Monster - Ulrich Seibert - E-Book

Monster E-Book

Ulrich Seibert

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Beschreibung

Die Medien und das BKA nennen ihn nur "das Monster". Denn, so sagen sie, er sei in der Lage, allein mittels der Kraft seiner Gedanken Menschen zu töten - und: Er, über dessen Identität oder Aussehen nichts bekannt ist, sei der Anführer der mächtigsten und gefährlichsten kriminellen Vereinigung in West-Europa. Inga Erdem und Edgar Huber, Journalisten bei einer führenden deutschen Tageszeitung, glauben zunächst an einen Kollegenscherz, als das "Monster", sie zu einem Exklusiv-Interview einlädt. Doch es stellt sich schnell heraus, dass hinter dem Mythos eine reale Person steckt. Doch durch ihre Tätigkeit geraten sie selbst in den Fokus von Bundeskriminalamt und Medien. Sie begeben sich auf eine unfreiwillige und risikoreiche Reise um die Fragen: Was ist Wahrheit, was Lüge? Wer ist Täter, wer Opfer? Wer oder was sind ... wir selbst?

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Die Medien und das BKA nennen ihn nur „das Monster“. Denn, so sagen sie, er sei in der Lage, allein mittels der Kraft seiner Gedanken Menschen zu töten – und: Er, über dessen Identität oder Aussehen nichts bekannt ist, sei der Anführer der mächtigsten und gefährlichsten kriminellen Vereinigung in West-Europa.

Inga Erdem und Edgar Huber, Journalisten bei einer führenden deutschen Tageszeitung, glauben zunächst an einen Kollegenscherz, als das „Monster“ sie zu einem Exklusiv-Interview einlädt. Doch es stellt sich schnell heraus, dass hinter dem Mythos eine reale Person steckt. Doch durch ihre Tätigkeit geraten sie selbst in den Fokus von Bundeskriminalamt und Medien.

Sie begeben sich auf eine unfreiwillige und risikoreiche Reise um die Fragen: Was ist Wahrheit, was Lüge? Wer ist Täter, wer Opfer? Wer oder was sind … wir selbst?

Der Autor

Ulrich Seibert hat Betriebswirtschaftslehre studiert und lange Jahre u.a. im Einzelhandel gearbeitet. Zum Schreiben kam er durch eine Auftragstätigkeit für einen Musikverlag, dem eine Harry-Potter®-Fanfiction für seinen Sohn folgte, bei der dieser selbstverständlich die Hauptrolle spielte.

Das Handwerk des Schreibens von Belletristik erlernte er in einer Schreibgruppe, die sich der Fanfiction einer populären Weltraum-Saga verschrieben hatte. Erst Jahre später wagte er sich an seinen ersten eigenen Roman, der allerdings bis jetzt unveröffentlicht geblieben ist. Mittlerweile sind diverse Romane (darunter die Reihe „Secrets of the Ne’arin“ – JustTales Verlag, Bremen), Kurzgeschichten, ein Reisetagebuch und auch Sachbücher erschienen.

In den letzten Jahren konzentrierte Seibert sich mehr auf die Arbeit beim Rundfunk, als eines seiner Bücher („Die Diktatur des Monetariats“) in eine Sendereihe transformiert wurde, die seit Januar 2021 monatlich ausgestrahlt wird.

Mit seiner Familie lebt er in Germering bei München.

Für Lisa, die das Buch nicht nur als Erste beta-gelesen hat, sondern die auch unfreiwillig als eine Inspirationsquelle für einige Aspekte der Persönlichkeit von Inga Erdem herhalten musste

Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), österreichischer Lyriker und Erzähler

