Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen - Virginie Grimaldi - E-Book
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Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen E-Book

Virginie Grimaldi

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Beschreibung

Lebe nach deiner eigenen Melodie

Julia rennt nicht weg. Zumindest nicht so richtig. Aber sie braucht dringend eine Auszeit von ihrem Leben, und da fühlt sich das Angebot aus Biarritz an wie eine Rettungsleine. Hals über Kopf zieht sie an die Atlantikküste, wo sie als Psychologin den Bewohnern eines Seniorenheims zur Seite stehen soll. Eigentlich hat Julia mit alten Leuten wenig am Hut, doch schnell merkt sie, dass sich hinter den eleganten Türen der Seniorenresidenz mehr verbirgt, als sie auf den ersten Blick geahnt hat: gebrochene Herzen, lange gehütete Geheimnisse und unbändige Lebensfreude, wie sie ihr noch nie begegnet ist. Kann Julia alles, was sie sucht, tatsächlich dort finden, wo sie es am wenigsten vermutet?

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Seitenzahl: 446

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VIRGINIE GRIMALDI wurde 1977 in Bordeaux geboren. Solange sie denken kann, wollte sie Schriftstellerin werden, ihren ersten Roman schrieb sie im zarten Alter von acht Jahren. Er handelte von der Liebe, dem Meer und einem dreißigseitigen Sonnenuntergang. Heute zählt sie zu den erfolgreichsten Autorinnen Frankreichs, jeder ihrer Romane steht wochenlang auf den Bestsellerlisten. 2019 und 2020 war sie die bestverkaufte Autorin Frankreichs (Le Figaro). Ihre Romane werden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen ist Virginie Grimaldis erster Roman im Penguin Verlag. Mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen lebt sie in der Nähe ihrer Eltern und Großeltern bei Bordeaux.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Virginie Grimaldi

Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen

Roman

Aus dem Französischen von Marie Hoffmann-Dartevelle

Die französische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Tu comprendras quand to seras plus grande bei Fayard, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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© Librairie Arthème Fayard, 2016

Copyright © der deutschen Übersetzung Marie Hoffmann-Dartevelle, 2016

Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagmotive: © Plawarn; Ton Weerayut Photographer / Shutterstock

Redaktion: Susanne Kiesow

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25629-6V002

www.penguin-verlag.de

Prolog

Es war ein Samstagabend wie jeder andere. Keiner, der mir normalerweise im Gedächtnis geblieben wäre. Und trotzdem erinnere ich mich an jedes Detail.

Offenbar ist das typisch bei traumatischen Erlebnissen. Sie brennen sich einem so tief in die Gehirnwindungen ein, dass man sie immer und immer wieder erlebt, als würde ein und dieselbe Filmszene in einer Endlosschleife vor einem ablaufen.

Marcs Bauch diente mir als Kopfkissen, wir sahen uns gerade eine Episode von Game of Thrones an, die 9. aus der 3. Staffel. Wir hatten uns Sushi kommen lassen, lecker gegessen, der Ventilator kreiste, alles war bestens. Wäre ich eine Katze gewesen, hätte ich angefangen zu schnurren.

Als das Telefon klingelte, stieß ich einen Seufzer aus. Wer störte uns noch um diese Uhrzeit?

Auf dem Display stand Maman. Na toll. Sie wusste doch genau, dass ich mir immer Sorgen machte, wenn jemand so spät anrief.

Wäre ich doch nicht drangegangen! Am liebsten hätte ich das alles nicht erlebt.

Das war vor sechs Monaten.

FEBRUAR

»Unsere größte Leistung ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen.«

Ralph Waldo Emerson

1

Montag, Regen, Februar – die ideale Mischung für einen beschissenen Tag.

Je näher ich meinem Ziel komme, umso sehnlicher wünsche ich mir, mein Wagen würde rückwärts rollen. Ich biege in die Allee ein. Immer geradeaus, sagt mir ein an einen Baum genageltes Schild. Ich erreiche einen kleinen Parkplatz, der schon lange keinen Gärtner mehr gesehen hat, umrunde ihn und stelle den Wagen vor dem großen Gebäude ab.

**LEGEHEIM TAMARISKE

Wenn selbst die schmiedeeisernen Buchstaben das Weite suchen, muss ich mir ernsthaft Gedanken machen. Vielleicht steckte ja im Stellenangebot ein Fehler. Das hier ist gar kein Pflegeheim, sondern ich soll mir die Sorgen verbitterter Legehennen anhören … Ehrlich gesagt, fände ich die Vorstellung deutlich angenehmer als das, was mich tatsächlich hier erwartet.

Die letzten Schritte bis zur Eingangstür dauern eine Ewigkeit.

Eine Stufe. Noch kann ich weg.

Zwei Stufen. Ich muss nur zurück zum Auto.

Drei Stufen. Keiner wird was mitkriegen.

»Kommen Sie rein, wir haben schon auf Sie gewartet!«

Ich bin noch nicht ganz am Eingang angekommen, da steht eine Frau in der Tür. Groß, kräftig, das Haar so kraus, dass sie es als Stifthalter benutzt. Im Geiste suche ich nach einem Fluchtweg, nach irgendeiner Ausrede, um mich verkrümeln zu können, aber mir fällt nichts ein. Also lächle ich höflich, gebe ihr die Hand und folge ihr auf dem Weg zu meinen kommenden acht Monaten.

2

Ihre hohen Absätze hallen auf den weißen Fliesen wider. Zügigen Schrittes geht sie voran, ich folge ihr in gebührendem Abstand. Zwei Fliesen, ich bin ihr zu nah; vier Fliesen, ich bin in Sicherheit.

Am liebsten würde ich verschwinden, unsichtbar werden, sterben, mich in Luft auflösen, kehrtmachen, zurückspulen. Ja, genau das: Könnten wir bitte noch mal zurückspulen? Wir verabreden uns für ein andermal, irgendwann vor einiger Zeit, als noch alles in Ordnung war, als mein Leben noch nicht einem Horrorfilm glich, mit mir als der Frau, die mit der Kettensäge traktiert wird und trotzdem immer wieder auf die Beine kommt. Als noch nicht alles ins Wanken geraten, noch nicht alles zusammengebrochen war. Als ich noch dachte, auf diese Stellenanzeige zu reagieren sei die Idee des Jahrhunderts.

Was in aller Welt habe ich hier verloren?

Vor einer weißen Tür bleiben wir stehen. Die Frau, die mich in Empfang genommen hat, schiebt einen Schlüssel ins Schloss. Als ich hochschaue, lese ich auf einem Schildchen:

Direktorin

Anne-Marie Rouillaux

Aha, sie war das also, mit der ich mehrmals telefoniert habe. Sie betritt den Raum, umrundet ihren Schreibtisch und setzt sich hin.

»Schließen Sie doch bitte die Tür und nehmen Sie Platz.«

Ich gehorche, während sie einen Ordner aufschlägt und mit zusammengekniffenen Augen einige Unterlagen überfliegt. Ein Kaktus neben ihrem PC-Monitor scheint Klartext zu reden. Im Hintergrund tickt eine Uhr, in Zeitlupe, wie mir scheint. Oder mein Herz schlägt zu schnell.

Ich hole tief Luft. »Entschuldigen Sie bitte die Verspätung«, sage ich. »Kurz vor Biarritz gab es eine Baustelle, und der Stau vor der Behelfsampel hat ewig gedauert.«

Sie zieht den Stift aus ihrem Haar und notiert sich etwas auf einem weißen Blatt Papier. »Diesmal geht das in Ordnung, aber ich hoffe, es bleibt eine Ausnahme. Wir können es uns nicht erlauben, die Heimbewohner warten zu lassen, verstehen Sie?«

»Ja, ich verstehe.«

»Gut. Heute Vormittag können Sie erst einmal Ihre Unterkunft beziehen, unser Haus besichtigen und sich auf Ihren Start vorbereiten. Am Nachmittag treffen Sie dann Léa Marmon, deren Stelle Sie ab morgen übernehmen werden. Wegen ihres Zustands kann sie nicht länger bleiben, um Sie einzuweisen, aber sie wird versuchen, Ihnen in wenigen Stunden so viel wie möglich zu erklären. Das müsste genügen. Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass wir nicht viele Bewohner haben, genau genommen einundzwanzig, darunter ein Paar, das sich ein Appartement teilt.«

»Ach, es gibt Appartements?«

»So nennen wir die Unterkünfte«, antwortet sie und steht auf. »Jedes besteht aus einem kleinen Schlafzimmer, einem Wohnraum mit Kochnische und einem Bad. So, wenn Sie keine Fragen haben, ich habe noch einen Termin. Gehen Sie zum Empfang, Isabelle wird Ihnen Ihr Appartement zeigen.«

Ich stehe ebenfalls auf und folge ihr zur Tür.

