Moisha - Deena O'Neill - E-Book

Moisha E-Book

Deena O´Neill

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Beschreibung

Mit sechzehn hat man es nun wirklich nicht leicht. Moisha kann ein Lied davon singen. Während das eine Chaos auf das andere folgt findet sie heraus, wie Liebe sich anfühlt, was Freundschaft ist und wie man sich selbst verändert. Doch als sie einem alten Geheimnis auf die Schliche kommt, nimmt ihr Leben eine tragische Wendung. Wie weit reicht die eigene Kraft, was hat man noch, wenn man alles verloren hat und wie viel Glück kann man im größten Unglück empfinden?

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Für Ömchen

du fehlst

Wie ein Baum

Wie ein Baum stehst du da

Kein Wind bringt dich zu Fall

Wenn ich dich so ansehe, bewundere ich dich

So viel hast du gesehen, erlebt – überlebt

Wie ein Baum stehst du da

Ja, wie ein Baum…

Denn ein Baum ist weise

ist stark

ist alt

Ein Baum hat etwas Beruhigendes

er gibt so viel

und nimmt so wenig

so wie du

Wie ein Baum stehst du da

Stehst vor mir

Du schenkst Wärme, Geborgenheit

und Liebe

Du bist ganz tief verankert in meinem Herzen

für immer

Und du stehst einfach nur da

Vor meinem geistigen Auge

Wie ein Baum

Ein Baum ist stark

fest verankert an einem Platz

er geht nicht mehr weg

zieht nicht weiter

so wie du

Du bleibst,

verweilst an einem Ort

wo ich dich immer finden kann

wie ein Baum

© LL

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

1

„Mo! Steh jetzt auf Kleines, du musst gleich los, die Schule beginnt!“.

Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus dem Schlaf. Ich setze mich auf, schaue aus dem Fenster, die Sonne scheint.

„Ich bin wach Ma!“, rufe ich auf dem Weg ins Bad. Mit sechzehn hat man es auch wirklich nicht leicht. Bis spät in die Nacht habe ich mit Mike auf meinem Bett gesessen und geredet, bis er durch das Fenster nach Hause ging, weil wir meine Mutter gehört hatten.

Sandy textet mich seit Tagen mit ihrem Liebeskummer zu und Aaron Jones schreibt nicht zurück. Das einzige was mir zu meinem Glück noch gefehlt hat, war der riesige Pickel der dort auf meiner Nase prangt. Jackpot!

Ich versuche ihn zu bearbeiten, was nur dazu führt, dass er knallrot und nicht zu übersehen ist. Also gehe ich schnell duschen und mache mich zurecht. Zumindest meine Haare liegen immer wie sie sollen.

Shorts, Top, Vans und schon sitze ich am Frühstückstisch. „Du wirst immer hübscher mein Mädchen. Noch hübscher wärst du wahrscheinlich, wenn du mehr schlafen würdest, anstatt mit Mike darüber zu philosophieren, ob Aaron dich jetzt für wahnsinnig hält und Janie James auf Mike steht oder eher auf Jamal!“ Sie bricht in Gelächter aus, ich werde knallrot. „Ehm, du hast uns gehört?“ Sie nickt. „Ja Schatz, ich höre euch oft und wenn ich denke, dass es wirklich Zeit zum Schlafen ist, gehe ich lautstark zur Toilette!“ Sie lacht herzhaft, ich muss grinsen. „Tut mir leid Ma.“ „Schon OK Baby, wir waren alle mal jung. Iss deine Flakes jetzt.“ Sie zwinkert und räumt weiter auf.

Ma und ich sind ein Team. Wir müssen. Seit Dad vor sechs Jahren ums Leben kam, ist sie auf sich gestellt, alles hat sie allein geschafft. Daddy's Lebensversicherung war hoch genug um das Haus ab zu bezahlen. Für alles andere, arbeitet Ma jeden Tag im Supermarkt.

