Die Sterne leuchten nur für uns - Virginie Grimaldi - E-Book

Die Sterne leuchten nur für uns E-Book

Virginie Grimaldi

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Beschreibung

Was auch geschieht, zusammen sind wir stark! Ein neuer gefühlvoller und Mut machender Roman von Frankreichs Autorin Nr. 1

Dieses Gefühl, dass das Leben an einem vorbeizieht – Anna kennt es nur zu gut: Die alleinerziehende Mutter jobbt als Kellnerin, das Geld ist immer knapp, und ihre beiden Töchter sieht sie fast nur noch am Frühstückstisch. Während sich die 17-jährige Chloé in eine Schwärmerei nach der nächsten stürzt, hat die 12-jährige Lilly nur einen Freund: die Ratte, die sie nach ihrem Vater benannt hat. Schließlich hat er auch das sinkende Schiff als Erster verlassen … Als Anna bewusst wird, wie sehr ihre Töchter unter der Situation leiden, zieht sie die Reißleine und trifft eine Entscheidung, die alles verändert: Sie mietet einen Camper-Van und macht sich mit ihren Töchtern auf nach Skandinavien zu den Polarlichtern, um sich dort einen langgehegten Traum zu erfüllen. Denn in manchen Situation gibt es kein Zurück mehr, sondern nur noch den Weg nach vorne, den Weg zu sich selbst.

Die französische Bestsellerautorin Virginie Grimaldi nimmt uns mit auf eine Reise voller Gefühl und Humor. Eine Reise, die Mut macht, das Leben voll auszukosten.

»Ein großherziges, überschwängliches und tröstliches Buch.« Maxi

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 353

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Manchmal gibt es im Leben kein Zurück, doch man kann immer einen neuen Weg gehen …

Dieses Gefühl, dass das Leben an einem vorbeiläuft – Anna kennt es nur zu gut: Die alleinerziehende Mutter jobbt als Kellnerin, das Geld ist immer knapp, und ihre beiden Töchter sieht sie fast nur noch am Frühstückstisch. Während sich die 17-jährige Chloé in eine Schwärmerei nach der nächsten stürzt, hat die 12-jährige Lilly nur einen Freund: ihre Ratte, die sie nach ihrem Vater benannt hat. Schließlich hat er das sinkende Schiff als Erster verlassen … Kurzerhand trifft Anna eine Entscheidung, die alles verändert: Sie leiht einen Camper-Van und macht sich mit ihren Töchtern auf nach Skandinavien zu den Polarlichtern, um sich dort einen lang gehegten Traum zu erfüllen. Denn eins ist klar: Manchmal kann man im Leben nicht zurück, doch dafür tut sich immer ein neuer Weg auf.

Die französische Bestsellerautorin Virginie Grimaldi nimmt uns mit auf eine Reise voller Gefühl und Humor. Eine Reise, die Mut macht, das Leben voll auszukosten.

Virginie Grimaldi wollte schon mit acht Jahren Schriftstellerin werden. Damals schrieb sie einen Roman, der von der Liebe, dem Meer und einem dreißigseitigen Sonnenuntergang handelte.

Heute zählt sie zu den mit Abstand erfolgreichsten Autorinnen Frankreichs, ihre Fans warten sehnsüchtig auf jeden neuen Roman und jeder erobert die Spitze der Bestsellerliste in Sturm. Ihre Bücher werden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Virginie Grimaldi lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen und ihrer restlichen Familie bei Bordeaux.

Virginie Grimaldi in der Presse:

»Grimaldi erzählt so unbeschwert und mit leichter Hand, dass jede Seite zum Lesegenuss wird.« Elle France

»Ein großherziges, überschwängliches und tröstliches Buch.« Maxi

»Wunderbar französisch.« Freundin über Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen

Außerdem von Virginie Grimaldi lieferbar:

Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen

Unser Tag ist heute

Virginie Grimaldi

Die Sterne leuchten nur für uns

Roman

Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle

Die Originalausgabe erschien 2018

unter dem Titel Il est grand temps de rallumer les étoiles

bei Fayard, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe by Librairie Arthème Fayard, 2018

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Susanne Kiesow

Covergestaltung: www.buerosued.de

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-33064-4V001

www.penguin-verlag.de

Für meine Mutter

Anna

»Komm am Ende der Schicht zu mir, Anna. Ich muss dir was sagen.«

Ich binde mir die Schürze um und gehe ein letztes Mal durch den Raum, bevor die ersten Gäste kommen. Ich weiß, was Tony mir ankündigen wird, ich habe gestern ein Gespräch mit angehört. Es wurde auch Zeit.

Seit drei Monaten steht die Auberge Blanche auf der Rangliste der besten Restaurants von Toulouse auf Platz eins. Gut besucht waren wir schon vorher, jetzt ist es hier immer rappelvoll. Kaum habe ich einen Tisch abgeräumt, setzt sich schon der nächste Gast. Ich bin die einzige Kellnerin, mein Chef Tony springt ab und zu ein, wenn er nichts anderes zu tun hat.

Letzten Dienstag, als ich gerade an Tisch 5 eine Crème brûlée servierte, gingen plötzlich meine Ohren zu, mir wurde schwarz vor Augen und die Knie gaben nach. Das Dessert landete auf dem Kopf des Gastes und ich im Büro des Chefs.

Zuerst hat er mich angebrüllt, das kenne ich gut, es bedeutet, dass er sich Sorgen macht. Irgendwann hat er mir mal anvertraut, er habe einen Situs inversus, das heißt, sein Herz sitzt auf der rechten und seine Leber auf der linken Seite. Offensichtlich ist bei ihm auch in der Kommunikation etwas verdreht.

»Was war denn das für ein Mist, Anna?«

»Der Mist war, dass ich umgekippt bin.«

»Und warum?«

»Um die Leute zu unterhalten. Blöde Frage! War ja auch gar nichts los im Lokal, ne?«

Mit einem tiefen Seufzer ließ er seine Wut ziehen und schaltete auf verständnisvoll.

»Okay, und geht’s jetzt wieder besser?«

»Ja, es geht wieder besser, ich mach dann mal weiter.«

»Komm, lass, heute Abend kümmere ich mich darum. Aber morgen bist du wieder da, okay?«

»Habe ich nur ein einziges Mal gefehlt?«

Er hat gelächelt. Das habe ich ausgenutzt.

»Ich bin müde, Tony. Ich geh auf die vierzig zu, diesen Arbeitsrhythmus halte ich nicht mehr lange durch. Es wäre wirklich gut, wenn du noch jemanden einstellen würdest.«

»Weiß ich ja, du hast es mir schon mal gesagt. Ich sehe zu, was ich tun kann.«

Dann hat er nach dem Telefon gegriffen und Estelle, seine Geliebte, angerufen, um ihr zu gestehen, dass er sie am liebsten jetzt sofort vernaschen würde. Daraus habe ich geschlossen, dass unser Gespräch beendet ist.

