Mittelweg - Stephanie Wenger - E-Book

Mittelweg E-Book

Stéphanie Wenger

0,0

Beschreibung

Wenn aus viel Schmerz plötzlich Sinn entsteht. Der Sinn, mit meiner Geschichte, mit meinem von einer psychischen Erkrankung begleiteten Leben anderen Betroffenen Mut zu machen. Angehörigen die Gefühlswelt aufzuzeigen. Zu zeigen, dass und wie ich mit einer psychischen Erkrankung leben kann. Anders. Aber leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 240

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mittelweg

Stephanie Wenger

boox-verlag

Beheimatet am Fuße der Alpsteinregion (CH), mit einer innigen Beziehung zur Natur, spendet boox-verlag seit Bestehen (2011) jährlich 1 % seiner Einnahmen an eine Schweizer Naturschutzorganisation.

Impressum

© 2023 boox-verlag, Urnäsch

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild u. Gestaltung: Marc Lüthi, Lora Schmid

Graphische Covergestaltung: www.media-graf.ch

ISBN 978-3-906037-86-8 (ebook)

www.boox-verlag.ch

Für Mauroundmeine Lieblingsmenschen

Inhalt

Prolog

Was für eine Zeit!

Erste Zeilen

Zurück in die Vergangenheit

Familie ist …

Meine Familie

Arztberichte

Aussprache?

Nicht normal

Erinnerungsfetzen

Sex, Drugs und Verzweiflung

Dissoziieren

Trauer

Essen und ich

Hallo, liebe Depression

Träume, Kontrolle und Vertrauen

Therapieweg

Liebes Monster

Meine Therapien

DBT – Dialektisch-Behaviorale Therapie

EFT – Emotionsfokussierte Therapie

Imagination

Verhaltensanalysen

Medikamente

Die Aussprache(n)

Das Gespräch

Blockade

Wiedersehen mit meinem Jugendpsychiater

Treffen mit meiner Psychologin

Dankbarkeit

Mein Alltag heute

Mittelweg

Zweifel

Allein Sein

Nähe und Distanz

Dunkle Tage und innere Stimme

Frauensache

Energie und Warnsignale

Meine Projekte

In Erinnerung

Danke, Lieblingsmenschen!

Danke, liebe zweite Familie

Danke, meine liebe Familie!

Danke, Lieblingsmensch!

Danke, mein Freund!

Danke, mein Leben!

Edition Unik

Wenn aus viel Schmerz plötzlich Sinn entsteht. Der Sinn, mit meiner Geschichte, mit meinem von einer psychischen Erkrankung begleiteten Leben anderen Betroffenen Mut zu machen. Angehörigen die Gefühlswelt aufzuzeigen. Zu zeigen, dass und wie ich mit einer psychischen Erkrankung leben kann. Anders. Aber leben.

Prolog

Die Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung« (BPS) wurde mir im Jahr 2008 in einer psychiatrischen Klinik gestellt. Mein junges Leben war ein einziges Chaos, ich war gefangen in einer Negativspirale. Weitere Krankheitsbilder kamen hinzu. Unsichtbar und dennoch spürbar für mich und andere. Geprägt durch fehlende Aufmerksamkeit, durch traumatische Erlebnisse und von klein auf einem sensiblen Ich, ergab sich für mich eine große Aufgabe. Die Aufgabe, den Alltag zu bewältigen. Das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen zu meistern. Der Weg zur Bergspitze, dem Bewältigen des Alltags, ging durch viel Schmerz und Leid, durch Scham und Erniedrigung, durch Liebe und Hass. Die Etappen bewältigte ich durch Therapiearbeit, durch Menschen, die kamen und gingen oder geblieben sind. Heute stehe ich noch nicht auf der Spitze des Berges. Doch da, wo ich jetzt stehe, fühle ich mich sicher. Sicher genug, um nicht wieder den Berg hinunterzufallen. Vielleicht kehre ich ab und an in ein tiefer gelegenes Camp zurück, um mich für den erneuten Aufstieg zu stärken. Da, wo ich jetzt stehe, bin ich stark und mutig genug, die Spitze des Berges weiterhin erklimmen zu wollen.

Die Spitze des Berges bedeutet nicht, dass alles nur gut ist. Noch immer herrscht schwieriges Gelände vor und ist das Wetter unberechenbar. Doch auf der Spitze des Berges stehen mir all meine Skills – meine Fertigkeiten – zur Verfügung, die ich bewusst und unbewusst anwenden will. Die Spitze des Berges bedeutet für mich, mein Leben so eingerichtet zu haben, dass ich mir im Alltag den Raum geben kann, den ich nun eben brauche.

