einen starken, selbstgewissen Körper. Sodass sie ein gesichertes Leben darin führen konnte, geben und nehmen, ohne sich auszusetzen. Lukas versprach ihr etwas davon. Ruhm und Intimität waren die entgegengesetzten Enden ein und derselben Idee. Aloe reagierte auf Leute, die diese Energie anzapften. Lukas, ihr Stromkabel, ihre Verbindung zur Zukunft, intelligent, ungewöhnlich, auf den Karriereweg gesetzt, den er ernst, aber nicht bitterernst zu nehmen schien. Das gefiel ihr. Auch das.

Eigentlich machte Lukas in den Pausen nichts. Gelegentlich onanierte er, wichste, holte sich einen runter, mit links, wie es ihm gefiel, vornehm und bewusst oder nebenher. Seine beiden Räume gingen nach Osten, es war dunkel, er zu gleichgültig, die Arbeitslampe anzuschalten. Auf dem Tisch, an dem er nicht aß – dafür ging er in die college hall oder die Institutskantine –, stand ein Schachbrett, Weiß leicht im Vorteil. De facto spielte er Schach im Uninetz, auf Zeit und mit realen Partnern, aber virtuell, für einen echten Punktestand. Das aus greifbarem, brennbarem Holz gefertigte Brett mit seinen Figuren war nur mehr ein Zitat, eine nostalgische Nummer. Es war da, um Fragen auszulösen, falls einmal jemand kam. Dabei kamen selten Leute hierher, Frauen traf er draußen, es ging dann »zu ihr«. Und jetzt hatte er also erneut die Müllgeschichte erzählt. Von Mal zu Mal gefiel sie ihm besser. Er spielte öfters damit, es war ein Experiment wie am Bildschirm, wenn bei der Arbeit Zahlen übereinanderglitten, eine Klammer sich öffnete – und niemand sagen konnte, ob oder wo sie sich jemals wieder schloss. Seine Mutter kam aus der Schweiz, das immerhin stimmte. Aloe hatte gar nicht so übel reagiert. Er hockte sich auf den Boden, vor den bereits gepackten Koffer. Morgen früh flog er in die USA. Fast tat es ihm leid. Die vergangenen Stunden hatten etwas in ihm berührt, der Himmel wusste, warum.

Er hätte nicht sagen können, wie lange er so dagesessen hatte, als der Bildschirm seines Computers aufflackerte. Vermutlich traf eine Nachricht aus dem Institut ein. Aldebaran erschien, mitten in seinen Nebeln und Spiralen, das rote Auge des Stiers. In den vom Bildschirm kommenden Strahlen flimmerten Lukas’ Unterarme und Hände, die im Koffer wühlten, mal grün, mal gelborange. Er suchte sein Adressbuch, trug Aloes Namen und ihr College ein. Da sie beide in ihrem dritten Jahr hier studierten, also in der Zimmer-Verteilungshierarchie weit vorgerückt waren, bewohnten sie jeweils eine Art Mini-Appartement mit Telefon. Er hatte den Apparat bei Aloe stehen sehen und sie nicht nach der Nummer gefragt.

Kurz darauf saß Lukas am Schreibtisch im Abstrahllicht des Bildschirms, auf dem ein Zufallsgenerator die Umgebung des Aldebarans für unterschiedlichste Momente seiner Geschichte erzeugte, hundert Millionen Jahre zurück, 1,2 Milliarden Jahre voraus, mit oder ohne Erde, mit oder ohne Sonne. Bilder, die aufglommen und verglühten – Kreisel von blau oder rot leuchtenden Sternen. Lukas hatte Aloe vergessen, das Packen vergessen, Lukas dachte über das Problem der Dimensionalität des Universums nach.

Bei der letzten Konferenz hatte jemand behauptet, das All sei vermutlich geformt wie eine Unterhose, einige hatten applaudiert. Einzig Wolfgang hatte beim Essen über die neue Metapher nachgedacht. Unterhosen hatten Gummis, Beulen, Löcher, Nähte, Rillen, Hügel und Falten. Sie waren dazu da, dass einer sie anzog. Gab es einen Körper, der das Universum trug?