Mein Nachbar Paul meint, ich solle die Stelle wechseln. Er hat den Tabakladen seines Vaters übernommen und denkt wohl, Jobs würde es geben wie Sand am Meer.

Aber im Grunde habe ich kaum andere Kompetenzen. Dabei habe ich studiert und besitze einen Fachhochschulabschluss in Buchhaltung und Verwaltung. Damals erfuhr ich am letzten Prüfungstag, dass ich schwanger war. Mathias verdiente gut, also beschlossen wir, dass ich mich um Chloé kümmern würde. Als sie drei Jahre später in den Kindergarten kam, habe ich mich auf Dutzende von Buchhaltungs- und Verwaltungsstellen beworben. Ich wurde zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, und da habe ich dann gemerkt, was mir alles fehlte: Ich besaß keinerlei Berufserfahrung, hatte mir eine dreijährige Pause gegönnt, um es mir und meinem Baby gutgehen zu lassen, und war auch noch so unverfroren, auf die Frage, ob sich in dringenden Fällen jemand um mein Kind kümmern könnte, mit Nein zu antworten. Gegenüber den vielen kampferprobten und überqualifizierten Bewerberinnen, deren Priorität nicht in ihrem Uterus gelegen hatte, war ich absolut chancenlos.

Also habe ich das Angebot von Tony angenommen, einem Freund von Mathias, der ein Restaurant betrieb. In den ersten sieben Jahren habe ich nur mittags gearbeitet, so hatte ich noch genug Zeit für meine kleine Tochter. Bis mir nichts anderes mehr übrigblieb, als auch noch die Abendschicht zu übernehmen.

Gerade habe ich das Gitter heruntergelassen, da ruft Tony mich von seinem Büro aus zu sich. Ich gehe hin und setze mich vor seinen Schreibtisch.

»Du weißt ja, dass ich dich gernhab, Anna.«

Situs inversus. Das fängt schon mal gut an.

»Wie lange arbeitest du jetzt schon hier? Zehn Jahre?«

»Vierzehn.«

»Vierzehn. Wie die Zeit vergeht. Ich erinnere mich noch an dein Einstellungsgespräch, da warst du ganz …«

»Worum geht’s, Tony?«

Mit den Fingerspitzen massiert er sich die Schläfen und seufzt.

»Estelle hat ihren Job verloren, ich würde sie gern einstellen.«

»Oh, da bin ich ja beruhigt, ich dachte schon, du hättest schlechte Nachrichten für mich! Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es die Idee des Jahrhunderts ist, wegen deiner Frau, meine ich, aber das ist schließlich dein Problem. Wann fängt sie an?«

»Ich will, dass sie deine Stelle übernimmt, Anna.«

Es dauert ein paar Sekunden, bis die Nachricht den Weg bis in mein Gehirn gefunden hat.

»Wie, meine Stelle? Das kannst du doch nicht machen!«

»Ich weiß, ich habe nicht den geringsten Grund, dich zu entlassen, obwohl, wenn man genau hinsieht, findet man immer was. Also, ich mache dir einen Vorschlag: Wir trennen uns im Guten, setzen eine schriftliche Vereinbarung auf, und als Dank bekommst du einen kleinen Umschlag von mir.«

Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dasitze, ohne zu reagieren. Lange genug, um an die vielen Rechnungen zu denken, die mir jetzt schon über den Kopf wachsen. Lange genug, um mir den Kühlschrank noch leerer vorzustellen, als er jetzt schon ist. Lange genug, um zu begreifen, dass die Gerichtsvollzieher mich von nun an noch häufiger anrufen werden. Lange genug, um mir das Gesicht meiner Töchter auszumalen, wenn ich ihnen verkünde, dass ihre Mutter arbeitslos ist.

»Und? Was sagst du dazu?«

Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf.

»Leck mich am Arsch, Tony.«

Chloés Blog

Zuallererst möchte ich mich bei euch bedanken für eure vielen Kommentare. Als ich vor einem Jahr diesen Blog gestartet habe, hätte ich mir niemals vorstellen können, dass so viele Leser*innen sich für die Gedanken einer Siebzehnjährigen interessieren würden.

Danke.❤

Chloé

_____________________________________

Ich habe mir die Mütze zurechtgezogen und einen letzten Blick in den Spiegel geworfen. Perfekt. Mit Make-up und Lippenstift war ich für den Tag gewappnet.

Ich bin die drei Stockwerke hinuntergerannt und habe mir dabei die Kopfhörer in die Ohren gesteckt. Die Haustür war immer noch kaputt, sodass der kalte Wind ins Treppenhaus wehte. Könnte er nur den Geruch nach Pisse vertreiben.

Lily stand schon an der Bushaltestelle. Sie hat mir zugewunken, aber ich bin einfach weitergelaufen.

Wozu soll ich noch zur Schule gehen? In drei Monaten werde ich ein Abi mit Auszeichnung machen und mich an der Uni für Literaturwissenschaften einschreiben. Aber ich werde nie hingehen.

Ein Studium ist teuer, und wenn man Pech hat, zahlt es sich nicht einmal aus.

Gestern Morgen hat Maman wieder ein Einschreiben bekommen. Sie hat es im Kleiderschrank unter ihren Hosen versteckt, zusammen mit den vielen anderen. Aber ich bin ja nicht blöd. Neben ihrer Arbeit im Restaurant bügelt sie noch für die Nachbarn. Ich kann ihr einfach nicht länger auf der Tasche liegen. Nächstes Jahr gehe ich arbeiten.

Ich bin durch die Siedlung gelaufen, die langsam zum Leben erwachte. Morgens liegt Hoffnung in der Luft. Heute ist vielleicht der Tag, an dem sich alles ändert. Eine Begegnung. Eine Idee. Eine Lösung. Ein Anfang.

Jeden Morgen schreibe ich im Geiste mit Bleistift meine Träume auf. Jeden Abend radiere ich sie wieder weg.

Ich habe die Leute gegrüßt, die mir entgegenkamen. Seit fünf Jahren wohnen wir jetzt hier, inzwischen kenne ich sie alle. Leïla, die Assia und Elias immer zur Schule bringt. Madame Lopez, die am Fenster ihren Kaffee trinkt. Ahmed auf dem Weg zu seinem Auto. Marcel mit seinen beiden Chihuahuas. Nina, die jedes Mal rennen muss, um den Bus nicht zu verpassen. Jordan bei dem Versuch, seinen Roller zu starten.