Inhaltsverzeichnis

1 – Lieferwagen

2 – Kommunikationsraum

3 – Ingas Appartement

4 – Dasselbe Appartement

5 – Redaktion

6 – Sendestudio 4, Mainz

7 – Reise

8 – Operationsbasis Zürich

9 – Wolfsschlucht

10 – Frégate Island

11 – Strandhütte

12 – München

13 – Grünwalder Villa

14 – Englischer Garten

15 – Bei Inga

Epilog – in einem Dorf im Qinling-Gebirge

Nachwort und Danksagung

1 – Lieferwagen

Edgar sah sorgenvoll zu seiner Kollegin neben sich, als der Lieferwagen, in dessen Laderaum sie auf zwei provisorisch montierten Autositzen saßen, anfuhr, sich auf eine Reise ins Unbekannte begebend. Sie war offensichtlich nervös, in sich gekehrt und beachtete ihn gar nicht. Inga Erdem war ihm bislang nie so richtig aufgefallen, in der Tat kannte er sie hauptsächlich von der Bildergalerie der Mitarbeiter in der Redaktion. An Redaktionskonferenzen hatte sie als Freiberuflerin eher selten teilgenommen und wenn, dann hatte sie für ihr Ressort, die Redaktion Wissenschaft, gesprochen. Das kam immer erst zum Schluss dran, da passierte selten etwas, das eilig war, Wissenschaft ist etwas Langfristiges, Zähes, für Laien schwer Greifbares, nicht sein Ding, mit anderen Worten. Wenn die Kollegen aus dieser Redaktion dran waren, hatte er, Edgar, in der Regel längst abgeschaltet und war in Gedanken bei seinen eigenen Projekten der Redaktion Investigative Research, deren Ergebnisse fast immer am besten bis gestern abgeliefert werden sollten. Eigentlich wäre es sinnvoller gewesen, einfach zu gehen, nachdem sein Teil der Arbeit besprochen war, doch damit machte man sich bei den Kollegen halt unbeliebt. Nicht, dass Popularität unter Kollegen weit oben auf seiner Prioritätenliste angesiedelt wäre, aber Netzwerken war nun mal wichtig im Journalismus. Leider. Eigentlich war er eher ein Einzelkämpfer, er gefiel sich in der Rolle des einsamen Wolfs.

Inga war vielleicht kein Laufstegmodel, aber in ihrer Natürlichkeit wirkte sie auf ihn viel schöner als ein solches, das erkannte er selbst trotz der vom Staub der Jahre verdreckten Deckenfunzel im fensterlosen Laderaum unschwer. Sie hatte das Beste aus zwei Welten mitbekommen, vom türkischen Vater einerseits und der schwedischen Mutter andererseits. Die dunkelbraunen Augen der etwa Dreißigjährigen wirkten in diesem Licht tiefschwarz wie auch ihr Haar, bei Tageslicht brünett, die hohe Stirn, die leicht gekrümmte, schlanke Nase und Lippen, die lächeln konnten, dass einem bei dem Anblick das Blut in den Adern zu kochen begann. Sie war gar nicht oder nur sehr unauffällig geschminkt und trug normalerweise eher eine Art Hippiekleidung aus festem Stoff, die ihre Figur weitgehend verdeckte, so konnte er nicht einmal erkennen, ob sie eher kleine oder große Brüste hatte, geschweige denn deren Form ausmachen. Intelligent war sie auch, beziehungsweise sie musste es einfach sein, denn nur eine sehr intelligente Person würde ein Psychologiestudium beginnen und es erfolgreich beenden können. Gut, Edgar hatte bislang noch keine zehn Sätze mit Inga gewechselt, schon gar keine tiefschürfenden, aber er hatte vor Jahren versucht, sich in ein Buch über Psychologie zu vertiefen und hatte bereits in Kapitel drei kapituliert. Im Gegensatz zu angeblich vielen anderen Männern ließ Edgar sich von Intelligenz bei Frauen nicht einschüchtern, ganz im Gegenteil. Irgendwann war in jeder Beziehung mal ausgebumst und dann eine dumme Frau an seiner Seite zu haben – ein absoluter Albtraum! Träume! Blöde Träumereien! Sie ist vielleicht 30, ich bin 54. Wieso sollte sie etwas von mir wollen?

Der Lieferwagen polterte über eine Bodenwelle und riss Edgar zurück in die Realität. Der Klang der Reifen auf dem Asphalt veränderte sich und das Auto fuhr nun weitgehend konstant mit höherer Drehzahl. Eine Autobahn, vielleicht? Wohin würden sie fahren? Und wie lange? Allzu warm war es hier auch nicht, besonders in diesem Seidenkimono, den er, wie auch Inga, als einziges Kleidungsstück tragen durften; nicht einmal die Schuhe hatte man ihnen gelassen. So langsam glaubte Edgar nicht mehr an seine ursprüngliche Theorie mit dem Fake. Die Sicherheitsmaßnahmen dieser Leute waren derart aufwändig und gut durchdacht, einen solchen Aufwand betrieb niemand, der mal so eben jemandem einen Streich spielen wollte. Angefangen hatte es vor … Moment, das war erst … gestern gewesen. So viel Trubel inzwischen, dass man meinen konnte, dass seitdem mehrere Tage vergangen wären. Er – also er selbst, nicht die Redaktion oder die allgemeine E-Mail-Adresse einer der führenden Tageszeitungen Deutschlands, genannt Die Depesche – hatte diese ominöse Mail erhalten, er und Inga. Nur er und Inga. Kurz und knapp hatte man ihnen ein Exklusivinterview angeboten, ein Exklusivinterview mit dem mächtigsten und mysteriösesten Unterweltboss in ganz Europa, dem Mann, den das Bundeskriminalamt und die Boulevardpresse gemeinhin als „das Monster“ bezeichneten. Die Bedingungen waren: Die Kollegin Erdem musste mit von der Partie sein, aus welchen Gründen auch immer. Beide mussten kurzentschlossen, innerhalb einer Stunde, zusagen oder das Angebot würde ersatzlos auslaufen. Und das Interview würde zu „Johns“ – so war die E-Mail unterzeichnet – Bedingungen ablaufen. Wenn der Ruf kam, würden sie alles andere liegen und stehen lassen. Sie würden reisen, wie und wohin dieser „John“ das vorgab. Sie würden sich seinen Sicherheitsregeln beugen ohne Fragen oder Einwände, sie würden selbstverständlich zu keiner Zeit Kontakt mit den Behörden aufnehmen und sie würden keinerlei Gadgets bei sich tragen, mit denen man etwa Gespräche aufzeichnen, Positionsbestimmungen vornehmen oder andere Tricks vollführen konnte. Bei auch nur der kleinsten Zuwiderhandlung – so die Mail! – könne man die Unversehrtheit der Interviewer leider nicht mehr in jedem Fall gewährleisten. Wenn die Zeitung das Interview haben wollte und beide mit diesen Bedingungen einverstanden wären, sollten sie jeweils innerhalb einer Stunde ein Katzenfoto auf ihrer privaten Facebook-Seite posten. Sie würden dann kurzfristig weitere Instruktionen erhalten.