»Willkommen in der Tamariske«, sagt sie lächelnd und schiebt sich den Stift zurück in ihren Lockenschopf. »Sie wissen es zwar noch nicht, aber Sie werden sich hier wohlfühlen!«

Während sie mich mit einer Geste hinauskomplimentiert, schießt mir durch den Kopf, dass ich mich eher mit einem Einhorn anfreunden würde, als mich in einem Altersheim wohlzufühlen. Die Frau hat ganz klar einen an der Waffel.

Oh Mann, was mache ich bloß hier?

3

Den zweiten Teil ihres Vornamens hat Isabelle verdient: belle. Schön. Lange schwarze Wimpern umrahmen ihre grünen Augen, und ihr Lächeln ist von der Sorte, an die sich vermutlich nicht mal Karies heranwagt. Ganz offensichtlich hatten die Feen, die sich einst über ihre Wiege beugten, gerade eine Gehaltsaufbesserung bekommen. Als ich mich vorstelle, verlässt sie die Empfangstheke, kommt auf mich zu und küsst mich auf beide Wangen.

»Wir duzen uns, okay?«, schlägt sie vor, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. »Wir duzen uns hier alle, außer Anne-Marie und die Bewohner natürlich. Trotzdem nennen wir sie beim Vornamen, ist irgendwie netter. Du bist also Julia?«

»Genau.«

»Ich habe gehört, dass du während deiner Vertretungszeit hier wohnen wirst. Komm, ich zeig dir dein Appartement, drüben im Nebengebäude.«

Sie greift nach meiner Hand und nimmt mich mit nach draußen, vor das Haupthaus. Auf dem gepflasterten Parkplatz stehen etwa ein Dutzend Bäume und mehrere Bänke. Auf einer von ihnen sitzt eine alte Dame und scheint auf einen Bus zu warten, in der Hand einen Gehstock, um die Schulter eine kleine schwarze Lederhandtasche, die Lippen farblich auf ihre rosa Mokassins abgestimmt.

»Alles in Ordnung, Lucienne?«, fragt Isabelle, während wir an ihr vorbeigehen.

Die alte Dame schaut sich suchend nach der Stimme um, bis sie uns durch ihre getönten Brillengläser hindurch ausfindig gemacht hat und ein Lächeln über ihr Gesicht huscht.

»Ja, ja, Kindchen, alles bestens, ich warte auf meinen Sohn, um mit ihm auf den Markt zu gehen. Ah, und heute Morgen hatte ich endlich Stuhlgang!«

»Das ist aber eine gute Nachricht!«, erwidert meine neue Kollegin. »Sie wissen ja: Töpfchen am Morgen, Tag ohne Sorgen!«

Ich halte kurz inne. Mein Auto steht nur ein paar Meter entfernt. Wenn ich mich beeile, merken sie gar nicht, dass ich mich aus dem Staub mache. Aber eine Art Resignation lenkt meine Schritte erneut in Isabelles Fahrwasser.

Das Nebengebäude, klein und zweistöckig, steht keine fünfzig Meter vom Haupthaus entfernt. Es handelt sich ebenfalls um einen Steinbau, mit vielen weiß gerahmten Fenstern und geschwungenen Balkons.

»Hier gibt es sieben Appartements«, erklärt mir Isabelle. »Die unteren vier sind reserviert für die Angehörigen, die hier übernachten wollen, und für ältere Leute, die erst einmal probewohnen möchten, bevor sie endgültig einziehen. Die Appartements im ersten Stock sind fürs Personal. Komm mit, ich zeige dir deins.«

»Sind die beiden anderen belegt?«, frage ich, während wir die Treppe hinaufgehen.

»Ja, da wohnen Marine und Greg. Marine ist Schwesternhelferin und wohnt hier, seit sie sich von ihrem Freund getrennt hat. Sie ist ganz witzig, aber unter uns, mir ist sie ein bisschen zu direkt. Greg ist der Animateur, er wohnt nur vorübergehend hier, weil seine Wohnung gerade renoviert wird. Du wirst sehen, er sieht aus wie ein junger Gott, aber um ihn verführen zu können, fehlt uns etwas Wesentliches, wenn du verstehst, was ich meine … So, hier ist es, dein neues Zuhause!«

Isabelle schließt eine weiße Tür auf und beginnt mit der Wohnungsführung. Die ist schnell erledigt, da es nur zwei Räume gibt: ein dunkles, behindertengerecht gestaltetes Bad und ein Wohn-Schlafzimmer, das offensichtlich vor mindestens einem halben Jahrhundert eingerichtet wurde. Ein Zweisitzer-Sofa mit senffarbenem Samtbezug, ein runder Tisch mit Spitzendeckchen, eine Kommode aus einer undefinierbaren Stilepoche, ein mittelalterlicher Fernseher, ein an der Wand stehendes schmales Bett und bordeauxfarbene Samtvorhänge bilden mein neues Zuhause. Am liebsten würde ich heulen.

»Und jetzt der Höhepunkt«, verkündet Isabelle und öffnet eine Glastür. »Komm, und sieh dir die Aussicht an!«

Ich trete mit ihr auf den Balkon hinaus. Vor uns erstreckt sich der kleine Park des Seniorenheims mit seinem weißen, sich zwischen wuchtigen Bäumen hindurchschlängelnden Kiesweg, seinem Gemüsegarten, seinen dichten Sträuchern und einigen Holzbänken hier und da. Das Gras ist so grün, dass es fast unecht wirkt.

Am Ende des Parks markiert ein Zaun die Grundstücksgrenze. Dahinter kommt erst mal nichts. Und dann – und der Anblick verschlägt mir den Atem – der Ozean, so weit das Auge reicht.

»Na, ist das nicht wunderbar?«, fragt Isabelle stolz.

»Doch, es ist wirklich schön«, antworte ich und merke, wie sehr mir das Meer gefehlt hat.

»Siehst du! Ich habe es dir ja gesagt! Das hier ist das Paradies. So, ich lass dich jetzt erst mal in Ruhe ankommen. Wenn du mich brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.«

Völlig in Gedanken, höre ich kaum, wie die Tür zufällt. Keine Frage, der Ausblick ist herrlich. Aber ein Pflegeheim als »Paradies« zu bezeichnen, scheint mir, gelinde gesagt, optimistisch. Zum tausendsten Mal frage ich mich, was ich hier verloren habe.

Alles ist an jenem Samstagabend aus den Fugen geraten.

An dem Abend, als mein Vater starb.

4

Als ich abnahm, herrschte am anderen Ende Stille. Wenn einem am Telefon Schweigen entgegenschlägt, ist das nie ein gutes Zeichen.

»Maman?«

»…«

»Maman, alles in Ordnung?« Meine Lippen bebten, als hätten sie schon vor mir begriffen.

Marc drückte auf »Pause«, ich setzte mich hin und legte auf. Offenbar hatte meine Mutter keinen Empfang. Oder hatte nur aus Versehen auf meine Nummer gedrückt. Ja, so musste es gewesen sein. Ich rief dann aber doch zurück, sicherheitshalber. Sie nahm ab, und ihre Stimme klang tränenerstickt.

»Schätzchen, dein Vater hatte einen Herzinfarkt.«

»Ist er okay?«

»…«

»Maman!«, schrie ich. »Maman, ist er okay? Bitte …«

»Er ist tot, Schätzchen. Er ist tot …«

Sie erzählte mir alles, aber es blieben nur Wortfetzen hängen. Küche, Rinderbraten, umgekippt, Notarzt, Herzmassage, leider vergeblich. Dann weinten wir minutenlang gemeinsam und sagten kein Wort. Ich umklammerte das Telefon, dabei hätte ich viel lieber meine Mutter im Arm gehalten. Schließlich legten wir auf. Ich sagte zu Marc, meinem Zukünftigen, er könne die Episode ruhig weiterlaufen lassen, und ließ meinen Kopf auf seinen Bauch sinken, als wäre nichts geschehen. Jede Faser meines Körpers weigerte sich, die Realität zu akzeptieren.