Ludmila stand qualmend am Eingang von Haus D.

»Ich habe auf dich gewartet«, hat sie gesagt und die Tür aufgestoßen.

Sie wohnt in einer Einzimmerwohnung im siebten Stock. Ich war zum ersten Mal bei ihr. Sie hat mir angedeutet, ich solle mich auf das Klappsofa setzen.

»Malik hat mir versichert, dass du zuverlässig bist«, hat sie gesagt und ein kleines Päckchen unter dem Sofatisch hervorgeholt. »Stimmt das?«

»Ich bin zuverlässig.«

»Bei wem kaufst du normalerweise?«

»Ich habe noch nie was gekauft, das ist heute das erste Mal. Ich kiffe sonst bei Freunden mit.«

»Okay. Zeig mal deinen Ring.«

Ich habe ihr den goldenen Ring gegeben. Sie hat ihn sich von allen Seiten angeschaut, als verstünde sie was davon.

»Für den gibt’s einen Zehner, ist das okay?«

Ich habe überzeugt genickt, um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich keine Ahnung hatte, was »ein Zehner« ist. Sie hat mir einen kleinen braunen Würfel gezeigt, hat ihn in Alupapier gewickelt und mir gegeben.

»Falls jemand fragt, sagst du, den hätte Jo dir verkauft.«

Ich habe das Päckchen im Rucksack zwischen meinen Heften und Schulbüchern verschwinden lassen und bin zur Tür gegangen.

Als ich schon draußen war, rief Ludmila: »Hey, bist du nicht die, die letztes Jahr den Schreibwettbewerb gewonnen hat?«

Ich habe so getan, als hätte ich nichts gehört, und die Tür zugezogen.

Lily

3. März

Lieber Marcel,

am Samstag hat meine Patentante mir zu meinem zwölften Geburtstag ein Tagebuch geschenkt: dich. Sie ist echt lieb, bestimmt zum Ausgleich für ihre Hasenzähne, aber diesmal hat sie total danebengelegen. Ich habe echt nie verstanden, wozu ein Tagebuch gut sein soll, schließlich habe ich auch so schon genug Hausaufgaben. Dazu hat sie dich noch in Rosa und mit Herzchen ausgesucht. Fehlen nur noch Pailletten.

Ich hatte nicht vor, dich anzurühren, sondern ließ dich in der Küche liegen und hoffte, dass meine Mutter oder Chloé dich zusammen mit den Werbeprospekten ins Altpapier werfen. Aber vorhin ist was passiert, das ich unbedingt jemandem erzählen muss und niemandem erzählen kann. Also hab ich dich außen mit rotem Marker angemalt, dir ein Hängeschloss verpasst (Vertrauen ist gut, Zuschließen ist besser) und das ideale Versteck für dich gefunden, aber ich sag nicht wo. (Chloé, wenn du das hier liest, klapp das Buch sofort zu oder ich erzähl Maman, dass du ihr ihre BHs klaust.)

Übrigens, du heißt Marcel, ich hoffe, du magst den Namen. Weil du so rot bist wie Marcel Musson, der Glatzkopf aus dem ersten Stock.

Ich weiß nicht, ob ich dir oft schreiben werde. Wenn es so läuft wie mit der Anti-Pickel-Creme, vergesse ich es bestimmt dauernd, aber ich werde es versuchen.

Also, hör zu.

Heute Morgen im Bus hatte ich Bauchschmerzen. Schon beim Frühstück habe ich es nicht geschafft, mein Müsli ganz aufzuessen, das war komisch, aber ich dachte, es ist wegen dem Englischtest. Ich hatte nicht alle unregelmäßigen Verben gelernt, das hat mich total gestresst. Aber nach dem Test hatte ich immer noch Bauchschmerzen. Darum dachte ich, es liegt vielleicht am Abendessen von gestern. Chloé und ich hatten uns den Fleischeintopf aufgewärmt, den meine Mutter aus dem Restaurant mitgebracht hatte, und so richtig toll war der nicht.

In der Sportstunde haben wir dann Basketball gespielt. Zehn Minuten lang habe ich Théo zugerufen, er soll mir mal den Ball zuspielen, aber als er endlich reagiert hat, war ich gerade dabei, mir die Haare zusammenzubinden. Ich habe den Ball voll auf die Nase gekriegt, und die hat angefangen wie verrückt zu bluten, also hat der Lehrer mich rausgenommen.

Ich saß mit zurückgelegtem Kopf und Klopapier in der Nase (Watte gab’s nicht) am Spielfeldrand, da hörte ich, wie sie hinter mir kicherten. Auf den Rängen saßen zwei Typen und ein Mädchen aus der 8c. Alle drei haben mich angestarrt. Ein Kleiner mit braunen Haaren und Deppengesicht hat mich gefragt, ob ich einen Ball auf den Hintern gekriegt hätte. Nein, habe ich gesagt, nur auf die Nase. Da haben sie gelacht und auf meinen Po gestarrt, und plötzlich habe ich kapiert. Deshalb hatte ich also Bauchschmerzen. Meine Mutter hat mir schon mehrmals erzählt, wie das mit der Regel so läuft. Die musste natürlich ausgerechnet an dem Tag kommen, an dem ich meine weiße Jogginghose anhatte.

Ich bin rückwärts zur Tür gegangen und an der Wand entlang bis zum Umkleideraum. Überall war Blut, ich wusste gar nicht, dass man so viel verliert, meine Unterhose sah aus wie ein Tatort. Ich habe alles irgendwie sauber gemacht und mir dann als Notlösung ein paar Schichten Klopapier in die Hose gelegt, aber dann habe ich schnell gemerkt, dass das nicht reichte, also habe ich die Klorolle flach gedrückt und sie mir in die Hose gestopft.

Den ganzen Tag bin ich seitwärts gelaufen, mit meinem Mantel um die Taille. Ich glaube, niemand hat was gemerkt. Jetzt muss ich meiner Mutter sagen, sie soll mir Binden kaufen.

Küsschen, Marcel,

Lily

PS: Vielleicht habe ich ja auch gar nicht meine Tage, sondern eine Gehirnblutung, die bis nach unten läuft, wegen dem Ball, den ich an den Kopf gekriegt habe, und morgen bin ich tot.

Anna

Unser Frühstück verläuft immer gleich: Als Erstes verbiete ich das Fernsehen und versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Aber alle Versuche prallen an einer Mauer des Schweigens ab. Schließlich sage ich mir, wenn wir drei zusammen auf denselben Bildschirm gucken, ist das auch eine Art der Kommunikation.

Lily, die gerade gebannt einen Zeichentrickfilm verfolgt, gießt sich Milch in ihr Schälchen.