Edgar hatte zunächst versucht, die Mail zurückzuverfolgen. Der Provider der Mail-Adresse saß in einem pazifischen Inselstaat und bot kostenlose E-Mail-Adressen mit einhundertprozentiger Anonymitätsgarantie an (finanziert mit Anzeigen), die nur zehn Minuten Bestand hatten und danach gelöscht wurden, angeblich samt allen Datenspuren, die zu dieser Adresse führen mochten. Jeder konnte sich so eine Adresse besorgen, die Chancen, den wahren Absender zu ermitteln, lagen bei null. Als er schließlich am Chefredakteurs-Büro angeklopft hatte (Inga war bereits drin gewesen), war dadurch bereits eine Viertelstunde vergangen. Eine halbe Stunde hatten sie, also die beiden Chefredakteure – Giovanni Marineri, genannt „Jove“, und Ludmilla Eckstein-Gunther, die in der Redaktion wahrscheinlich wegen ihrer Neigung, die Hälfte aus den Artikeln, die ihr vorgelegt werden mussten, herauszustreichen, gern als „Flummi“ bezeichnet wurde – und er heftig gestritten. Er hatte die Meinung vertreten, dass sich da jemand einen Witz auf seine Kosten erlauben wollte, Flummi und Jove hingegen meinten, dass die Chance dermaßen einmalig sei und die Geschichte dermaßen heiß, dass man das Risiko durchaus verkraften könne, falls die Sache sich doch als ein Joke erweisen sollte. Und sie hatten in sehr klaren Worten darauf hingewiesen, dass es schon ziemlich lange her gewesen sei, dass er mal mit einer Reportage angekommen wäre, mit der man wirklich mal mehr Auflage generieren konnte. Man könne einen langjährigen, verdienten Mitarbeiter zwar durchaus mal eine Zeitlang mitschleppen, aber wenn auf Dauer nichts mehr käme, dann müsse man irgendwann halt auch die Konsequenzen respektive die Reißleine ziehen. Und das vor den Augen und Ohren von Inga! Seine Stimmung war daher auf einem absoluten Tiefpunkt gewesen, als er wider besseres Wissen ein lustiges Katzenfoto gegoogelt und es auf seinem Facebook-Account gepostet hatte … buchstäblich in letzter Minute.

Dann hatte er sich mit Inga in einen freien Besprechungsraum gesetzt, um das weitere Vorgehen, das mögliche Ergebnis des Interviews und die Gefahren durchzugehen, die beispielsweise daraus resultieren mochten, dass vielleicht Dinge veröffentlicht wurden, die dem Gangster-Boss nicht gefielen. Das war sogar der allerwichtigste Punkt gewesen, denn das „Monster“ galt in den einschlägigen Veröffentlichungen nicht gerade als sehr zimperlich. Dass es in seinem unmittelbaren Umfeld regelmäßig Tote gab, schien belegt zu sein. Aber ein Aspekt daran war natürlich grober Unfug, erdacht von Schreiberlingen, denen mit einiger Sicherheit eine sensationsgeile Chefredaktion im Nacken saß und die in Ermangelung an Fakten nicht davor zurückschreckten, selbst den allergrößten Unfug zur Schlagzeile zu küren. In diesem Fall verortete er die Behauptung, dass das „Monster“ allein mit der Kraft seines Willens töten könne, ohne dazu eine Waffe oder seine Hände einzusetzen, als einen solchen Aspekt. So ein ausgemachter Bullshit, Hauptsache, Auflage! Es mochte hinter entsprechenden Gerüchten einen wahren Kern geben, aber den hätte man durchaus auch seriös herausarbeiten können, ohne dafür das Übernatürliche bemühen zu müssen. Als ob der Chef einer hochkriminellen Vereinigung eine ominöse „Superkraft“ nötig hätte, wenn er wollte, dass jemand ins Gras beißt, das war doch nachgerade lächerlich! Er gibt den Befehl und dann wird das von irgendeinem Handlanger erledigt, so einfach ist das! Vielleicht hat er eine Tötungsmethode gefunden, die schnell ist und keine Schusswunden hinterlässt, das wäre dann womöglich noch der interessanteste Aspekt an dieser „Superkraft“.

