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Franus Graueis

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Beschreibung

Dieses Buch zu lesen, ist ein langer Marsch durch die tiefsten menschlichen Abgründe. Kein Wunder, ist es doch die Seele des Führers, die einen dabei begleitet, Schritt für Schritt. Manchmal humorvoll, oft phantastisch, fast immer ein großes Grauen zeigend. Warum aber kann man nicht aufhören zu lesen? Nun, zum einen, das Grauen ist sich nie selbst genug, vielleicht niederer Beweggründe wegen, zum anderen, da kann jemand schreiben. Sarkastisch im Unterton, aber nie dabei die Ebene der Menschlichkeit verlassend. Wenn die „Blendung" von E.Canetti und „Die Belchtrommel“ von G.Grass eine Liaison hatten, dann kann das Kind nur einen Namen haben: „MO“ The New Gorker Morningpost

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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IMPRESSUM:

Vorwort

PROLOG

1. Auf der Flucht

2. Berlin

3. Ein leises Lied

4. Die Pflicht erfüllt

5. Hein-Peters Fund

6. Die goldenen Zeiten

7. Die Taufe

8. Bückling in der Tasche

9. Das verlorene Paradies

10. Die Fliege

11. Das Ritual

12. Das Gottesopfer

13. Die Wasserprobe

14. Auf großer Fahrt

15. Die Rache der Fliegen

16. Vor dem Ersten Advent

17. Das Drei-Päpste-Jahr

18. Engelsgesicht

19. Das kleine Erbe

20. Ambalas Schoß

21. Der Brief

22. Vanillepudding und Rollmops

23. Das Wohnzimmer

24. Die größte aller lebenden Veränderungen (Teil I)

25. Tausend kleine Lichter

26. Die größte aller lebenden Veränderungen (Teil II)

27. Der erste schwarze Präsident

28. Flucht aus Alcatraz

29. Aufbruch zu neuen Ufern

30. Die Unterschrift

31. Ferien-Ranch, Gorks und Mondgeschwätz

32. Brot und Spiele

33. Das geliebte Weib

34. Vineta, Vineta, oder der letzte Edelmann

NEKROLOG

EPILOG

ANHANG:

Weitere Bücher von Franus Graueis

 

 

 

 

 

FRANUS GRAUEIS

 

 

 

MO

 

 

 

Oder:

 

Was wurde eigentlich aus der Seele des Führers?

 

 

IMPRESSUM:

 

Autor:

Francis M. Linz alias

FRANUS GRAUEIS

Gravelottestr. 4

81667 München

Germany

 

 

© Francis Linz 2010

E-BOOK / Version Epub2

ISBN 978-3-911350-39-6

Wörter: 180.000

Geschrieben: 2003-2009

Umschlaggestaltung

Illustrationen

© Franus Graueis

 

 

 

 

Weiteres siehe: www.Francislinz.com

 

……………………………………………………

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Widmung

 

 

Für die,

die die Einzigartigkeit des Lebens erkannt haben,

und vor allem die Pflicht,

die sich daraus ergibt.

 

************

 

 

Dank an Julia für das Bild vom Führer.

 

(Ich weiß,

ein Eis mit zwei Kugeln,

das ist eigentlich zu wenig,

denn nie wurde er treffender dargestellt.)

 

Vorwort

 

Es ist nicht, dass ich mich von dem Buch distanzieren möchte. Wie sollte ich? Ich war es, der es geschrieben hat. Es ist nur, dass ich auf die Frage: „Würdest Du das heute noch einmal so schreiben?“, definitiv mit einem Nein antworte. Und warum? Ganz einfach, in diesem Buch gibt es nur wenige Inseln, um sich von dem Schrecken zu erholen, den es in seiner Gesamtheit malt. (Wenn der Schluss nicht wäre, es wäre der Hölle erster Kreis.) Und ich spreche nicht von dem schaurigen Schrecken, von dem man lesen kann, wenn man sich ein Horrorbuch vor die Lesebrille hält oder einen blutigen Krimi, sondern von dem, der viel tiefer geht. Zumal ja dort immer Helden leben, die gegen diesen Schrecken kämpfen. Helden, die wir in unser Herz schließen. Hier aber gibt es niemand, der unsere Sympathie verdient. Auch kämpft niemand gegen diesen Schrecken. Vielmehr sind sie ihm alle nur willfährige Diener.

Warum aber habe ich das Buch geschrieben? Nun, die Antwort darauf zu finden, fällt auch mir nicht leicht. Vielleicht war es, weil ein bekannter Literaturkritiker behauptet hat, es gäbe niemanden mehr, der einen vernünftigen 500 Seiten Roman zustande bringt und ich ihn eines Besseren belehren wollte in meiner jugendlichen Hybris. Oder, weil ich gerade „Die Blendung“ von Canetti gelesen hatte und mich mit diesem auf eine Stufe stellen wollte, was ja noch viel anmaßender ist. Wenngleich sein Werk wie das meine eine Sache gemein haben, sie sind schwer wie Stein.

Was man ja in einem gewissen Alter liebt. Bücher für den Kopf. Die anderen aber warne ich hiermit ausdrücklich, denn auch wenn es Passagen in dem Buch gibt, die, was das Handwerkliche angeht, von einer Präzision sind, wie ich sie in keinem anderen meiner Bücher erreicht habe, so lege ich dennoch ebendiese anderen Bücher dem interessierten Leser viel mehr ans Herz. - Franus Graueis

 

 

 

 

 

 

Der Führer, er log

 

 

Springt Auf!

Rief der Führer

Hört meine Flöte

Wir folgt mir

 

Lauscht den Tönen

Süß sie sprechen:

Es ist unser Land

Blut für Gut

 

Mutter zweifle nicht

Gib den Mann

Es ist Pflicht

Ehren zu mehren

 

Auch Söhne stolz

Sie sind mein

Geb sie zurück

In Orden ohne Sorgen

 

Doch der Führer, er log

Orden zu Blech

Die Noten taub

Nur eines wahr:

 

Vater, Söhne

Heute Land

Mit Tränen

Streichelt Mutters Hand

PROLOG

 

 

Unvergessen der Tod, der eigene.

Auch, oder vor allem, weil im Termin oft so unzuverlässig.

Zu früh oder zu spät, niemand weiß etwas Genaues.

Doch das gilt nicht immer.

Und manchmal ist es mehr als nur eine dunkle Ahnung.

 

 

Einsam saß der Führer auf seinem Sessel. Gebückt war sein Haupt, der Körper regungslos. Fast schien es so, als sei er bereits von dieser Welt gegangen. (Und wenn nicht das, dann zumindest ein wenig eingenickt.) Doch dem war nicht so. Seine Augen waren weit geöffnet. Wenn auch leer und ohne jeden Sinn. Stumpf starrten sie geradeaus. Mitten hinein in den eigenen Schoß. Sahen und sahen doch auch nicht. Die Finger, die dort lagen. Die der rechten Hand. Voller Unruhe hingegen war deren Spiel.

Kalte, weiße Finger, die es gewohnt waren, in den guten Zeiten, stramm aneinandergereiht, den Himmel zu grüßen und von den Göttern ihr Recht zu fordern, herauszufordern die Menschlichkeit. Doch das war nun vorbei. Lange schon vorbei. Und von ihrer einstigen Selbstsicherheit hatte sich nicht viel über den stets wandernden Grat der Zeit gerettet. Ein erstes leises Zittern hatte sie befallen, als mit noch warmem Fleisch gefüllte Soldatenmäntel im Matsch von Stalingrad langsam zu Brettern gefroren. Erst kaum merklich, doch dann immer mehr. Nicht des Mitleids der gefallenen Seelen wegen. Nein, es waren derer so viele, da lohnte kein Zählen. Es war eher die Art von Unruhe, die nur den befällt, dessen Selbstherrlichkeit viel zu lange vor blinden Spiegeln stand und der nun der Wahrheit gewahr. Der einzigen Wahrheit, der grausamen Wahrheit. Zuerst bedächtig, ihr letztendlich aber nicht entkommen kann. So sehr er sich auch darum bemüht.

Deswegen auch blieb es nicht bei diesem einsamen Zittern, konnte es gar nicht bleiben, und schon bald gesellten sich ein Zweites und ein Drittes hinzu. Dann sogar ein Viertes und ein Fünftes. In immer kürzeren Abständen. Bis es letztendlich so weit war: Jeden Tag ein Neues, jede Stunde. Scheinbar wollte es von nun ab nie mehr weichen, wollte sein ein steter Bruder, auch ohne Nabelschnur und Mutterpass.