»Maman, kannst du nächstes Mal richtiges Müsli kaufen?«

»Stell bitte leiser. Ist das kein richtiges Müsli?«

Sie wendet den Blick kurz vom Bildschirm ab und schaut mich aus zwei großen grünen Kulleraugen an.

»Du weißt doch, das ist kein Markenmüsli, das schmeckt wie Styropor! Du musst das aus dem mittleren Fach nehmen, das von ganz unten ist eklig.«

Zum Antworten komme ich nicht, weil Chloé den Kopf durch die Tür steckt, uns »Bye bye!« zuruft und verschwindet. Ich erwische sie gerade noch, bevor sie die Treppe hinunterläuft.

»Willst du dich nicht ein paar Minuten zu uns setzen, Chloé?«

Seufzend dreht sie sich um. Ihr Gesicht ist mit Make-up zugekleistert.

»Ich hab keinen Hunger.«

»Ich weiß. Wie jeden Morgen. Trotzdem könntest du ein bisschen Zeit mit uns verbringen, oder? Das Frühstück ist die einzige Mahlzeit des Tages, bei der wir uns sehen können.«

»Und wessen Schuld ist das?«, faucht sie und wirft mir einen tödlichen Blick zu, bevor sie die Stufen hinunterrennt.

Ich stehe noch auf dem Treppenabsatz, als die Gegensprechanlage surrt. Ich reagiere nicht, denn ich erwarte niemanden, neun von zehn Mal ist es sowieso jemand, der versucht, mir Rollläden oder eine Begegnung mit Jehovah anzudrehen.

Zwei Minuten später klopft es an der Wohnungstür. Auf Zehenspitzen schaue ich durch den Spion und sehe auf der anderen Seite einen Mann, der so attraktiv ist wie eine Darmspiegelung. Die Fortsetzung kenne ich schon, aber ich habe keine Wahl. Ich öffne die Tür.

»Madame Moulineau? Guten Tag, ich bin Monsieur Renard, Gerichtsvollzieher, darf ich hereinkommen?«

Rhetorische Frage. Noch bevor er den Satz beendet hat, steht er in meiner Wohnung. Er blättert in einer Mappe und zieht ein Blatt Papier daraus hervor. Ich schließe die Esszimmertür, damit Lily uns nicht hört.

»Ich bin froh, dass ich Sie antreffe. Meine vielen Nachrichten haben Sie offenbar nicht bekommen?«

»Doch, die habe ich bekommen. Es tut mir leid, dass …«

»Dann wissen Sie ja, warum ich hier bin«, unterbricht er mich. »Hiermit übergebe ich Ihnen eine Zahlungsaufforderung der Cefitis in Höhe von 5.225 Euro.«

Ich nehme das Blatt Papier und den Kuli, den er mir reicht, überfliege das Schreiben, lehne mich an die Wand und unterzeichne.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Monsieur Renard?«, sage ich, während ich ihm das Blatt zurückgebe.

»Gerne.«

»Glauben Sie wirklich, wenn ich es mehrere Monate nicht geschafft habe, die Raten zu bezahlen, könnte ich auf einen Schlag 5.225 Euro aufbringen?«

Er zuckt mit den Schultern und lächelt mitleidig.

»Es tut mir leid, der Gläubiger war geduldig, aber Sie sind Ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen.«

»Ich versichere Ihnen, ich tue mein Bestes! Jahrelang habe ich meine hundertzehn Euro monatlich gezahlt, um den Kredit zu tilgen, außer drei Mal, da ging es nicht. Wirklich nicht. Dafür können die doch jetzt nicht die volle Rückzahlung verlangen!«

»Doch, das können sie. Die Cefitis hat Ihnen einen Tilgungsplan vorgelegt, entsprechend hätten Sie Ihre Zahlungsversäumnisse nachholen können. Den Plan haben Sie aber nur eine Zeit lang eingehalten. Ich hätte Ihnen andere Regelungen vorschlagen können, aber Sie haben mir ja nicht geantwortet. Jetzt ist es für Verhandlungen leider zu spät.«

Am liebsten würde ich protestieren, ihn anflehen, ihm schwören, dass es kein böser Wille war, dass ich ständig versuche, diesen verdammten Tilgungsplan einzuhalten, diesen und die vielen anderen, dass alles, was ich verdiene, in die Begleichung meiner Schulden fließt, dass ich es manchmal monatelang schaffe, mich über Wasser zu halten, mich aber dann unweigerlich die nächste Welle überrollt und mir die Luft abschneidet. Der Keilriemen meines Autos ist kaputt, oder es ist die Waschmaschine, ein Schulausflug für Lily, eine neue BH-Größe für Chloé. Es gibt Leute, die lieben Überraschungen, ich dagegen träume davon, keine mehr erleben zu müssen. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass ich mir mit diesem Geld keine Woche Strandurlaub gegönnt oder Schmuck gekauft habe. Dass ich mir, wenn mir das Wasser nicht bis zum Hals gestanden hätte, niemals eine so irrsinnige Summe geliehen hätte. Das alles würde ich ihm gerne sagen, aber ich schaffe es nur, leise aufzustöhnen und in Tränen auszubrechen.

Dem Gerichtsvollzieher ist das unangenehm, und mir ist es unangenehm, dass es ihm unangenehm ist. Während ich mich wieder zu fangen versuche, hüstelt er, streckt eine Hand nach meiner Schulter aus, erinnert sich dann aber, dass ich keine Freundin bin, und blättert in seinen Unterlagen.

»Es tut mir leid«, sagt er schließlich.

»Und wenn ich nicht zahlen kann, was passiert dann?«

Er seufzt.

»Dann müssen wir die Sache vor Gericht bringen, um mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln die Schulden einzutreiben. Ich habe Erfahrung, glauben Sie mir, das wird durchkommen.«

»Eine Pfändung?«

»Zum Beispiel.«

»Na prima, das ist die Lösung! Mein Wagen ist fast zwanzig Jahre alt, die Fenster klemmen und der dritte Gang funktioniert nicht mehr, da ließen sich noch dreißig Euro rausholen. Außerdem könnte ich meine Wohnung untervermieten, eine Vier-Zimmer-Sozialwohnung mit gelegentlich ausfallendem Fahrstuhl, dafür müsste man doch einiges kriegen, was meinen Sie …«

Ich bin noch nicht fertig mit meinem Satz, als die Wohnzimmertür aufgeht und Lily mit Milchbart im Rahmen steht. Als sie mein verheultes Gesicht sieht, runzelt sie die Stirn.

»Was hast du?«

»Nichts«, antworte ich und wische mir mit dem Handrücken über die Wange.