Aber Journalismus war heute nicht mehr dasselbe wie damals, als er in den neunziger Jahren im Rahmen eines Volontariats Blut geleckt und den Beruf in der Praxis – Stichwort „learning by doing“ – lieben gelernt hatte. Medien waren damals noch mehr oder weniger unabhängig gewesen, jedenfalls die guten, die noch selbst recherchiert und sich dem Grundsatz der Überparteilichkeit und ökonomischen Unabhängigkeit der Berichterstattung verschrieben hatten. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Online-Portale hatten die klassischen Printmedien verdrängt und obwohl die allermeisten Medien rasch auf diese Entwicklung reagiert hatten, blieb die ernüchternde Tatsache, dass Online-Umsätze keinesfalls ausreichten, um die Verluste bei Print auch nur im Ansatz auszugleichen. Also musste man einerseits an die Kosten heran: Insbesondere bei den Personalkosten wurden massive Einsparungen vorgenommen, Journalisten und Korrespondenten wurde reihenweise gekündigt, deren Büros aufgelöst. Anstatt eigene Nachrichten zu produzieren, übernahm man immer mehr die bereits vorgekauten Meldungen der Presseagenturen, das war bei Weitem billiger. Allerdings stand dann auch in jeder Zeitung mehr oder weniger dasselbe. Natürlich konnten insbesondere die sogenannten Qualitätsmedien es sich gar nicht leisten, ihren Rechercheapparat auf null herunterzufahren und sie gingen stattdessen strategische Allianzen mit anderen Medien, teils aus dem Ausland, teils auch mit öffentlich-rechtlichen Anstalten ein, die durch die Rundfunkgebühren noch über eine weitgehend gesicherte Finanzbasis verfügten. Auf die Weise wurden für einzelne Projekte mehrere unabhängige Redaktionen zu einer einzigen verschmolzen; die Kosten und die Ergebnisse beziehungsweise die Rechte an der Veröffentlichung wurden nach einem vertraglich geregelten Schlüssel aufgeteilt. Ein solches Konstrukt war es auch gewesen, das ihm seinen Job bewahrt hatte, er wirkte immer wieder bei solchen Projekt-Kooperationmit. Und er war gut in dem, was er tat. Normalerweise! Momentan … lief es einfach nur beschissen. Er hatte gelegentlich, irreführenden Hinweisen folgend, neben der eigentlichen Spur recherchiert oder war schlichtweg einen Tick zu langsam gewesen und ein konkurrierendes Team hatte ihm das Privileg der ersten Schlagzeile verhagelt. Pech, einfach nur Pech. Aber klar, die Chefs waren mental von der Feldarbeit und ihren Fährnissen inzwischen meilenweit weg und konnten nicht einschätzen, welche Steine einem ehrlichen, unbestechlichen Journalisten heute zwischen die Beine geworfen wurden; für sie war die einfachste Erklärung immer die richtige: „Der Mann wird halt langsam alt“. Dabei war es allzu oft ihre eigene Schuld gewesen! Etwas mehr Flexibilität beim Budget hätte oft schon gereicht, eine benötigte Information schneller zu bekommen als andere, denn auch für Informationen gab es mittlerweile einen Markt. Und wer besser oder schneller zahlte, machte in solchen Fällen einfach das Rennen. Aber an die eigene Nase fassten sich solche Leute nie, da war es ganz praktisch, wenn man den eigenen Misserfolg auf das Alter eines Kollegen schieben konnte. Nicht wahr?

Die andere Möglichkeit, die früheren Umsätze irgendwie wieder hereinzuholen, bestand darin, sie anderweitig zu generieren als bisher üblich … und sei es auch auf Kosten der journalistischen Integrität. Es wurde zwar allerorten abgestritten, doch in der Branche wusste es einfach jeder! Gefälligkeitsartikel sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft waren an der Tagesordnung, selbst bei den allerseriösesten Institutionen – beziehungsweise denen, die früher als solche galten und die von diesem immateriellen Kapital bis heute lebten. Jemand mit Geld wollte eine bestimmte Botschaft unters Volk bringen und jemand, der das konnte, brauchte das Geld. Ein Markt, wie jeder andere. Geld regiert die Welt und auf die Moral wird intern gepfiffen, manchmal zugegebenermaßen bedauernd, auch wenn sie nach außen hin mit Vehemenz hochgehalten wird. Diese unverfrorene Verlogenheit war das, was Edgar am Allermeisten ankotzte. Warum sagte man der Öffentlichkeit nicht einfach: „Ey Leute, sorry aber mit dem Kostendruck und der immer schwieriger werdenden Umsatzsituation können wir einfach nicht anders, als fünfzig Prozent unserer Artikel nach externen Vorgaben zu verfassen, die gesondert vergütet werden.“ Das wäre zwar verklausuliert, aber immerhin ehrlich. Allerdings wäre das nicht akzeptabel für die Urheber der Gefälligkeitsartikel, denn sie ziehen ihre Glaubwürdigkeit ja gerade aus der vermeintlichen Unabhängigkeit dieser Medien.

