Unser Tag ist heute - Virginie Grimaldi - E-Book

Unser Tag ist heute E-Book

Virginie Grimaldi

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was auch geschieht, zusammen sind wir stark! Ein wunderbar Mut machendes Buch von Frankreichs Autorin Nummer 1

Jeanne, 74, hat kürzlich ihren Mann verloren und findet sich in einer einsamen und finanziell prekären Situation wieder. Iris, 33 und schwanger, ist einer toxischen Beziehung entflohen, versteckt sich in Paris, wo sie aus dem Koffer lebt, und sucht nach einer Unterkunft. Théo, 18, Konditorlehrling ohne festen Wohnsitz, hat Jahre im Heim hinter sich, Erinnerungen an eine desolate Kindheit im Gepäck und braucht ebenfalls dringend eine Bleibe.

Geplagt von Geldsorgen kommt Jeanne auf die Idee, einen Untermieter in ihre große Pariser Wohnung aufzunehmen. Aus einem werden zwei, und so findet sich eine auf den ersten Blick ungewöhnliche WG zusammen. Eine Schicksalsgemeinschaft, aus der bald so viel mehr wird: Ersatzfamilie und Freunde fürs Leben.

Eine Geschichte zwischen leichtfüßiger Unterhaltung und großen Emotionen – zum Mitfühlen und Wohlfühlen von der mit Abstand erfolgreichsten französischen Autorin.

»Eine wunderbare Lektion über das Leben.« Le Parisien

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 324

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Was auch geschieht, zusammen sind wir stark!

Jeanne, 74, hat kürzlich ihren Mann verloren und findet sich in einer einsamen und finanziell prekären Situation wieder. Iris, 33 und schwanger, ist einer toxischen Beziehung entflohen, versteckt sich in Paris, wo sie aus dem Koffer lebt, und sucht nach einer Unterkunft. Théo, 18, Konditorlehrling ohne festen Wohnsitz, hat Jahre im Heim hinter sich, Erinnerungen an eine desolate Kindheit im Gepäck und braucht ebenfalls dringend eine Bleibe.

Geplagt von Geldsorgen kommt Jeanne auf die Idee, einen Untermieter in ihre große Pariser Wohnung aufzunehmen. Aus einem werden zwei, und so findet sich eine auf den ersten Blick ungewöhnliche WG zusammen. Eine Schicksalsgemeinschaft, aus der bald so viel mehr wird: Ersatzfamilie und Freunde fürs Leben.

Eine Geschichte zwischen leichtfüßiger Unterhaltung und großen Emotionen – zum Mitfühlen und Wohlfühlen von der mit Abstand erfolgreichsten französischen Autorin.

Virginie Grimaldi wollte schon mit acht Jahren Schriftstellerin werden. Damals schrieb sie einen Roman, der von der Liebe und dem Meer handelte und einen dreißigseitigen Sonnenuntergang enthielt.

Heute zählt sie zu den mit Abstand erfolgreichsten Autorinnen Frankreichs, ihre Fans warten sehnsüchtig auf jeden neuen Roman und jeder erobert die Spitze der Bestsellerliste im Sturm. Ihre Bücher werden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Virginie Grimaldi lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen und dem Rest ihrer Großfamilie bei Bordeaux.

»Eine wunderbare Lektion über das Leben. Voller Humor und Aufrichtigkeit!« Le Parisien

»Was Grimaldi so erfolgreich macht? Sie erzählt so unbeschwert und mit leichter Hand, dass jede Seite zum Lesegenuss wird.« Elle France

»Virginie Grimaldi findet einfach immer die richtigen Worte. Niemand sonst erzählt so bunt und voller Emotion wie sie.« Marie France

»Ohne Vorbehalte und ohne jedes Klischee erzählt Grimaldi von alltäglicher Not, Einsamkeit und Verlust – doch ihr Humor und vor allem ihre Aufrichtigkeit machen diese Geschichte zu einer wunderbaren Lektion über das Leben.« Le Parisien

www.penguin-verlag.de

Virginie Grimaldi

Unser Tag ist heute

Roman

Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle

Die Originalausgabe erschien 2022unter dem Titel Il nous restera çabei Éditions Fayard, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe by Virginie Grimaldi 2022

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susanne Kiesow

Umschlaggestaltung: bürosüd

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30972-5V001

www.penguin-verlag.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

willkommen bei Jeanne, Iris und Théo. Ich hoffe, ihr werdet euch bei ihnen zu Hause fühlen.

Danke, dass ihr mich lest!

Liebe Grüße

Virginie Grimaldi

Für Serena, Sophie und Cynthia,

meine Gewissheiten

In allem ist ein Riss.

Das ist der Spalt, durch den das Licht fällt.

Leonard Cohen

Man darf vor dem Glück keine Angst haben,

es ist einfach ein schönes Erlebnis.

Romain Gary

Prolog

Jeanne

Drei Monate vorher

Der große Tag war gekommen. Jeanne hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie steckte sich das Haar hoch und befestigte den Schleier mit Haarklammern. Ihre Hände zitterten leicht, deshalb war es nicht ganz einfach. Trotz der vielen Angebote von allen Seiten hatte sie darauf bestanden, bei den Vorbereitungen allein zu sein. Sie wusste, wie wichtig dieser Augenblick war, dieser Schlüsselmoment, der sich einem tief ins Gedächtnis eingräbt und es nie mehr verlässt, und wollte sich ihm ganz und gar und ohne Ablenkung hingeben. Die Junisonne, die durchs Fenster fiel, überflutete das Eichenparkett ihres Schlafzimmers. Diese goldene Pfütze war ihr liebster Platz in der Wohnung. Sie bildete sich am späteren Vormittag, wenn die Sonnenstrahlen sich einen Weg zwischen den Schornsteinen der gegenüberliegenden Häuser bahnten. Nichts mochte Jeanne lieber, als mit beiden Füßen in dieser sanften Wärme zu stehen. Eines Tages hatte Pierre sie dabei überrascht, wie sie mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen in Sonne gebadet am Fenster stand. Vollkommen nackt. Am liebsten wäre sie in den Spalten des Parkettbodens versunken, so sehr hatte sie sich geschämt.