Mikes Fahrradklingel veranlasst mich, meine Flakes schneller zu essen und den Tee hinterher zu schütten. „Ich bin weg Ma, bis nachher!“

Ich warte nicht auf ihre Antwort, sondern stürme raus. „Guten Morgen! Konntest du noch schlafen?“ Ich schwinge mich auf mein Rad. „Ja, ein wenig. Sie weiß es, Mike!“ „Wer weiß was?“ „Meine Ma weiß, dass du nachts zu mir kommst!“

Mike fällt beinahe vom Rad.

„Waaas???“ Ich lache. „Ja, aber sie hat nicht gemeckert oder so, sie musste lachen. Sie hört auch was wir sagen!“ „Um Gottes Willen, dann lass uns woanders treffen oder nur schreiben nachts!“, sagt er. Er ist knallrot.

Mike und ich sind Freunde, seit wir in die Pre-School gegangen sind. Mike hat viele Brüder und Schwestern, seine Familie war arm, doch sein Dad hat sich in der Firma, in der er arbeitet, einen guten Namen gemacht.

Ich grinse ihn an und wir biegen auf den Parkplatz der Schule ab. In Middleton erreicht man alles schnell, man kennt auch jeden schon sein Leben lang. Es ist ein richtiges Dorf, unser zu Hause.

Auf dem Parkplatz kommt mir Sandy entgegen. „Mo, Mo! Du wirst nicht glauben, was passiert ist!“ Sie sieht aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ich schüttele den Kopf. Sie sprudelt los. „Sarita, die Neue, ist jetzt mit Aaron zusammen. Sie haben sich gestern getroffen und schwupps hat sie ihn am Haken, ist das nicht unglaublich? Wie machen diese Mexikaner das immer?“ Mike und ich brechen in Gelächter aus. „Das ist nicht dein Ernst San? Es liegt doch nicht an der Herkunft!“, sage ich und realisiere dann erst, mit wem Sarita zusammen sein soll.

Genau in der Sekunde läuft das neue Paar über den Parkplatz. Sie ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht, er den Arm um ihre Schulter - cool wie immer. Meine Mundwinkel gehen runter. Mike schaut mich an, stupst meine Nase mit dem Finger. „Du hast einen viel besseren verdient!“, sagt er nur und zieht mich hinter sich her zum Nebeneingang, weg von der Vorstellung. Sandy folgt uns. Ich atme tief durch „Du hast Recht!“, antworte ich und wir gehen rein.

Die ersten Stunden vergehen recht schnell. In der Mittagspause treffen wir uns an unserem Stammtisch. Aaron und Sarita sitzen am Nebentisch, wann immer sie denkt wir schauen rüber, küsst sie Aaron auf die Wange. Widerlich.

Janie und Jamal kommen zu uns an den Tisch. Mike wird nervös, wenn er Janie sieht. Er lässt beinahe sein Getränk fallen und stammelt ein „Hi“ in ihre Richtung. Oh Mike.

Janie grinst. Ich glaube sie mag ihn, aber Mädchen warten eben, dass der Junge den ersten Schritt macht. So sind wir.

Beim Essen reden wir kaum. Janie berichtet vom Geschichtstest. Sandy erzählt, dass in der Schülerzeitung einiges über den bevorstehenden Ball geschrieben wird.

Ich versuche, nicht zum Nachbartisch herüber zu sehen. Aaron und ich wollten Eis essen gehen. Er hat dann plötzlich nicht mehr geantwortet, jetzt weiß ich wohl warum.

Die letzten Stunden gehen ebenfalls schnell um. Ich habe eine Nachricht von Ma. Sie übernimmt die Spätschicht im Markt, etwas zu essen ist im Kühlschrank. „Was ist?“, fragt Mike. „Ma kommt später“, antworte ich ihm. „Perfekt, komm, ich muss dir was zeigen!“ Er springt auf sein Rad und braust los. Ich folge ihm.