Edgar hörte und spürte, wie der Lieferwagen abbremste und eine steile Rechtskurve fuhr. Er fragte sich, zu welcher Kategorie wohl dieses Interview zählen würde. Würde das „Monster“ ihm oder der Redaktion Geld anbieten für eine möglichst positive und sympathische „Berichterstattung“ über ihn? Würde das „Monster“ die Journalisten also nur als Erfüllungsgehilfen seiner PR-Abteilung ansehen? Wie würde der Gangster reagieren, wenn er merkte, dass so etwas mit ihm nicht so ohne weiteres zu machen wäre. Würde er ihn einfach eliminieren, mit oder ohne übernatürliche „Superkraft“? Ach, Unsinn, warum sollte er, er würde in jedem Fall das Gegenteil dessen erreichen, was er erreichen wollte, kein Medium würde mehr irgendetwas Positives über ihn schreiben wollen oder sich zu einem Interview bereiterklären! Außerdem hatte dieser „John“ ihn ausgewählt, ihn und Inga. Von all den Journalisten der Zeitung oder auch der Branche war speziell er ausgewählt worden. Das „Monster“ wollte sich ihn zunutze machen, sicher, aber er war bekannt dafür, ziemlich schonungslos zu berichten und keine Gefälligkeitsartikel zu kolportieren. Aber vielleicht würde gerade das das „Monster“ reizen? Ein Gefälligkeitsartikel von einem Mann, der gerade dafür bekannt war, keine solchen zu schreiben, wäre das nicht ein Garant für die höchstmögliche Glaubwürdigkeit? Andere Frage: Wie würde seine Chefredaktion in einem solchen Fall reagieren, wenn das „Monster“ einen erklecklichen Betrag „investieren“ würde für eine gefällige Schreibe? Würde man ihm – wieder mal! – vorzuschreiben versuchen, was er doch bitteschön zu schreiben hätte? Nur, um ihm dann hinterher vorzuwerfen, dass er nichts Eigenständiges mehr produzieren würde? Dieser ganze Mist hing ihm einfach nur zum Hals heraus. Als Journalist saß man eigentlich immer nur zwischen allen Stühlen, jedenfalls, wenn man seinen Beruf und dessen Ethos halbwegs ernst nahm. Schreibst du etwas, was zwar der Wahrheit entspricht, aber einem Minister missfällt, wird dir unter Umständen mal eben die Akkreditierung für sein Ministerium oder auch andere politische Instanzen, besetzt von einem Parteifreund, entzogen, an Interviews mit dieser wichtigen Person oder seinen Peers kommst du dann natürlich auch nicht mehr heran. Wer aber nichts Originales heranschafft, der wird in seiner Redaktion dumm angemacht. Man brauchte gar keine Zensur, um gewisse Meinungen zu unterdrücken oder andere zu pushen, das konnte man heute, vielleicht mit ein bisschen Druck da und dort, getrost „dem Markt“ überlassen.

Wenn es hier wenigstens etwas Anständiges zu trinken gäbe, notfalls auch einen Cognac! Ach, träumen wird man ja wohl noch dürfen!