In all diesen Jahren hatte ich einen stetigen Begleiter in mir. Ein kleines, jedoch unglaublich starkes Etwas, das mich immer weitergetrieben hat. Es hat mich zum Kampf angetrieben. Es hat mich nicht aufgeben lassen, auch wenn ich mich bereits aufgegeben hatte und meinem Leben mehrmals ein Ende setzen wollte. Es hat mich dahin geführt, wo ich heute bin.

Dass ich heute dieses Buch in der Hand halten darf, ist alles andere als selbstverständlich. Ich wünsche euch allen, dass auch ihr so ein kleines, unglaublich starkes Etwas in euch findet, das euch auf eurem Weg bei euren eigenen Herausforderungen begleitet. Mich begleitete es durch Traumata, durch eine Drogenzeit, durch Einsamkeit, durch Verzweiflung, durch Hoffnungslosigkeit und es bewahrte mich vor dem Aufgeben. Es holte mich zurück ins Leben.

Was für eine Zeit!

Was für eine Zeit!

Erste Zeilen

Endlich ist es so weit – der Auftakt zu meinem Buch. Seit der Anmeldung vor einigen Wochen verging kaum ein Tag, an dem ich nicht daran dachte. Ich mache mir über so vieles Gedanken.

Will ich das wirklich? Manchmal zweifelte ich daran. Bis ich merkte, dass es Ängste sind, die mir im Weg stehen. Ängste, mich in der Öffentlichkeit zu bekennen. Meine privateste Seite nach außen zu zeigen. Will ich denn, dass alle Zugang dazu haben? Will ich, dass meine Arbeitskolleginnen und -kollegen und meine Vorgesetzten diese Worte lesen? Wie ist es, wenn sie plötzlich so viel über mich erfahren und man zusammenarbeitet, ohne darüber zu sprechen? Fühle ich mich dann noch wohl? Was passiert, wenn ich meine Gedanken, mein Erleben zu so vielen Situationen preisgebe, die andere vielleicht ganz anders erlebt und wahrgenommen haben? Verletze ich Menschen? Verletze ich meine Familie, meine Liebsten?

Ich will niemanden mit meinen Worten verletzen. Schweigen und meine Wahrheit für mich behalten, das will ich jedoch auch nicht mehr. Ich will meine Vergangenheit, meinen Alltag, mein bisheriges Leben nieder- schreiben. So, wie ich es erlebt habe. So, wie ich heute lebe. Ich will mich nicht mehr verstecken oder erklären und verstellen erst recht nicht.

Mit diesem Buch möchte ich einen Abschluss finden, der mich stärkt, indem ich alles mit einem Blick von oben noch einmal durchlebe, und ich erhoffe mir dabei, daraus Kraft zu schöpfen. Ich möchte, wenn ich in Zukunft an mir zweifeln sollte, ein Blick auf das Buch werfen und denken: »Ich habe so vieles durchlebt und stehe nun mit beiden Beinen im Leben – ich kann stolz auf mich sein.«

Dass ich heute so leben darf, wie ich lebe, ist nicht selbst- verständlich. Ich bin sehr dankbar. Dankbar für dieses Etwas in mir, das es schafft, mich nie aufzugeben lassen. Wie ich dieses Etwas nennen soll? Ich weiß es noch nicht.

August, im Sommer 2021. Wobei das Wort Sommer übertrieben ist. Die warmen Tage kann man in diesem Jahr wohl an einer Hand abzählen. Für mich persönlich ist das nicht schlimm. Ich bin nicht der Sommertyp. Ich verstecke mich lieber in warmer und kuscheliger Kleidung und flüchte vor dem grellen Sonnenlicht, das mich immer so sehr blendet. Dieses Sommerfeeling setzt mich unter Druck. Sollte man doch eigentlich Freude haben, gut gelaunt sein, an der Sonne sitzen, die Zeit draußen genießen, in der Aare baden gehen. Alles Dinge, die mir den Alltag erschweren. Oft sperre ich lieber die Sonne mit all ihren Erwartungen an mich aus dem Haus aus. Ich fühle mich besser so. Die Sommerabende zähle ich da nicht dazu. Sobald es dunkler wird und warm ist, kann ich stundenlang draußen sitzen und über das Leben philosophieren. Das genieße ich so sehr, dass ich jedes Mal traurig werde, wenn der Abend vorbei ist.