Er fährt in unsere Straße, biegt in den Wald ab und bleibt vor einer Hütte stehen. Dies war mal die Hütte eines Försters. Sie steht seit Jahren leer. „Meinem Dad gehört die Hütte jetzt. Er bewahrt dort Zeug auf, das er nicht braucht. Schau mal.“ Mike öffnet das Schloss. Wir treten ein, innen ist es wie ein Lager. Ausserdem steht hier der alte Pick Up, den Mr. Jameson reparieren will. Ein Oldtimer. „Das könnte unser neues Versteck sein oder? Früher waren wir immer hier in der Hütte. Jetzt können wir es uns in dem alten Schätzchen da bequem machen!“ Ich lächle ihn an, Mike strahlt wie ein Kind.

Mir fallen die Tage in der Hütte ein, die Nacht, als es draußen plötzlich gewitterte und wir hier eingeschlafen waren und mein Dad uns gefunden hat. Wir zitterten am ganzen Leib, vor Angst und Kälte. Das war kurz vor Dad´s Tod. Seitdem waren wir nicht mehr hier gewesen, da in der Nacht das Dach eingestürzt war. Mr. Jameson hatte alles fertig gemacht.

„Ja, tolle Idee Mike!“ Ich gehe zum Wagen, öffne die Tür. Drin liegt eine Flasche Cola und eine Chipstüte.

„Seit wann planst du das?“ Mike grinst nur und steigt zu mir ins Auto. Wir tun so, als führen wir weg. Quer durch Amerika. Wir lachen. „Eines Tages habe ich ein großes Haus in den Hamptons“, sagt Mike. „Hey, und was ist hier mit uns?“, frage ich. „Na, ihr kommt alle mit, ich kauf einfach mehrere!“ Wir lachen laut.

Mike möchte Architekt werden. Große, schöne Gebäude planen. Er will mir eine Galerie bauen, in der ich meine Bilder ausstellen kann. Ich male sehr gerne. Aber ich bin realistischer als Mike. Ich weiß, ich muss etwas Vernünftiges lernen. Malen wird niemals das sein, womit ich mein Geld verdiene.

Plötzlich wird mir bewusst, dass es irgendwann einen Tag geben wird, wo uns das Leben trennt. Zumindest für eine Weile. Mike will studieren. Am liebsten in Harvard. Das ist tausende Kilometer weit weg von Middleton. Ich habe noch keine Ahnung, was ich machen werde.

„Was ist?“, fragt Mike plötzlich. Ich schaue ihn an „Versprich mir, dass uns nie etwas trennen wird, dass wir immer in Kontakt bleiben, egal was geschieht!“ Ich werfe mich an seinen Hals. Er nimmt mich fest in den Arm „Natürlich verspreche ich es dir! Wie kommst du jetzt darauf?“ „Ich weiß es nicht. Diese Hütte hat mich an meinen Dad denken lassen und dadurch kam ich darauf, dass wir irgendwann eigene Wege gehen werden und zumindest nicht mehr alle hier in Middleton sind.“ Mike streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Moisha, ich verspreche dir, es gibt nichts auf der Welt, dass mich dazu bringt, dich und unsere Freundschaft zu vergessen!“ Er legt seine Stirn an meine und wir schließen die Augen. Es fühlt sich an wie ein Schwur.

Wir bleiben lang so sitzen, bis Mike´s Handy schellt. „Ja. Ok Dad, bin gleich da!“ Er legt auf. „Mein Dad will das ich heim komme. Komm mit!“, sagt er und steigt aus. Ich folge ihm und wir schieben die Räder zu ihrem Haus.

Seine Mum ist in der Küche, als wir herein kommen. „Moisha meine Schöne!! Mike, dein Vater erwartet dich im Wohnzimmer.“ Sie drückt mich an ihre Brust. Irgendetwas stimmt nicht. „Ist irgendetwas, Kate?“ Sie sieht schnell aus dem Fenster. „Nein, es ist nichts. Hier nimm einen Kuchen und geh heim, ja?“ Sie drückt mir einen Muffin in die Hand und schiebt mich zur Tür. Ich verabschiede mich und gehe rüber.