Inga … sie plagten wohl gerade völlig andere Gedanken. Gut, konnte man ihr nicht verdenken, so ein Intrigenspiel kam in ihrer Funktion wohl in dieser Form eher selten vor. Sicher, wenn dem weitgehenden Zuckermonopol in Deutschland nicht gefiel, dass die Wissenschaft herausfand, dass Zucker eines der gefährlichsten Gifte für den menschlichen Organismus überhaupt darstellte, fand sie auch Mittel und Wege, eine Berichterstattung über solcherlei Erkenntnisse zu verhindern. Aber Inga war Freiberuflerin. Sie lieferte ihre Artikel ab und wurde wahrscheinlich pro gelieferten Anschlag vergütet. Was die Redaktion mit ihren Artikeln dann anstellte, interessierte sie vermutlich eher nicht mehr. Jedenfalls war das Vorgespräch mit ihr nicht sehr konstruktiv ausgefallen. Sie sagte, dass sie nicht wüsste, worauf das hinausliefe und was sie überhaupt bei einem solchen Interview zu suchen hätte. Sie würde sich also erstmal zurückhalten, beobachten und nur antworten, wenn sie direkt gefragt wurde. Edgar konnte gegen diese Haltung nicht viel vorbringen, wollte er auch gar nicht. Denn Ingas Zurückhaltung – wenn sie diese denn durchhielt! – würde seinen Job in jedem Fall einfacher machen. Er konnte dann sein Konzept durchziehen, ohne dass eine halbqualifizierte Mit-Interviewerin ständig den Ball ins Aus schoss und er ihn dann wieder umständlich zurück ins Spielfeld holen musste. Konzept … naja, der Begriff passte hier nicht wirklich, denn in diesem Fall hatte er gar kein Konzept. Noch wusste er nicht, was das „Monster“ von ihm erwartete und ob ihm überhaupt erlaubt war, eigene Fragen zu stellen. Er hatte zum Thema auch nicht allzu viel recherchieren können, bis auf ein paar BKA-Presseverlautbarungen und sensationslüsterne, Angst schürende Artikel aus diversen Leitmedien gab es nicht wirklich viel Material über das „Monster“ und dessen Organisation. Noch nie zuvor hatte er sich so schlecht vorbereitet gefühlt. Aber Schwamm drüber, ein guter Journalist musste oft improvisieren und konnte das auch. Er würde sich auf seine Erfahrung und auf seinen hoffentlich nicht allzu schwerfälligen Geist schon verlassen können.

Das Geräusch der Reifen änderte sich ein weiteres Mal. Sie fuhren nun zweifelsohne über einen Schotterweg. Gelegentlich kratzten Zweige an den Fahrzeugwänden entlang, sowohl links als auch rechts. Der Weg, den sie entlangfuhren, war demnach ziemlich schmal, ein Waldweg vermutlich, abseits von irgendwelchen neugierigen Augen und Ohren. Das Interview würde doch wohl hoffentlich nicht mitten im Wald stattfinden? Im April und nur mit einem Seidenkimono bekleidet? Inga ging es auch nicht gut, sie zitterte merklich. Edgar überlegte eine Sekunde lang, ob er seinen Sicherheitsgurt lösen und Inga in den Arm nehmen sollte, um sie mit seiner Körperwärme etwas aufzuwärmen. Aber diese Absicht konnte missinterpretiert werden und das Letzte, was er sich leisten konnte oder wollte, wäre der Ruf, ein geiler, alter Lustmolch zu sein. Inga konnte ja von sich aus fragen, wenn sie etwas Wärme brauchte.

„Alles gut?“, fragte er sie.

Inga sah ihn kurz an, lächelte gequält und nickte nur. Edgar begriff: Sie hatte Angst, höllische Angst!

„Mach dir keine Sorgen, Inga, uns passiert schon nichts. Weißt du, der Kerl will etwas von uns. Und er kann sich ziemlich genau ausrechnen, dass er das nicht bekommt, wenn er uns auch nur ein Haar krümmt. In ein paar Tagen kannst du deinen Freunden wahrscheinlich die tollste Geschichte deines Lebens erzählen.“

Dieses Mal sah Inga ihm länger in die Augen, das Lächeln war eine Spur echter als zuvor. „Keine Sorge, Edgar, mir geht es gut, wirklich. Ich habe nur … ein komisches Gefühl bei der ganzen Sache. Ich kann die Ursache dafür weder greifen noch in Worte fassen, aber etwas stimmt nicht. Mir wäre es lieber, ich hätte dieses Katzenbild nie gepostet, das … war ein Fehler, glaube ich.“

Edgar lachte. „Ich muss schon sagen, für dieses Katzenbild habe ich in fünf Stunden mehr Likes bekommen als für jeden geposteten Artikel von mir in einer ganzen Woche und wäre er auch noch so wichtig gewesen. Manchmal zweifle ich einfach nur an der Menschheit und an ihrer Intelligenz.“

Inga lachte. Und dieses Lachen tat so gut. „Da kann ich dir nicht …“ Ein Schlagloch unterbrach sie. „… widersprechen. Ging mir genauso. Ich hoffe jetzt wirklich, wir sind bald da. Wie lange sind wir eigentlich schon unterwegs?“

„Keine Ahnung, man hat mir auch die Armbanduhr abgenommen. Ist eine Smartwatch, an die habe ich überhaupt nicht mehr gedacht, als ich das mit dem Gadget-Verbot gelesen habe. Ich hoffe, ich bekomme sie nachher wieder, das Ding hat immerhin rund sechshundert Euronen gekostet.“

„Ist das ein Modell mit GPS?“

„Nein, nein. Es kann zwar Landkarten darstellen, holt sich die Daten aber samt Standort per Bluetooth vom Handy. Und das habe ich wohlweislich zuhause gelassen.“