An seinem 17. Geburtstag hatte Lukas eine Idee zur Bewegung dreier Körper umeinander gehabt. Dazu existierten erstaunlich wenig Modelle, vor allem wenn man bedachte, dass das All zumindest für den Menschen vorrangig aus Bewegungen von Körpern um Körper bestand. Die Sterne und Planeten zogen um die Sonne, das sah einigermaßen geregelt aus. Allerdings hatte bereits Poincaré bewiesen, dass sich Mehrkörpersysteme bestenfalls in Ausnahmefällen berechnen ließen. In Wirklichkeit war die Bewegung von Körpern im All ein chaotisches Phänomen. Lukas war auf eine neue Möglichkeit gestoßen. Seine Berechnungen ließen drei Körper in Bahnen umeinanderkreisen, die eine liegende Acht ergaben. In Wirklichkeit. Mit zwei amerikanischen Forschern verfasste er derzeit ein ausführliches Paper darüber. Und da sagte jemand, das Universum sei vielleicht eine Unterhose. Seit seinem 17. Geburtstag versuchte er, sich den Körper vorzustellen, der sie trug.

Er meldete sich nicht mehr. Selbst seine mechanische Stimme hätte Aloe gefreut. Alas, nicht mal ein Anrufbeantworter ging ran. Alas war ein nützliches englisches Wort, wenn man nicht fuck sagen wollte. Auch im Institut für Physik hob niemand ab. Sie hasste es, fühlte sich wie mit fünfzehn – vor einem verdammten Telefon sitzen, es beschwören, hilflos sein. Eine Woche nach der gemeinsamen Nacht, als sie fast automatisch gegen 22 Uhr erneut Lukas’ Nummer wählte, meldete sich eine Frauenstimme: »this line has been cancelled – tidelditü – this line ha…« Sie wählte ein zweites Mal. Ein drittes. Lukas war weg.

Aloe wurde wütend, Aloe kochte, Aloe funkelte Patrizia an: Recht hast du gehabt. Aloe erzählte jedem: Verliebtsein, Scheißspiel. Aloe ging in Clubs, Aloe tanzte voller Wut, Aloe wollte jemanden kennenlernen, der nicht wie Lukas von seiner Arbeit faselte und dass die mit einer Beziehung nicht zu vereinbaren sei, Aloe lernte viele Männer kennen, alle bewegten sich falsch.

Ende Oktober lag eine Postkarte im Briefkasten. Sie hatte eine perverse Wirkung: Nullkommanichts. Im Nullkommanichts war Aloe besänftigt. Sie sah Lukas’ Unterschrift und war beruhigt. Peinlicher noch: gleich wieder verliebt. Die Karte kam aus Princeton, auf der Vorderseite war eine gelbe, schräg stehende Glühbirne abgebildet. Forschungsstipendium, den Winter hindurch. Als Aloe das las, zerriss sie die Karte, in kleinste Schnipsel zerfetzte sie sie, und warf sie in den Mülleimer, den mit dem Biomüll, dorthin, wo es stank und schmierig war und gor. Eine Stunde später stand die gelbe Glühbirne auf ihrem Schreibtisch, hinten und vorn mit schmalen Tesa-Streifen geklebt, wie in einen transparenten Verband gewickelt. Eine der Kartenecken war von Kaffeesatz eingefärbt, das wurde wieder heller beim Trocknen, hoffentlich.

Lukas wollte Details, sie schickte ihm Briefe, zog sich aus für ihn, Stück um Stück:

das Muttermal auf deiner Brust

nicht darauf, knapp darunter

was ist, warum schreibst du nicht mehr von dir

hast du dich in jemand anderen

darunter?

beschreib dein Bein

so kann das nicht weitergehen

schreib schneller

ich schau nur noch nach deinen Mails.

Lukas war aus Princeton zurück. Es war nicht seine Figur; nicht seine Augen waren es: grün wie die ihren, wenn auch heller, mitunter fast hellgrau – obwohl, da steckte ja er, in diesem Blick. Sie glaubte, weit in ihn hineinzusehen. Auch seine Nase war es nicht, die wirkte wie ein Spatel, als Aloe sie von unten anschaute, und dann, als sie an Lukas’ Brust den Kopf zu ihm drehte, der mit geschlossenen Lidern auf dem Bett, halb unter, halb neben ihr, sich ausruhte – oder wegschwamm – sie wusste nicht wohin – ragte die Nase aus seinem Gesicht wie eine Verletzlichkeit. Nicht der Mund war es, sie fand die Lippen zu voll. Das verschwand, wer sah das in einem Zustand wie ihrem. Da sah man es nicht. Oder sah es, und es verwandelte sich unter dem eigenen Blick – man sah es sich verwandeln –, und aus der zu vollen Oberlippe wurde Lukas’ Oberlippe, seine eben, die war schön. Seine Brust war es nicht (mit einem Trichter im Brustbein), nicht war es, dass er kaum Haare hatte auf den Armen, auf den Beinen (da wuchsen ihr ja mehr), obwohl es sich sehr glatt anfühlte, weich, so Haut auf Haut. Seine Oberschenkel lang und schmal, auch das war es nicht; so wenig wie seine Hände – er bewegte sie gern zum Sprechen –, die von innen schmaler aussahen als von außen. Nägel heruntergebissen, die Linien in der Handfläche lang und durchgeschwungen, wie Musik, das hatte Aloe von Anfang an gedacht, die Musik war ihr in den Hals gefahren, über den Hals in die Brust, in den Bauch, sie war über und über rot geworden, und er hatte es gesehen: Wie es stand, mit ihr.