Aber Pierre hatte nur gelacht: »Ich habe immer davon geträumt, ein Erdmännchen zu heiraten.«

Es war ein ungewöhnlicher, origineller, geradezu verrückter Heiratsantrag gewesen. Der vierte, seit sie zusammengezogen waren. Alle anderen hatte Jeanne aus Freiheitsliebe abgelehnt. Dort aber, in der Sonnenpfütze, fasziniert von der ausgefallenen Idee dieses Mannes, der ihren Freiheitswunsch akzeptierte, hatte sie Ja gesagt.

Im Wohnzimmer schlug die Wanduhr. Jeanne war spät dran. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und verließ die Wohnung.

Sie hatte beschlossen, zu Fuß zur Kirche zu gehen, die nur zwei Straßen entfernt lag. Auf dem Weg dorthin zog sie die Blicke auf sich. Köpfe wandten sich um. Ein junges Mädchen filmte sie mit dem Handy. Ihre Aufmachung fiel auf. Jeanne merkte nichts davon, so sehr beherrschte sie ein einziger Gedanke: In wenigen Minuten würde sie bei Pierre sein. Er würde da sein, in dem schönen grauen Anzug, den sie für ihn ausgesucht hatte.

Der Vorplatz war leer. Alle waren schon in der Kirche. Jeanne strich den Stoff ihres langen Kleides glatt und bemühte sich, ihr Zittern zu beherrschen. Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen. Sie setzte ein Lächeln auf und schritt durch das hölzerne Portal.

Die Kirche war randvoll. Die Bänke hatten nicht ausgereicht, weshalb man an den Seiten Stühle aufgestellt hatte, und einige Leute standen sogar. Alle Blicke wandten sich zu Jeanne. Sie beachtete sie nicht. Langsam schritt sie durch das Kirchenschiff und ließ dabei Pierre nicht aus den Augen. Für einen Moment fragte sie sich, ob ihre Brust das wilde Klopfen ihres Herzens aushalten würde. Die Orgel spielte ein Stück, das sie nicht kannte, dabei hatte sie sich »Hallelujah« von Leonard Cohen gewünscht. Mit gefalteten Händen stand der Priester am Altar.

Zu ihrer Rechten bemerkte Jeanne eine Regung. Suzanne zeigte auf einen freien Platz in der ersten Reihe. Sie lächelte und ging weiter, dem Mann entgegen, den sie liebte.

Als sie auf seiner Höhe ankam, verstummte die Orgel. Tiefe Stille machte sich breit. Lange betrachtete Jeanne Pierres Gesicht. Seine langen Wimpern, sein rundes Kinn, seine gerade Stirn. An seinen Gesichtszügen hatte sie sich nie sattsehen können. Sie waren zu ihrer Landschaft, ihrem Lebensraum geworden. Wie könnte sie ohne sie leben? Das Räuspern des Priesters kündigte den Beginn der Messe an. Jeanne lächelte ihm zu und musste wieder an Vater Maurice denken, der sie vor fünfzig Jahren in ebendieser Kirche getraut hatte. Dann hob sie ihren schwarzen Schleier, stützte sich, während sie sich vorbeugte, auf den Sargrand und küsste die Lippen ihres Mannes ein letztes Mal.

Théo

Zwei Monate zuvor

Ich habe ein altes Auto gefunden. Ein Typ ist in die Bäckerei gekommen und hat gefragt, ob er eine Verkaufsanzeige im Laden aufhängen könnte. Ich war gerade dabei, die Kaffee-Eclairs mit Glasur zu überziehen.

»Es ist dringend«, hat er zu Nathalie gesagt, »ich brauche Geld.«

Sie hat abgelehnt, diese Zettelwirtschaft im Laden findet sie furchtbar. Regelmäßig wimmelt sie Leute ab, die Werbeflyer oder Annoncen auf die Theke legen wollen. Der Typ war schon draußen auf dem Bürgersteig, als ich ihn eingeholt habe. Er sah eher abschreckend als vertrauenerweckend aus mit seinem zuckenden Auge und seinen riesigen Händen. Aber er brauchte Geld und ich ein Auto.

Nach Ladenschluss hat er mich auf dem Parkplatz erwartet. Bei dem niedrigen Preis war ich auf das Schlimmste gefasst. Aber es war noch schlimmer. Ein weißer Peugeot 205 mit verbeultem Kotflügel, und der Rest war auch nicht besser. Das Peugeot-Logo auf Motorhaube und Heckklappe hatte er durch eines von Ferrari ersetzt. Die gesamte Heckscheibe war mit wenig geschmackvollen Aufklebern überzogen. Ich wollte mir den Motor ansehen, aber die Motorhaube ließ sich einfach nicht öffnen. Der Wagen startete, das war die Hauptsache.

»Dafür gebe ich dir hundert Euro«, habe ich gesagt.

»Dreihundert, nicht verhandelbar«, hat er geantwortet.

»Der fährt nicht mehr lange, dreihundert ist er nicht wert.«

Sein Auge hat schneller gezuckt, vielleicht drohte er mir gerade mit Morsezeichen.

»Nicht verhandelbar, habe ich gesagt, klau mir nicht meine Zeit. Willst du ihn, oder willst du ihn nicht?«

Ich bin noch mal um den Wagen herumgegangen, habe mir die Sitze angeguckt, die in ziemlich gutem Zustand waren.

»Zweihundert und ein Kaffee-Eclair. Mehr habe ich nicht, Bro.«

Er hat zu Boden geschaut, und ich habe die Gelegenheit genutzt, um mir seine Hände genauer anzugucken. Das hätte ich lieber lassen sollen. Der hätte mich mit einer einzigen Ohrfeige bis zur ISS befördert. Eine von beiden streckte er mir dann entgegen.

»Alles klar. Eclair kannste behalten, ich bin auf Diät.«

Er hat den Fahrzeugschein durchgestrichen, und wir haben die Verkaufspapiere ausgefüllt. Dann hat er die Scheine zweimal nachgezählt und in die Innentasche seines Blousons gestopft. Ein Drittel meines ersten Lohns. Bevor er ging, hat er mir einen Klaps auf den Rücken gegeben, von dem mir fast der Arm abgefallen wäre. Ich habe meine Tasche auf den Rücksitz geworfen, ein Fahranfängerschild auf die Heckklappe geklebt und bin losgedüst.