„Dann sollte es für das ‚Monster‘ kein Problem darstellen, hoffentlich. Aber was weiß ich schon über die Sicherheitsbedürfnisse von Mafiabanden …“

„Vorsichtig mit deiner Ausdrucksweise! Kann leicht sein, dass wir abgehört werden!“

„Oh!“

Knirschend fuhr der Lieferwagen eine enge Kurve und blieb dann stehen. Sie hörten, wie mehrere Wagentüren geöffnet und wieder geschlossen wurden. Unverständlich sprachen draußen mehrere Leute, mindestens zwei Männer und eine Frau miteinander. Weiter geschah nichts. Worauf warteten die bloß? Endlich näherten sich Schritte. Die Seitentür des Lieferwagens wurde aufgeschoben und ein maskierter Mann blickte ins Innere des Laderaums. „Hier, das sind lichtundurchlässige Säcke. Ziehen Sie sich jeder einen über den Kopf, und zwar so, dass Sie nicht das Geringste sehen können. Wir dulden keinerlei Rebellion gegen unsere Anordnungen, ist das klar?“

Edgar und Inga bestätigten, nahmen die Säcke aus einem leichten, aber dicht gewebten, schwarzen Stoff entgegen und schlüpften mit dem Kopf hinein, wie befohlen.

„Herr Huber, Sie steigen zuerst aus! Schnallen Sie sich ab und geben Sie mir Ihre Hand! Ja, so ist gut, Vorsicht, hier geht’s nach unten. Es liegen ein paar Steinchen herum, aber das werden Ihre Füße schon verkraften für die paar Schritte. Okay, stopp! Spreizen Sie die Beine und heben Sie die Arme hoch, los! Okay, du da, an die Arbeit!“

Zu Edgars Entsetzen wurde er ziemlich indiskret angefasst, von oben nach unten. Insbesondere die Genitalien und der Anus wurden einer lächerlich intensiven Überprüfung unterzogen. Schließlich ertönte ein lakonisches „Sauber!“ und die Hände ließen von ihm ab.

„So, jetzt Sie, Frau Erdem. Achtung, Stufe, gut so, jetzt noch zwei Schritte, und Stopp! Tut mir leid, wir müssen auch an Ihnen eine Leibesvisitation vornehmen. Beine auseinander und Arme hoch! Los!“

Auch Inga beschwerte sich nicht, jedenfalls nicht verbal, doch ihr gelegentliches Japsen sprach Bände. Edgar zwang sich, seine Hände wieder zu entspannen, die sich unwillkürlich zu Fäusten geballt hatten, worauf aber keine Reaktion seitens der Banditen erfolgte.

„Sauber!“

„Gut, führt die beiden jetzt zum Auto! Okay, gut so, noch ein paar Schritte. So, jetzt einsteigen, bitte, Vorsicht, stoßen Sie sich nicht den Kopf, der Boss mag es gar nicht, wenn seine Gäste mit Beulen bei ihm ankommen!“

Edgar saß nun auf der Rückbank eines merkwürdig riechenden Autos, Inga hatte man rechts neben ihn gesetzt. Die hinteren Autotüren wurden zugeschlagen, dafür öffnete sich die Fahrertür. Jemand draußen sagte: „Fahrt nicht los, bevor ihr nicht das Signal erhaltet! Okay, wir sind dann mal weg. Man sieht sich in der Basis.“

Der Motor des Lieferwagens wurde wieder angelassen und das Fahrzeug entfernte sich. Der Fahrer des Autos, in dem sie jetzt saßen, dachte aber nicht daran, den Motor anzulassen. Vom Beifahrersitz aus sagte eine weibliche Stimme: „Denken Sie nicht mal im Traum daran, den Sack abzunehmen, bevor es Ihnen erlaubt wird! Im besten Fall würden wir Sie dann auf ziemlich ungemütliche Weise an einer Wiederholung einer solchen Aktion hindern, im schlimmsten … na, das dürfen Sie sich jetzt selbst ausmalen. Ich habe übrigens eine Pistole in der Hand und ich verstehe, damit umzugehen, also bitte: keine Fisimatenten, das würde den Huángdì sehr enttäuschen.“

„Hua… was bitte?“, fragte Edgar.