So stehe ich nun vor dem Generationenhaus in Bern. Ein wunderschönes Gebäude. Ich gehe in Richtung Innenhof, als mir ein Bildschirm den Weg zur Auftaktveranstaltung der Edition Unik weist. Der Pfeil zeigt nach rechts. Ich gehe los, höre ein lautes Klicken und sehe, wie sich die riesige Tür automatisch öffnet. Wie erstarrt bleibe ich davor stehen, mein Herz beginnt zu klopfen. Ich fühle mich plötzlich wie in einem schlechten Film. Dieses Geräusch, diese Tür. Es ruft sofort Erinnerungen in mir wach. Es sind genau diese Erinnerungen, über welche ich schreiben will. Durch genau eine solche Tür ging ich, als ich mein Leben zum ersten Mal selbst in die Hand nehmen musste. Es war die Tür, welche zur psychiatrischen Klinik führte, in der ich für einige Monate lebte. Am Starttag meines Buchprojektes stehe ich nun gefühlt vor derselben Tür und ich weiß sofort: Das ist ein Zeichen! Mein Zeichen. Es ist die Antwort auf meine Fragen, ob ich dieses Buch – mit all seinen Konsequenzen – schreiben will. In diesem Moment wird es mir klar: Ich will durch diese Tür gehen. Ich will dies noch einmal gedanklich durch- leben. Ich will mit dieser Tür meinen Frieden schließen. Ich will damit Mut machen. Hoffnung schenken. Teilen.

Ich gehe durch die hohen Gänge des Generationenhauses in Bern und sehe durch die Fenster in den Innenhof. Warum war ich noch nie da? Das will ich in Zukunft ändern. Es fühlt sich an wie ein Ort der Verbundenheit. Diese Verbundenheit spüre ich auch, als ich im Raum ankomme, wo die Auftaktveranstaltung stattfindet. Schon wieder fühle ich mich zurückversetzt. Zurückversetzt in die Zeit in der Klinik. Ich fühle mich unter Gleichgesinnten. Damals waren es die Leidensgenossinnen und Leidensgenossen mit psychischen Erkrankungen und schweren Krisen. Heute sind es Menschen, die ein Buch schreiben wollen. Geschichten über das Reisen, Geschichten der Familie für die Kinder, Geschichten des Aufarbeitens oder Gedichte, die in ein Buch gehören.

Die Menschen, die vor den Teilnehmenden stehen, sind nun nicht mehr Ärzte oder Therapeuten. Es ist der Geschäftsleiter der Edition Unik und die Praktikantin. Sie führen uns durch den Prozess. Dabei denke ich immer wieder, an welch wunderschönem Projekt ich teilnehmen darf. Ich fühle mich einfach gut. Sie erzählen vom Projekt, von den Etappen und davon, was alles auf uns zukommt. Begeisterung steigt in mir hoch und ich werde dabei immer wieder zu Tränen gerührt. Ich spüre, dass ich genau das Richtige tue. Der Traum des Buchschreibens geht in Erfüllung. Zu sagen oder eher zu schreiben habe ich vieles.

Bevor die Software vorgestellt wird, gibt es eine Kaffeepause mit einem gemeinsamen Austausch. Etwas, das ich gar nicht mag. Wenn ich Apéro oder gemeinsamer Austausch schon nur höre, möchte ich am liebsten davonlaufen. Das Herumstehen und die gesuchten Gespräche, besonders auf der Arbeit, finde ich schrecklich.

Es kommt anders. Ich trinke ein Glas Wasser an einem der Stehtische, die leckeren Gebäcke auf dem Tisch nebenan blende ich gekonnt aus, da ich einmal wieder auf die Linie schaue, und schon werde ich direkt angesprochen. Ich werde gefragt, worüber ich schreiben wolle. Und ich rede. Ganz offen. Es kommen weitere Schreibende dazu. Wir alle erzählen uns von unseren Vorhaben und als wir zurück zu unseren Plätzen gerufen werden, will ich am liebsten gar nicht mehr zurück. Zu spannend ist der Austausch. Welch wunderbare und unterschiedliche Menschen ich hier antreffe!

Nachdem die Software vorgestellt worden ist, die einfach, übersichtlich und toll daherkommt, will ich nur noch nach Hause. Getrieben vom Schreibzauber.