Die Pariser Straßen sind vollgestopft, und an jeder Ampel geht der Motor aus. Ich fahre heute zum ersten Mal, seit ich meinen Führerschein habe. Normalerweise nehme ich die Metro.

Morgen sind es zwei Monate, dass ich arbeite. Die Lehrer am Gymnasium hatten mir geraten, unbedingt zu studieren. Aber ich hatte keine Wahl. In meiner Ausbildung werde ich fast die Hälfte des Mindestlohns verdienen. In der Konditorei haben sie mich zwar gewarnt, man könne nach dem Abschluss nicht unbedingt mit einer Festanstellung rechnen. Aber in der Branche gibt es mehr als genug Arbeit. Und ich kann was. Da, wo ich vorher gewohnt habe, waren sie alle von meinen Backkünsten begeistert. Bei jeder Gelegenheit haben sie mich gefragt, ob ich nicht einen Kuchen backen will, und ich habe mich nie lange bitten lassen. Jetzt fehlt ihnen das bestimmt.

Hinter mir hupt jemand. Im Rückspiegel sehe ich, wie mich jemand anschreit. Ich drehe den Zündschlüssel, trete aufs Gas, der Wagen stottert, ich versuch’s noch mal, und als die Ampel gerade auf Gelb springt, startet er. Ich fahre los und mache dem Typen im Rückspiegel ein Handzeichen. Er antwortet mir mit dem Mittelfinger.

Als ich Montreuil erreiche, dämmert es schon. In der Rue Condorcet, vor einem kleinen Haus mit blauen Fensterläden, finde ich einen Parkplatz. Ich hole das Sandwich aus der Tasche, das Nathalie mir verkauft hat. Für zwei Euro, weil es sonst im Müll gelandet wäre. Als ich sie gefragt habe, ob ich morgen bezahlen könnte, hat sie geseufzt. Sie ist so was von geizig, ich würde meinen Hintern darauf verwetten, dass sie ihr Klopapier beidseitig benutzt.

Es fängt an zu regnen. Ich probiere die Scheibenwischer aus, aber die funktionieren nicht. Ist mir schnuppe. Ich habe ja nicht vor, mit diesem Auto rumzufahren. Ich lege mich auf den Rücksitz, schiebe mir meine Tasche als Kissen unter den Kopf und decke mich mit meinem Mantel zu. Ich stecke mir meine Kopfhörerstöpsel in die Ohren und lasse den neusten Song von Grand Corps Malade laufen. Dann zünde ich mir die Selbstgedrehte an, die ich seit heute Morgen aufgehoben habe, und schließe die Augen. Lange habe ich mich nicht mehr so gut gefühlt. Heute Nacht schlafe ich nicht in der Metro. Für zweihundert Mäuse habe ich mir ein eigenes Zuhause gegönnt.

Iris

Einen Monat zuvor

Mit zwei Jahren bin ich von einem Karussellpferd gefallen. Mein Vater hatte mich nicht richtig angeschnallt und wurde durch meine Mutter abgelenkt, die ihm von einer Bank aus zurief, dass er mich festhalten soll. Ich habe mir das Handgelenk gebrochen, musste operiert und genäht werden. Meine Mutter war sauer auf meinen Vater, mein Vater war sauer auf meine Mutter, ich war sauer auf das Pferd. Das war meine erste Narbe.

Mit sechs Jahren wollte ich mich nicht vor meinem Cousin blamieren und habe mich bei einem Wettrennen mit Stoffschlittschuhen über das Parkett meiner Großmutter voll ins Zeug gelegt. Meine Unterlippe ist aufgeplatzt und wurde im Krankenhaus genäht. Das war meine zweite Narbe.

Als ich sieben war, hat der apricotfarbene Pudel unserer Nachbarn sich ein Stück von meinem Unterschenkel geschnappt. Das war meine dritte Narbe.

Mit elf Jahren habe ich mich in der Schule plötzlich unter heftigen Schmerzen gekrümmt. Die Englischlehrerin, die mir gerade eine Frage gestellt hatte, dachte, ich mache nur Theater, und hat mich nicht ins Krankenzimmer gehen lassen. Am nächsten Morgen wurde mir der Blinddarm entfernt, und weil die Englischlehrerin schlimme Schuldgefühle hatte, wurde ich prompt ihr Liebling. Das war meine vierte Narbe.

Mit siebzehn Jahren habe ich mir einen Leberfleck an der Backe entfernen lassen. Er war erhaben und sah hässlich aus, ich kam mir immer vor, als hätte ich einen Choco Pop im Gesicht. Die Sache hat mich fünf Nadelstiche für die Betäubung und sechs für die Naht gekostet. Das war meine fünfte Narbe.

Mit zweiundzwanzig Jahren bin ich eines Morgens mit Schmerzen im Steißbein aufgewacht und konnte nur noch laufen, als hätte ich Schwimmflossen an den Füßen. Bei der Untersuchung hat der Arzt einen Abszess entdeckt, der sofort herausoperiert werden musste. Mit der Betäubung ging was schief, ich dachte, ich sterbe, aber als ich aufgewacht bin, hat mir der Blick an die Decke bestätigt, dass ich nicht im Paradies war. Drei Wochen lang habe ich einen dicken Verband an einer so ungünstigen Stelle getragen, dass meine Sitzflächen immer gepolstert werden mussten. Das war meine sechste Narbe.

Mit sechsundzwanzig Jahren, als ich eines Tages am Strand auf dem Rücken in der Sonne lag, ist mir durch einen heftigen Windstoß der Sonnenschirmständer meines Handtuchnachbarn aufs Schienbein gefallen. Er hat sich überschwänglich entschuldigt und die Gelegenheit genutzt, mich zum Abendessen einzuladen. Ich bin lieber ins Krankenhaus gegangen. Das war meine siebte Narbe.

Mit dreißig Jahren bin ich Jérémy begegnet. Das ist meine achte Narbe.

September

1

Jeanne

Jeanne hielt den Mixer in den Kochtopf und beobachtete, wie das Gemüse langsam zerfiel.