Was war denn mit ihr los? Ich schaue zu Hause in den Kühlschrank. Eine Suppe. Ich habe keinen Appetit und nehme nur den Kuchen mit hoch in mein Zimmer. Um nicht weiter darüber nach zu denken, mache ich die Hausaufgaben.

Als ich fertig bin, ist es früher Abend. Mein Handy zeigt keine Nachrichten an. Ich gehe runter in die Küche, um mir die Suppe warm zu machen. Vor Mikes Haus, schräg gegenüber steht ein Laster. Es werden Möbel eingeladen. Ich bleibe am Fenster stehen. Was geht da vor sich? Ich habe ein ungutes Gefühl im Bauch und rufe Mike an „Jetzt nicht Mo, ich komme gleich rüber!“, flüstert er hastig und legt auf.

Ich laufe auf und ab. Die Suppe bekomme ich kaum runter.

Es klopft. Ich stürme zur Tür, Mike huscht an mir vorbei in die Küche. Er sieht aus, als hätte er es eilig. „Mo, wir gehen weg. Wir ziehen nach Boise. Dad hat dort einen Job im Hauptsitz der Firma.“, seine Stimme zittert.

Was hatte er gerade gesagt? „Das... das kann nicht wahr sein Mike. Wann?“ Mike nimmt mich in den Arm. „Dad schon morgen. Wir am Sonntag.“ Ich fange an zu weinen.

Hatte ich nicht vorhin noch darüber nachgedacht? Was passiert jetzt? Boise ist mit dem Bus fast eine Stunde entfernt. Mike und ich können uns nicht mal eben schnell besuchen. Er besucht eine andere Schule. Mein Magen dreht sich um. Mike drückt mich noch fester an sich. „Alles wird gut Mo, wir müssen da jetzt durch“, sagt er leise. Es ist wie ein Mantra das wohl ihn, wie auch mich, beruhigen soll. Wir stehen einfach da, bewegen uns nicht. „Ich muss wieder rüber, wir müssen packen. Bis morgen!“ Er küsst mich auf die Wange, wischt sich seine Tränen weg und geht.

Mein bester Freund, mit dem ich alles geteilt habe, jedes Geheimnis, der Mensch, der mich am besten kennt, wird gehen. Nichts wird gut werden, nichts wird sein wie es war. Wir werden andere Freunde haben und uns auseinander leben. Ich räume wie betäubt mein Geschirr weg und setze mich vor den Fernseher.

Ma kommt um neun von der Arbeit.

„Mo, ich bin da!“, ruft sie die Treppe rauf, bis sie mich auf der Couch entdeckt. „Hey Baby, ist alles ok?“

Sie kommt zu mir, ich starre auf den Fernseher. „Nein Ma, es ist nichts ok.“ Ich breche in Tränen aus und erzähle ihr, was geschehen wird.

Sie tröstet mich. Doch aller Trost nützt nichts. Letztendlich beruhige ich mich und bin wie erschlagen vom Weinen.

Ich packe meine Schulsachen und gehe ins Bett. Doch ich schlafe nicht ein. Ich starre an die Decke. Es ist fast Mitternacht als ich höre, wie Mike durchs Fenster klettert. Er sagt nichts, krabbelt zu mir unter die Decke und nimmt mich in den Arm.

„Denk daran, was ich dir versprochen habe. Hier, ich möchte dass du das trägst!“, sagt er und gibt mir eine Kette an der ein kleiner Anhänger mit einem M hängt. Er holt eine Kette unter seinem Shirt her. Ich lege mir die Kette um. „Lass uns einfach nicht daran denken!“, sage ich und schließe die Augen. „Ok, schlaf jetzt.“, sagt er, aber anstatt zu gehen, schließt auch er die Augen.

2

Als ich aufwache, ist Mike weg. Ich sehe auf mein Handy, es ist sechs Uhr in der Früh.

In einer halben Stunde muss ich aufstehen. Ich schalte den Fernseher ein. Es laufen Cartoons. Meine Gedanken kreisen pausenlos darum, dass mein bester Freund wegziehen wird und ich nichts dagegen tun kann.