Das Wort Schreibzauber– es kommt von einer Teilnehmerin der Schreibrunde vor mir, also der Frühjahrsrunde. Diese durfte ich bereits vor drei Jahren am Geburtstag der lieben Schwester meines Freundes kennenlernen. Ich las ihr Buch Fliegen lernen und lernte so die Edition Unik kennen. Sie hat mich inspiriert. Zum richtigen Zeitpunkt. Ich musste nicht erst überlegen, ob ich mich anmelde. Es war sofort klar! So wünschte mir diese wundervolle Autorin »Happy typing und ganz viel Schreibzauber«. Das war ich sofort: verzaubert, von der ersten Zeile an. Danke, du wundervoller Mensch.

Diesmal will ich alles anders machen. Normalerweise, wenn ich ein Projekt starte, durchdenke ich alles ganz genau. Für so vieles schreibe ich Abläufe oder erstelle Checklisten. Diesmal nicht. Ich beginne mit dem Schreiben der Notizen. So, wie von der Edition Unik angedacht. In meinem Kopf steht weder ein Anfang noch ein Ende geschrieben. Ich schreibe, was ich eben in diesem Moment schreiben mag. Ganz ungezwungen. Alles soll niedergeschrieben werden, was zum jeweiligen Zeitpunkt für mich passt und stimmig ist. Erst einmal sieben Wochen lang jeden Tag mindestens fünfundvierzig Minuten. Das ist eine Empfehlung. Dieser gehe ich nach, so gut es denn geht. Auch da mache ich mir keinen Stress. Siebzehn Wochen lang werde ich es fließen lassen und vertraue darauf, dass alles gut wird. Ab der Woche neun werden die Notizen sortiert und zu Kapiteln zusammengelegt. Diese werde ich ergänzen und erweitern. So lange, bis es für mich stimmig ist. Am Schluss erfolgt die Buchgestaltung.

Ich werde mir Auszeiten gönnen. Auszeiten an den Wochenenden zu Hause, Auszeiten in Airbnbs, in der Natur, in den schönen Berner Cafés, einfach überall dort, wo ich im Schreibzauber aufgehen kann. Zur Schlussetappe habe ich mir Ferien genommen und werde eine Woche lang allein im Jura in einem wunderschönen Haus verweilen. Ich kann es kaum erwarten, dort mein Buch fertigzustellen. So, wie ich es kaum erwarten kann, mein Buch in wenigen Monaten in den Händen zu halten.

Begeisterung! Eine Eigenschaft, die mir mein Vater mitgegeben hat. Ich sei so begeisterungsfähig, meinte er einmal zu mir. Er hatte recht. Ich spüre sie immer wieder und ich liebe diese Eigenschaft. Noch mehr liebe ich es, dass mein Vater sie in mir entdeckt hat, bevor ich sie in mir erkannt habe.

Zurück in die Vergangenheit

Dieses Wochenende habe ich mir freigeschaufelt, um zu schreiben. Eigentlich wäre ich gestern zu meiner lieben Freundin essen gegangen und heute wäre ich mit meiner Kindheitsfreundin an ein Festival gegangen. Wobei, das Festival haben wir sowieso gecancelt, da ich ein schlechtes Bauchgefühl bei der Vorstellung hatte, dorthin zu gehen. Heute kann ich es mir nahestehenden Menschen sagen, wenn mir etwas Angst macht. Wenn ich in einem Hoch bin, mache oder buche ich leider Dinge, die ich dann nüchtern oder in Ruhe betrachtet eigentlich nicht mehr will. Sie machen mir plötzlich Angst. Sie könnten mich Situationen aussetzen, die für mich schwierig werden könnten. Es ist nicht so, dass ich aus Angst Dinge grundsätzlich nicht tue. Ich habe mich wohl allen meinen Ängsten gestellt. Dabei habe ich jedoch gelernt, wo meine Grenzen liegen und wann ich mich schützen und abgrenzen möchte. Es ist ein sehr befreiendes und bereicherndes Gefühl zu wissen, wo meine Grenzen sind und wann ich mich schützen möchte. Dabei fühle ich mich nicht mehr schlecht, anders oder schwach, wie ich das früher empfunden hatte. Ich fühle mich stark und es erfüllt mich mit Stolz, meine Grenzen zu kennen und mich dabei so wichtig zu nehmen, um mich vor gewissen Gefahren zu schützen. Es erfüllt mich mit Stolz, Menschen in meinem Leben zu haben, die dies akzeptieren und darauf eingehen, ohne mich zu verurteilen und von mir enttäuscht zu sein. Ich bin unsagbar dankbar für diese Menschen in meinem Leben. Sie geben mir alle ein Zuhause.