Im Laufe von fünfzig Jahren hatten Pierre und sie sich ihre Angewohnheiten zurechtgestrickt. Jeanne war immer als Erste aufgewacht, von dunklen Gedanken aus dem Schlaf getrieben. Sie war schon immer so gewesen, ausgestattet mit einer lästigen Melancholie, die einen dichten Schleier über alle guten Nachrichten und fröhlichen Ereignisse legte. Manchmal spürte sie, ohne den Grund dafür zu kennen, wie sich in ihrem Bauch ein Abgrund auftat und eine Meerestiefe sie verschlang. Sie hatte sich damit abgefunden, so wie man sich an Hintergrundgeräusche gewöhnt.

Morgens verließ sie leise das Bett, machte sich einen Tee und ging ins Nebenzimmer, in dem sie so lange nähte, bis Pierre aufstand. Anschließend frühstückten sie zusammen, machten sich fertig und verließen das Haus gemeinsam, um zu ihrer jeweiligen Arbeitsstätte zu fahren. Abends kam Jeanne später als Pierre wieder nach Hause. Er war dann schon beim Bäcker und beim Gemüsehändler gewesen, sie kochten zusammen, aßen zusammen, schauten sich zusammen im Fernsehen einen Film oder irgendeine Sendung an.

Seit drei Monaten löste Jeanne diese Gewohnheiten Masche für Masche wieder auf. Aus dem Plural war Einzahl geworden. Die Szenerie und die Uhrzeiten waren noch dieselben, aber alles klang hohl. Sogar die Melancholie war verschwunden, als hätte Jeanne ihr Leben lang nur für die Trauer geübt, mit der sie nun fertig werden musste. Sie war desensibilisiert.

Als es an der Tür klingelte, bellte Boudine. Im Türrahmen stand der Briefträger mit einem Einschreiben in der Hand.

»Eine kleine Unterschrift, Madame Perrin?«

Während sie schrieb, schnüffelte Boudine gierig an den Schuhen des Mannes. Diese Hündin hatte die außergewöhnliche Fähigkeit, ein grunzendes Schwein nachzuahmen.

Jeanne öffnete den Umschlag gar nicht erst, sie wusste ja, was er enthielt. Das Gleiche wie die beiden vorangegangenen. Auch auf den letzten Telefonanruf hatte sie nicht reagiert. Um die Bankgeschäfte hatte sich immer Pierre gekümmert. Sie wusste, wie die Dinge standen, denn er hatte ihr nicht vorenthalten, dass sie seit einigen Monaten in einer prekären finanziellen Lage waren.

Jeanne und Pierre gehörten zur sogenannten Mittelschicht. Dank ihrer Gehälter hatten sie sich im Jahr 1969 im 17. Arrondissement eine Vierzimmerwohnung kaufen und ein angenehmes Leben ohne Ausschweifungen, aber auch ohne Entbehrungen führen können. Einmal im Jahr hatten sie sich eine Reise gegönnt und mehreren Organisationen Geld gespendet. Die Rente hatte sie zu einem schlichteren Lebensstil gezwungen. Von nun an hatten sie auf Fernreisen verzichtet, ihren Fisch- und Fleischkonsum reduziert, und Pierre hatte sich bemüht, regelmäßiger ihre Finanzen durchzurechnen. Die Witwenrente, die Jeanne jetzt nur noch bekam, hatte ihr Konto ins Minus absacken lassen. Der Bankberater hatte zwar Mitgefühl gezeigt, ihr aber geraten, die Wohnung zu verkaufen. Doch das kam nicht infrage. Es war ja nicht ihre Wohnung, sondern ihre und Pierres Wohnung. Pierre lebte noch dort, in dem Geruch nach Pfeifentabak, der sich in den Wänden festgesetzt hatte, in der Küchentür, die er selbst an einem Frühlingstag grün gestrichen hatte, in seiner gebeugten Silhouette, die Jeanne noch immer am Fenster stehen sah.

Sie legte den Umschlag auf die Flurkommode und erlaubte Boudine, auf ihren Schoß zu klettern. Sie schaltete den Fernseher ein und wählte irgendeinen Sender. Alles besser als diese Stille. Auf dem Bildschirm führte ein junger Mann durch die Räume einer Wohnung. Eine Stimme, vermutlich die des Journalisten, der die Reportage gemacht hatte, erläuterte die Kosten dessen, was er als boomende Wohnform präsentierte. Ein eingeblendeter Text fasste das Thema zusammen: »Wohngemeinschaft, ein vorteilhaftes Arrangement«.

2

Théo

Wie jeden Donnerstag weckt mich die Müllabfuhr. Es ist sechs Uhr morgens. Ich vergrabe meinen Kopf tiefer in dem Kissen, das ich bei Monoprix geklaut habe. Die haben nichts mitgekriegt. Rein bin ich mit flachem Bauch, raus wie eine Schwangere kurz vor der Entbindung. Immerhin war ich nicht unverschämt und habe das billigste genommen. Es ging nicht anders. In der ersten Nacht hatte ich meine Tasche als Kopfkissen benutzt und mir total den Hals verrenkt. Mein Kopf war nach links verdreht, ich konnte nicht mehr geradeaus gucken und musste mich seitlich fortbewegen, wie in einem »Schwanensee für Krebse«. Dabei bin ich nicht gerade zimperlich, was Schlafplätze betrifft, ich bin es gewohnt, mich überall aufs Ohr zu hauen. Am schlimmsten war es allerdings in der Metro, nicht wegen dem Fliesenboden, sondern wegen der Angst. Einmal haben sie mich zu dritt überfallen, um mir mein Handy zu klauen. Ich dachte, das war’s dann. In meinem eigenen Auto geht’s mir echt besser.

Wie jeden Morgen drehe ich eine Runde durch die sozialen Netzwerke. Ich habe eine Nachricht von Gérard gekriegt, aber ich mache sie nicht auf. Sonst ist da nichts. Sie haben mich schnell vergessen.

Das Haus mit den blauen Fensterläden schläft noch. Ich male mir gern aus, wie sie da drinnen leben. Im Gymnasium haben mir die Lehrer immer vorgeworfen, ich würde in den Wolken schweben, und mich einen Träumer genannt. Ich träume nicht, ich flüchte. Die Realität ist mein Gefängnis.