Sie weist mit dem Kinn auf den Gerichtsvollzieher. Vermutlich hat sie alles mit angehört.

»Warum weinst du? Ist es wegen dem Monsieur da?«

»Monsieur Renard«, ergänzt er. »Gerade wollte ich mich verabschieden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Er geht zur Tür, öffnet sie, wirft mir einen letzten Blick zu und geht zur Treppe. Ich habe die Tür noch nicht ganz geschlossen, da streckt Lily ihren Kopf in den Flur und ruft ihm nach: »Danke für Ihren netten Besuch, Monsieur, aber wir sehen Sie am liebsten von hinten!«

Sie schlüpft in ihre Daunenjacke, wirft sich ihren Rucksack über die Schulter und verschwindet ebenfalls.

Chloés Blog

Donnerstag ist der beste Tag zum Schwänzen. Lily kommt um fünf aus der Schule, und Maman besucht nachmittags Oma. Also habe ich die Wohnung für mich allein und kann machen, was ich will, und Besuch kriegen, von wem ich will.

Seit sechs Tagen gehe ich mit Kevin. Ich glaube, ich bin in ihn verknallt. Er ist lieb. Er arbeitet unten in unserer Siedlung in der Bäckerei und scheint sich immer zu freuen, mich zu sehen, wenn ich auf dem Rückweg von der Schule Brot kaufe. Er ist zwar keine Schönheit, aber mit gut aussehenden Jungs bin ich inzwischen vorsichtig geworden.

Unsere Geschichte hat letzten Freitag angefangen. Ich habe das übliche Baguette gekauft und ihn hinten im Laden gesehen, wo er gerade dabei war, Gebäck in den Ofen zu schieben. Er hat mir zugelächelt und ein Zeichen gemacht, ich solle draußen auf ihn warten. Ein paar Minuten später ist er mit einer Zigarette im Mund herausgekommen.

»Hallo, ich heiße Kevin.«

»Ich bin Chloé.«

Er hatte Mehl auf der Backe und blaue Augen.

»Wohnst du hier in der Siedlung?«

»Ja, in Haus c.«

»Ich freu mich immer, wenn du vorbeikommst.«

Ich habe auf meine Füße geschaut und gemerkt, wie ich rot wurde. Ich geniere mich immer, wenn man mir Komplimente macht, als bekäme ich ein zu teures Geschenk.

Er hat mein Kinn zwischen die Finger genommen und mein Gesicht ganz sanft hochgezogen.

»Um acht bin ich fertig, kommst du und wartest auf mich?«

Um acht hatte ich geduscht, meine Haare gemacht, mich geschminkt, mich dreimal umgezogen, Lily vor dem Fernseher zurückgelassen, nachdem sie mir versprochen hatte, Maman nichts zu sagen, und stand vor der Bäckerei.

Um elf, kurz bevor Maman nach Hause kam, bin ich ins Bett gekrochen und habe im Geiste noch mal den Abend abgespult. Die belegten Brote, die Kevin gemacht hatte, die Bank am Teich, sein Oberschenkel an meinem, sein Mund auf meinem Mund, seine Stimme, die mir zuflüsterte, dass ich schön sei, seine eiskalten Hände, die sich unter meinen Pulli geschoben haben, sein Becken, das sich an meinen Bauch gepresst hat. Als er vorgeschlagen hat, uns in sein Auto zu setzen, habe ich Nein gesagt und gemerkt, wie enttäuscht er war. Er hat schweigend und mit gerunzelter Stirn geraucht, da habe ich mich an ihn geschmiegt und meine Hand in seine Unterhose geschoben. Danach war er den Rest des Abends über sehr gut gelaunt und zärtlich.

Als ich ihm heute Morgen erzählt habe, ich hätte die Wohnung den ganzen Nachmittag für mich, war er sofort Feuer und Flamme und bereit, mich zu besuchen. Ich habe ihm die Adresse gegeben, und um zwei war er da. Diesmal hatte er kein Mehl auf der Haut, es war sein freier Tag. Er hat mir eine Tüte überreicht. Windbeutel.

Wir haben uns aufs Sofa gesetzt, auf meinem Handy lief eine romantische Playlist. Ich habe meinen Kopf an seine Schulter gelegt und seine Hand genommen. Er hat mir mit dem Daumen den Handteller gestreichelt. Ich glaube wirklich, Kevin ist zärtlich. Nicht wie die Jungs, die ich vor ihm kennengelernt habe und die sich nur für das eine interessierten, die immer nur genommen haben, ohne zu geben. Diese kleine, scheinbar nichtssagende Geste, dieser Finger, der meine Hand nur leicht berührt hat, bedeutet, dass er vielleicht der Richtige ist. Dass er sich vielleicht wirklich für mich interessiert. Dass er mir vielleicht jede Menge Liebe und Zärtlichkeit schenken wird, dass wir vielleicht Pläne machen werden, dass ich ihm wichtig bin. Auch ich wollte ihm zeigen, dass er mir wichtig ist. Bei seiner Arbeit in der Bäckerei hat er bestimmt nicht oft Gelegenheit, Mädchen kennenzulernen.

Ich habe mich zu ihm gedreht und ihm meine Lippen hingehalten. Da ist er aufgestanden, sodass ich auch aufstehen musste, und hat sich auf die Oberschenkel geklopft.

»Also, zeigst du mir dein Zimmer?«

Lily

16. März

Lieber Marcel,

ich hoffe, es geht dir gut und du bist nicht zu sauer auf mich, weil ich dich hinter der Heizung versteckt habe. Ich dachte, meine Mutter hätte sie abgestellt.

Wenn du mich fragst, mir geht’s so lala. Am Anfang des Schuljahres hatte ich überhaupt kein Problem mit Manon und Juliette. Alle finden die beiden toll, schon allein weil sie Zwillinge sind. Außerdem ist ihr Vater der Cousin von der Nachbarin der Frisörin von der Mutter von Kev Adams, und den Schauspieler finden alle toll, außer die Superschlauen, die Latein und Griechisch machen, aber wer will schon von Leuten geliebt werden, die Latein und Griechisch machen?

Zuerst war es so, dass ich sie weder mochte noch nicht mochte, aber als sie gemerkt haben, dass es mich gibt, war es vorbei mit der Ruhe. Nur weil ich mich als Klassensprecherin zur Wahl gestellt habe. Keiner hatte mich gewarnt, dass Manon die Einzige sein wollte. Ich habe auch nur eine Stimme bekommen, und es war nicht mal meine eigene (danke, Clelia), deshalb habe ich nicht kapiert, warum die Zwillinge auf einmal gemein geworden sind. Na ja, sie haben die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen, deshalb ist es beim Beinstellen oder Brotkügelchen-an-den-Kopf-Werfen in der Kantine geblieben. Aber es war mir immer lieber, wenn sie mich gar nicht sahen.