Nun bin ich gestern nach der Arbeit in den Bus gestiegen mit dem Wissen, dass ein sogenanntes Stifäli-Wochenende vor mir liegt. Ein kurzer Moment kam dann doch, in dem ich dachte, wie gut doch jetzt ein Bier mit lieben Menschen in der Abendstimmung wäre. Einfach, um die anstrengende, wenn auch gute Arbeitswoche abzuschließen. Immerhin habe ich es mir verdient. Doch ich kenne mich: In dieser Laune ein Bier trinken zu gehen in der wunderschönen und gemütlichen Altstadt von Bern, in der schönen, warmen Abendsonne, da macht es »zack« und ich kenne kein Halten mehr. Nun, mittlerweile eben doch. Stunden würden verstreichen, ein zweites und ein drittes Bier dazukommen, ich würde nach Hause gehen, einschlafen und am nächsten Tag nie richtig wach werden. Das wollte ich eben genau nicht, an meinem Stifäli-Wochenende – ein Wochenende, wo ich nur für mich bin, mir Zeit für mich nehme und Dinge tue, auf die ich Lust habe und die ich brauche. An diesem Wochenende soll es das Schreiben sein.

So kam ich also gestern zu Hause an, während mein Freund schon bei seinem wohlverdienten Feierabendbier war. Ganz so ruhig sein konnte ich nicht. Etwas Unruhe breitete sich in mir aus. Mein Hirn benötigt noch etwas Zeit und Training, bis es weiß, dass alles gut ist und mein Freund wieder nach Hause kommt. Dass das Leben zusammen weitergeht wie bisher. Das sage ich mir immer in diesen Momenten, in denen sich mein Kopfkino einschaltet. Ich sage mir, dass alles gut ist, und erinnere mich daran, dass ich, falls dann etwas plötzlich doch nicht gut sein sollte, alles meistern kann. Es sind Welten zu früher und doch hat es noch etwas Luft nach oben. Ich bin zufrieden mit mir. Zufrieden, weil ich allein sein kann, weil ich mich nicht mehr ablenken muss und weil diese Unruhe durch mein Denken dann schnell wieder vorbeigeht. Gut.

Ich habe mir dann zu Hause ein Bier gegönnt, eine Zigarette gedreht und erst einmal die veganen Tortellini ins Wasser geworfen. Es ist nicht so, dass ich Veganerin bin, doch ich probiere gerne Neues aus und finde, ab und an auf Fleisch- und Milchprodukte zu verzichten, ist eine gute Sache für mich, Mensch, Tier und Umwelt. Da ich Fleisch sowieso noch nie mochte, selten davon gegessen habe und viel zu mitfühlend mit Tieren bin, habe ich mich vor Jahre zur Vegetarierin erkoren. Umso mehr genieße ich dann nach einem strengen Ausgang meinen geliebten Cheeseburger aus dem McDonald’s oder einen fetten Döner »mit allem und scharf«. Wenn schon, dann richtig. Typisch ich. Diese paar Fleischtage im Jahr kann ich dann ohne schlechtes Gewissen und auch fast ohne Graus genießen. Hallo, Mittelweg!

Die veganen Tortellini waren gut. Ich genoss sie vor dem Fernseher mit meinen beiden Katzen neben mir. Fernsehen schaue ich nur selten. Manchmal wochenlang nie, dann plötzlich eine Serie nach der anderen und, eben wie gestern, eine unglaublich doofe Sendung, wo es nur um Fake-Liebe, Brüste und muskulöse Körper geht. Völliger Unsinn. Und doch ziehe ich mir solche Sendungen manchmal hinein und kann dabei abschalten.