Hinter den blauen Fensterläden stelle ich mir Räume mit Teppichböden vor. Diese flauschigen, in denen die Füße versinken, nicht so was Raues, wie ich es in meinem Zimmer hatte. Vanilleduft, brennende Kerzen. Im Hintergrund Musik, Klassik oder so. Auf der Kommode am Eingang liegen Schlüssel, unten drunter stehen Hausschuhe. Auf dem Couchtisch eine dampfende Tasse Kaffee. Die Mutter sitzt auf dem Sofa, noch im Schlafanzug, und liest zum fünften Mal Romain Gary. Der Vater pfeift unter der Dusche. Der Sohn schläft noch unter einem dicken Federbett, den Kopf auf einem nicht geklauten Kissen. Eine Katze schnurrt auf dem Bauch ihres Herrchens. Verdammt. Meine Fantasie ist ein Weihnachtsfilm.

Ich versuche, mich zum Aufstehen und Anziehen zu motivieren. Abends ziehe ich mir die Klamotten aus, bevor ich mich schlafen lege, und decke mich mit dem alten Mantel zu, den Ahmed mir überlassen hat, als ich gegangen bin. Alle zwei Wochen bringe ich meine Sachen zur Wäscherei vom Roten Kreuz. Die Zähne putze ich mir mit Wasser aus einer Trinkflasche, und in der Mittagspause wasche ich mich an einem Waschbecken in der Bäckerei. Zweimal die Woche dusche ich kostenlos in einer der städtischen Badeanstalten, und bei der Gelegenheit rasiere ich mich auch. Ich habe es immer gehasst, dreckig zu sein. Ich ertrage es nicht, wenn ich stinke. Die tägliche warme Dusche ist das, was mir am meisten fehlt. Das und Menschen, denen ich wichtig bin.

Ich döse noch, als mich plötzlich ein Licht blendet. Eine Faust schlägt aufs Autodach, und sofort weiß ich Bescheid: die Bullen. Ich öffne die Wagentür, weil die Fensterkurbeln verschwunden sind.

»Polizei, Ihre Papiere bitte.«

Sie sind zu zweit, eher freundliche Typen, und erklären mir, dass ich hier wegfahren muss. Mittlerweile bin ich bei zwölf Knöllchen in zwei Monaten. Regelmäßig parke ich um, fahre den Wagen ein paar Plätze weiter, aber das reicht nicht.

»Sie können hier nicht bleiben.«

Ich erkläre ihnen, dass ich nichts Schlimmes tue, dass ich nur in Ruhe schlafen will, dass ich jeden Morgen die Metro Linie 9 nehme, um zur Arbeit zu fahren, und dass ich abends zum Schlafen zurückkomme. Keine Chance, sie wollen, dass ich verschwinde.

»Warum bleiben Sie in dieser Straße?«, fragt mich der Jüngere von beiden.

Ich zucke mit den Schultern. Sie reden weiter auf mich ein, drohen mir damit, meinen Wagen abschleppen zu lassen, aber ich höre schon nicht mehr zu. Hinter ihnen öffnet sich gerade im ersten Stock einer der blauen Fensterläden.

3

Iris

Das ist jetzt die zwölfte Wohnung, die ich mir anschaue. Noch schäbiger als die elf anderen, das muss man erst mal hinkriegen. Der Immobilienmakler gibt sich nicht die Mühe, den Mund aufzumachen, seine Arbeit erledigt der Markt: Zusammen mit mir drängen sich um die zwanzig Leute auf dem Treppenabsatz und der Treppe, und alle haben nur den einen Wunsch: ihren Namen unter der abgewetzten Klingel zu lesen. Die Miete ist unverschämt hoch, trotzdem höre ich, wie eine junge Frau anbietet, noch mehr zu zahlen. Ein Bärtiger meckert laut, die anderen, auch ich, ziehen es vor, keinen Wirbel zu machen, um nicht als Bewerber auszuscheiden. Verstohlen beobachte ich die Leute und versuche, von ihrer Kleidung und ihrem Verhalten auf die Höhe ihres Gehalts zu schließen. Wie viele von ihnen haben eine bessere Bewerbungsmappe als ich? Neunzehn höchstwahrscheinlich.

Seit ich in Paris bin, sind meine Ersparnisse zusammengeschmolzen. Die Einzimmerwohnung, die ich wochenweise miete, ist billiger als ein Hotel, aber lange werde ich diese Methode finanziell nicht durchhalten können.

Der Immobilienmakler schließt die Wohnungstür und steckt alle Mappen in seine Umhängetasche.

»Wir schauen uns die Unterlagen an und geben Ihnen Bescheid.«

Ich laufe die Treppen hinunter, während meine Hoffnungen im sechsten Stock zurückbleiben. Mich ruft er bestimmt nicht an. Ich arbeite nicht Vollzeit, habe keinen Bürgen, und von den verlangten Dokumenten fehlen mir einige. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt zu Wohnungsbesichtigungen gehe. Ich hätte größere Chancen, einen gesuchten Drogenboss zu finden als eine Wohnung.

In einem Supermarkt kaufe ich ein paar Lebensmittel ein. Wie jeden Tag werde ich in trauter Zweisamkeit mit dem Fernseher zu Abend essen.

Als ich auf meinem Stockwerk an der Nachbarwohnung vorbeikomme, geht die Tür auf. Dabei versuche ich schon immer, so leise wie möglich zu sein, aber das Gehör dieses Typen ist offenbar so scharf, wie sein Atem riecht, und das will was heißen.

»Wer bist du?«

»Ich miete die Wohnung für ein paar Tage, wir haben uns heute Morgen schon mal gesehen.«

»Hast du was zu trinken?«

»Ich glaube, ich habe noch einen Rest Orangensaft.«

Schallendes Gelächter.

»Hältst du mich für ’ne Schwuchtel?«

Natürlich ist mein Wohnungsschlüssel in die tiefsten Abgründe meiner Handtasche gerutscht. Ich muss lange wühlen, bis ich ihn finde. Der Nachbar lässt nicht locker, ich höre ihn näher kommen.

»Und zu rauchen hast du auch nichts?«

»Tut mir leid, ich rauche nicht.«

»Okay, meine Nachbarin ist ein Tugendbold!«, posaunt er ins Treppenhaus.

Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass der Ausdruck »Tugendbold« schon seit der Steinzeit nicht mehr benutzt wird und sein Gebrauch inzwischen unter Strafe steht, aber ich fürchte, er könnte es wörtlich nehmen.