Erst kurz vor dem Schlafengehen, als mir beim Abschminken mein entsetztes Gesicht aus dem Spiegel entgegenstarrte, hat es mich voll erwischt. Mein Vater war tot. Es gab ihn nicht mehr. Es würde ihn nie mehr geben. Er würde mich nie wieder in die Wange kneifen und mich »Juju« nennen, er würde sich nie mehr über meine Unpünktlichkeit aufregen, nie mehr in seinem grünen Sessel sitzen und die Fußballzeitschrift L’Équipe lesen.

Er würde mich nicht zum Altar begleiten, nicht mehr den Brotknust essen, noch bevor er sich zu Tisch setzt, nicht mehr seine Schuhe vor der Tür abstellen. Ich würde seine Haare nicht mehr ergrauen sehen, seine Stimme nicht mehr hören, würde mich nie mehr gemeinsam mit ihm über Mamas Kochkünste lustig machen, nie mehr das Gesicht verziehen, wenn seine Bartstoppeln meine Wangen piksten.

Ich würde nie mehr »Papa« sagen.

Eine meiner größten Befürchtungen hatte sich soeben bewahrheitet. Wir waren jetzt genau an dem Punkt, wo alles aus den Fugen geriet. Nichts würde je wieder sein, wie es war.

Das Spiegelbild, das mir entgegenblickte, verzerrte sich, und ein animalischer Laut drang aus meiner Kehle. Dann noch einer. Und noch viele weitere. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu schreien, bis ich irgendwann völlig außer Atem war und in dem kleinen Badezimmer auf den Knien lag.

Ich hatte nur den einen Gedanken: zu meiner Familie zu fahren, mich meiner Mutter in die Arme zu werfen, meine Schwester fest an mich zu drücken, in seiner Nähe zu sein. Aber ich war in Paris, und meine Familie war in Biarritz. Ich musste warten, bis am nächsten Tag der Zug fuhr. In dieser Nacht habe ich kein Auge zugetan.

In manchen Momenten dachte ich für ein paar Sekunden an etwas anderes und vergaß, was passiert war. Und im nächsten Augenblick traf mich die Wirklichkeit mit voller Wucht, wie ein Stromschlag. Mein Vater war tot.

In den folgenden Monaten überrollte mich ein Brecher nach dem anderen. Ich lag entspannt im Sand, da schlug plötzlich mit aller Gewalt eine Welle über mir zusammen. Ich war kurz davor zu ertrinken. Deshalb erschien mir das Stellenangebot, auf das ich letzte Woche gestoßen bin, wie ein Rettungsring: »Pflegeheim in Biarritz sucht dringend qualifizierte Psychologin als Schwangerschaftsvertretung. Auf Wunsch Unterbringung vor Ort.« Die Aussicht, mit alten Leuten zu arbeiten, begeisterte mich ungefähr so sehr wie die, eine Spinne zu küssen, aber es ging ums nackte Überleben.

Der kalte Wind jagt mir Schauer durch den Körper. Ich werfe einen letzten Blick auf meine neue Bleibe, bevor ich das »Appartement« verlasse, um meine Koffer zu holen. Ein Sonnenstrahl bahnt sich seinen Weg durch die Wolken, um ins Meer einzutauchen. In einem Anflug von Zuversicht sehe ich darin ein Zeichen und wage zu hoffen, dass ich das Richtige getan habe. Eine wahnwitzige Hoffnung, die umgehend von Isabelles aus dem Park heraufschallender Stimme zunichtegemacht wird: »Sie haben schon wieder vergessen, sich eine Windel anzuziehen, Paulette!«

5

Die Psychologin ist gerade dabei, ihre persönliche Habe in einen kleinen Karton zu packen, als ich ihr Büro betrete. Sie kommt auf mich zu und streckt mir ihre Hand und ihren Bauch entgegen.

»Du musst Julia sein! Ich bin Léa, freut mich.«

»Ja, die bin ich, freut mich auch! Brauchst du Hilfe?«

»Bin fast fertig«, antwortet sie, während sie ein paar Bücher aufeinander stapelt. »Hat Anne-Marie dir erklärt, warum ich gehe?«

»Da eine Schwangerschaftsvertretung gesucht wurde, nehme ich an, du bist schwanger?«

»Im fünften Monat, aber ich habe jetzt schon Wehen. Ich soll jetzt möglichst jeden Stress meiden, deshalb hat mein Frauenarzt mich krankgeschrieben. Hast du Kinder?«

»Nein.«

»Wir haben es zwei Jahre lang versucht, deswegen ist die Sache für mich klar. Ich will nicht wegen der Arbeit riskieren, das Kind zu verlieren. Ist nämlich ganz schön anstrengend hier, auch wenn’s nicht so aussieht … Wo hast du vorher gearbeitet?«

»In einer Pariser Klinik. War ziemlich hektisch dort, alles ging immer drunter und drüber.«

»Hier ist es auch ein bisschen so. Wenn man den ganzen Tag mit alten Leuten zu tun hat, wünscht man sich, jung zu sterben. So, genug geplaudert, an die Arbeit!«

Ich zücke Notizheft und Stift, um sicher zu sein, dass ich auch alles behalte.

»Die Bewohnerakten sind alle im Computer gespeichert«, erklärt mir Léa und klickt nacheinander mehrere Icons an. »Hier gibt man die Infos ein, die man täglich sammelt, aber eigentlich arbeitet man nur selten im Büro. Man muss jeden Bewohner mindestens einmal pro Woche besuchen, die Gespräche finden immer bei ihnen in der Wohnung statt. In ihrer vertrauten Umgebung bringt man sie leichter zum Reden. Hast du schon mal mit alten Leuten gearbeitet?«

»Mein Berufspraktikum am Ende des Studiums habe ich in einer geriatrischen Abteilung gemacht, aber das ist schon eine Weile her.«

»Es ist sonderbar, du wirst schon sehen. Sie haben das Gefühl, dass es ihnen nichts bringt, mit dir zu reden, deshalb vertrauen sie dir nicht viel an. Ich begnüge mich damit, sie nach ihrer Tagesverfassung zu fragen. Meistens geht es ihnen so einigermaßen, und wenn nicht, lässt man ihnen eben Antidepressiva verschreiben. Du brauchst da keine Scheu zu haben, in ihrem Alter kann man sowieso nicht mehr viel für sie tun.«

Tolle Psychologin. Die hat ja offenbar das Zartgefühl eines Trampeltiers.

»Ach so? Ich kann mich eher daran erinnern, dass sie das Bedürfnis hatten, einem das Herz auszuschütten …«

»Mal sehen, ob du es besser hinkriegst als ich, aber ich habe da meine Zweifel. Sie sind schwierig. Ehrlich gesagt bin ich heilfroh, dass ich vorzeitig meinen Mutterschaftsurlaub antreten kann. Wenn du bis zu meiner Rückkehr durchhältst, ist das eine echte Leistung. Komm, ich stell dich den Bewohnern vor, und dann verschwinde ich.«

Léa sprintet förmlich zum Gemeinschaftsraum. Ich muss fast neben ihr herrennen, um nicht abgehängt zu werden.

Sie hat es eilig, und ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn ich könnte, würde ich auch zum Ausgang rennen. Ihre düstere Prognose hat mir den letzten Funken Enthusiasmus geraubt. Ich hatte mit der winzigen Möglichkeit gerechnet, dass die Bewohner dieses Seniorenheims vielleicht entzückende alte Menschen sind, die mich dazu bringen würden, meine Meinung über das Altern zu ändern. Aber ich sollte mir besser nichts vormachen.

Ich mag alte Leute nämlich nicht. Na ja, eigentlich ist es nicht so, dass ich sie nicht mag, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich sie mag. Die Sache ist die, dass sie mir Angst machen. Sie stehen auf Du und Du mit dem Tod, während ich ihn lieber gar nicht kennen würde. Ich gehe ihm jedenfalls konsequent aus dem Weg.

Außerdem muss man ja wohl oder übel zugeben, dass alte Leute nicht besonders interessant sind. Nichts gleicht einem alten Menschen so sehr wie ein anderer alter Mensch – das ist ein bisschen wie mit Babys oder Pudeln. Alle haben die gleiche Frisur, den gleichen krummen Rücken, den gleichen säuerlichen Geruch, die gleiche Brille, das gleiche Zittern und das gleiche Selbstmitleid.

»So, da sind wir!«, verkündet Léa.