Doch damit nicht genug: Es wurde auch für die Außenwelt immer sichtbarer, denn mit jeder Niederlage mehr wusste sich dieses Zittern in seinen Amplituden zu steigern. Und Niederlagen, die gab es zuhauf in diesem Land. Zu ebener Erde, zu Wasser und vor allem in der Luft. Verheerende Niederlagen! Überall überschritt der Feind die so sicher geglaubten Linien. Stieß sie nieder wie morsche Gartenzäune und fegte hinfort die weißen Laken. Und wenn er sie zu packen kriegte, die, die sich hinter diesen Linien einst so sicher wähnten, in ihrem Königreich ganz ohne Gnade, und die nun in wilder Panik flohen, dann ertränkte er sie, einen jeden einzelnen, ohne Reue, wie räudige Hunde im Fluss ihrer eigenen Überheblichkeit.

Nein, es gab kein Halten und kein Hoffen mehr in diesem Land. Erst recht nicht für dieses Zittern. Selbst mit Medikamenten war es jetzt nicht mehr zu unterdrücken. Im Gegenteil, gar darin fand es neue Nahrung. Und nur manchmal, für einen kurzen Moment der Zeit, wollte und konnte es sich ein wenig im Einerlei des Alltags verlieren. Das aber auch nur dann, wenn eine neue Aufgabe gefunden worden war. Ein wohlgefälliger Rhythmus, der die Furcht vor dem Unbekannten an sich zu binden wusste. Ein Rhythmus, wie er nur den banalsten Dingen innewohnt. Dem Essen, dem Führen des Bestecks zum Mund, oder auch dem gedankenverlorenen Zuknöpfen eines Hemdes. Dingen, die keiner wirklich gezielten Kontrolle bedürfen. Nur dann war es wie in den guten alten Zeiten, als der nationale Stolz den Fingern ihr kerzengerades Rückgrat schenkte. Als sie dem starren Arm dem Sinn scheinbar für tausend Jahre die Richtung weisen wollten. Nur dann war man wieder Herrscher über die Welt. Nur dann war alles wieder gut.

In diesem Moment hingegen waren die Finger sich sehr wohl bewusst, was ihrer Bewegung innerster Drang war. Deswegen auch war das stete Beben wieder mitten in ihnen. Im stummen Reigen tanzten sie um eine kleine Kapsel herum. Links herum, rechts herum. Den Kopf stets dabei ein wenig gekrümmt, fast schon ehrfürchtig. Wohl auch weil von diesem Glockenschlag an dieses silberne Ding ihr Goldenes Kalb sein sollte, dem zu dienen sie hatten bis zum Rest ihrer Zeit.

Ja, die Finger, sie wussten um ihr Tun. Der Führer hingegen war tief in Gedanken verloren. Doch nichts Sinnierendes lag darin, nur eine große Verzweiflung. Auch weil es viel zu viele Gedanken auf einmal waren. Selbst für ihn, der sonst Millionen zu jonglieren wusste. Sodass sie ihm, wenn er denn einen aufgreifen wollte, stets höhnisch lachend zu entwischen wussten. Viel zu rasch ihr Gleiten ineinander, als dass sie für eines Menschen Geist auch nur zu erahnen waren. Nur schemenhaft ihr Abbild im Inneren des Auges. Und wenn doch, wenn er tatsächlich einen von ihnen kurz am Zipfel seines Bartes zu halten vermochte, dann war das, was diese Totgeburt ihm zu erzählen hatte, im nächsten Moment auch schon wieder vergessen.

Nein, der Führer, er war kein Führer mehr, weit davon entfernt, er war vielmehr einem Kinde gleich, und alles, was er sah und hörte, fiel sofort in das tiefe Grab namens: War es Gestern? Ausdruckslos war seine Miene, denn all das, was ihm sonst so bekannt, war plötzlich weit weg. Die Welt und all das, was sich auf ihr befand. Nichts davon war noch, weder in der Ferne noch die Dinge, die ihm eigentlich so schrecklich nahe. Wie eben die Finger seiner Hand. Er sah sie und doch auch nicht. Ohne seine Zustimmung tanzten sie weiter ihren grotesken Tanz. Links herum, rechts herum. Immer und immer wieder. Einer geheimen Choreografie folgend, die eigentlich schon seit Jahren gar nicht mehr so geheim. Denn so unsagbar lange hatte seine Armeen den ganzen Erdball mit ihrem Tritt überzogen. Von Ost nach West, von Nord nach Süd. Über alle Breiten und Längengrade hinweg. Links herum, rechts herum. Links herum, rechts herum. Links - Rechts; Links - Rechts. Doch niemand dort wollte diesen Schritt mehr wagen. Gestern nicht und auch heute nicht. Die Welt, sie wollte endlich wieder in sich ruhen. Wollte sich drehen um ihren eigenen Nabel, gelassen und stoisch, so wie es ihr vor Urzeiten von den Göttern aufgetragen.

Nein! Nichts mehr wollte die Welt auf die kalten, weißen Finger eines alten, bösen Mannes geben, und so wurden diese, dies endlich gewahr, in ihrem ruhelosen Treiben von Runde zu Runde doch noch träger und immer träger. Denn auch ohne Gedanken ahnten sie, nein, wussten sie es, sie waren die letzten ihrer Art. Dünne Engel vor dem langen Schlaf. Letztendlich erstarrten sogar sie. Und dem einst so glorreich genannten Führer wurde begreiflich: Alles war verloren, alles war entzwei.

Ja, alles war verloren, alles war entzwei. Die Nachricht war endlich angekommen. Jeder im Land hatte es kommen sehen, nur ein paar Uneinsichtige nicht. Hatten geglaubt an Wunderwaffen, an Armeen, die man nur zu säen hatte über die Lande und die dann stolz wuchsen wie das Getreide im Herbst und die dem Feind würden Einhalt gebieten. Hatten geglaubt an das tausendjährige Reich, das seinen Kindern die ewige Mutter ist. Die Mutter, die alles verzeiht, all die Lügen und all die anderen ungeheuerlichen Verbrechen, die verzeiht all die ungezählten Gräuel.

Plötzlich aber durchzog eine gewisse Spannung den Raum, denn so unstet der Tanz der weißen Finger einem Außenstehenden auch immer erschienen wäre, so hielt er doch den Rest des Körpers für so lange Zeit in balsamierter Ruhe. Doch mit dem Ende des Reigens war das vorbei. Ein erstes leises Zucken überfiel den Rücken und die Schultern, dann auch schon flatterten die Augenlider nervös. Klapperten auf und ab, fast so als ob sie mühsam versuchten, das Tor wieder zu schließen, durch das all die schönen Träume den Kopf verlassen hatten. Denn das war das Letzte, was dem Führer geblieben war: Träume. Endlos lange Träume. Doch vergebens. Und was das Tor in entgegengesetzter Richtung anzubieten hatte, erfüllte sein Herz erst recht nicht mit Freude. Was war nur aus seiner großen Idee geworden? Was war nur los in seinem großen Reich? Resigniert schüttelte er den Kopf und drehte seinen Schnurrbart, der müde und struppig über der strengen Oberlippe hing, nach rechts hin, der Wand zu.

Eine neue Perspektive, eine neue Ansicht. Aber nur zögernd kam das Erkennen über den Führer und er wusste wieder, wo er war. Erkannte all die Dinge, die ihn umgaben. Erkannte aber auch, dass er nicht alleine war. Denn da lag sie auf der Couch, seine kleine Eva, die er schnell noch in den letzten Stunden geheiratet hatte. Er, Adam, erster seiner Rasse. Dem Druck sich beugend, aber auch bisschen einer inneren Anwandlung folgend, so kurz vor dem Ende; so sentimental. Und er wusste das. Nur zu gut! Nein, für solch Dinge war er nicht bekannt. In der Welt nicht und auch nicht vor sich selbst. Doch dafür war sie bereit, ihm zu folgen, wohin auch immer er von jetzt an ging. So wie das vom Weib einzufordern ist, seit dem Gedenken aller Zeit. Und das war alles, was er noch verlangte. Nichts anderes mehr auf dieser Welt. Nur dafür war er bereit, Prinzipien zu opfern, denn er wollte nicht alleine sein. Und konnte es auch nicht. Er brauchte einen Gefährten. Jemand, der seinen müden Arm kraftvoll stützte. Jemand, der seinem suchenden Stock den Weg wies. Auf diesem, seinem letzten Gang. Denn dorthin, wohin er nun zu gehen hatte, da lauerte die Furcht. Die vor dem Unbekannten, die ihn schon in der Kindheit das Herz bis zum Halse schlagen ließ und immer wieder in den Schoß seiner Mutter trieb, mit Tränen in den Augen. Die Furcht, die ihn am liebsten dorthin zurückkriechen lassen wollte. Doch dies Tor, es war viel zu schnell zu klein und er viel zu schnell zu groß, und verboten für immer war dieser Ort. Und so konnte er ihr nicht fliehen, dieser Furcht, die immer wieder auch das Zittern in die Hände trieb. Das Zittern, das wiederum der Welt verriet, dass auch er nur ein Mensch. Deshalb auch, das musste er sich eingestehen, war es diesmal nicht damit getan, dass ihm sein Weib ergeben folgte, nein, diesmal hatte er sie sogar den ersten Schritt vorausgeschickt. Gehe zu, meine kleine Eva, gehe zu! Denn in manchen Dingen war sie einfach tapferer als er. Und das schon immer. Gehe zu, meine kleine Eva, gehe zu! Aber erst heute war er bereit, das auch wissen zu wollen.