Um halb sieben klopft meine Ma. „Baby, du musst aufstehen.“ „Bin wach Ma.“, schniefe ich. Sie kommt rein und setzt sich auf meine Bettkante, streichelt meinen Kopf. „Es wird schon Schatz, ihr könnt euch doch immer noch sehen!“ Ihr Blick sagt mir, dass sie das selbst nicht wirklich glaubt. Ich stehe auf und nehme Sachen aus meinem Schrank. Dann drehe ich mich zu ihr um „Ja Ma, bestimmt. Trotzdem wird sich alles ändern.“ Ich gehe ins Bad.

Als ich zu Ma in die Küche komme, steht sie am Fenster. „Mr. Jameson ist gerade abgefahren. Mo, es tut mir so leid.“ Sie blickt mich an, ich schaue weg. „Ich weiß Ma, lass uns nicht davon reden. Noch haben wir ja diese Woche und dann wird es eben anders sein.“

Sie nickt, stellt mir Pancakes hin.

Plötzlich klopft es. Ma öffnet die Tür und Mike kommt fröhlich herein, nimmt sich einen Pancake und setzt sich. „Hey, lass uns einfach so tun, als sei alles wie immer ok!?“ Er zwinkert.

Ich muss grinsen, er ist unverbesserlich. Ich esse einen Pancake. „Was war denn?“, sage ich kauend und wir müssen beide lachen.

Die Schule vergeht heute schnell. Der Ärger über Aaron und Sarita ist verflogen. Es gibt viel schlimmere Geschehnisse.

Selbst Sandy redet nicht so viel wie sonst, Janie sieht bedrückt aus und starrt Mike an, Jamal sagt immer wieder „Du wirst mir so fehlen, Bruder!“. Wir alle sind traurig und bestürzt, jeder für sich versucht es irgendwie zu verkraften. Mike tut mir am meisten leid, für ihn ändert sich noch viel mehr als für uns.

Als wir nach Hause fahren, biegt er ohne Vorwarnung in den Wald ein. Er geht in die Hütte, ich folge ihm einfach. Er setzt sich ans Steuer des Pick-Ups, sein Blick scheint in die Ferne zu schauen.

Ich setze mich daneben, sage kein Wort, mir laufen Tränen über die Wangen. Mike bedeckt plötzlich die Augen mit seinem Arm und schluchzt. Ich nehme ihn in den Arm.

„Ich kann hier nicht weg gehen, Mo. Ich will hier bei euch bleiben. Ich will zu Hause bleiben.“

Er weint. Ich habe ihn noch nie weinen sehen, nicht mal als Kind, wenn sein Dad ihn und seine Geschwister geschlagen hat. Er war immer gefasst, hat seine Schwestern getröstet. Ich bleibe einfach sitzen, halte ihn, weine leise mit. „Du vergisst mich nicht oder? Mo, versprich es mir!“ Es klingt wie ein Befehl. „Niemals, Mike. Ich verspreche es dir.“ Wir sehen uns an und er küsst mich auf den Mund. Wie als wir noch Kinder waren. Wir halten uns fest.

Es vergeht einige Zeit, bis wir uns voneinander lösen. Mike streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. In seinem Blick liegt ein Versprechen. Eine Art Schwur, unausgesprochen. „Komm wir gehen zu mir. Mum hat Essen gemacht.“, sagt er und steigt aus.

Die ganze Familie ist bedrückt. Kate nimmt mich ständig in den Arm oder küsst meine Stirn.

So vergehen die nächsten Tage. Samstagmorgen kommt Mike rüber, als Ma und ich noch am Frühstückstisch sitzen.

„Hey, wir beide machen gleich einen Ausflug nach Boise. Ich zeige dir, wo wir ab morgen wohnen und meine Schule, ok?“ Er sagt es fast fröhlich. Ich nicke. „Klar, gerne, wann geht’s los?“, frage ich. „Der Bus fährt alle 30 Minuten. Wann bist du fertig?“ Ich überlege kurz. „In 30 Minuten?“ Ich lache, er auch. Ma sieht uns an und schüttelt den Kopf. „Ihr zwei...“, sagt sie nur und fängt an abzuwaschen.