Die zweiflügelige Tür ist zu. Léa drückt den Griff herunter und stößt sie auf. Ich presse mein Notizheft gegen meine Brust und betrete den Gemeinschaftssaal. Im Halbkreis, der Tür gegenüber, blicken mich etwa zwanzig verknitterte Gesichter an, und auf ein Zeichen von Léa rufen sie im Chor: »Willkommen, Juuuliiiaaa!«

Ich setze mein professionellstes Lächeln auf. Wie um Himmels willen soll ich die nur auseinanderhalten?

6

Léa ist weg. Sie hat mir die Büroschlüssel in die Hand gedrückt, »Auf Wiedersehen« in den Raum gerufen und sich so hastig aus dem Staub gemacht, dass mir angst und bange wurde. Die Psychologin im Pflegeheim Tamariske bin jetzt ich.

Offenbar steht mir die Angst ins Gesicht geschrieben, denn ein großer dunkelhaariger Mann, eindeutig kein Heimbewohner, kommt mit einem breiten Lächeln auf mich zu.

»Hallo, ich bin Greg, der Animateur. Nicht ganz einfach, der erste Tag, oder?«

»Ich bin noch ein bisschen verloren, aber das wird sich schon geben. Danke!«

»Keine Sorge, alles wird gut laufen. Ich nehme an, Léa hat dir das Pflegeheim in den düstersten Farben geschildert. Diese Frau ist der personifizierte Pessimismus. Komm, das ändern wir sofort!« Er hakt sich bei mir unter und schleppt mich zu den Heimbewohnern, die sich nicht von der Stelle gerührt haben.

Nacheinander stellt er sie mir vor. Ich schüttle jedem die Hand und versuche, mir die einzelnen Vornamen zu merken, gebe aber schnell auf. Nur fünf Namen bleiben hängen: Lucienne, die alte Dame mit der schwarzen Handtasche, die heute Morgen auf der Bank saß und auf ihren Sohn wartete; Léon, der es nicht für nötig hält, von seinem Smartphone aufzuschauen; Maryline, die stolz einen Schal mit dem Aufdruck »Miss Oma 2004« trägt; Louise, die meine Hand etwas länger drückt als die anderen; und Gustave, der mich »Alles klärchen, Klara?« fragt und schallend lacht, als ich antworte, ich hieße Julia. Er ist es auch, der, nachdem ich die letzte Hand geschüttelt habe, zu klatschen beginnt und »Eine Rede, eine Rede!« skandiert. Sogleich fallen sämtliche Mitbewohner in seine Rufe ein. Greg nickt mir kurz zu, was wohl bedeutet, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Ich räuspere mich, drücke meine Fingernägel ins Notizheft und setze eine samtweiche Stimme auf.

»Guten Tag allerseits, ich bin Julia, Ihre neue Psychologin. Ab morgen werde ich jede Woche bei Ihnen vorbeischauen, um mich zu erkundigen, wie es Ihnen geht. Natürlich stehe ich Ihnen auch sonst zur Verfügung, wann immer Sie mich brauchen. Ich bin sehr glücklich, hier bei Ihnen in der Tamariske zu arbeiten, und werde mein Bestes tun, um Sie in Ihrem Alltag zu begleiten.«

Ein paar laue Klatscher antworten auf meine Begrüßungsrede. Während die Heimbewohner mit oder ohne Stock, Rollstuhl oder Rollator den Raum verlassen, kommt Greg auf mich zu.

»Nächstes Mal musst du lauter sprechen, viele der Bewohner hören schlecht. Ansonsten hast du deine Sache gut gemacht, sogar Léon hat sich halbwegs benommen.«

»Léon ist der, der auf seinem Handy rumgespielt hat, stimmt’s?«

»Ganz genau, ein richtiger Nerd. Er kommt nicht los von seinen Spielgeräten, außer um zu meckern oder sich über etwas zu beschweren. Seit zwei Jahren versuche ich, irgendwelche guten Eigenschaften an ihm zu entdecken, aber ohne Erfolg. Wahrscheinlich hätte ich größere Chancen, noch ein botoxfreies Fleckchen in Madonnas Gesicht zu finden, als ein bisschen Menschlichkeit bei Léon.«

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft lächele ich.

»Ich habe noch ein bisschen Zeit vor dem Bingo, willst du, dass ich dir das Haus zeige?«, schlägt Greg vor.

Freudig willige ich ein, auch weil sein Lächeln so ansteckend ist, dass es einen Platz unter den sieben Weltwundern verdient. Alles hier ist mir fremd. Ich fühle mich wie ein kleines Schulmädchen, das zu Jahresbeginn in eine neue Klasse kommt und froh ist, als ein Schulkamerad ihr anbietet, sie zu begleiten und ihr alles zu zeigen.

Während ich Greg folge, bereit, alles, was ich an Informationen von ihm bekomme, in meinem Heft zu notieren, höre ich eine Stimme hinter mir krähen: »Sie ist hübscher als die andere, aber sie sieht noch unfreundlicher aus.«

7

Als ich mitten in der Nacht im Park der Tamariske Stimmen höre, bekomme ich Herzrasen.

Ich bin ein Angsthase. Früher wurde ich eine Zeit lang »Hui Buh« genannt, und ich muss zugeben, der Name passt besser zu mir als Julia. Jedes Mal, wenn ich jemandem unvermittelt begegne, zucke ich zusammen. Eine Skiabfahrt am Idiotenhügel ist für mich ein gefährlicher Extremsport, und wenn ein etwas größerer Hund auf mich zuläuft, erstarre ich zur Salzsäure.

Einmal, ich muss so um die fünfzehn gewesen sein, hörte ich meine Mutter in der Küche schreien. Ich lief hin. Sie stand am Herd und versuchte, die Flammen zu löschen, die aus einer Pfanne schlugen. Im Geiste sah ich mich nach einem Geschirrtuch greifen, es unter Wasser halten und damit seelenruhig das Feuer ersticken. Aber nur im Geiste. In Wirklichkeit rannte ich kreischend aus der Küche und rief nach Papa.

Ein andermal saß ich vor Marcs Büro im Auto und wartete auf ihn, als ein Mann fest gegen die Fensterscheibe klopfte. Es war schon dunkel, und der Mann trug ein Kapuzenshirt mit einem aufgedruckten Tiger, das machte mir Angst. Also habe ich nicht lange gefackelt und ihm einen Stoß Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Dabei war es nur Marcs Kollege, der mir netterweise Bescheid sagen wollte, dass Marc sich verspäten würde.

Als ich also jetzt im nächtlichen Park diese leisen Stimmen höre, schnürt sich mir die Kehle zu, und mein Herz spielt ein rasendes Trommelsolo.

War ja auch wirklich eine super Idee, um diese Zeit rauszugehen.

Ich konnte nicht schlafen, weil mir zu vieles durch den Kopf ging. Der richtige Moment für eine Zigarette. Da ich eine Packung im Auto hatte, ging ich nach unten, holte sie aus dem Wagen, und wo ich schon mal draußen war, beschloss ich, mir im Park ein bisschen die Beine zu vertreten. Im Mondschein habe ich mich dann viel weiter vom Gebäude entfernt, als mir bewusst war. Erst jetzt, wo ich die Stimmen vernehme, merke ich, dass ich ja schon am Ende des Parks angekommen bin, da, wo mich niemand hören würde, wenn ich schreie. Ich mache wirklich die dümmsten Sachen, wenn ich müde bin.

Tief Luft holen. Es ist nach Mitternacht, und meiner eisigen Nase nach zu urteilen, herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Kaum anzunehmen, dass außer mir noch jemand so blöd ist, draußen herumzulaufen. Diese Stimmen muss ich mir eingebildet haben, das ist die einzig vernünftige Erklärung.

Ich werde jetzt schnell in mein ödes Appartement zurückkehren, die Tür abschließen, die Kommode davorschieben und friedlich einschlafen. Genauso mache ich es.

Zügig durchquere ich den Park und will gerade das Nebengebäude betreten, als ich in der Nähe des Hauptgebäudes Schritte höre. Ich versuche, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber da ich wie Espenlaub zittere, gelingt es mir nicht. Gleichzeitig schaue ich mich immer wieder um, und mir stockt das Blut, als ich einen Schatten bemerke, der am Gemüsebeet entlangschleicht. Für ein paar Sekunden bin ich wie gelähmt, lang genug, um hinter der Mauer einen Kopf auftauchen zu sehen, der in meine Richtung schaut und sofort wieder abtaucht. Ich wurde bemerkt.