Des Führers Blick streifte über das Gesicht seiner Geliebten und so etwas wie Bewunderung machte sich in ihm fest. Nicht direkt Liebe. Schon das Wort war ihm unbekannt. Aber immerhin eine gewisse Anerkennung. Zugleich aber auch ein wenig Erstaunen, wollte sie doch eine schöne Leiche sein. Und wenn das auf Erden als erstrebenswert zu gelten hat, dann hatte sie es auch geschafft. Von einem kleinen, störenden Detail einmal abgesehen. Ein von einer Granate zerfetzter Soldat sah da mit Sicherheit nicht besser aus. Auch wenn er es selbst stets vermieden hatte, solche Bilder von der Front zu sehen. Er wollte Siege, und wenn er Siege wollte, dann lieferte man die ihm auch. Wozu sonst war er der Führer? Sie aber hatte sich sogar extra noch einmal zurechtgemacht, so als ob es etwas zu feiern gälte, so als ob etwas Großartiges ihrer harrte. Hatte sogar ihr bestes Kostüm angezogen, dem gewiss irgendeine Bedeutung bezüglich ihrer beider Beziehung innewohnte. Die er aber schon längst wieder vergessen hatte, obwohl sie ihn sicherlich hundertmal daran erinnert hatte, so wie er sie kannte. Sie hatte sich geschminkt und sogar Lippenstift aufgelegt, der nun im Mundwinkel immer mehr zu verschwimmen drohte. Ergeben dem dünnen Bach folgte, der so purpurrot über das Kinn hinweg zäh auf das Kissen tropfte.

Das aber war das kleine störende Detail, das zu sehen dem Führer zu viel war. Aus dem einfachen Grund, es war zutiefst beschämend. Darum auch erhob er sich endlich, tief durchatmend. Die Hände auf die Lehnen des Sessels gestützt, jedoch streng darauf achtend, dass die Rechte dabei nicht die kleine silberne Kugel zerbrach, die so ruhig wartend in ihr lag. Die doch noch so schrecklich wichtig werden wollte. Zu unlöschbarer Tinte in den Büchern der Geschichte. Kurz streckte er noch einmal die Beine durch, die so lange geknickt, und ging dann auf seine kleine Eva zu. Dort angekommen schloss er ihren Kiefer. So zärtlich wie man die Finger dieses alten Mannes zeit seines Lebens nie hatte erleben können. Vorsorglich schob er dann noch ein weiteres Kissen unter ihren Kopf, damit das Kinn in dieser Stellung auch ohne Kraft der Muskeln verblieb. Knapp überprüfte er das neue Bild, das sich nun ergab, und war zufrieden. Das sah schon viel besser aus. Nicht mehr so schrecklich debil. Jetzt konnte man sogar sagen: Sie sei sanft entschlafen.

Auch wenn das so natürlich nicht stimmte. Aber die Zeit der Krämpfe war nur kurz gewesen und der gütige Segen der Bewusstlosigkeit hatte sich alsbald labend über ihren Leib gelegt und sanft hinfort geweht die grausame Angst vor dem Ersticken. Und wie, um dieses äußere Bild der Harmonie abzurunden, wischte er ihr mit dem Handrücken seiner rechten Hand, die so weiß war wie ein Taschentuch, den restlichen Speichel von der Backe. Etwas, das er zu ihren Lebzeiten nie getan hätte, denn es ekelte ihn schon immer vor den menschlichen Säften. Selbst das Küssen war ihm stets zuwider, und wenn es sich hatte vermeiden lassen, dann vermied er es auch. Aber er wusste, er war ihr diesen letzten Dienst schuldig, denn das hätte ihr sicher nicht gefallen. Sie war ja immer so eitel. Selbst jetzt im Tod.

Ja, die Komposition war perfekt. Das Werk für die Nachwelt vollbracht und nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Und der Führer wusste darum. Nur eine Kleinigkeit im Angesicht dessen, was an Taten schon alles hinter ihm lag. Darum auch drehte er sich wieder ab von seinem Weib, wobei er beiläufig in den kleinen Spiegel sah, der an der Wand gegenüber hing. Wo er sich selbst erkennen konnte, vor allem aber seine Augenbrauen, die plötzlich so entschlossen wirkten und es auch waren. So felsenfest von dem überzeugt, was nun kommen musste. Denn es war, als ob dieses Aufstehen, dieses sich Erheben aus dem Sessel, ihn endlich aus seiner Lethargie gerissen hätte und ihm all das an Energie zuführte, das noch in ihm war. Das letzte Bisschen, dessen es noch bedurfte, um seinen großen Auftrag auf dieser Welt zu einem würdigen Ende zu bringen. Und so wenig es auch war, es war genug. In der einen Hand die Kapsel, nahm er in die anderen die Pistole, die vorsorglich schon auf dem kleinen Tischchen wartete, auf dem jemand anderes, der nun so schrecklich tot vor ihm lag, eine Vase mit einer einzelnen Blume arrangiert hatte, um so etwas wie ein bisschen Farbe in den tristen Bunker zu bringen.

Die Natur in ihrer Farbenpracht war jedoch vergebens. Das Grau des Betons erdrückte alles. Noch dazu war wohl zu wenig Wasser in der Vase, ließ doch das einsame Blümchen, das darin stand und das vor nicht einmal zwei Stunden so stolz vom Frühling künden wollte, jetzt schon geknickt den Kopf hängen. Voller Demut. Scheinbar im Wissen um das Kommende. War ein Seher in der Zeit.

In diesem Sinne dachte auch der Führer. Doch so ganz anders im Ergebnis. Denn die Vergänglichkeit des Seins, sie galt nicht ihm, dem die Unsterblichkeit gewiss war, und sei es nur in den Büchern der Geschichte. Nein, sie galt dem Volk, das er einst bereit war in eine große Zukunft zu führen. Und das unter großen Entbehrungen, das möge man doch bitte nicht vergessen. Sie galt dem Volk, das er einst in seiner Güte erhob zum Puls aller Dinge und das von nun an für immer vom Erdball getilgt werden würde. War es doch nicht stark und auch nicht reif genug für die Aufgabe, die er ihm zugedacht. Und wenn er ehrlich war, dann war das auch kein Verlust, nicht ein Tropfen Blut aus diesem Geschlecht, denn der Schwache musste eben untergehen. Das war ihm Religion und er kannte kein andere. Schade war es nur, dass ein Genie wie das seine durch die Unfähigkeit des Volkskörpers, so krank und morbid in seinem Innersten, mit in den Abgrund gerissen wurde. Das war das wirklich Traurige an der Geschichte. Und nur bei dem Gedanken daran stahl sich eine kleine Träne aus dem Auge des Führers und rann die hohle Backe hinab. Natürlich hätte er sich selbst retten können. Er wusste das. Nie hätten sie es gewagt, ihn zu töten, um ihn so zu einem ewigen Märtyrer eines unterworfenen Glaubens zu machen. Das würden sie nicht wagen. Aber was wäre das für ein Leben. Er war ja nicht so ein Feigling wie dieser Speer, der in einem seiner kleinen lächerlichen Flugzeuge über den Kanal hinweg zum Feind konvertiert war und diesem nun gewiss erzählte, wie toll er sich zu wandeln wisse. Dass er ab heute ein guter Mensch sein wolle. Einer nach den Statuten dieser mit weichen Seelen singenden Demokraten. Nein, sein Rückgrat war nicht zu brechen. Er war der Führer! Er würde niemals in einer Zelle sitzen und Mirabellen am Stück scheißen, nur damit man ihn verschonte. Er war ein Mann. Ein wirklicher Mann. An ihm war nichts Schwaches. Und etwas Homosexuelles schon gar nicht. Noch nie!

Ein letztes verächtliches Lächeln schwamm in einer sanften Welle über des Führers Lippen, wobei sich sein Schnurrbart wie ein kleines Boot auf und ab hob, dann endlich hob er die Hand mit der Pistole und steckte sich die kleine, silberne Kapsel mit der anderen zugleich in den Mund. Führte den Lauf ebenjener Pistole, der metallen schmeckte, einen Daumenbreit nach, umschloss ihn leicht mit den Lippen, legte sich die tödliche Phiole mit der Zunge zwischen die Backenzähne der rechten Seite, zerbiss diese, roch noch kurz mit einem letzten Atemzug das penetrante Aroma der Blausäure, das ihn, wie nicht anders zu erwarten, ein wenig an Marzipan erinnerte, schluckte, öffnete rasch wieder die Zähne, schob die Pistole nun zur Gänze nach, und drückte nicht eine Sekunde später ab.