Schließt sie die Augen küsst sie ihn sitzt sie da schließt sie die Augen denkt sie an ihn setzt sie sich dahin ihn küssend rast sie durch die Stadt schließt sie die Augen rennt sie zum Bus denkt sie an ihn fällt sie fast um glaubt sie ihm hört sie nichts folgt sie sich gehen ihr die Ohren auf küsst sie ihn fließt der Mund ihr über sitzt sie da sieht sie ihn, ihn.

Sie gerieten in die Phase, in der man sich wundert, warum man dem anderen nicht Jahrhunderte früher begegnet ist. Zufällig wurde ein Zimmer über Aloe frei, Lukas bekam eine Sondererlaubnis, in ihr College umzusiedeln, obwohl er nach St. John’s gehörte, und zog ein. Er brachte ihr jetzt die Milch von Sainsbury’s mit, gelegentlich auch eine Zeitung oder ein Milky Way. Als Zuckerstückchen torkelten Aloe seine Küsse durch den Hals.

Die Pornokarten, die er ihr vor dem Abschied hingelegt hatte, wurden nicht mehr erwähnt. Sie waren Teil eines Spiels, wie das rote Auge des Aldebarans. Lukas hatte viele Frauen gehabt, er war zu hübsch, um nicht viele Frauen gehabt zu haben, er hatte Routine, er konnte es – und dennoch war er unerfahren. Ein Junge, knapp vor der Pubertät, schüchtern und, im Kern seines Wesens, desinteressiert. Wie er aus Aloe glitt, flink und kalt, kaum dass er gekommen war. Heiß davor, dann dieser Augenblick, ein kristallisches Glänzen, ein Nachgeschmack. Jedes Mal.

Wenn sie die Köpfe unter die Bettdecke steckten, ließen sie Aloes tragbaren Fernseher laufen, dann hörten die Nachbarn nichts. Katastrophen eigneten sich am besten und waren am leichtesten zu finden.

Allmählich kannten sie am anderen auch Dinge, die man sich nicht ohne Weiteres eingesteht. Lukas schnarchte, wenn er auf dem Rücken schlief, Aloe hatte leichte X-Beine. Sie hörten David Bowie now it’s time to leave the capsule, if you dare. Lukas Himmelsstürmer war ein Einzelkind; Aloe hatte Anita. Drei Jahre jünger, Juristin in Deutschland, ihr nicht ähnlich, nein – sie lachte trocken und hart, dachte, das fällt ihm nicht auf, so gut kennt er mich noch nicht, und sagte, die Vergangenheit hänge ihr zum Hals heraus.

»Okay«, sagte Lukas, »is ja okay.«

Rundum wurden die Bilder schärfer, quasi blühender, quasi Landschaften. Die Engländer schielten zweifelnd nach Deutschland. Aloe sprach inzwischen fast akzentfrei. Sie kaufte ihren ersten Laptop, das endlich nahrungsfreie Hirn: treu, doof, hinterhältig.

Lukas fand seine Alla unversehens rücksichtslos: Sie solle sich abregen. Wenn die Ex fast ein Jahr nach der Trennung anrufe, denke jeder, jetzt hat sie den Test gemacht. Den Test auf die Krankheit, bei der »positiv« die böse Nachricht war. Hatte sie nicht. Ex-Sharon war einfach so in Oxford. Wollte sich einfach so treffen mit ihm.

»Hier weiß jeder genau, was er tut«, sagte Aloe, als Lukas zu seiner Verabredung ging, und machte den Fernseher aus und dann gleich wieder an.