Während er weiter sarkastische Sprüche klopft, stoßen meine Finger endlich auf Metall. Ich ziehe den Schlüssel aus der Tasche, stecke ihn ins Schloss, öffne die Tür und lasse sie vor der Nase meines Nachbarn ins Schloss fallen.

Endlich in Sicherheit vor seinem Blick und seinem feinen Gehör, nehme ich all meinen Mut zusammen, stelle mich vor die geschlossene Tür, recke das Kinn, werfe mich in die Brust und flüstere: »Verschwinde wieder in deiner Höhle, Neandertaler.«

4

Jeanne

»Ich habe mal alles durchgerechnet, und es sieht nicht rosig aus.«

Jeanne beugte sich mit der Gießkanne vor und begoss die Erde der Dipladenia. Immer wieder öffneten sich neue Blüten, trotz des trüben Wetters. Der Herbst stand vor der Tür. Diese Phase des Jahres, die den schönen Tagen den Todesstoß versetzte und der toten Jahreszeit den roten Teppich ausrollte, hatte Jeanne nie gemocht. Jetzt aber stimmte der nahende Oktober sie zum ersten Mal nicht traurig. Juli und August hatte sie vollkommen gleichgültig vorbeiziehen lassen und nicht versucht, den Sommer aufzuhalten. Inzwischen fühlten sich für Jeanne alle Monate gleich an.

»Ich weiß, dass du jetzt lachst. Du denkst bestimmt, ich mache Witze, aber ich war noch nie so ernst. Ich habe alles durchgerechnet. Nichts ist unmöglich. Genau vier Stunden und zwölf Minuten habe ich dafür gebraucht, und das Ergebnis ist eindeutig: Mir fehlen zweihundert Euro, um über den Monat zu kommen. Selbst wenn ich die Ausgaben auf das absolute Minimum reduziere.«

Jeanne zog einen Lappen aus ihrer Tasche und begann, die Gedenktafeln zu säubern. Langsam, vorsichtig wischte sie den Staub von den eingravierten Lettern. »Unserem Lehrer« stand dort, »Unserem geliebten Onkel«, »Meinem Liebling, für immer«. Wie jeden Tag hob sie sich das an den Grabstein geschraubte Foto bis zum Schluss auf. Sie streichelte seine Stirn, seine Augen, seinen Mund, und ihre Finger riefen ihr seine Haut ins Gedächtnis. Es war der zärtlichste und zugleich schmerzlichste Moment. Doch diese wenigen Sekunden mit ihm waren es wert, die anschließende grausame Enttäuschung auszuhalten.

»Du wirst begeistert sein zu hören, dass du recht hattest. Wir hätten etwas zur Seite legen sollen. Du warst immer vorausschauender als ich.«

Jeannes klares Bewusstsein von der Endlichkeit des Menschen hatte eine positive Seite: Sie stand immer mit beiden Beinen fest in der Gegenwart. Sie befasste sich erst bei Tagesanbruch mit dem nächsten Morgen, nicht früher. Wenn Pierre davon gesprochen hatte, dass sie für ihre alten Tage sparen müssten, hatte das für sie wie eine Fremdsprache geklungen.

»Und wenn ich vor dir sterbe?«, hatte er oft besorgt gesagt. »Dein Gehalt ist nicht sehr hoch, du wirst nur eine lächerliche Rente bekommen. Was machst du dann?«

»Untersteh dich«, hatte sie regelmäßig erwidert. »Muss ich dich daran erinnern, dass ich drei Monate älter bin als du?«

Jeanne faltete den Lappen wieder zusammen und setzte sich auf die ein paar Schritte entfernt stehende Bank. Boudine legte sich zu ihren Füßen. Der Wind ließ die Zweige einer Trauerweide erzittern. Sie fragte sich, ob man diesen Baum bewusst auf einem Friedhof gepflanzt hatte.

»Ich habe nicht daran geglaubt, dass du eines Tages nicht mehr da sein würdest«, murmelte sie.

Sie blieb noch lange sitzen und erzählte Pierre alles, was sie ihm erzählen konnte. Jedes Thema behandelte sie in aller Breite, bis sie es restlos erschöpft hatte. Dabei war es eher eine Angewohnheit ihres Mannes gewesen, das, was er erzählte, mit nicht unbedingt notwendigen Details auszuschmücken. Wie oft war sie abgedriftet, während er geredet hatte? Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, den Mund nur aufzumachen, wenn es absolut notwendig war. Und jetzt saß sie hier, mit vierundsiebzig Jahren, und erzählte einem Grabstein von der am Vorabend angeschauten Fernsehsendung über die Gefahren des Zuckers. Sie hätte sogar das Telefonbuch aufgesagt, wenn ihr das einen Vorwand geboten hätte, um länger zu bleiben.

Zweifellos waren es die Unterhaltungen mit Pierre, die ihr am meisten fehlten. Ebenso gern, wie sie ihm ihre Gedanken anvertraut hatte, hatte sie mit ihm über gesellschaftliche Themen diskutiert. Er war der Mensch gewesen, der sie am besten kannte, sie am besten verstand. Er hatte ihre Reaktion vorausgesehen, ihre seelische Verfassung erspürt. Wenn sie sich gemeinsam einen Film angeschaut hatten und eine Stelle ihr nahegegangen war – was oft passierte, wenn es um eine Geburt oder ein Baby ging –, hatte sie aus den Augenwinkeln gesehen, wie Pierre zu ihr herüberschaute. Dann hatte er seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt, um ihr zu verstehen zu geben, dass er wusste, was in ihr vorging, und dass er da war. Wie sollte sie das Leben ohne ihn ertragen?

Als sie sich von der Bank erhob, hatte die Dämmerung eingesetzt. Sie legte die wenigen Meter zurück, die sie von ihrem Mann trennten, und berührte sein Foto.

»Morgen komme ich wieder, mein Liebling. Dann habe ich bestimmt eine Lösung gefunden.«

Zu Hause schaute Jeanne nach der Post. Im Kasten lag ein Brief, den sie oben in ihrer Wohnung öffnete. Sie zog ein Blatt Papier mit einem ausgedruckten Text aus dem Umschlag.