Für einen Moment war es still. Zu groß das Ereignis. Und die Welt, dessen ansichtig, wollte sich darum auch ändern. Nur schaffte sie es wieder einmal nicht. Man darf nicht zu viel von ihr erwarten. Dann aber ging alles auch schon wieder seinen gewohnten Lauf.

Sogar für den, den Millionen noch vor Monaten nannten: Unseren Führer! Denn auch wenn der nicht wusste, was er genau erwartet hatte, entsprach das, was sich ihm nun offenbarte, nur zu einem sehr geringen Teil seiner Vorstellung vom Jenseits. Zu klopfen an das Tor Walhallas. Als er das Zyankali vor ein paar Tagen an seinem Lieblingshund Blondie getestet hatte, da hatte dieses sofort hinweggerafft. Keine Sekunde, nachdem die Kapsel in dessen Maul zerborsten war, da war er auch schon mausetot. Wenn man solch eine krumme Metapher über einen solch reinrassigen Deutschen Schäferhund überhaupt brechen darf. (Dass er dieses wunderschöne Tier hatte töten lassen, das tat dem Führer sogar jetzt noch ein bisschen in der Seele weh. Aber hatte die Kreatur überhaupt einen Willen zu leben ohne ihren geliebten Herrn? Wohl nein. Was ihn dabei aber beruhigte, das war, dass es wohl keinen schnelleren und keinen schmerzloseren Tod auf dieser Welt gab. Es ging Knall auf Fall. Noch viel schneller als bei seiner kleinen Eva. Auch wenn man nicht sagen konnte, sie hätte wirklich gelitten.) Umso erstaunlicher war, was sich im Hier und Jetzt abspielte. Von einer raschen Entscheidung konnte keine Rede sein. Irgendwie zog sich das Ganze unnatürlich in die Länge. Erst war es ihm so, als ob sein Kopf wie in Zeitlupe aus ihm selbst herausgeschleudert werden würde, von der zerstörerischen Gewalt des Schusses, und als ob der vordere Teil nun vergeblich versuchte, den abgesprengten Teil des Hinterkopfes wieder einzufangen. Das Stück Schädeldecke mit den blutigen Haaren und dem Batzen Hirn, das sich gänzlich ungeniert in alle Welt verteilte. Und erst als abzusehen war, dass das nie und nimmer gelingen konnte, folgte gemächlich der restliche Körper. Flog zur Gänze aus ihm selbst heraus, wenn man das so sagen kann. Sackte in sich zusammen und stürzte auf den Sessel, den er nur eine Minute zuvor so wagemutig und voller Stolz verlassen hatte. Dort angekommen zeigte der Leib einen kurzen Hüpfer in die Höhe, ganz so als ob er noch einmal so richtig Spaß hätte am Leben, und dann auch schon eine kleine Kapriole zur Seite hin, deren Schwung so stark war, dass keine Lehne sie zu bremsen vermochte. Letztendlich plumpste er, zu mattem Fleisch geworden, zu Boden und blieb dort leb und reglos liegen. Kein Zucken, kein Nichts. Auch kein wildes mit den Armen oder Beinen um sich schlagen, so wie der Führer es schon in so vielen Büchern gelesen hatte oder selbst in seiner Kindheit bei einem geköpften Huhn hatte beobachten können. Auch kein bedeutungsschwerer letzter Seufzer, wie er so gerne in der Literatur erwähnt wird oder schon so oft auf Zelluloid gebannt, war aus dieser Brust mehr zu vernehmen. Selbst das ewige Zittern in den Fingern, es war vorbei. All die tausend Nerven, die sonst so aufgeregt ihre Nachrichten in jeden erdenklichen Winkel zu senden suchten, sie blieben erstaunlich ruhig.

Ja, der Führer war verblüfft über das, was vor sich ging. Und fast war er bereit an Übernatürliches zu glauben. Im Gegensatz zu seinem Leib schien er selbst nämlich noch immer völlig aufrecht zu stehen. Kerzengerade. Fast so als sei er gänzlich unberührt von den Dingen. Fast so als gäbe es keine Pistole und auch kein Gift. Aber was war dann los mit dem Körper, der einst sein eigener war und der da nun so verdreht und komisch vor ihm lag?

Der Führer begriff die Situation nicht. Und als ob es damit nicht genug sei, erschrak er noch einmal heftig, als nach Minuten, so kam es ihm selbst zumindest vor, das Schießgerät polternd zu Boden stürzte. Es war nämlich, nachdem es die Hand verlassen hatte, nicht gleich der Schwerkraft folgend dorthin gelangt, sondern zuerst auf das kleine Tischchen geprallt und hatte dort die Vase umgeschmissen, mitsamt dem einsamen Blümchen. Was, wie schon geahnt, leicht geschehen konnte, da sich tatsächlich kein einziger Tropfen Wasser in dieser befand. Und erst nach ein paar gelangweilten Drehungen um die eigene Achse, die scheinbar genau zwei Fingerbreit unterhalb des Abzuges zu liegen schien, hatte sie sich entschlossen, auch diesen Ort zu verlassen.

Und da lag sie nun auf dem Teppich, ohne Gefühl und ohne Gewissen. War nur grau und wirkte fast sogar ein bisschen unschuldig. Auch wenn sie das natürlich nicht war, hatte sie doch ihr Werk gut sichtbar in einem prächtigen Rot vollbracht. Und nur wenn sie das Licht der Glühbirne reflektierte, die nackt an der Decke hing, wirkte sie aufs Neue sehr gefährlich und man wusste wieder um ihre wahre Bedeutung und um das, was ihre Seele trieb. Durch den Lärm, den sie bei dem Sturz auf den Boden verursacht hatte, zog diese das Interesse des Führers natürlich kurz wieder auf sich, das durch dessen Tod verloren schien. Vor allem ihr Lauf, an dessen Mündung sich noch immer Schmauch kräuselte, der in fliehenden weißen Fahnen nach oben strebte. Der der Welt zeigte, dass der Untergang hiermit auch formell besiegelt war.

Ein irritierendes Bild. Vor allem für den Führer, der kurz in dem Schmauch Gesichter zu sehen glaubte und auch Hände, die ihn zu sich riefen. Doch sich länger darauf zu konzentrieren blieb ihm gar keine Zeit, denn plötzlich musste er mit Ohren, die er ja eigentlich gar nicht mehr besaß (oder, besser gesagt, die genau unter ihm lagen, zumindest eines davon sah noch recht manierlich aus), eine weibliche Stimme vernehmen, die sehr bestimmt darum bemüht war, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Was ihr auch gelang. Schon deswegen, weil sie so klang, als ob sie durch eine Lautsprecheranlage gepresst werden würde. Etwas dünn und etwas blechern. Was doch sehr seltsam war, denn dieser Raum verfügte über keine derartige Einrichtung. Noch nie. Hatten er und seine kleine Eva doch darauf gedrängt. Wollten sie doch zumindest einen Ort in diesem Reich ihr Eigen nennen, wo sie allein sein konnten. Wo das Volk außen vor blieb. Noch dazu war dieser Raum schon allein durch seine Bauart bedingt so gut wie schallisoliert, denn dick wie Arme lang sind nun einmal die Wände eines Bunkers. Nichts soll hineindringen, aber auch nichts hinaus. Aber noch viel rätselhafter war der Sinn der Worte, die diese seltsame Stimme sprach: „Mein Herr, melden Sie sich bitte umgehend nach dem Übertritt in Phase 3 an Schalter 5“, war die lapidare Aufforderung.

Nun aber war der Führer völlig aus dem Tritt, denn was ihn dabei so betroffen machte, das war die Art, in der man mit ihm sprach. Schon lange hatte ihm niemand mehr Befehle erteilt. Erst recht keine Frau. War seine Mutter doch schon lange tot. Wer aber wollte ihn hier herumkommandieren und was hatten diese Worte zu bedeuten? Viel wichtiger noch: Sollte er sich ihnen beugen?

Doch bevor der Führer dazu kam, genau all das herauszufinden, passierte noch viel Unglaublicheres. Jetzt drehte nämlich jemand einfach das Licht aus. Natürlich nur metaphorisch gesprochen. Nicht die Glühbirne an der Decke. Und die Welt, so wie er sie kannte, verschwand Stück für Stück hinter bleiernen Tüchern. Und auch wenn Dunkelheit sonst Schlaf suggeriert, süße Träume und Entspannung, so empfand er das in diesem Moment nicht als besonders angenehm. Ganz im Gegenteil! Und wenn er noch Finger besessen hätte, dann hätten diese spätestens jetzt wieder zu zittern begonnen. Um nicht zu sagen, sie hätten getrommelt wie wild! Nicht getrieben von religiöser Verzückung, vielmehr von der Furcht vor dem Unbekannten.