Abends um halb neun musste ich dann meine Medikamente nehmen, die mich noch heute unterstützen, und wollte mich bereit machen, um zu schreiben. Ich richtete auf der Galerie unserer Wohnung das ausziehbare Sofa ein, machte es mir gemütlich und meine Katzen legten sich zu mir. Meinem Freund schrieb ich eine Nachricht, dass er mich dann nicht im Bett suchen müsse, dass ich mich auf die Galerie verzogen habe. Da bin ich auch jetzt noch. An einem der wenigen sonnigen Tage in diesem Jahr. In der eher dunklen Galerie, wo neben einem weiteren ungebrauchten Fernseher Regale voller CDs, DVDs und Bücher stehen, am Boden eine wunderschöne grüne Matratze bei meinem Ich-Platz, den ich (leider) nur selten benutze, mit meinem Tonstudio und der Musikecke, wo ich meine Lieder schreibe, mit meinen zwei Katzen neben mir und dem Laptop auf mir. Um genügend Licht zu haben, musste ich die Stehlampe zu mir holen. Sie steht nun mitten im Raum und ersetzt mir heute die Sonne.

Gestern Abend schrieb ich über meine kurz dauernden Freundschaften und ein wenig über meine depressiven Episoden. Es lief ganz gut. Wie immer bis jetzt, wenn ich schreibe. Ich kann vollkommen darin versinken. In die Sätze, in den Ton, wenn ich die Tasten anschlage, in die Gedanken und in die Gefühle von damals. Dabei bin ich sehr achtsam, mache eine Pause oder schließe ab, sobald ich merke, dass es mir zu viel wird. So wie heute.

Heute Morgen haben mich meine Katzen ausnahmsweise ausschlafen lassen. Ich stand auf, fütterte sie, ließ mir einen Kaffee aus der Maschine und kuschelte mich wieder zurück in meine neu angelegte Schreiboase auf der Galerie. Ich legte gleich los. Ich schrieb über meine Familie, die eine Großfamilie hätte sein können, aber klein geblieben ist. Ich schrieb über ein belastendes Erlebnis in meiner Schulzeit, als ich von der Schule davonlief, und über die Konfliktfähigkeit oder eben -unfähigkeit in meiner Familie. Es lief ganz gut.

Wie immer nach einer Stunde Schreibzeit brauchte ich eine kurze Pause. So ging ich wieder nach unten, machte mir einen weiteren Kaffee und drehte mir eine Zigarette. Ja, am Wochenende rauche ich leider schon morgens. Ich telefonierte mit meiner großen Schwester. Sie war eine Woche in Adelboden und würde morgen weiter nach Italien fahren. Ich wollte natürlich wissen, wie die Adelboden-Woche gelaufen war. Sie hatte eine anstrengende, aber erfolgreiche und erkenntnisreiche Woche. So schön, dass meine Schwester das alles erleben darf. Nach einer Stunde legten wir auf.

Mein Freund war mittlerweile aufgestanden und kam mit kleinen Augen aus dem Schlafzimmer. Wir verbrachten etwas Zeit zusammen, bevor ich mich wieder nach oben in die Schreiboase verzog und im Estrich die Kisten und Blechdosen mit meinen Erinnerungsstücken hervorholte. Ich habe viele Bücher, Skripts und Notizen meiner Therapien immer in meiner sogenannten Therapiekiste aufgehoben. All meine Tagebücher aus der Kindheit und Jugend habe ich vor nicht allzu langer Zeit entsorgt. Diejenigen von den Klinikaufenthalten und noch einige weitere habe ich behalten. Heute dienten sie mir für mein Buchprojekt und mein Ziel war es, sie zu durchstöbern und zu sortieren. Nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Wobei, dass es nicht einfach würde, das war mir bewusst. Doch dass es dann doch so auf meine Stimmung schlagen würde, wollte ich dann eigentlich doch nicht. Ich las kurze Textpassagen aus einer Zeit, in der ich lange in der psychiatrischen Klinik war. Sechs Monate und etwas mehr, um genau zu sein. Die Zeilen, die ich heute las, haben mich erschrocken. Wie viel Hass, wie viel Trauer, wie viel Wut und wie viel Ungeklärtes in mir doch war. Die Briefe, die ich behalten habe, Fotos aus der Zeit – alles sehr aufwühlend. Ich brauchte eine Pause.