Winter 1980

Pierre vermag Jeannes Kummer nicht zu lindern. Mit siebenunddreißig Jahren ist sie zur Waise geworden. Kürzlich ist ihre Mutter gestorben, nachdem sie zwei lange Jahre gegen ihren Krebs gekämpft hat. Nur wenig früher ist ihr Vater mit Anfang sechzig einem Herzinfarkt erlegen. Bei der Beerdigung halten Jeanne und ihre Schwester Louise sich bei der Hand wie früher als Kinder. Jeannes Leben geht weiter, jeden Morgen geht sie zu ihrer Arbeit im Atelier, jeden Abend kehrt sie zurück zu Pierre. Doch der Schmerz hat ihr sanftes Lächeln ausgelöscht. Pierre versucht, sie auf andere Gedanken zu bringen. Er geht mit ihr ins Theater, ins Kino, fährt mit ihr ins Baskenland, aber Jeanne bleibt untröstlich. Eines Tages hat er eine Idee. Seine Idee hat vier Pfoten, einen länglichen Körper und Schlappohren. Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Jeanne beschließt, den Hund Saucisse, Würstchen, zu nennen, und zum ersten Mal seit Wochen lächelt sie wieder.

Jeanne wurden die Knie weich. Ihr Herz raste. Sie ließ sich aufs Sofa sinken und las den Brief ein zweites Mal. Er trug keine Unterschrift. Auf dem Umschlag klebte ein mit ihrem Namen und ihrer Adresse bedrucktes Etikett.

Der Inhalt des Briefs entsprach erstaunlich – und beunruhigend – genau der Wahrheit. Von wem kam er? Alle, die von dieser Geschichte wussten, waren auf die eine oder andere Weise aus ihrem Leben verschwunden.

Sie war so durcheinander, dass sie sich kurz hinlegen musste. In den wenigen Sekunden der Lektüre war die Vergangenheit zurückgekehrt. Verwirrend deutlich sah sie Pierre mit dem Hund auf dem Arm durch die Tür treten. Er war spät von der Arbeit nach Hause gekommen, was sie beunruhigt hatte. Seit dem Tod ihrer Eltern war sie empfindlicher geworden, war innerlich darauf gefasst, dass alle, die sie liebte, verschwinden würden. Pierre hatte kein Wort gesagt. Er schien ihre Reaktion zu fürchten. Er bückte sich und setzte das kleine Tier auf dem Fußboden ab. Dieser wurstförmige Körper, dieser wedelnde Schwanz, das Klicken der Krallen auf dem Parkettboden und diese Schnauze, die alles beschnüffelte, machten Jeannes schwache Bedenken restlos zunichte. »Ein Kunde wollte die Hündin loswerden«, sagte Pierre. »Ich dachte, sie braucht bestimmt Liebe, und du könntest ihr die geben, die du übrig hast.« Es war einer der glücklichsten Momente gewesen, die sie seit Langem erlebt hatte.

5

Théo

Ich habe mich auf Tinder registriert. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, wo ich doch immer gesagt habe, ich würde nie auf eine Dating-Plattform gehen. Ich glaube nicht wirklich an die Liebe, aber es ist wie mit Gott: Ich hoffe, jemand beweist mir eines Tages, dass ich unrecht hatte.

Ich lag also in meinem Auto, starrte an die Decke und grübelte wie jeden Abend, warum wir hier sind, wozu wir leben, wenn wir sowieso eines Tages sterben, warum ich nicht in einer anderen Familie gelandet bin, ob das Licht im Kühlschrank ausgeht, wenn man ihn zumacht, und da habe ich mich noch einsamer gefühlt als normalerweise, dabei ist normalerweise schon das Maximum.

In der Bäckerei hört Nathalie immer Radio Nostalgie, der Name passt echt gut, den ganzen Tag hört man tote Chansonniers, die das Leben besingen. Heute Nachmittag lief eine Sendung über Dating-Portale, jede Menge Leute haben angerufen und erzählt, sie hätten auf diese Weise die große Liebe gefunden. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb heute Abend, als ich mit meiner Einsamkeit allein war, bei Tinder angemeldet.

Ich habe das einzige Foto von mir gepostet, das mir gefällt. Darauf sieht man mich von hinten beim Betrachten des Sonnenuntergangs. Manon hat es aufgenommen. Wir waren gerade in Seignosse angekommen, aus dem Bus gesprungen und zum Strand gelaufen. Damals habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen.

Nachdem ich alle Angaben gemacht habe, ziehen die Fotos mit den Frauen vorbei. Anfangs ist das ganz witzig. Da gibt’s die, die lachen oder gerade Sport treiben, die, die schüchtern lächeln, die, die sämtliche Filter aktiviert haben, die, die sich mit ihrer Katze fotografiert haben, die, die immer nur mit Freundinnen erscheinen, die, die einen auf melancholisch machen. Ich spiele mit und tippe ab und zu, eher auf gut Glück, auf das grüne Herz. Manchmal lache ich mich kaputt, zum Beispiel bei »Marie«, die auf allen Fotos gleich aussieht und auch das gleiche Gesicht macht, irgendwie gruselig, gerade so, als hätte sie nur eine andere Umgebung gewählt und sich was anderes angezogen. Oder bei »Jenny65«, die auf einem Sofa liegt, eindeutig stockbesoffen, Flasche im Mund, wie in einer völlig schrägen Möbelwerbung. Aber alles in allem finde ich es nur mäßig. Ich habe das Gefühl, auf einer Klamottenseite nach der stylischsten Mütze zu suchen. Vielleicht weil ich kein gut aussehender Typ bin, obwohl ich weiß, dass Aussehen nicht alles ist, vielleicht weil mir immer noch Manon durch den Kopf geht, ich weiß nicht, aber irgendwie fühle ich mich mies dabei. Wenn ich an all diese einsamen Leute hinter dem Bildschirm denke, fühle ich mich noch einsamer. Gerade will ich die App schließen, da kommt eine Nachricht: Ich habe ein Match. Ein Mädchen, das ich geliked hatte, hat mich auch geliked.

Nur so aus Neugier öffne ich das Fenster. Ihr Pseudonym lautet »Bella«, sie ist neunzehn. Foto von Füßen im Sand. Eine Nachricht sagt mir, dass ich mit ihr chatten kann. Ich muss blitzschnell überlegen. So was habe ich noch nie gemacht. Der erste Satz ist zwar unwichtig, wenn ich sie sowieso nie sehe, aber was, wenn sie zufällig die Frau meines Lebens ist?