Es war schrecklich, es war grauenhaft. Der Führer, er wollte nur noch schreien, schreien und immer nur schreien, doch er konnte nicht. Er wollte seine Angst der Welt verkünden, doch da war niemand. Erst recht kein Arzt, der ihm vielleicht eine Tablette hätte reichen können gegen all das, was hier mit ihm geschah. Eine süße, kleine Tablette. Eine zärtlich ihn umarmende Tablette. Und als ob das Schicksal ihn verhöhnen wollte, waren ja unten in der Hosentasche des Toten, der einst er gewesen war, genug davon, deren einziger Sinn es nur immer war, seinen Geist in weiche Tücher zu betten. Eine ganze Schachtel voll mit roten und mit weißen Pillen. Pillen gegen die Angst des Tages und welche gegen die Furcht der Nacht. Doch wo waren nur seine Arme?

Nein, der Führer, er war kein Herrscher mehr über tausend tumbe Köpfe, er war nur noch ein kleines Kind. Und wie ein solches wollte er plötzlich nur noch laufen, laufen und laufen. Wollte fliehen dem Wahnsinn, der nur sein eigener war. So lange bis sein Atem im Jenseits gefriert. Noch dazu wurde der Raum um ihn herum, wie von einer riesigen Hand, zu einer einzigen Röhre zusammengerollt, in deren Mitte er sich plötzlich wiederfand. Am Anfang eines schier unendlich langen Tunnels, an dessen Ende er ein kleines Licht erkennen konnte. Erst nur ein leises Glimmen, das aber, je mehr er sich darauf konzentrierte, zu einem lockenden Funkeln wurde. Und es rief ihn zu sich. Und es rief und rief und er konnte einfach nicht widerstehen, und so machte er sich endlich auf seinen Weg, entgegen all seiner Furcht, erst langsam, schleppend, dann aber immer rascher werdend. Machte sich auf seinen Weg, der nur ihm bestimmt. Mitten durch die Hölle, mitten durch das Tal, mitten durch Gottes Hände hindurch.

 

 

*

 

 

Ja, eine Seele machte sich auf den Weg. Und während die Schergen eines der großen Teufel des 20ten Jahrhunderts, ebendiesen Teufel mit Benzin übergossen, ihn und seine kleine Eva, und die beiden ganz schlicht und heimlich in einem Hinterhof verbrannten, wurde keine fünfhundert Meter weiter ein altes Mütterchen von drei russischen Soldaten in einem Kohlenkeller überrascht. Und es kam dabei das heraus, was dabei herauskommen musste. Man vergewaltigte sie. Gleich mehrfach. Das ist der Lauf der Dinge, wenn eine Nation zerbricht. Das ist der leere Sinn des Krieges, der keine weitere Frage in sich birgt. Nicht einmal ein stummes Staunen. Dennoch passierte zugleich etwas Ungeheuerliches und man ist fast versucht, von einem Wunder zu sprechen, wenn auch nicht von einem heiligen. Oder vielleicht etwa doch? Die Frau, obzwar schon über die sechzig, scheinbar lange hinausgefallen aus der Zeit des Mondes, sie wurde bei diesem Akt der rohen Gewalt geschwängert. Der große Geist der Empfängnis kam über sie und die vom Führer zum Untergang verdammte Rasse, sie wehrte und mischte sich. Eben mit jenem Blut, dem sie von nun an scheinbar für immer ein Untertan sein sollte.

 

 

 

1. Auf der Flucht

 

Mit krummen Rücken saß Ilse Gertenbeck vor dem Volksempfänger und lauschte gespannt dem stets so umtriebigen Herold des Reiches, der darin mit stolzer Brust verkündete, dass der Feind umgehend zurückgeschlagen werden würde. Laut und voller Pathos verkündete er diese frohe Botschaft mit seinem goldenen Trompetenmund, mitten hinein in das kalte Land.

Somit auch mitten hinein in das so geduldig lauschende Ohr unter dem grauen Zopf. So laut und so voller Pathos kündete er, dass die Membrane des Lautsprechers vor Wonne nur so erschauderte, und das, wiewohl doch schon im Herbst 1944 von offizieller Seite zur Flucht aufgefordert worden war. Ilse Gertenbeck erinnerte sich nur zu gut daran. Was einige Volksgenossen, zu denen sie sich dank ihres Arierscheins doch gerne zählen wollte, ein wenig beunruhigte. Mehr noch als das: Ostpreußen war verloren! Daran war kein Zweifel mehr. Selbst bei denen nicht, deren Parteibuch anderes zu glauben sie streng ermahnte.

Es war bereits tiefster Winter. Die Front rückte näher und immer näher. Was in Ilse Gertenbecks Fall hieß, der Feind war so dicht dran, dass sie wegen des steten Beschusses kaum noch das Haus verlassen konnte. Und ihre größte Angst dabei war nicht eine dramatische Missachtung ihrer körperlichen Unversehrtheit oder gar der Tod selbst. Sie war bereits in einem Alter, in dem dieser einem vor dem Zubettgehen fast täglich zärtlich mit seinen dünnen Fingern den Nacken krault. Nein, viel banaler. Es war die, dass sie vielleicht draußen, auf dem Abort sitzend, mitten im großen Geschäft, ihr erbärmliches Ende finden könnte. In dem kleinen Häuschen nahe dem Zaun, mit dem geschnitzten Herzen in der Tür; so sentimental. Die Unterhose dabei locker gespannt zwischen den Knien. Zwei arg dürre Masten für die Fahne der Kapitulation. Was würden da die Nachbarn sagen? Hoffentlich war die Wäsche dann wenigstens frisch und man fand selbst bei genauester Betrachtung keine farbliche Nuancierung im strahlenden Weiß.

Ja, das war Ilse Gertenbeck das Wichtigste. Denn nur der Gedanke an ein inkorrektes Äußeres schreckte sie immer schon mehr als alles andere auf dieser Welt. Aber im Keller die schwere Last der Verdauung einfach so in einen Blecheimer plumpsen zu lassen, das wollte sie nun auch wieder nicht. Man muss sich nicht alles vom Feind diktieren lassen. Manchmal war sie eine recht resolute Person, nur selten rebellisch. Und es ging dabei ja auch irgendwie um Menschenwürde. Aber wenn sie gewusst hätte, wie dehnbar dieser Begriff in den nächsten Monaten und Jahren auch für sie noch werden würde, sie hätte nicht solch ein Aufheben darum gemacht. Vor allem hätte sie, wenn sie denn gewusst hätte, dass der so seltsam süße Honigmund aus dem Radio schon bald seine eigenen sechs Kinder vergiften wird, weil sich die Sache mit dem Endsieg so hohl erwies wie seine Worte, ihre Sorge um ihr eigenes Wohl doch um einiges höher angesiedelt.

Der Empfang war gut. Ilse Gertenbeck saß der Umstände wegen beim Radiohören immer auf den untersten zwei Stufen der Kellertreppe. Wohingegen die Antenne auf dem Dach war. Wo sie bis dato auch heile geblieben war. Obschon russische Soldaten sich gelegentlich bemühten, wenn von Langeweile getrieben, sie von dort herunterzuschießen. Sie war zwar nicht mehr ganz in einem Stück, nichtsdestotrotz noch so weit funktionstüchtig, dass sie mit denen ihr noch verbliebenen metallenen Ärmchen die flimmernden Worte aus dem Äther zu fischen vermochte. Sich Ilse Gertenbeck somit mit dem Rest des Reiches gar inniglich verbunden fühlte. Was so ziemlich alles war, was dies alte Weib von der Gegenwart sich noch erwartete. Nicht viel, zugegeben. Dafür war sie sogar bereit, ganz entgegen ihren sonstigen haushälterischen Prinzipien, einen Zeh von ihrem Sparstrumpf abzubeißen und ein paar der so mühsam herangetragenen Münzen herauszuschütten.

In der Tat, eine Handlung, die sie hart anging. Was man hat, das hat man. Nehmen ist leichter denn Geben. Das hatte ihr Vater ihr schon auf die Schultafel geschrieben. Seine Hand noch dazu führen lassen von all den vielen Ahnen, die vor ihnen versucht hatten, auf diesem kargen Landstrich zu überleben. In diesem Fall aber musste es sein. Da musste gegeben werden. Und so ließ sich Ilse Gertenbeck, auch weil sie ein wenig stolz war auf dieses in seiner Form so seltsam anmutende Ding, kaum nachdem es in Berlin erworben worden war, vom Sohn des Metzgermeisters auf dem First ihres Hauses montieren, denn auf solche Dinge verstand sie sich nicht. Sie war zeit ihres Lebens Hausfrau und Bäuerin. Er aber war recht geschickt darin, obzwar erst vierzehn. Außerdem schwindelfrei und das Gewicht seines Leibes ein doch deutlich feineres. Und ebendieser zweite Umstand war mit klingender Münze zu honorieren. Was dann auch so geschah.