In den Weihnachtsferien habe ich meiner Schwester davon erzählt, nicht um zu petzen (ich bin keine Petze), sondern weil sie durch den Bruder von Nahima (der ist nämlich eine Petze) davon erfahren hatte. Sie musste mir bei Justin Bieber schwören, nichts zu sagen. Das hat sie auch getan, aber dann hat sie sich nach der Schule die Zwillinge vorgeknöpft. Armer Justin Bieber. Sie hat ihnen gesagt, ich sei sensibel, sie sollten sich mal an meine Stelle versetzen, und bestimmt täten sie dasselbe, um ihre Schwester zu beschützen … Sie sind knallrot geworden, haben nur genickt und dann die Köpfe eingezogen. Juliette hat versprochen, mich nicht mehr zu ärgern, Manon hat gesagt, es täte ihr leid.

Am nächsten Morgen hat mich dann die ganze Klasse eine Petze genannt (aber ich bin keine Petze). Das war das erste und letzte Mal, dass ich meiner Schwester ein Geheimnis anvertraut habe.

Tut mir leid, Marcel, ich musste mir eben einen neuen Kuli holen, der andere hat den Geist aufgegeben. Also gut, ich beeil mich, gleich fängt nämlich meine Lieblingsserie an.

Ein paar Wochen lang haben die Zwillinge Ruhe gegeben, keine Ahnung, warum, ich habe sie nicht gefragt. Bis heute Morgen in der Chemiestunde, da mussten wir uns zu zweit zusammentun, um ein Experiment zu machen, und statt Clelia hat sich Mathis zu mir gestellt. Die Sache ist die, dass Mathis der Typ von Manon ist, das sieht selbst ein Blinder, die beiden kleben nämlich in jeder Pause mit den Mündern zusammen und sehen aus wie zwei Fensterputzerfische. Jedenfalls habe ich mich umgedreht, und Manon hat mich mit Blicken getötet. Ich habe sie angelächelt, was so viel heißen sollte wie: »Keine Sorge, ich fass ihn schon nicht an!« Aber weil sie mir den Stinkefinger gezeigt hat, nehme ich an, dass sie dachte, ich wollte sie ärgern.

In der Pause haben Clelia und ich uns im Pausenhof auf den Boden gesetzt, da kamen die Zwillinge vorbei und haben mich gefragt, ob ich ein Problem hätte. Ich habe Nein gesagt, weil ich keins hatte. Manon meinte, sie hätte aber eins und das hieße Lily. Ich habe geantwortet, das sei ja echt witzig, ich hätte denselben Vornamen wie ihr Problem. Sie hat die Stirn gerunzelt, und ich habe versucht, ihr zu erklären, dass Mathis mir total egal ist, dass ich andere Sachen vorhätte und dass der Typ so was von aus dem Mund stinkt, das müsste verboten sein, das hätte ja gerochen, als würde er schon zum Frühstück Roquefortkäse essen, deswegen könnte sie ganz beruhigt sein.

Juliette hat kurz gelacht, aber Manon befahl ihr, die Schnauze zu halten. Dann ist sie vor mir in die Hocke gegangen, hat ihr Gesicht ganz nah an meins gehalten, so nah, dass ich gerochen habe, dass sie sich wohl über die Spucke auch diesen Roquefort-Atem eingefangen hat, und hat geflüstert, ich sei bloß eine kleine Nutte, genau wie meine Schwester.

Ich weiß nicht, was mich da gepackt hat, vielleicht war es wegen der Reportage über die Lamas, die ich am Wochenende gesehen hatte, jedenfalls habe ich ihr voll in die Visage gespuckt. Juliette hat mich an den Haaren gepackt, Clelia hat Juliette an den Haaren gepackt, Manon Clelia und ich Manon, und so standen wir da, ohne uns zu bewegen, bis es geklingelt hat, dann sind wir zurück in die Klasse, weil wir Geo hatten.

Keine Ahnung, was sie gemeint hat, als sie das von Chloé gesagt hat. Ich weiß schließlich am besten, dass meine Schwester zwar eine blöde Kuh ist, aber keine Nutte.

Küsschen, Marcel, und schönen Abend

Lily

PS: Ich bin echt keine Petze.

Anna

»Maman, es ist grün!«, ruft Lily.

Ich schalte in den ersten Gang und lächle ihr im Rückspiegel zu, dann versinke ich wieder in meinen Grübeleien.

Ich habe es mal durchgerechnet. Um sämtliche Schulden zurückzahlen zu können, bräuchte ich 12.689 Euro. Da musste ich weinen. Seit ein paar Monaten, als ich begriffen habe, dass ich da nie rauskomme, lebe ich wie ein Vogel Strauß. Wozu gegen einen Feind ankämpfen, wenn man weiß, dass er einen sowieso erledigen wird?

Ich habe aufgehört, an den Tag zu denken, als ich ein Darlehen abgeschlossen habe, um die Kredite zu tilgen, die wir zu zweit aufgenommen hatten und für die ich die Monatsraten unmöglich allein bezahlen konnte. Es war ein Darlehen, bei dem die Zinsen höher waren als die geliehene Summe. Ich habe aufgehört, auf mein Konto zu schauen, wo jede Rücklastschrift, jede Überziehung mit horrenden Kosten gespickt ist. Ich habe keine Briefe mehr geöffnet und sämtliche Anrufe mit unbekannter Nummer ignoriert. Monatelang war ein ganzer Teil meines Lebens wie betäubt. Das Erwachen ist schmerzhaft. Es kostet 12.689 Euro.

»Wir sind da!«, schreit Lily.

Während die Scheibenwischer tapfer gegen den Regenguss ankämpfen, parke ich vor dem Haus meines Vaters. Chloé auf dem Beifahrersitz ist seit dem Verlassen der Wohnung in die Betrachtung ihres Handys vertieft.

»Chloé, wir sind da.«

»Na toll.«

»Gib dir Mühe, Opa freut sich, euch zu sehen.«

Sie zuckt mit den Schultern und löst den Gurt. Ihr Kinn zittert.

»Was hast du denn, Mäuschen?«

»Ich hab nichts«, erwidert sie, sichtlich bemüht, ihre Tränen zurückzuhalten.

Ich streiche ihr über die Wange.

»Bist du sicher?«

»Hör auf, Maman, ich sag doch, ich hab nichts.«

Sie steigt aus dem Auto, knallt die Tür zu und geht mit ihrer Schwester zum Hauseingang, die Handtasche schützend über ihr Haar haltend.