Geht dieser verdammte Schlüssel jetzt endlich mal ins Schloss? Ich werde doch wohl nicht hier sterben, erwürgt von einem Geistesgestörten im Park eines Pflegeheims, nur bekleidet mit meinem rosa Flanellpyjama, meiner Daunenjacke und Hausschuhen mit Katzenohren!

Ich drehe und zerre an meinem Schlüssel, drücke ihn mit aller Kraft ins Schloss, flehe den Gott der Türen an – nichts zu machen, er will nicht reingehen. Hinter mir höre ich, wie sich die Schritte langsam nähern. Mein Herz schlägt nicht mehr nur in der Brust, sondern auch im Hals, in den Augen, den Fingern, den Ohren, den Haaren, den Schnurrhaaren meiner Hausschuhe.

So fühlt es sich also an, wenn das Ende naht!

Mein Mörder ist hinter mir, nur noch wenige Meter entfernt, ich spüre beinahe schon seine Hände an meinem Hals. Oh Mann, mit zweiunddreißig Jahren zu sterben, das ist wirklich übel. Vor allem, wo der Kerl nur ein paar Meter weiter hätte suchen müssen, um ein Opfer zu finden, das sowieso bald gestorben wäre. In einem letzten Aufflackern von Geistesgegenwart, kurz vor dem Nichts, begreife ich, dass der Schlüssel, den ich vergeblich ins Schloss zu schieben versuche, zu meinem Appartement und nicht zur Haustür gehört. Mit angehaltenem Atem greife ich nach dem richtigen Schlüssel und stoße einen Schrei der Erleichterung aus, als er ins Schloss gleitet. Ich knalle die Tür hinter mir zu, stürze die Treppe hinauf, schließe mich in meiner Wohnung ein und presse mein Ohr an die Tür.

Nach vierzig Minuten muss ich wohl oder übel einsehen, dass das Einzige, was mich verfolgt hat, die Stille ist.

Nach zwei Stunden haben sich meine Muskeln wieder entspannt, meine Zähne haben aufgehört zu klappern, und mein Herz hat zu seinem normalen Rhythmus zurückgefunden.

Möglicherweise habe ich ein kleines bisschen überreagiert.

8

»Wie fühlen Sie sich heute?«

Louise ist meine erste Patientin an meinem ersten Arbeitstag. Sie sitzt in einem dem großen Fenster zugewandten Sessel und strickt, während ich mich ihr gegenüber auf einem Stuhl niederlasse. Sie zittert ganz leicht, altersbedingt. Ich zittere ebenfalls leicht, lampenfieberbedingt.

Ihr Appartement quillt über von bunt zusammengewürfelten Möbeln, Nippes, gerahmten Fotos, Büchern, Stricksachen. Für einen Fremden lauter nichtssagendes Zeug, aber in Louises Augen haben all diese Sachen sicher ihren besonderen Wert. Vermutlich hat sie sich genau überlegt, welche ihrer Besitztümer aus ihrem Leben verschwinden mussten und welche sie in ihr letztes Zimmer begleiten durften.

»Mir geht es von Tag zu Tag besser«, antwortet sie und legt ihr Strickzeug zur Seite. »Ich fange an, mich zurechtzufinden. Wissen Sie, dass ich erst seit Kurzem hier bin?«

»Ich habe es in Ihrer Akte gelesen. Seit drei Monaten, stimmt’s?«

»Ja, fast drei Monate. Nach meinem blöden Unfall habe ich zuerst fünf Wochen im Krankenhaus verbracht, und dann haben die Ärzte beschlossen, dass ich nicht mehr nach Hause zurück darf. Also haben meine Kinder mir hier einen Platz besorgt, angeblich ist es das beste Pflegeheim in der Gegend. Ich bin hier gar nicht so unglücklich …«

»Möchten Sie, dass wir über Ihren Unfall sprechen, Louise?«

»Och, da gibt’s nicht viel zu sagen. Ich war auf dem Markt und bums, lag ich am Boden und war bewusstlos. Als ich ein paar Tage später aufgewacht bin, hatte ich die letzten vierzig Jahre meines Lebens vergessen. Können Sie sich das vorstellen? Vierzig Jahre, innerhalb weniger Sekunden einfach futsch!«

»Was war das für ein Gefühl?«

»Es war schrecklich. Als ich dreißig war, ist eines Tages in dem Haus, in dem ich mit meinem Mann und den Kindern wohnte, ein großes Feuer ausgebrochen. Der Brand hat alles vernichtet, einfach alles. Wir haben unser Haus verloren, unsere Möbel, sämtliche Dokumente, unsere Kleidung … Aber am schmerzlichsten war der Verlust der Erinnerungen. Die Babyfotos meiner Kinder, die Dias, ihre Zeichnungen, ihre Gedichte, die Briefe, die sie uns aus den Ferienlagern geschrieben haben, die Fotos meiner Eltern, die von unserer Hochzeit …«

Sie hält inne und schaut aus dem Fenster. »Wenn man all diese Dinge nicht mehr hat«, fährt sie fort, »darf das Gedächtnis einen nicht im Stich lassen. Es hat ja keine Zweitbesetzung mehr. Oh, wie dumm von mir! Ich habe Ihnen gar nichts zu trinken angeboten! Wollen Sie einen Kaffee, einen Tee, einen Kakao? Meine Tochter hat mir eine ganz raffinierte Maschine geschenkt, da braucht man nur eine Kapsel reinzustecken, und sie bereitet einem automatisch das heiße Getränk zu.«

Hätten Sie vielleicht einen Whisky?

»Einen Kakao nehme ich gern, vielen Dank! Also, wir sprachen von Ihrem Gedächtnis …«

»Ja, ja, ich weiß!«, erwidert sie auf dem Weg zur Kochnische. »Mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert zum Glück noch sehr gut. Von diesem Brand habe ich Ihnen erzählt, um Ihnen zu erklären, was ich empfunden habe. Es ist schon schlimm genug, Erinnerungen materieller Art zu verlieren. Aber kein Vergleich dazu, wie ich mich gefühlt habe, als man mir verkündete, vierzig Jahre seien aus meinem Gedächtnis gestrichen. Wissen Sie, vor vierzig Jahren, da waren meine Kinder noch keine zwanzig, mein Mann lebte noch, ich selbst war jung, meine Enkelkinder waren noch nicht auf der Welt … ganz zu schweigen davon, dass es noch keine Handys, nicht diese Unmengen von Fernsehsendern, kein Internet und keine Nasenringe gab!«

Beim Lesen ihrer Akte habe ich Louise beinahe darum beneidet, dass sie einen Teil ihres Lebens vergessen hat. Ich gäbe einiges dafür, wenn die letzten sechs Monate aus meinem Leben gestrichen würden. Doch jetzt, wo ich sehe, wie sie mit den Tränen ringt, beneide ich sie nicht mehr.

»Danke!«, sage ich und nehme die Tasse entgegen, die sie mir reicht. »Was haben Sie getan, um mit dieser Situation zurechtzukommen?«

»Na ja, ganz einfach«, antwortet sie mit einem Schulterzucken, als wäre es das tatsächlich. »Als man mir sagte, ich würde mein Gedächtnis nicht zurückbekommen, hatte ich zwei Möglichkeiten: entweder es nicht zu akzeptieren und für den Rest meiner Tage unglücklich zu sein, oder es zu akzeptieren und meine letzten Jahre in Frieden zu leben. Ich hatte schon immer ein ziemliches Faible fürs Glücklichsein und habe mich fürs Akzeptieren entschieden.«

»Eine sehr gute Einstellung!«

»Ich habe auch großes Glück, wissen Sie. Ich bin vierundachtzig, höre jedes Vogelgezwitscher, kann mit Brille noch gut lesen, sogar ein paar eigene Zähne sind mir geblieben. Viele Leute in meinem Alter sind nicht so gut in Form. Außerdem ist meine Vergangenheit ja nicht wirklich verschwunden, ich erinnere mich bloß nicht mehr daran. Meine Kinder, meine Enkelkinder und die Menschen, die mir nahestehen, die erinnern sich. Diese vierzig Jahre haben ja existiert.«

Sie steht auf und nimmt ein gerahmtes Foto von einer Kommode. Darauf sieht man sie mit strahlender Miene inmitten einer Gruppe von Personen unterschiedlichen Alters.