Ich mache mich schnell fertig und wir fahren mit den Rädern zum Bus.

Die Fahrt dauert etwa eine Stunde, wir schauen aus dem Fenster, beobachten die Leute im Bus, denken uns Geschichten über sie aus und lachen viel. „Warum wolltest du mit mir her fahren, Mike?“, frage ich ihn, kurz bevor wir ankommen. „Weil ich möchte, dass du weißt wo ich bin. Es ist dann glaube ich einfacher, weil man sich alles besser vorstellen kann. Ich wollte einfach, dass du schon mal hier warst.“, sagt er, etwas verwirrt. „Das war eine gute Idee.“, sage ich und lächle ihn an, lege meinen Kopf auf seine Schulter.

Am Busbahnhof steigen wir aus. Von dort sind es ungefähr 1,5 km bis zu seinem neuen zu Hause. Die Siedlung ist unserer sehr ähnlich, allerdings sind die Häuser größer, teurer. „Wir gehen zu einer Privatschule, mit Uniformen.“, sagt Mike in Gedanken, während wir laufen.

„Steht dir bestimmt. Ist doch total praktisch, du musst dich nie mehr morgens fragen, was du anziehst!“, grinse ich. Er lächelt.

Vor einem mittelgroßen Haus macht er halt.

Es ist wunderschön. Bestimmt drei Mal so groß, wie das Jameson-Haus in Middleton. Ich staune, Mike läuft den Weg rauf, klingelt an. Sein Dad öffnet uns. „Hey, kommt rein, ich muss noch mal los ins Büro!“, sagt er hektisch und geht. „Hey Mr. J!“, rufe ich ihm noch hinterher. „Ich habe noch keinen Schlüssel. Komm ich zeige dir mein Zimmer!“, sagt Mike.

Wir gehen rauf, bis unter das Dach. Dort gibt es links und rechts eine Tür. „Wir haben alle eigene Zimmer. Bis auf Clarisse und Debbie. Das ist meins!“ Er öffnet die rechte Tür. „Links ist Brady´s Zimmer. Im ersten Stock sind die Mädchen. Anna und Lola haben ihre eigenen Zimmer, Clarisse und Debbie haben das eigentliche Schlafzimmer und Mum und Dad haben ein riesiges Zimmer im Anbau. Es ist schon ein tolles Haus.“

Mike ist der zweitälteste von sechs Kindern. Brady ist 19, Anna 13, Lola ist 10 und die Zwillinge Clarisse und Debbie sind gerade fünf. Hier haben wirklich alle Platz. Vorher schliefen die vier in einem Zimmer, die Kleinen bei den Eltern im Schlafzimmer. Das Haus in Middleton ist so groß wie das von Ma und mir.

Mr. Jameson hatte wirklich was erreicht. Ich verstand jetzt, dass er den Schritt gewagt hatte. Trotzdem wollte ich nicht, dass mein Freund hier wohnt, weit weg von mir. „Es ist traumhaft Mike!“ Sein Zimmer ist ganz neu eingerichtet. Ich setze mich auf die Couch, nehme ein Kissen in den Arm. Mike setzt sich zu mir. „Möchtest du etwas trinken? Oder sollen wir direkt zur Schule rüber gehen? Sie ist nur einen Block weiter!“, fragt er. „Lass uns die Schule anschauen!“, sage ich und springe auf.

Wir nehmen den Ersatzschlüssel mit und laufen zur Schule. Es dauert keine fünf Minuten.