Ach, wie es sich lohnte! Nicht nur, weil der Knabe vor Glück lachte, sondern vor allem weil das Radio plötzlich all die Schlager so klar sang, als ob ein ganzes Orchester in ihm wohnte. Däumlinge an den Geigen und Elfen an den Harfen. Ohne die Antenne auf dem Dach gab es zuvor nämlich oft nur ein Rauschen oder sonst seltsame Geräusche von sich. Das aber war natürlich zu wenig gegen die Einsamkeit. Ihr Dorf läge in einem Funkloch, so zumindest sprach der Knabe. Und sie glaubte ihm. Was auch immer damit genannt werden wollte, denn dieses Loch, es roch nicht. Noch dazu seien die Mauern im Keller zu dick. Da könne nichts hindurch. Das immerhin leuchtet ihr ein.

Nein, das Alleinsein war nichts für Ilse Gertenbeck. Es bedrückte sie doch arg seit dem Tod ihres Gemahls. Auch wenn er nicht das war, was man einen Mann gebacken aus dem süßen Mehl der Träume nennt. Aber aus Kuhdreck flechtet man nun einmal keine Peitsche, wie man zu solchen Fällen in ihrer Gegend zu sagen pflegte. Und ist es nicht so, irgendwann gewöhnt man sich an alles. Und ein Bein, das ständig schmerzt, ist immer noch besser als keines. Der Stand im Leben ist sonst sehr unsicher. So wie es für die alte Frau jetzt oft war. Manchmal schien der Boden unter den Füßen sogar gänzlich zu verschwinden. Löste sich auf und wurde zu einem einzigen Nebel, durch den sie dann endlos fiel. Da gab es kein Halten und kein Greifen. Nicht einmal in den stummen Gebeten, mit denen sie stündlich ihre Anker warf.

Schon deshalb war ihr dieser letzte Kontakt zur Außenwelt so wichtig. Auch wenn er nur eindimensional verlief, denn nie fragte das Radio, was sie denn persönlich von all den Dingen hielt, die da draußen in der Welt so vor sich gingen. Erwartete gar eine Antwort. Ihr aber machte das nichts aus. Ihr Mann hatte sie ja auch nie gefragt. Sie kannte es nicht anders. Niemand hatte sie jemals etwas gefragt oder gar auf ihren Rat gehört. All ihre Kontakte zur Außenwelt verliefen so, eindimensional. Vielleicht auch deshalb, weil sie nicht das war, was man gesprächig nennt. Sie konnte schon immer besser zuhören, als denn reden. War das Kind ihres Vaters, war die Frau ihrer Zeit.

Was Ilse Gertenbeck hingegen wirklich etwas ausmachte und das weit über all die kleinen Sorgen ihres Daseins hinaus, das war die militärische Front, die in trügerischer Weise völlig stillzustehen schien. Seit knapp vier Monaten verlief sie nur gut zweihundert Meter vor ihrem Haus am Dorfrand. Das eher ein kleines Häuschen war als denn ein richtiges Gehöft. Schon von der Anzahl der Zimmer her. Es gab derer nur drei. Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche. Immerhin aus Stein erbaut.

So wie scheinbar die Linien beider Armeen, die davor wie erstarrt, denn die eine Seite wollte nicht vorrücken und die andere konnte nicht. Und nur um den Schein zu wahren, hörte man gelegentlich ein paar Schüsse lustlos über die Dächer pfeifen. Gelangweilt und doch so voller Tod. Nur eines der vielen Gesichter des Krieges. Sich belauernde bärtige Scharfschützen in stinkender Wäsche, des Tags und des Nachts in ihren Verschlägen unter Schnee dösend und geduldig auf ihr nächstes Opfer wartend.

Doch so paradox es klingen mag, diese unnatürliche Ruhe, sie war geradezu spürbar. Diese Ruhe, die die Jäger auf ihrer Suche nach einem Ziel durch ihre schmalen harten Augen schickten. War es doch mehr noch als nur das, war es doch gespenstische Stille. Die Stille vor dem großen Sturm. Und jeder wusste es. Die Menschen sowie auch die Tiere. Denn selbst die Vögel, die sonst so gelassen bleiben im Schatten des Menschenwahns, sie wagten, davon erschreckt, nicht einmal mehr zu atmen. Und ihr sonst so fröhlicher Gesang verschwand dumpf unter bunten Federn. Sie wollte niemand mehr täuschen, der schon in wenigen Tagen so schrecklich tot.

Obwohl, das so zu sagen, es stimmt nicht ganz. Nicht alles war erstarrt. Manchmal fielen ein paar Flocken vom Himmel, riesig wie weiße Schmetterlinge, und manchmal regte sich sogar auf Erden ein wenig Leben, wenn auch nicht für die Ewigkeit gedacht. Menschliches Leben. Denn erst neulich hatte sich doch tatsächlich ein Soldat in diesen verbotenen Streifen des Krieges verirrt. Ein Russe.

 

 

 

 

Da lag er nun, in einer der vielen von einer berstenden Granate erschaffenen Kuhlen. Und obschon er ein jedes Mal sofort beschossen wurde, anfänglich sogar von beiden Seiten, versuchte er immer wieder, sich aufzurichten. Wobei er heftig mit einem weißen Taschentuch winkte. Er war verwundet und suchte so Hilfe. Schwer, denn nur das konnte ihn die schreckliche Gefahr ignorieren lassen, der er sich mit diesem hilflosen Gebaren immer wieder aussetzte. Fast stündlich tauchte seine Hand auf aus kaltem Weiß, wie ein Periskop. Immer und immer wieder. Doch all seine Mühen, sie waren umsonst. Keiner half ihm. Weder die eine Seite noch die andere. Und Ilse Gertenbeck schon zweimal nicht, denn nachdem was sie gehört hatte, was mit den Frauen bei den Russen so angestellt wird, egal welches Alters, hütete sie sich wohlweislich vor solch einer unschicklichen Anwandlung von Menschlichkeit in ihrer weiten Brust. Außerdem vermutete sie eine Falle. Wenn sie denn näherkommen würde, dann würde der fremde Soldat gewiss sofort auf sie schießen und sie nach Sibirien verschleppen. Nach drei Tagen winkte er nicht mehr und wurde langsam zugeschneit.

Das zu sehen bewirkte etwas bei Ilse Gertenbeck. Nicht dass sie Mitleid hatte. Weit davon entfernt. Er war der Feind, ein Untermensch, womöglich einer der tausend Reiter aus der mongolischen Steppe, und somit einem Arier nie und nimmer gleichzusetzen. Es gab so viele von ihnen und ihre Gesichter waren alle gleich. Nein, vielmehr zeigte ihr der Tod des Mannes in dramatische Weise auf, wie gefährlich ihre eigene Lage in Wirklichkeit war, sodass sie sich nun doch um ihre eigene Sicherheit sorgte. Vor allem, da sich eine gewisse Skepsis in ihrem grauen Kopf breitzumachen gedachte. Gegen all das, was sie die letzten Jahre gelernt hatte. Gegen all das, was die braune Welt zu denken ihr verordnete. Noch klein, sich nur selten meldend, nichtsdestotrotz eine gefährliche Skepsis, denn sie war verboten. Mit niemand sonst sollte man sie teilen in diesem Land. Das Ohr des Hörers wäre zwar gewiss ganz groß, der Hals des Erzählers später dann aber umso länger. Zumal sie fast revolutionär war, denn diese Skepsis zweifelte sogar all das an, was das Radio im Keller so fröhlich plappernd von sich gab; all die vielen Stunden. Bezichtigte die wohlfeinen Stimmen aus dem Äther, getunkt in die glitschigen Öle der Verwirrung, sogar der bewussten Täuschung. Was für Ilse Gertenbeck ein noch viel schlimmeres Vergehen war als einst bei ihrem seligen Mann, der sich der Lüge zumeist nur aus dem Stegreif heraus bediente, und das dann auch nur, um seine nackte Haut zu retten. Hier aber ging es um ein ganzes Volk.