»Sehen Sie mal«, sagt sie, während sie mir das Foto reicht, »meine Kinder und Enkelkinder. Das war vor fünfzehn Jahren. Da fehlt mein jüngster Enkel noch, und meine beiden Urenkel sind erst später zur Welt gekommen, aber es ist eins der wenigen Fotos, auf denen wir alle versammelt sind. Ich habe vier Kinder, zehn Enkel und zwei Urenkel, die alle sehr lieb zu mir waren, als ich wieder zu mir gekommen bin. Glauben Sie mir, ich habe wirklich keinerlei Grund zum Unglücklichsein. Haben Sie auch eine große Familie?«

Ich schüttele den Kopf und wechsele das Thema: »Wenn ich Sie bitten würde, Ihr allgemeines Befinden auf einer Skala von eins bis zehn einzuordnen?«

Louise überlegt nicht lange. »Neun, würde ich sagen«, antwortet sie. »Einen Punkt ziehe ab, der betrifft das Aufstehen. Jeden Morgen brauche ich gute zehn Minuten, um aus dem Bett zu kommen. Ich fühle mich dann immer wie ein mehrmals zusammengefaltetes Stück Papier, das man vorsichtig auseinanderfalten muss, damit es nicht zerreißt.«

Während ich ihre Antwort in mein Notizheft eintrage, um sie später in den Computer einzugeben, mustert sie mich.

»Und Sie?«, fragt sie mich plötzlich unvermittelt. »Wie fühlen Sie sich auf einer Skala von eins bis zehn?«

9

Heute Mittag gibt es Würstchen mit Püree. Das Menü prangt in großen Buchstaben auf der Tafel, als hätte es allen Grund, stolz auf sich zu sein. Obwohl es gerade erst halb zwölf ist, sind die Heimbewohner alle schon beim Essen.

Im Speisesaal stehen fünf runde Tische, weit genug voneinander entfernt, um Rollstühle und Rollatoren ungehindert durchzulassen. Greg hat mir gestern erklärt, dass die Mitglieder des Personals reihum den Service übernehmen. »In der Tamariske gilt das Motto ›Jeder macht mit‹«, hat er gesagt. Solange ich bei niemandem das Klo putzen muss, soll’s mir recht sein.

Heute wirbeln Isabelle und eine kleine Blondine zwischen den Heimbewohnern umher, um hier und da jemandem beim Essen zu helfen. Gregs heftigem Winken folgend, steuere ich auf seinen Tisch zu, offenbar der Personaltisch. Dort steht ein Gedeck für mich bereit. Ich setze mich, während Greg mich mit meinen Tischnachbarn bekannt macht. Anne-Marie, die Direktorin, die gerade zu sehr mit dem Kleinschneiden ihres Würstchens beschäftigt ist, um mich zu begrüßen, kenne ich ja bereits. Außerdem mache ich jetzt Bekanntschaft mit all denen, die hier in Vollzeit arbeiten: Jean-Paul, der Koordinationsarzt, Sarah, eine der Schwesternhelferinnen, Laura, die Krankengymnastin, Moussa, der Krankenpfleger, Stéphanie, die Verwaltungsangestellte.

»Außerdem Isabelle, unsere Empfangsdame, die du ja schon kennst, und Marine, die Schwesternhelferin«, fährt Greg fort und zeigt auf die beiden Genannten, die gerade versuchen, eine alte Frau davon zu überzeugen, dass das Püree selbstgemacht ist.

Kaum ist die Vorstellungsrunde beendet, beginnen die Fragen. Man könnte meinen, ich hätte es mit Gefängnisinsassen zu tun, die seit Jahren keinen menschlichen Kontakt mehr hatten.

»Ich komme aus Paris, bin aber ursprünglich von hier; nein, ich habe keine Kinder; auch kein Tier, nein; in einer Klinik in Paris, ja; ich bin auch nicht verheiratet; einen Freund – ja … also … nein … also, das ist kompliziert; nein, sportlich bin ich nicht besonders; weil die Stelle mir gefiel; nein, das sage ich nicht nur, weil Anne-Marie hier sitzt; zweiunddreißig …«

Ich bin schon völlig verzweifelt, weil ich nicht zum Essen komme, als eine laute Männerstimme uns unterbricht.

»Der Schuldige soll sich stellen, oder ich zeige jeden von Ihnen einzeln an!«, brüllt ein alter Mann, der kerzengerade an seinem Platz steht wie ein Soldat in Habachtstellung.

»Was ist denn jetzt schon wieder los, Léon?«, ruft Marine und verdreht die Augen.

»Was los ist? Während ich auf dem stillen Örtchen war, ist mein Gebiss verschwunden. Ich hatte es auf meine Serviette gelegt, und jetzt ist es nicht mehr da.«

»Aber warum haben Sie denn Ihr Gebiss rausgenommen?«, fragt Isabelle.

»Kartoffelpüree esse ich eben gern ohne Gebiss. Ich habe ja wohl noch das Recht zu tun, was mir gefällt!«

Rings um Léon essen die Bewohner schweigend weiter.

»Ich warne Sie«, zetert der Alte. »Wenn ich mein Gebiss nicht in einer Minute wiederhabe, gehe ich mit der Sache vor Gericht. Das ist Mobbing. Das lasse ich mir nicht gefallen!«

»Sie gehen uns auf die Nerven, Léon!«, ruft Miss Oma 2004. »Wir haben Ihre Szenen allmählich satt. Sie wissen ganz genau, wo Ihr Gebiss ist.«

»Und ewig grüßt das Murmeltier«, lacht der Krankenpfleger.

»Kommt das öfter vor?«, frage ich.

»Ja, regelmäßig. Man könnte meinen, er macht es mit Absicht … Er lässt seine Sachen herumliegen, obwohl er genau weiß, wie das endet.«

Da das Spektakel mich neugierig gemacht hat, behalte ich den Schauplatz im Auge. Am Nachbartisch schiebt Gustave seinen Stuhl zurück, stützt sich auf seinen Rollator und geht langsam auf Léon zu. Bei ihm angekommen, legt er ihm eine Hand auf die Schulter und lächelt ihn an.

»Na, alter Freund, haben Sie denn gar keinen Humor?«

»Das nennen Sie Humor?«, entgegnet Léon. »Geben Sie mir sofort mein Gebiss zurück, oder …«

»Oder was? Wollen Sie mich dann beißen?«

An den Tischen wird gegluckst. Louise presst sich ihre Serviette auf den Mund, um nicht laut loszuprusten.

»Ich warte …«, zischt Léon.

»Dann nehmen Sie es sich doch, Ihr Gebiss«, erwidert Gustave süffisant und mit breitem Lächeln.

»Wo ist es denn?«

»Sehen Sie es nicht?«, piesackt Gustave weiter, und sein Lächeln wird noch breiter. Er nähert sich mit seinem Gesicht dem von Léon und reißt den Mund weit auf.

Isabelle schüttelt den Kopf. »Oh nein, Gustave, das haben Sie doch nicht allen Ernstes getan! Tragen Sie etwa das Gebiss von Léon?«

Der alte Mann brüllt vor Lachen über seinen bösen Streich, die meisten Heimbewohner und Mitglieder des Personals ebenfalls. Auch ich, das gebe ich zu. Léons betretene Miene und das stolze Gesicht von Gustave, der zwei Reihen Zähne entblößt, die viel zu groß sind für sein Gebiss, bringen meine miese Laune heftig ins Wanken.

»Julia, morgen ist Eisbärentag, hast du Lust mitzukommen?«, fragt Greg, während er sich etwas zu trinken einschenkt.

»Eisbärentag? Was ist das denn?«

»Einmal im Monat trifft sich ein Grüppchen von Heimbewohnern, um im Meer zu baden, ganz gleich zu welcher Jahreszeit.«

Diese Bekloppten.

»Muss ich denn auch baden?«

»Na klar, wenn du mitkommst, musst du ins Wasser!«

Die Blicke meiner neuen Kollegen sind allesamt auf mich gerichtet. Sie testen mich, die Sadisten. Wenn ich Nein sage, stehe ich als Angsthase da oder, schlimmer noch, als die Hochnäsige, die sich nicht an ihren Aktivitäten beteiligen will. Wenn ich Ja sage, werde ich vermutlich erfrieren. Schwere Entscheidung.

»Okay, ich komme mit!«

Ich weiß nicht, wer diese Worte gesagt hat, aber mir war, als hätte ich meine Stimme wiedererkannt.

Wenn sogar mein eigener Körper mich hintergeht, gibt es wohl niemanden mehr, der Mitleid mit mir hat.