Sie ist schneller als ich: »Hallo, alle nennen mich Bella, aber sag bitte nicht gleich Ciao.«

Ich schwanke zwischen Lachen und Flüchten. Sie lässt mir keine Zeit, mich zu entscheiden.

»Tut mir leid, bin neu hier. Den Satz hab ich mal auf Twitter gelesen und fand ihn witzig. Jetzt, wo ich ihn geschrieben habe, merke ich, dass er vor allem blöd ist. Heißt du wirklich Naruto, oder ist das dein Benutzername?«

»Das ist eine Manga-Figur.«

»Weiß ich … Ich versuch’s mal ohne Humor.«

Ich muss lächeln, dabei hatte ich das gar nicht vor. Ich bin der Experte für blöde Witze, die danebengehen. Mein Humor ist ein komischer Typ, den die Leute schief angucken. Ich ziehe mir meine Kapuze über den Kopf und schreibe: »Ich heiße Théo.«

6

Iris

Ich bin auf die Minute genau bei Madame Beaulieu, schließe die Tür auf und kündige mich mit lauter Stimme an, so wie man es mir am Schulungstag beigebracht hat.

»Guten Tag, hier ist Iris!«

Aus dem Wohnzimmer schallt mir Madame Beaulieus Stimme entgegen. »Bist du es, kleines Miststück?«

Sie ist guter Laune.

Wie an vier Vormittagen in der Woche verbringe ich auch heute zwei Stunden mit dieser Frau, deren Verstand sich verkrümelt hat. Ich koche ihr das Mittagessen, helfe ihr beim Aufräumen, putze ein bisschen, manchmal gehe ich auch mit ihr spazieren. Eine zweite Pflegerin übernimmt den Nachmittag, bevor abends die Tochter nach Hause kommt. Madame Beaulieu kann uns nicht auseinanderhalten, das ist praktisch: Bei ihr haben wir alle denselben Spitznamen.

Anschließend fahre ich zu Monsieur Hamadi, der seine Beine nicht mehr benutzen kann, seitdem er von einem Auto angefahren wurde, danach zu Nadia, einer Frau, die kaum älter ist als ich und unter Multiple Sklerose leidet.

»Ihr Beruf ist anstrengend, oder?«, fragt sie, während ich ein Kleid bügle.

»Ich kann nicht klagen.«

»Aber es muss doch schwer sein. Machen Sie das schon lange?«

Ich drücke auf den Knopf, und fauchend stößt das Bügeleisen eine Dampfwolke aus, in der ihre Frage sich auflöst. Ich kann einfach nicht lügen, das konnte ich noch nie. Aber wenn ich die Wahrheit sage, wird sie mehr wissen wollen. Ihr zehnjähriger Sohn liegt mit einem Buch bäuchlings auf dem Sofa. Ideale Ausweichmöglichkeit.

»Was liest du denn da?«

»Rot und Schwarz«, antwortet er, ohne aufzuschauen.

Stendhal! Sarkastisches Bürschchen. Ich beschließe, auf sein Spiel einzugehen.

»Wenn du es durchhast, empfehle ich dir Proust. Das ist zwar leichte Literatur, aber so bist du schon mal gewappnet, falls du eines Tages Tim und Struppi in Angriff nehmen willst.«

Er dreht den Kopf zur Seite und schaut mir in die Augen. In seinem Blick lese ich eine Mischung aus Ungläubigkeit und Geringschätzung. Er klappt sein Buch zu, steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Ich habe gerade noch Zeit, das Buchcover zu sehen: Es ist tatsächlich der Roman von Stendhal.

»Zum Glück kenne ich ihn von Geburt an«, sagt seine Mutter achselzuckend, »sonst würde ich glauben, sie hätten ihn mit einem anderen Jungen vertauscht. In seinem Alter habe ich noch Fünf-Freunde-Bücher gelesen.«

»In seinem Alter habe ich meine Barbie gebürstet, vor ihrem Rendezvous mit Ken.«

Sie lacht schallend, bevor sie sich mithilfe ihrer Krücken hochhievt und ebenfalls aus dem Zimmer geht.

Draußen ist es noch warm, als ich Nadias Haus im 17. Arrondissement verlasse. Vor mir liegt ein fast einstündiger Fußmarsch bis zu meiner Wohnung. Die Bürgersteige sind voll, es ist die Zeit, zu der die Leute mehr oder weniger beschwingt nach Hause gehen. Angeblich leben in Frankreich zehn Millionen Menschen allein. Ich beobachte die Passanten um mich herum und frage mich, wer von ihnen wohl dazugehört. Verraten lange Schritte den Wunsch, schnell zur Familie oder zum Partner zurückzukommen? Versuchen schleppende Schritte, die Zweisamkeit mit sich selbst hinauszuzögern? Ich habe soeben sechs Stunden damit verbracht, alleinstehenden Menschen Gesellschaft zu leisten. Was für eine Ironie. An einem Fußgängerüberweg bleibe ich stehen, und als das grüne Männchen aufleuchtet, setze ich meinen Weg schleppenden Schrittes fort.

7

Jeanne

Seit drei Monaten hatte Jeanne das zweite freie Zimmer in ihrer Wohnung nicht betreten. Zum ersten Mal hatte sie so lange nichts genäht. Sie zog die Vorhänge auf und ließ das Tageslicht in den Raum. Ihr war, als kehrte sie nach langer Abwesenheit an einen vertrauten Ort zurück. Sie fühlte sich hier zu Hause und zugleich wie eine Fremde. Sie betrachtete die Overlock-Maschine, das naturfarbene, mit Kreide markierte Viskosequadrat, fuhr mit einem Finger über das von ihrer Mutter geerbte hölzerne Nähkästchen, strich über das bunte Stoffdurcheinander im Regal, ließ eine Garnrolle über ihre Handfläche rollen. Das hier war ihr Refugium, ihr Bunker gewesen. Hätte man sie vor einigen Monaten gefragt, welchen Raum in ihrer Wohnung sie niemals aufgeben könnte, hätte sie ohne Zögern geantwortet: das zweite Zimmer. Doch nun war ihre Entscheidung gefallen.

Sie zog sich ihren Regenmantel an und verließ die Wohnung.