Ja, noch war sie klein, diese Skepsis. Noch vernahm Ilse Gertenbeck die Parolen vom alles vernichtenden Gegenschlag nur allzu gern, wollte glauben an die gerechten Truppen des Herrn, die über den Feind in Schlachten würden fallen, wie einst die Heuschrecken über die Felder des ungläubigen Pharaos. Aber auch wenn sie selbst es noch nicht wusste, der Same des Zweifels hatte bereits seine Wurzeln tief vergraben in ihren morschen Knochen. Denn so ganz stimmig schien es ihr nicht zu sein, dass selbst sie, die kleine Bäuerin mit ständig feuchter Erde an den Händen, für die nächsten Jahre, nur aus dem Recht ihrer Geburt heraus, eine Königin werden sollte über diese Horde von Untermenschen. Und wenn doch, wenn der Triumph der einen Rasse über die andere tatsächlich bereits vom Schicksal so besiegelt sein sollte, es war so schön daran zu glauben, dann wäre es für sie persönlich vielleicht schon zu spät. Und erst die nächste Generation fuhr den gerechten Lohn der Ahnen ein. Das aber war verständlicherweise viel zu wenig. Und zu spät konnte es hier sehr schnell sein, denn erst neulich hatte man versucht, sie aus dem Hinterhalt heraus zu ermorden. Ganz bewusst. Der Schreck darüber steckte ihr noch immer in den Gliedern. Sie war nur kurz vom Keller nach oben gegangen, um eine Tasse Tee auf dem Herd zu brühen. Und natürlich wusste sie, dass sie das nicht hätte tun sollen, so mitten am Tage. Aber wie bekannt: Alles muss man sich nun auch wieder nicht vom Feind diktieren lassen. Außerdem war es das Einzige, was ein bisschen gegen den ewigen Hunger half. Heißer Tee. Und nur davon hatte sie noch genug in einer kleinen Kiste, die ihr ihr Bruder vor Monaten geschickt hatte. Doch wie abzusehen, stand sie nicht lange unbeobachtet am Herd. Kimme und Korn suchten eine Gerade und dann schepperte es auch schon. Und es war nicht eine der sechs Glasscheiben im Fenster, die dieses schreckliche Geräusch noch im Sterben von sich gab, denn die waren alle schon lange herausgeschossen, wie auch alle anderen auf dieser Seite des Hauses. Es war vielmehr die Emaille des Teekessels, die da splitternd durch die Gegend stieb. Ein paar Zentimeter höher und bisschen mehr nach rechts und sie, Ilse Gertenbeck, wäre nicht mehr. Mitten durchs Herz. Und spätestens da wusste sie: Es war höchste Zeit zu gehen, auch wenn es einem verdammt schwerfällt, die Heimat zu verlassen; den dunklen Batzen Erde, der einen seit der Kindheit genährt.

Und der erste Plan dabei war, mit den Kuismanns zu fliehen. Die aus der alten Meierei. Nicht mit dem Postboten und seiner Frau der Lehrerin. Die im alten Schulhaus am Fliederweg wohnten und die mit den anderen auch gar nicht verwandt waren, trotz der Namensgleichheit. Das waren beide stolze Nationalsozialisten, die nie dem Feind würden weichen. Hatten sie so zumindest behauptet. Was aber nur eine Woche später nicht mehr zutreffen wollte. Sie waren sogar die Ersten auf dem großen Treck. Die anderen jedoch hatten wenig Lust, sich auch noch mit einem alten Mütterchen wie Ilse Gertenbeck auf der langen Flucht zu belasten. Man vertröstete sie, bis die ganze Bande eines Tages ganz einfach verschwunden war. Mitsamt der Katze, dem Hund und dem einbeinigen Opa. Der war ihnen schon Plage genug, und das seit dem Ersten Weltkrieg. Verlor immer seine Hose und zeigte so aller Welt, dass er das Wort urinieren als eine Tätigkeit ansah, die jederzeit und sofort ausgeführt werden konnte. Und so seltsam es klingen mag, es ging immerhin um ihr nacktes Leben, war Ilse Gertenbeck darum auch irgendwie ein bisschen froh, dass auf diesem Wagen kein Platz mehr für sie war, denn ihr Verhältnis zu diesem Thema war doch ein deutlich empfindsameres. Dann, im zweiten Plan, sollte es mit Bauer Wecks auf die Reise gehen. Allerdings kam kurz zuvor die SS und nahm dessen Pferde einfach mit, sodass auch diese Flucht vereitelt schien. Das zum Glück aber nur vorerst, denn, wie durch ein Wunder, trabten am nächsten Morgen ebenjene beide Rösser wieder mitten durch das Hoftor bis in den Stall, ganz so als sei das die natürlichste Sache auf der Welt, und steckten ihre Köpfe in den Trog auch ohne Hafer. Worauf es nur eine Antwort gab: Der komplette Zug der Totenkopftruppe war auf seinem Marsch nicht weit gekommen und nur gut zwei Kilometer vom Dorf entfernt von den Russen in einem Hinterhalt aufgerieben worden. Und nur die beiden Pferde waren völlig unversehrt dem Gemetzel entkommen. Trabten einfach stur in ihrem Schritt mitten durch all die Kugeln hindurch bis zum heimatlichen Hof. Eine glückliche Fügung gleich im doppelten Sinn, denn sie brachten, geschnallt auf ihrem Rücken, vier Kisten voll mit Lebensmitteln mit. Büchsenfleisch und zig Tüten mit Mehl. Schätze, noch gefragter als Gold, war doch die Ernte im Herbst wegen des ewigen Beschusses fast gänzlich ausgefallen. Alle im Dorf litten entsetzlich Hunger.

Nachdem die Geschichte von dem Massaker an der eigenen Truppe, die doch als unverletzlich galt, nach nur einer halben Stunde in der Gemeinde auch durch das letzte Ohr geflogen war, setzte erwartungsgemäß der große Exodus ein. Nur ein paar wenige Optimisten harrten aus. Darunter der alte Waschnik, ein direkter Nachbar von Ilse Gertenbeck, der bekanntermaßen ein bekennender Antifaschist war. Und was in diesen Zeiten noch viel schlimmer wog, ein ewiger Pazifist. Völlig unbelehrbar. Und nur weil er einen Neffen hatte, der es in der Partei weit gebracht hatte, und weil seinem Geist so oder so bereits eine gewisse erblich bedingte Schwammigkeit nachgesagt wurde, wurde er von Deportation und Konzentrationslager verschont.

Er aber sagte immer nur: Ich habe ihnen nichts getan, dann werden auch sie mir nichts tun. Und das sagte er über die Russen. Worüber die Leute im Dorf nur ihre Köpfe schüttelten. Die Männer unter ihren Strohhüten, die Frauen unter ihren Kopftüchern. Was des Missfallens noch geringster Ausdruck war. Manchmal wurde nämlich auch mit Pferdeäpfeln nach ihm geworfen. Unsichtbare Arme hinter dunklen Häuserecken. Oder Nachttöpfe geleert aus offenstehenden Fenstern genau über ihm.

Nein, ein Pazifist war nicht gern gelitten in solch einem Dorf. Vor allem nicht in der Goldenen Linde, der einzigen Schenke. Denn diese, seine Liebe zum Frieden, seine Liebe zu den Menschen, seine Liebe zu der Liebe, sie rüttelte an allem, was hier ein Überleben sicherte. Außerdem trank er nicht und neigte auch sonst nicht zu rabiatem Benehmen, weder körperlicher noch verbaler Art. Vor allem das Zweite war nicht zu tolerieren, auch wenn das Erste schon das Problem des gegenseitigen Missverstehens tief in sich barg. Verständlich, denn hier, auf diesem Teil deutscher Erde, da wurde der Wurf Kätzchen noch mit eigener Hand in den Sack gesteckt und im Regenfass ertränkt und der Dieb, auf frischer Tat ertappt, mit dem Knüppel so lang auf den Kopf geschlagen, bis eins von beiden in der Mitte entzweibrach. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das war Gesetz. Und kein anderes zählte. Seit Urzeiten. Hier waren Männer gefragt, die ihren Weg gingen und niemals und niemanden fragten.

Ganz im Gegensatz zum alten Waschnik. Der fragte immer gerne und war dabei auch noch ausnehmend höflich. Und sei es nur, ob man denn einen schönen Tag gehabt habe. Aber schöne Tage, die gab es hier nun einmal nicht. Das Leben ist hart und so ist der Geist. Und so stand der alte Mann mit den Jahren gänzlich allein inmitten der gefestigten Volksseele. Niemand wollte sich an seinem sanften Gemüt erwärmen. Nicht die Männer und nicht die Frauen. Nicht einmal die Kinder. Niemand wollte sein Mitgefühl. Niemand seine Liebe.

Vielleicht hätten ja die Russen, die das leere Dorf zwei Tage später einnahmen, diese Einstellung wertgeschätzt, wenn sie denn darum gewusst hätten. Vielleicht. Nicht jeder Bolschewik trank morgens einen Liter Blut und spießte des Abends kleine Kinder mit dem Bajonett auf, nur so zum Spaß. So aber war der alte Waschnik nur ein Deutscher für sie. Einer von denen, die ihr Land überfallen und ihre Familien ausgelöscht hatte. Einer, dem man nie und nimmer vertrauen konnte, egal, was er auch immer sagte.