So ging ich wieder nach unten auf den Balkon und drehte meine nächste Zigarette. Ich merkte, dass ich mehr in die Zeit, in der ich heute zum Glück nicht mehr lebe, zurückgekehrt war und dies mehr, als mir lieb war. Ich merkte, wie eine Stille in mir einkehrte. Keine angenehme Stille. Eine unruhige Stille. Mein Freund bemerkte es und so sagte ich ihm, dass diese Konfrontation gerade sehr schwierig sei. Mein für gewöhnlich verlegenes Lächeln versuchte ich zu unterdrücken, denn zum Lächeln war mir nicht zumute. Ich merkte, dass ich mir einen Plan, oder anders gesagt: einen Sicherheitsplan auf- stellen musste. Mich den ganzen Tag mit dieser Materie zu beschäftigen, ist nicht gut für mich. Es braucht Inseln dazwischen, die ich mir einbauen will. Eine Dusche nehmen, eine leckere und gesunde Zwischenmahlzeit einnehmen, vielleicht eine Meditation, ein Tanz, eine Yogaeinheit. Einfach Pausen. Auch für solche Situationen habe ich mir Strategien antrainiert, damit ich nicht in diesen Sog gerate. So legte ich mich kurz zu meinen Katzen – ja, ihr merkt, die sind immer bei mir –, stoppte meine Gedanken und auch das Pläne-Schmieden. Ich versuchte zur Ruhe zu kommen.

Mein Freund kam zu mir, strich mir über das Gesicht und fragte mich, ob er sich Sorgen machen müsse. Nein. Es ist schön, dieses Wort mit völliger Sicherheit aussprechen zu können und zu dürfen. Er muss sich keine Sorgen machen, denn ich mache mir auch keine Sorgen um mich. In diesem Moment entschied ich mich, noch nicht über die Klinikzeit zu schreiben. Ich erlaube mir, diesem Thema Zeit zu geben, und verarbeite diesen eher schwierigen Morgen nun mit den letzten Zeilen, die du soeben gelesen hast. Ich fühle mich gut. Ich habe alles richtig gemacht. Nun trinke ich ein großes Glas Wasser, gönne mir eine erfrischende Dusche und werfe mich in Kleider, in denen ich mich den ganzen Tag wohl und geborgen fühlen darf. Es ist wunderschön, so lebendig und so echt, diese Zeilen zu schreiben.

Familie ist …

Familie ist, wenn man zusammen lacht und man etwas zusammen macht.

Familie ist, wenn man zusammen isst und dann miteinander spricht.

Familie ist, wenn man sich vertrauen kann und aufeinander bauen kann.

Familie ist, wenn man Fehler begeht und dies einander eingesteht.

Familie ist zusammenleben, zueinander schauen, ein Geben und Nehmen.

Familie ist Liebe zueinander,

so wie wir, wir halten zusammen.

Psychiatrie, 2008, Stephanie Wenger

Meine Familie

Gestern schrieb ich einen Teil in diesem Buch, in welchem ich das erste Mal in Berührung mit meiner Familie, oder besser gesagt: meinen Eltern kam. Ich konnte nicht weiter darüberschreiben. Zu viele Gefühle kamen hoch, zu viele Ängste und ein schlechtes Gewissen, wobei ich weiß, dass ich mein schlechtes Gewissen ablegen darf. Ich habe mir fest vorgenommen, in diesem Buch ganz offen zu schreiben, nichts auszulassen und weder mich noch andere zu schonen. Trotzdem will ich respektvoll sein. Heute habe ich auch für alles und alle, die irgendwie in meinem Leben waren und dieses auf ihre Art und Weise beeinflusst haben, Verständnis. Das meine ich genau so, wie ich es schreibe. Ich habe mit mir vereinbart, hier meine Wahrheit und somit mein Erleben und meine Sicht auf die Dinge niederzuschreiben.

Gestern merkte ich, dass ich bei diesem Thema, dem Thema meiner Familie, ins Stocken geriet. Nicht nur gestern, als ich damit in Berührung kam. Es hat mich noch heute den ganzen Tag begleitet. In meiner Familie ist sehr viel besprochen worden. Vieles ist aber auch verschwiegen worden und wird es bis jetzt. Bei den Treffen mit meiner Familie fühle ich mich manchmal unwohl. Oft bin ich angespannt. Manchmal weine ich danach oder bin wütend, enttäuscht oder einfach hilflos, manchmal auch sprachlos. An anderen Tagen ist alles völlig in Ordnung und ich genieße die Zeit zusammen mit ihnen. Das Schlimme daran ist, dass meine Eltern nicht wissen, wie ich fühle. Was ich über unser Familienleben denke und empfinde. Was mich beschäftigt, mich verletzte, was ich mir wünschte und was ich nicht mehr möchte. Dies alles zieht sich schon Jahre so hin. Die Menschen um mich, die mir nahe sind, wissen von meinem Gefühlschaos. Nur eben nicht meine Eltern. So bin ich seit eh und je gefangen in diesem Strudel. Ich will meine Eltern nicht verletzten. Sie verletzt zu sehen oder schon nur die Vorstellung davon macht mich sehr traurig. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie immer das Beste für mich wollten und alles in ihrer Macht Stehende dafür getan haben.