10

Sie hätten sich ruhig eine Tageszeit aussuchen können, zu der die Sonne scheint. Aber nein. Es ist acht Uhr morgens, und es ist kalt, verdammt kalt, so eiskalt, dass sämtliche Haare an meinem Körper strammstehen. Ein kleiner Haufen Geistesgestörter, dem auch ich angehöre, macht sich bereit, sich in den Atlantik zu stürzen.

Seit meiner Ankunft in Biarritz hatte ich ausreichend Gelegenheit, mich zu fragen, ob es richtig war, alles hinzuschmeißen und hierherzuziehen. Heute Morgen, wo meine Füße im eisigen Sand stehen, wo der züchtigste all meiner Badeanzüge mein einziger Schutz gegen die Windattacken ist, wo meine Zähne wie Kastagnetten klappern, da stelle ich mir diese Frage nicht mehr. Die Sache ist sonnenklar: Ich bin verrückt geworden. Irgendetwas in meinem Kopf hat einen Knacks gekriegt.

»Seid ihr bereit?«

Greg geht aufs Wasser zu, und sieben Silhouetten folgen seinem Beispiel. Wenige Meter vor dem feuchten Sand lässt Gustave seinen Rollator stehen, Miss Oma hält sich an ihrem Schal fest, Louise zieht den Bauch ein, Élisabeth und Pierre nehmen sich bei der Hand, Jules trippelt in seiner gepunkteten Badehose auf der Stelle, Arlette breitet die Arme aus. Ich schließe mich ihnen an und bete, dass ganz plötzlich etwas passieren möge, was uns daran hindert, in die eisigen Wellen zu springen. Ein Hurrikan, ein Sturm, ein weißer Hai, irgendetwas, Hauptsache, ich bleibe verschont. Ich kenne meinen Körper, er wird den Schock nicht überleben. Ich dusche immer kochend heiß. Mein Organismus wird nicht begreifen, wie ihm geschieht, und sich verabschieden.

»Los, alle in eine Reihe!«, ruft mein Peiniger. »Julia, da es für dich das erste Mal ist, erkläre ich dir die Regeln. Ich zähle bis drei, dann laufen wir alle zum Wasser. Wer zuletzt ankommt, kriegt eine Strafe. Fertig?«

»Fertig.«

»Eins …«

Ich vermache all meine Bücher und meinen Schmuck meiner Mutter.

»Zwei …«

Meine Schminkutensilien und meine DVDs von Ryan Gosling bekommt meine Schwester.

»Drei!«

Adieu.

Ich höre und sehe nichts mehr. Ich renne los, als ginge es um mein Leben. Das Wasser ist so eisig, dass es sich kochend heiß anfühlt – ich glaube, ich werde mich in meine Bestandteile auflösen, man wird nur noch meine Zähne wiederfinden, Kinder werden sie für Muscheln halten und Halsketten daraus basteln.

Als ich wieder zu mir komme, reicht mir das Wasser bis zum Hals, und ich bin noch ganz. Glaube ich wenigstens. In meinem halbstarren Zustand kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Ich frage mich, in welcher Verfassung die anderen sind. Bestimmt kein schöner Anblick. In Zeitlupe, mit stocksteifen Beinen und zitterndem Schädel, gelingt es mir, mich umzudrehen. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich sie sehe. Nie hätte ich gedacht, dass ich schon so weit draußen bin.

Ich traue meinen Augen nicht.

Meine acht Verräter stehen in einer Reihe im Sand, immer noch schön im Trockenen, und brechen in schallendes Gelächter aus.

11

»Wie geht es Ihnen heute?«

Das Appartement von Griesgram Léon strahlt dieselbe Fröhlichkeit aus wie er selbst: ein wie in einer Kasernenstube gemachtes Bett mit grauer Bettdecke, graues Sofa, graue Vorhänge und ein Geruch nach Mottenkugeln. Die Dekoration besteht aus einem PC, einem Laptop und zwei digitalen Bilderrahmen, über die um Jahrzehnte jüngere Selbstporträts wandern.

»Was interessiert Sie das?«, antwortet er, ohne die Nase vom Bildschirm zu heben.

Wenn ich ehrlich bin, nicht allzu viel. In diesem Moment kümmert mich das Wohlbefinden des alten Miesepeters deutlich weniger als die schlimmen Halsschmerzen – bestimmt die Folge des gestrigen Bades im Ozean. Oh, wie stolz sie auf ihr Initiationsritual waren! Aber wenn ich ihnen meine Krankheitskeime ins Gesicht niese, werden sie sich nicht mehr so oberschlau vorkommen. Das kann ich Léon aber logischerweise nicht antworten.

»Glauben Sie mir, ich interessiere mich wirklich für Ihr Wohlbefinden.«

»Ja, weil Sie dafür bezahlt werden. Niemand macht sich Gedanken um seine Mitmenschen, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten. Das können Sie meiner Großmutter erzählen. Den anderen machen Sie vielleicht was vor, aber ich bin zu klug, um Ihnen in die Falle zu gehen.«

»Warum glauben Sie denn, ich wolle Sie in eine Falle locken?«

»Ist doch sonnenklar. Sehen Sie, Mademoiselle, mein Leben lang war ich von den Großen dieser Welt umgeben. Ich habe ein Unternehmen gegründet, das florierte und Umsätze in einer Höhe erwirtschaftete, von der Sie nicht einmal zu träumen wagen, und alles nur dank meiner grauen Zellen. Also bilden Sie sich bloß nicht ein, ich würde Ihr plumpes Spiel nicht durchschauen.«

Ich glaube, das ist jetzt der richtige Augenblick, um kräftig zu niesen.

»In welcher Branche war Ihr Unternehmen denn tätig?«, frage ich dann, um endlich ein Gespräch zustande zu bekommen.

Er antwortet nicht. Ich betrachte sein rabenschwarzes, tadellos gekämmtes Haar, seine noch immer fülligen Lippen und sein Gesicht, das zu glatt aussieht, um ganz echt zu sein. Da war eindeutig ein Skalpell am Werk. Schade, dass man nicht auch Bitterkeit wegoperieren kann. Léon müsste man außerdem eine ordentliche Portion Freundlichkeit spritzen, und zwar ohne Betäubung.

»Léon, ich bin für Sie da. Niemand zwingt Sie, mit mir zu reden, aber ich glaube einfach, es könnte Ihnen helfen. Bestimmt ist es nicht gerade leicht, in einem Seniorenheim zu leben …«

»Was glauben denn Sie?«, schleudert er mir entgegen, noch immer ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Ich bin nicht einer von diesen Greisen, die man hier eingesperrt hat, weil sie nicht mehr alleine leben können! Ich bin aus freien Stücken hergekommen, ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte, und niemand wird mich zwingen, Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Und was ich in diesem Moment nicht will, ist, mich von jemandem nerven zu lassen, der nur nach einem Vorwand sucht, um mich mit Antidepressiva vollzustopfen.«

»Alles klar, Léon, ich …«

»Und hören Sie auf, mich Léon zu nennen, zum Donnerwetter noch mal! Wenn ich mich nicht täusche, haben wir noch nicht zusammen Pferde gestohlen.«

Eine Fortsetzung ist zwecklos. Der Mann ist so bockig wie ein Esel. Schweigend stehe ich auf, schiebe den Stuhl an seinen Platz zurück und gehe zur Tür. Als ich sie gerade hinter mir schließen will, würdigt mich Léon endlich eines Blickes und eines verkrampften Lächelns.

»Ach, übrigens, hat es Spaß gemacht, Ihr kleines Bad im Meer?«

12

Mein Hals ist ein einziges Flammenmeer. Ich fühle mich, als hätten sich in meinem Kehlkopf lauter kleine Männchen zum Lagerfeuer verabredet, während andere in meinen Bronchien Darts spielen.

Seit drei Tagen bin ich jetzt hier und schon dreimal mit knapper Not dem Tod entkommen. Kein Zweifel, das Universum schickt mir Zeichen. Aber darum kümmere ich mich später, erst mal muss dringend der Brand gelöscht werden. Es ist neun Uhr abends, draußen ist es dunkel, die Apotheke hat zu, und ich glaube nicht, dass Haribo-Erdbeeren gegen Halsschmerzen helfen. Wie bei jeder Erkältung bilde ich mir ein, ich hätte noch nie im Leben so gelitten. Um mich zu beruhigen, habe ich etwas getan, wovon ich jedem dringend abraten würde: Ich habe meinen Laptop eingeschaltet und ein bisschen im Internet gestöbert.