Besonders im letzten Punkt waren sie unnachgiebig. Somit wurde ihm etwas ganz anderes zum Verhängnis als seine unerschütterliche Sanftmut. Etwas, mit dem er so nie gerechnet hätte, denn sonst hätte er seinen Mund vielleicht dieses eine Mal gehalten. Es waren nämlich die paar Brocken Russisch, die er seit einem Moskaubesuch in den Zwanzigerjahren beherrschte. (Die Revolution war damals noch frisch und ausländische Gäste stets willkommen.) Hielt er es doch für eine gute Idee, die Befreier herzlich damit zu begrüßen, auch um ihnen so zu zeigen, dass er ihnen kein Unrecht antrug und vielmehr im Herzen ihr Freund war. Ihnen aber war das suspekt und sie hielten ihn schon deswegen für einen Spion, erschossen ihn auf der Stelle und warfen seine Leiche auf den Misthaufen. Nein, der Krieg war noch nie gerecht.

Für Ilse Gertenbeck hingegen begann eine lange Flucht, über die es viel zu berichten gäbe, doch der kleine Sack in ihrem Kopf, den sie ihr Gedächtnis nannte, und in den sie sonst so vieles hineinstopfte, auch so vieles Belangloses und Unnützes, war später diesbezüglich oft sehr löchrig. Aber nur zum eigenen Schutze, denn zu viel Grauenhaftes hatte sie gesehen und erlebt. Zu viel Grauenhaftes, das unbedingt im Meer des Vergessens verloren gehen musste. Ihr restlicher Geist hätte sonst sehr früh den Gürtel gelockert. Obgleich sie sich an eine Sache jederzeit erinnerte, ob im Schlaf oder am Tag, denn die Bilder dazu hatte sich unauslöschlich in ihr eingebrannt. Kam ihr Auge ja nicht umhin, so sehr es sich auch sträubte, sie zu fotografieren. Es war ungefähr auf der Hälfte der beschwerlichen Fahrt. Um dem nahenden Schlachtenlärm auszuweichen, holperten sie über einen Umweg, der sonst kaum benutzt wurde. Was sehr unbequem war, auch wenn wenigstens die Sonne schien und der Himmel strahlend blau war. So klar, als ob es keine Sünde gäbe auf dem Erdenrund. Was Ilse Gertenbeck, immer wenn sie sich dessen erinnerte, als tiefen Hohn des einen Gottes empfand, den zu huldigen man sie von klein auf gelehrt hatte. Denn die Sonne, sie ließ sich in diesen dunklen Monaten sonst nur sehr selten blicken. Wohl auch ein bisschen der großen Scham wegen über das, was sie da unter sich sonst hätte sehen müssen. An diesem Tag jedoch, so seltsam, trieb sie das Quecksilber des Thermometers in einem wagemutigen Sprung schon des Morgens über die Null Grad und des Mittags sogar an die zwölf heran. Fast so als wolle sie dem Land bereits jetzt ein wenig Frühling schenken. Ilse Gertenbeck zog zum ersten Mal auf dieser Reise sogar ihre geliebte Mütze aus echtem Fuchsfell mit einem kurzen Streichen der Hand von der Stirn in den Nacken, denn sie begann darunter zu schwitzen. So arg, dass es juckte. Ein leises Lied dabei vor sich hin summend. Ein Gefühlsausbruch, der bei ihr schon fast mit Ekstase gleichzusetzen war. Und gerne hätte sie einen Grund gefunden, diese sogar noch zu steigern, womöglich laut zu singen, zu schmettern die im Radio gehörten Arien. Der kleinste Anstoß hätte dabei genügt. Doch wie es so oft im Leben ist, genau das Gegenteil geschah. Denn plötzlich lagen da im Graben neben ihnen auf einer dicken Schneedecke ein paar erschossene Landser.

Was schlimm war. Aber noch nicht schlimm genug, denn das zu sehen, war inzwischen ein gewohntes Bild, obgleich es diesmal gleich fünf an der Zahl waren. Wovon vier allerdings schon etwas länger her sich dem Tod für die lange Reise angeboten hatten. Ganz unzweifelhaft, denn die Raben hatten ihnen bereits die Augen ausgepickt und auch ein bisschen vom restlichen Fleisch auf den Knochen gekostet. Außerdem rochen sie entsetzlich. Aber niemand auf dem Treck, der oder die mit stummem Schritt an ihnen vorbeidefilierte, fühlte sich für sie verantwortlich oder hatte gar die Zeit, ihnen ein Grab in den harten Boden zu schaufeln. Das Einzige, was man vielmehr tun konnte, das war, dass man sich die Nasen zuhielt. Wahrscheinlich waren auch sie in einen Hinterhalt geraten. Der fünfte Mann hingegen lag ein wenig abseits, auf dem Rücken, und schien nicht gleich tot gewesen zu sein. In der rechten Hand hielt er nämlich einen Stock. Wohl war auch er schwer verwundet gewesen, sonst wäre er sicher von diesem Ort geflohen, aber noch stark genug, das Interesse der schwarzen Kobolde der Lüfte mit dem Prügel eine Zeit lang abzuwehren. Was Ilse Gertenbeck dabei so erschauern ließ, war aber nicht das Alter, in dem der Unbekannte den Tod gefunden hatte, gleichwohl er eigentlich noch ein Knabe war, oder die Umstände, so allein und weit weg von daheim, nein, das wirklich Erschreckende war, dass sich erst vor Kurzem ein Russe mit ihm beschäftigt haben musste, denn seine Taschen waren geleert, alle Futter zeigten nach außen, und in seiner Brust steckte ein Messer inmitten noch nicht zur Gänze getrockneten Blutes. Außerdem fehlten ihm seine Stiefel. Was aber noch immer nicht des Grauens höchster Turm war. Auf seinem Gesicht befand sich nämlich ein großer, dicker Kothaufen. Der letzte Gruß eines zornigen Russen.

Fürwahr, es war eine lange und von Schrecken gejagte Flucht. Ilse Gertenbeck saß hinten auf der Pritsche, zwischen Kisten mit den Lebensmitteln und den Säcken Pferdefutter, während Bauer Wecks vorne auf dem Bock thronte und das Gespann lauthals vor sich hertrieb. „Ho, Ho! Meine Guten!“, rief er immer wieder. „Lasst den Russen euch nicht in den Kochtopf werfen.“ Und nur wenn seine Beine drohten steif zu werden, ging er neben den Rössern her und zog diese am Zuggeschirr. Auf dem Bock wechselte er sich dann mit seinem jüngsten Sohn ab, der erst acht Jahre alt war. Er hieß Siegfried und hatte trotz seiner geringen Größe, die mehr eine Folge der ständigen Unterernährung war als denn des Alters, keine Mühen damit, die beiden Rappen von dort aus zu lenken. Vielmehr war er sehr geschickt darin und machte somit seinem Namensvetter doch noch Ehre. - Jenem, der nicht unter einer Linde im Drachenblut hätte baden sollen. - Ein bluttriefendes Schwert würde er allerdings selbst im stolzesten Mannesalter mit seinen zarten Gliedern nie zu heben vermögen, das war gewiss, wenn es ihm vom Schicksal denn erlaubt worden wäre, dieses zu erreichen. Was nicht sollte sein, denn es war, als ob ein Fluch auf der Familie läge. Einer, der nicht einmal mit viel Knoblauch abzuwehren war, denn ein anderer Sohn war bereits den Heldentod in Griechenland gefallen und ein dritter an der Westfront jämmerlich verendet. Allerdings nicht, weil in einer Schlacht von den Göttern zu sich gerufen, sondern weil er bei dem Besuch einer einheimischen Schenke vergiftet wurde. Es ging um die Frau des Wirts.

Die des alten Bauern Wecks war hingegen schon lange tot. Sie starb im Kindbett und nahm dabei das Leben, das da unter ihrem Herzen noch wachsen wollte, ganz still und ungefragt mit sich. Es hätte endlich eine Tochter werden sollen, die sie sich so sehr wünschte. Bauer Weck hingegen weniger.

Nachdem die Entscheidung für eine Flucht von den Umständen so unmissverständlich diktiert worden war, zog man also nun Tag für Tag so dahin und hoffte inbrünstig, nicht vom Feind entdeckt zu werden. Nein, niemand strebte nach dem Schicksal dieser unglückseligen Landser am Straßenrand und Ilse Gertenbeck betete dafür ungezählte Vaterunser und auch einige Rosenkränze. Viel hilft viel, wie sie immer dazu zu sagen pflegte. Wenn man dann endlich auf ein Lager mit deutschen Soldaten traf, die noch wohlauf waren, war die Freude natürlich groß und es wurde sofort gehalten, denn dort bekam man aus den Gulaschkanonen oft ein warmes Essen. Als es aber hieß, die Russen hätten den Weg nun endgültig abgeschnitten, wurde die Hauptstraße verlassen und es ging Richtung Norden, Richtung Meer und Richtung Hafen. Um dort mit einem der wenigen Schiffe, die noch vor Anker lagen, westwärts über die Ostsee zu ziehen.