Nun ist es meine Wahrheit, dass vieles nicht gut gelaufen ist und dass Ereignisse oder eben Dinge, die mir gefehlt haben, unter anderem auch dazu beigetragen haben, wie es eben gekommen ist. Es fällt mir schwer zu schreiben, dass meine Eltern an meiner Geschichte auch mitgeschrieben haben. Noch viel schwerer fällt es mir zu schreiben, dass ich bis jetzt nicht mit ihnen darüber sprechen konnte. Oft, wenn ich mich mit meinen Liebsten oder manchmal sogar auch fast Unbekannten darüber austausche, beginne ich zu zittern. Ich fühle mich schlecht dabei. Es überkommt mich ein schlechtes Gewissen, über Schlechtes an ihnen zu sprechen oder schwierige Momente ans Licht zu holen. Das schlechte Gewissen kommt daher, dass ich es bis jetzt noch nicht geschafft habe, transparent zu ihnen zu sein. So versuche ich immer öfter, dieses Thema zu vermeiden.

Neulich fragte mich die Mutter meines Freundes, nachdem ich ihr eine für mich schwierige Situation geschildert hatte, ob ich meinen Eltern denn etwas gesagt hätte. Ob ich ihnen denn gesagt hätte, dass mich diese Aussagen verletzt hatten. Diese Frage höre ich innerlich immer wieder und ich höre mich immer sagen: »Nein. Ich kann nicht. Ich bin blockiert.«

In meiner Therapie kam es immer wieder zu dem Punkt, an dem es darum ging, mich mit meinen Eltern direkt auseinanderzusetzen. Sie kamen auch schon zu Gesprächen mit. Doch da ging es nicht sehr in die Tiefe. Was mich schlussendlich davon abgehalten hat, war eine Erfahrung, die mich glauben ließ, dass ein klärendes Gespräch nicht möglich sei. Als ich mich immer mehr mit der Idee, dieses Buch zu schreiben, auseinandersetzte, war der Gedanke daran, dass meine Eltern diese Zeilen lesen würden, das Schwierigste. Ich will es mir bis zum Schluss oder länger offenlassen, ob ich meine Wahrheit veröffentlichen werde oder nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich dem stellen kann. Ich weiß nur, dass ich niemanden verletzten will.

Heute hatte ich einen Gedanken, der mich nicht loslässt: Ist dieses Buch, dieser Schreibprozess der Weg, um mit meinen Eltern in Kontakt zu treten? Denn eigentlich will ich dieses Buch veröffentlichen. Ich will eine von denen sein, die einen kleinen Stein ins Rollen bringt, um etwas zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen beizutragen. Kann ich mit den Konsequenzen leben, die bei einem Gespräch mit meinen Eltern ausgelöst werden könnten? Ist dieses Buch vielleicht der letzte Schritt, um ganz auf der Spitze des Berges anzukommen? Dieser heutige Gedanke nimmt immer mehr Form an. Wenn ich dieses Buch veröffentliche, muss und will ich davor mit meinen Eltern gesprochen haben. Ich muss meine Wahrheit und mein Erleben aussprechen. Ich würde das Buch nie veröffentlichen können, ohne ihnen meine Wahrheit erzählt zu haben, ihnen Fragen gestellt oder ihre Sicht der Dinge gehört zu haben.

Ich kann es jetzt noch nicht spüren, was ich tun werde. Jedoch vertraue ich meinem inneren kleinen Ding, dessen Name ich noch immer nicht gefunden habe. Ich stelle mir vor, wie ich fühlen möchte, wenn dieses Buch erscheint. Ich möchte gelöst sein, gestärkt, offenbart und mich der Entstigmatisierung hingeben. Und ich möchte im Reinen sein mit mir und meinen Eltern. Ich möchte ihnen alles gesagt haben, über alles gesprochen haben, die Sicht voneinander akzeptiert haben, sie in die Arme nehmen und von Herzen sagen können, dass ich sie liebe. Nun gehe ich zu meinem Freund. Heute reicht es nicht, meine Gedanken im Schreiben zu verarbeiten. Ich brauche Trost und seine wärmenden, starken Arme. Ich will mich in sie fallen lassen.