Am Montag wird seine Fahrradklingel nicht ertönen, ich muss allein zur Schule fahren. Er läuft mit seinen Geschwistern. Es ist eine sehr große Schule für alle Altersstufen, selbst die Kleinen gehen hier in den Kindergarten. Die Schule ist der Wahnsinn. Ein altes Gebäude, hohe Wände, lange Flure, einfach wunderschön. „Auf meinen Ball nehme ich dich mit Mo!“, sagt Mike plötzlich und nimmt meine Hand. Ich lächle ihn an. „Gehst du mit mir auch auf den Ball in Middleton? Er ist schon in zwei Wochen und wir wollten doch zusammen hin!?“, frage ich ihn. „Ich denke, das wird sich einrichten lassen, ich habe schließlich Karten!“, sagt er und zückt vier Karten aus seiner Tasche. Er grinst breit.

Zwei Karten sind für den Ball an der Middleton High, die anderen zwei für einen Ball an der Roosevelt Private School, seine neue Schule. Ich umarme ihn. „Danke Mike, ich bin dabei.“, sage ich entschlossen. Er nickt. Wir gehen zurück zum Haus. Es ist später Nachmittag. Sein Dad ist wieder da, sowie Brady, der bereits hier mit seinem Dad gewohnt hat, da er ein Praktikum in der Firma macht. Wir trinken noch etwas in der Küche. Dann verabschieden wir uns und Brady bringt uns zum Busbahnhof.

„Bis morgen Brüderchen und heul nicht so viel!“, sagt er zum Abschied und fährt davon. Ich schüttle nur den Kopf. Brady ist ein fieser Kerl, ich mochte ihn noch nie wirklich. Er hat Mike immer aufgezogen, weil er nie so ein harter Kerl sein wollte, wie er.

Ich schlafe im Bus an Mike´s Schulter gelehnt ein. Er weckt mich in Middleton. „Prinzessin, wir sind da!“, sagt er, ich schrecke auf. Wir steigen aus, nehmen unsere Räder und fahren nach Hause. Auf dem Rad werde ich wieder hellwach.

Mir wird wieder bewusst, dass es morgen vorbei ist. Er wird weg sein, ein anderes Leben führen, in diesem tollen Haus, in dieser gigantischen Schule. Ich werde hier sein. Beide werden wir allein sein.

Weil ich so in Gedanken bin, übersehe ich ein Schlagloch. Mike springt vom Rad „Mo, Mo, alles ok? Was ist passiert?“ Ich liege auf dem Boden, mein Arm tut weh und mein Fuß, aufgeschürft. Ansonsten fehlt mir nichts. Wir schieben den Rest des Weges und versorgen zu Hause meine Wunden, als Ma heim kommt. „Mo, was ist passiert?“, fragt sie besorgt, als sie die Kompressen und den Verband auf dem Tisch liegen sieht. „Alles ok Ma, ich bin mit dem Rad gefallen.“, antworte ich ihr. Sie hilft Mike, alles weg zu räumen. „Mike, ich habe mit deiner Mum gesprochen, du kannst hier schlafen, wenn du magst, drüben sind ja nur Luftmatratzen, wir haben noch die Gästematratze hier.“, sagt sie liebevoll. Wir grinsen uns an. „Ok, cool, danke Lakisha!“, bedankt sich Mike bei Ma.

Wenn ich Ma´s Namen höre oder lese, muss ich daran denken, wie meine Eltern auf meinen Namen kamen. Meine Ma ist Afro-Amerikanerin, mein Dad war Europäer, seine Familie kam aus Deutschland. Sein Name war Moritz. Meinen Namen, Moisha, setzten sie aus ihren Namen zusammen. Als ich sie fragte, warum der Name dann nicht einmalig ist, erklärten sie mir, dass sie meinen Namen wirklich vorher nicht kannten und so darauf kamen. Ich mag diese Geschichte, sie zeigt, wie sehr sie sich geliebt und verbunden gefühlt haben. Dad ist jetzt schon sechs Jahre tot. Ich möchte immer noch glauben, dass er eines Tages wieder durch die Tür kommen wird, meine Ma auf den Mund küsst und mich auf die Stirn, mit seinem Lachen alle ansteckt.

Meine Ma war schwanger, als er starb, sie hat das Kind verloren, durch die schwere Zeit. Sie hat so viel gelitten und trotzdem ist sie ein fröhlicher und wunderbarer Mensch.