Mein Vater und meine Stiefmutter Jeanette geben uns vier Küsschen auf die Wange, für den Fall, dass wir die ersten drei nicht verstanden haben sollten. Sie lächeln so breit, dass man ihre Weisheitszähne sieht.

»Wir konnten euren Besuch kaum erwarten! Wir wollen euch nämlich was zeigen«, verkündet mein Vater aufgeregt.

Jeanette neben ihm klatscht in die Hände. Als ich sie das letzte Mal in dieser Verfassung erlebt habe, hatten sie sich gerade gegenseitig ihre Spitznamen aufs Herz tätowieren lassen. Papsi und Mausi.

Mein Vater öffnet die Terrassentür und drängt uns in den Garten.

»Kommt mal mit!«

»Es regnet, Opa«, protestiert Chloé.

»Ach, das sind nur ein paar Tropfen«, sagt Jeanette und schiebt uns nach draußen.

An der Hausecke macht mein Vater uns Zeichen, stehen zu bleiben.

»Seid ihr bereit?«

»Ja!«, ruft Lily.

»Warte!«, bremst ihn Jeanette. »Sollen wir sie nicht raten lassen?«

Er nickt aufgeregt. Papsi und Mausi sind Spielernaturen.

»Habt ihr euch einen Hund gekauft?«, beginnt Chloé, immer noch mit Tränen in den Augen.

»Einen Tiger?«, lautet Lilys kluge Vermutung.

»Ein neues Auto?«

»Du bist nah dran, Anna!«, ruft Jeanette. »Aber größer als ein Auto!«

»Ein Raumschiff?«, tippt Lily.

»Ein Wohnmobil?«

Mein Vater blinzelt. Wir dürfen weitergehen, und im nächsten Moment breitet er die Arme aus: »Tataaaa!«

Hinter ihm prangt ein imposantes weißes Gefährt. Er legt Jeanette einen Arm um die Schultern, sie schnurrt zufrieden.

»Wir haben beschlossen, uns im Ruhestand etwas Schönes zu gönnen. Diesen Sommer wollen wir nach Italien fahren. Das Wohnmobil ist gebraucht, aber höchstens zehn Jahre alt, die Gelegenheit konnten wir uns einfach nicht entgehen lassen. Geht mal rein und schaut euch um!«

Er schließt die Tür auf und lädt uns ein, seine neue Ferienresidenz auf Rädern zu besichtigen, nicht ohne uns zu bitten, vorher die Schuhe auszuziehen.

Drinnen ist es klein, aber der Platz ist gut genutzt. Es gibt einen Schlafbereich mit Doppelbett, jede Menge Stauraum, eine Sitzecke mit einer zum Bett ausklappbaren Bank, eine Kochnische und sogar eine Duschkabine, in die ich bestimmt mit einem Bein hineinpassen würde.

Draußen lauern Papsi und Mausi auf unsere Reaktionen, während ihnen der Regen über die Stirn rinnt. Ich mache den Mädchen mimische Zeichen, die sie sofort verstehen, dann fange ich an zu schwärmen: »Wirklich sagenhaft! Ihr werdet euch total wohl fühlen!«

»Und diese Vorhänge, die sind wunderschön!«, schwärmt Chloé und streicht über den Stoff mit den großen gelben Blumen.

Lily schaut sich auf der Suche nach Inspiration im Wohnmobil um, und plötzlich leuchtet ihr Gesicht auf: »Wie praktisch! Hier ist es so klein, dass ihr kochen und gleichzeitig kacken könnt!«

Als wir nach einem üppigen Mittagsmahl ins Wohnzimmer wechseln, um Kaffee zu trinken, zieht sich Chloé in die Bibliothek zurück. Während des Essens wechselte ihre Stimmung ununterbrochen, schuld war ihr Handy. Jedes Mal, wenn sie draufschaute, glitzerten in ihren Augen entweder Tränen oder Sterne. Teenagerjahre bedeuten unbeständiges Wetter.

Als ich nach ihr schaue, sitzt sie mit dem Roman Sturmhöhe auf einem Stapel Kissen.

»Wie geht’s dir?«

»Gut«, antwortet sie, ohne den Blick von ihrem Buch zu wenden.

Ich setze mich neben sie.

»Weißt du, dass du mit mir reden kannst?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Weißt du das, Chloé?«

»Ich weiß es, Maman, aber …«

»Aber was?«

»Nichts.«

»Was denn, Mäuschen?«

»Nichts, alles okay, Maman. Kannst du mich nur mal eben drücken?«

Natürlich kann ich dich drücken, mein großes Baby. Ich breite die Arme aus, sie schmiegt sich an mich, den Kopf an meinem Hals, ihre Haare kitzeln mich an der Nase. Sie hat mir mal wieder mein Parfüm geklaut.

Chloé hat immer gern mit mir geschmust. Als kleines Mädchen konnte sie nur eng an mich geschmiegt einschlafen. Wenn wir abends ins Bett gingen, lag sie schon dort. Ihren Vater hat das verrückt gemacht, ich dagegen habe nur ein bisschen geschimpft. Gleichzeitig habe ich die zärtlichen Momente genossen, von denen ich wusste, dass sie irgendwann enden würden. Noch heute kommt sie manchmal nachts zu mir ins Bett, angeblich wegen eines Albtraums oder Bauchschmerzen. Ich schimpfe nicht mehr, sondern schlage einfach die Bettdecke zurück und überlasse ihr den warmen Platz, ohne ihr zu gestehen, wie schön ich das finde.

Langsam löst sie sich von mir und streicht sich das Haar zurecht, dann versenkt sie sich wieder in ihre Lektüre. Ich stehe behutsam auf.

»Falls du reden möchtest: Du weißt, ich bin da.«

Ich verlasse die Bibliothek und ziehe die Tür hinter mir zu.

Im letzten Moment höre ich Chloés Stimme: »Aber nur, wenn du nicht arbeitest.«

Anna

Jeden Morgen betrete ich das Restaurant in der Hoffnung, Tony möge eingesehen haben, wie inakzeptabel sein Angebot ist. Jeden Abend verlasse ich es in der Hoffnung, er möge in der Nacht sein Gedächtnis verlieren.

Aber er vergisst nicht.

»Und, hast du deine Meinung geändert?«

Er steht hinter der Bar, schweigt und schaut mir zu, wie ich zwischen den Tischen den Boden wische.

»Also nicht.«

»Warum denn nicht? Ich hab dir hundertmal gesagt: Mit siebenunddreißig finde ich unmöglich wieder Arbeit.«

»Aber du sagst doch selbst, hier würdest du zu viel schuften! Übrigens, in letzter Zeit merkt man schon, dass dir die Arbeit schwerfällt, du kommst schnell aus der Puste und klagst andauernd.«

Prompt hält der Wischmopp inne. Ich drehe mich zu Tony um.