»Halsschmerzen«

»Starke Halsschmerzen«

»Wie rächt man sich an Leuten, die einen gezwungen haben, mitten im Winter in eisigem Wasser zu baden?«

»Symptome Rachenkrebs« …

… 

Da das Internet mir einen baldigen schmerzhaften Tod prophezeit, beschließe ich tapfer, nicht kampflos aufzugeben. Vielleicht haben meine Stockwerksnachbarn Halspastillen, Honig, einen Feuerlöscher oder irgendetwas anderes, das in der Lage ist, diesen Schmerz zu lindern.

Als Erstes versuche ich es an der Tür gegenüber. Soweit ich mich erinnere, gehört sie zu Gregs Appartement. Nach dreimaligem Klopfen gebe ich auf. Keiner da. Die nächste Tür ist die von Marine, das wäre jetzt vielleicht eine Gelegenheit, sie näher kennenzulernen. Noch bevor mein Fingerknöchel das Holz berühren konnte, öffnet sie mir. Sie trägt einen Bademantel und hat sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt.

»Hallo, Julia, cool, dass du vorbeikommst! Ich konnte es kaum erwarten, endlich eine Nachbarin zum Plaudern zu haben. Komm rein!«

»Danke, nett von dir, aber ich komme nur vorbei, um zu fragen, ob du vielleicht irgendwas gegen Halsschmerzen da hast, Hustensaft, Lutschbonbons …«

»O ja, ich hab was da, das hilft. Komm rein, ich hol es dir.«

Marines Appartement ist genauso geschnitten wie meins, nur spiegelverkehrt. Was die Einrichtung betrifft, hat sie allerdings dafür gesorgt, jegliche Ähnlichkeit auszumerzen. Sofa und Bett tragen bunte Stoffüberwürfe, die Wände hängen voller Fotos von Leuten, die lächeln, Grimassen schneiden, einander umarmen, und auf einigen schaut Marine selbst in die Kamera. Auf dem Tisch stapeln sich Magazine und Illustrierte, ein beißender Geruch liegt in der Luft.

»Setz dich«, ruft sie von der Kochnische aus. »Dauert nicht lange. Und? Gefällt es dir hier?«

»Weiß noch nicht … Ehrlich gesagt habe ich es mir schlimmer vorgestellt.«

»Das wundert mich nicht! Warum bist du denn in ein Pflegeheim gekommen? Offenbar warst du ja vorher in einer schicken Klinik in Paris, das ist ja wirklich was anderes …«

Ich muss lachen.

»Wie auch immer, mir gefällt es hier ganz gut!« Sie schreit fast, um das Geräusch von klapperndem Geschirr zu übertönen. »Ich habe mit achtzehn hier angefangen und hatte damals gar nicht vor, lange zu bleiben, aber inzwischen arbeite ich schon seit fünf Jahren hier. Die sind echt nett, die Omis und Opis in der Tamariske. Und die Kollegen auch.«

»Humor haben sie jedenfalls! Du weißt bestimmt, dass sie mich durch eine Art Aufnahmeprüfung gejagt haben.«

»Tja, das ist hier so Tradition. Ich bin damals im August angekommen, da wäre es witzlos gewesen, so was mit mir zu machen. Also haben sie sich was anderes überlegt. Sie haben einen Back-Workshop veranstaltet, und ich wurde als Kuchentesterin ausgelost. Da alle ganz enttäuschte Gesichter machten, dachte ich wirklich, ich hätte Glück. Aber du hättest mal mein Gesicht sehen sollen, als ich mir die erste Kuchengabel in den Mund geschoben habe … Zwei Tage lang konnte ich nichts runterschlucken. In der Kuchenfüllung waren Chilischoten … Hier, das tut dir bestimmt gut«, sagt sie und reicht mir einen dampfenden Kaffeebecher.

»Was ist das?«

»Grog. Ich hab zwar keinen Rum da, deshalb ist Tequila drin, aber der wirkt meiner Meinung nach genauso gut. Ich habe mir auch einen gemacht, um dir Gesellschaft zu leisten.«

Ich lege meine Hände um die Tasse, aus der es angenehm duftet. Dass Tequila gegen Halsschmerzen helfen soll, überzeugt mich nur mäßig, aber der Honig und die Zitrone werden den Schmerz bestimmt ein wenig lindern.

Vier Tassen Grog und zwei Stunden später kenne ich Marines ganzes Leben.

Als sie siebzehn war, musste sie die Sommerferien mit ihren Eltern in Biarritz verbringen, obwohl sie viel lieber bei ihren Freundinnen in Straßburg geblieben wäre. Jeden Nachmittag lag sie am Strand, die Nase tief in ihren Zeitschriften, und bedauerte sich selbst. Am fünften Tag hob sie den Kopf und stellte fest, dass einer der Bademeister alle notwendigen Eigenschaften besaß, um ihr den Aufenthalt zu versüßen.

»Du hättest seine Bauchmuskeln sehen sollen …«

Von dem Moment an versuchte sie mit allen Mitteln, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie badete ausschließlich, wenn er auf dem Bademeister-Hochsitz saß, und hielt den Atem an, sobald er zu ihr herüberschaute. Mehrmals schwamm sie sehr weit hinaus, in der Hoffnung, sie werde seine mahnende Trillerpfeife hören, aber jedes Mal kam ihre eigene Muskelkraft ihm zuvor.

Am Ende war es der Stich eines Petermännchens, der sie in seine Arme trieb. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie war gerade dabei, vor seinen Augen ins Wasser zu stolzieren – Bauch rein, Brust raus –, als der Fisch, der sich wohl im flachen Wasser vergraben hatte, sie am Fuß erwischte. Sie schrie und wand sich vor Schmerz.

Und genau da, als ihre Wimperntusche verschmiert war und ihr die Nase lief, kam er zu ihr. Lächelnd beugte er sich hinunter und flüsterte ihr ins Ohr, dass er einem derartigen schauspielerischen Talent nicht widerstehen könne.

»Er hat mir nicht geglaubt, der Idiot! Ich lag im Sterben, und er dachte, ich spiele nur Theater, um ihn anzumachen!«

Ein Jahr später verließ Marine Straßburg, zog zu Guillaume und fing an, in der Tamariske zu arbeiten. Zwei Jahre später nahmen beide sich eine Drei-Zimmer-Wohnung und schafften sich eine Katze an. Vier Jahre später verlobten sie sich. Fünf Jahre später, drei Wochen vor der Hochzeit, verliebte Guillaume sich in eine deutsche Touristin mit einem Quallenstich.

»Der Kerl ist ein Giftfetischist«, faucht Marine. »Der verdient eine deutsche Giftzicke!«

»Genau«, sage ich und nicke eifrig. »Der verdient es, von einer Schwarzen Witwe aufgefressen zu werden.«

Marine lacht laut auf. Plötzlich hält sie inne und fixiert mich mit der typischen ernsten Miene von Leuten, die einen über den Durst getrunken haben.

»Und du?«, fragt sie. »Was hat er dir angetan?«

»Wer?«

»Da steckt doch garantiert ein Kerl dahinter. Man landet nirgends mit seinen Koffern und einem Auto voller Kartons, ohne dass da ein Kerl im Spiel ist.«

Keine Ahnung, ob es an den Grogs liegt, an Marines Art, an dem beißenden Geruch, der mir zu Kopf steigt, am Fieber, jedenfalls beginne ich, noch bevor ich so richtig merke, was ich da tue, ihr alles zu erzählen.

13

Marc habe ich in der Süßwaren-Abteilung von Monoprix kennengelernt. Ich war fünfundzwanzig und mit Maminou, meiner Großmutter, nach Paris gefahren, weil sie sich dort am Auge operieren lassen musste. Ich spielte Krankenschwester, sie Stadtführerin. Zum ersten Mal lernte ich die Hauptstadt genauer kennen, und Maminou hat wirklich kein Klischee ausgelassen: Eiffelturm, Bootsfahrt auf der Seine, Montmartre, Champs-Élysées … Wir hatten uns eine Wohnung in der Nähe der Metrostation Nation gemietet, mit einem großen Doppelbett, in dem wir es uns jeden Abend gemütlich machten. Ich las ihr vor, und sie gab ihre Kommentare ab. In diesen kuscheligen Momenten gab es für uns nichts Schöneres, als Süßigkeiten zu futtern.