»Mach dich nicht über mich lustig! Und such jetzt nicht nach einem Kündigungsgrund, da wirst du nämlich nichts finden. Jeder kann bestätigen, wie gut ich arbeite. Ich schufte für zwei. Wenn ich schlappmache, dann nur, weil du niemand zusätzlich einstellen willst!«

Er gießt sich einen Drink ein und kippt ihn in einem Zug hinunter.

»So was würde ich dir nie antun, ich bin ein korrekter Mensch. Sonst hätte ich dir nicht dieses Arrangement angeboten. Ich mag Estelle eben sehr gern, wie du weißt. Nicht nur im Bett.«

»Davon will ich gar nichts wissen«, antworte ich und versuche, mir keine Details vorzustellen.

Mit beiden Händen auf die Theke gestützt, fährt er fort, diesmal sanfter: »Sie ist toll, ich würde wirklich gern mit ihr zusammenarbeiten. Sie hat auch zugesagt, aber eben unter der Bedingung, dass ich ihre Schwester mit einstelle.«

»Ihre Schwester? Du meinst, beide werde bedienen?«

»Das ist die Idee.«

Wortlos putze ich weiter und versuche, nicht auf den Wischmopp zu hören, der mich anfleht, ihn in Richtung Bar zu schleudern.

»Bist du wegen meiner Frau dagegen, Anna?«

»Wie bitte?«

»Aus weiblicher Solidarität? Oder bist du eifersüchtig?«

Ich stelle den Mopp ab und marschiere wutentbrannt auf meinen Chef zu.

»Glaubst du etwa, alles dreht sich nur um dich, Tony? Von mir aus kannst du mit Estelle schlafen, wann du willst, du kannst Estelle, ihre Schwester, ihren Großvater und ihren Hamster vögeln, wenn’s dir Spaß macht, das ist mir so was von egal. Wahrscheinlich verstehst du das nicht, aber ich muss an meine Töchter denken, an mein Bankkonto, an meine Zukunft. Ich bin nicht deinetwegen gegen dein Angebot! Einzig und allein meinetwegen. Also hör bitte auf damit! Ich werde es nicht annehmen.«

Er gießt sich ein zweites Glas ein und trinkt es schweigend. Ich greife wieder nach dem Wischmopp, um den Boden fertig zu putzen. Mit jedem Schwung verfliegt etwas von meiner Wut. Als ich hinter die Bar gehe, um meine Tasche zu holen, bin ich nur noch eine leere Hülle. Mein Chef hat sich nicht von der Stelle gerührt.

»Gute Nacht, Tony. Bis morgen!«

»Anna«, fängt er noch einmal an. »Gibt es denn wirklich nichts, was dich umstimmen könnte?«

Ich spüre, wie sich mein Stachel aufrichtet, bereit, sein Gift zu versprühen.

Stattdessen drehe ich mich zu ihm um und höre mich sagen: »Vielleicht gäb’s da was …«

Chloés Blog

Kevin liebt mich nicht mehr. Na ja, so direkt hat er es nicht gesagt, aber er hat gemeint, ich sei zu gut für ihn, er würde mich nicht verdienen. Heute bin ich bestimmt ein Dutzend Mal an seiner Bäckerei vorbeigegangen und habe gehofft, ihn zu sehen, um mit ihm zu reden. Nach allem, was wir zusammen erlebt haben, hätte ich mir mehr gewünscht als eine SMS mit Rechtschreibfehlern. Gesehen habe ich ihn auch, aber nur von Weitem, da hat er gerade Pause gemacht. Clara ist offensichtlich nicht zu gut für ihn.

Ich habe mich in den Eingang unseres Hauses gesetzt, auf die Briefträgerin gewartet und nachgedacht.

Ich verstehe es nicht. Ich bin mal die Liste durchgegangen. Bis jetzt war ich mit sieben Jungs zusammen. Die vier ersten haben mich abserviert, weil ich nicht mit ihnen ins Bett wollte. Die drei letzten haben mich abserviert, kurz nachdem wir im Bett waren. Dabei dachte ich, genau das haben sie gewollt, das war total klar, absolut nichts Unterschwelliges. Wenn ich ihnen doch gebe, was sie wollen, warum dann der Stimmungswandel?

Jedes Mal denke ich, jetzt meinen sie es wirklich ernst. Sie sind zärtlich, aufmerksam, reden im Plural und im Futur, wie soll ich mich da nicht verlieben?

Inès behauptet, ich müsste warten, sie schmoren lassen, ihnen Zeit geben, um mich kennenzulernen. Marion meint, ich sei vielleicht ungeschickt im Bett, auf YouTube gäbe es Tutorials, mit denen könne man lernen, es richtig zu machen. Für Charlotte sind alle Jungs Schweine. Ich weiß nicht. Vielleicht werden Männer ja zu anderen Wesen, nachdem man mit ihnen im Bett war?

Normalerweise trägt Sonia in unserer Siedlung die Post aus, Sonia, mit der ich in der Grundschule Kunstschwimmen hatte. Wenn sie mich sieht, gibt sie mir immer die Post, statt sie in den Briefkasten zu werfen. Aber heute ist nicht sie gekommen, sondern ein junger Typ mit blonden Locken. Er hat sein Rad an die Wand gelehnt und hat mit den Augen die Namensschilder abgewandert. Da bin ich aufgestanden.

»Falls es Ihnen hilft, die Post für Moulineau können Sie mir geben.«

»Geht schon, danke, ich komme klar!«

»Ach, bitte … Ich erwarte einen Eilbrief und habe meinen Schlüssel vergessen.«

Er hat den Kopf geschüttelt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das darf.«

Ich habe mein schönstes Lächeln aufgesetzt und ihm versichert, ich hieße wirklich Moulineau. Er wollte meinen Personalausweis sehen. Den habe ich ihm gezeigt.

»Okay, ich selbst heiße nicht Moulineau«, habe ich erklärt. »Meine Eltern sind geschieden, Moulineau ist der Name meiner Mutter.«

Er hat auf das Foto geschaut, auf mich, auf das Foto, auf mich.

»In echt sehen Sie besser aus.«

Ich habe gelächelt, aber diesmal war es nicht aufgesetzt.

Er hat in seinem Postbeutel gekramt, hat zwei Umschläge herausgeholt und sie mir gegeben. Den mit dem Stempel meines Gymnasiums habe ich behalten und den anderen in den Briefkasten gesteckt.

Ich war gerade auf dem Weg zur Treppe, da hat er hinter mir hergerufen: »Moulineau! Hättest du Lust, dass wir uns mal treffen?«