„Huángdì. So wird der Boss innerhalb der Organisationen genannt.“

„Ich dachte, er nennt sich ‚John‘?“

„John lässt er sich von Geschäftspartnern nennen.“

„Und dieser Name, äh Huangdingsbumms, ist das ein …?“

„Halten Sie jetzt bitte die Klappe! Mein Job besteht nur darin, aufzupassen, dass Sie beide sich anständig benehmen, Konversation ist nicht Teil der Stellenbeschreibung.“

„Okay. Nun, Sie werden lachen, Fragen zu stellen gehört explizit zu meiner Stellenbeschreibung …“

„Ich sagte: Klappe!“

„Schon gut, schon gut.“

Ein Piepsen ertönte. Doch noch immer fuhren sie nicht los. Ein paar Minuten später ein weiteres Piepsen, gefolgt von einem dreimaligen elektronischen Signal in einer anderen Frequenz. Der Motor wurde gestartet und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

Die Sicherheitsvorkehrungen waren offensichtlich weitaus strenger, als Edgar das während seiner bisherigen Laufbahn jemals erlebt hatte, selbst zum US-Präsidenten würde man vermutlich leichter vordringen als zum „Monster“. Der machte also keine halben Sachen. Und das war erst der Anfang! Für ihn, Edgar, würde der ganze Mist erst richtig losgehen, nachdem der Artikel, was auch immer darinstehen würde, veröffentlicht wurde. Die Polizei würde sich in jedem Fall bei der Redaktion melden und jedes einzelne Detail des Interviewablaufs abfragen. Sicher würde man ihm Vorwürfe machen, dass er sich nicht sofort an die Strafverfolgungsbehörden gewendet habe, man habe doch wissen müssen oder können, dass es sich bei dem „Monster“ um einen polizeilich gesuchten, mutmaßlichen Schwerverbrecher handelte. ‚Ja …‘, würde er antworten. ‚… aber ich ging ja von einem Prank aus, ich habe nicht im Traum damit gerechnet, dass der echte Gangsterboss ein echtes Interview mit mir machen möchte. Soll ich etwa bei jedem Prank und jeder Falschinformation, die der Redaktion zugespielt werden, die Polizei rufen? Dann können Sie gleich ein festes Ermittlungsteam in den Redaktionsräumen einrichten …‘. Ja, damit müsste er eigentlich durchkommen. Dann gab es natürlich noch den Aspekt des Quellenschutzes. Da musste er sich nochmal kundig machen, inwieweit auch polizeilich Gesuchte den für sich reklamieren konnten. Die Leute, die ihm bisher vertrauliche Informationen gesteckt hatten, waren ja eher der Kategorie Whistleblower zuzuordnen gewesen, keinem einzigen davon waren irgendwelchen Behörden auf der Spur gewesen. Jedenfalls nicht vor ihren Enthüllungen. Danach durchaus, denn in Deutschland gab es kein Wirtschaftsstrafrecht und es konnten daher nur solche von Firmen begangene Verbrechen geahndet werden, bei denen eindeutig verantwortliche natürliche Personen zu ermitteln waren. Eine Firma brauchte also lediglich die Verantwortlichkeiten innerhalb eines Zuständigkeitsbereichs zu verschleiern und schon konnte sie anstellen, was immer sie wollte, ohne dafür von der deutschen Justiz belangt werden zu können. Wie die Kirchen standen somit auch Unternehmen, wenn sie nur groß und mächtig genug waren, um Verantwortlichkeiten undurchschaubar zu machen, außerhalb des Gesetzes. Zudem wurden in den westlichen Industrienationen Wirtschaftsstraftaten generell weniger scharf verfolgt als das Aufdecken derselben, etwas, das von einschlägigen Behörden regelmäßig als „Verletzung von Betriebsgeheimnissen“ gewertet wurde, eine eindeutige Konsequenz der Neoliberalisierung, die ja das ausdrückliche Ziel hatte, Kapitaleigner von möglichst vielen gesellschaftlichen Schranken und Regelungen – die Betroffenen selbst nannten das freimütig „Investitionshemmnisse“ – freizustellen.

Edgar würde jedenfalls nicht darum herumkommen, den Behörden einige Details zu geben, denn wenn die das Gefühl bekämen, dass er nicht kooperierte … Man würde wohl alle seine Telefonate abhören, na prächtig! Nun würde er sich doch noch eine ausländische Prepaid-SIM-Karte ohne Registrierungspflicht zulegen müssen, wie Gerhard vom Feuilleton ihm schon vor ein oder zwei Jahren geraten hatte, nur dann konnte er halbwegs sicher sein, dass er vertrauliche Gespräche mit potenziellen oder echten Informanten führen konnte und dass die tatsächlich auch vertraulich blieben. Herrje! Aber bei solch extremen Sicherheitsvorkehrungen, was würde er der Polizei denn liefern können? Die Kontaktaufnahme und die ersten Anweisungen waren über eine Zehn-Minuten-E-Mail-Adresse übermittelt worden. Inga und er waren zum angegebenen Ort marschiert, einer Bushaltestelle am Bürgerhaus Unterföhring, wo pünktlich zur angegebenen Zeit ein Lieferwagen gehalten hatte; sie hatten, wie befohlen, die Seitentür aufgemacht, waren in den Laderaum geklettert und hatten die Tür hinter sich geschlossen. Was war das gleich wieder für eine Beschriftung auf dem Fahrzeug gewesen? War da überhaupt eine gewesen? Edgar erinnerte sich nur, dass das Fahrzeug wahrscheinlich ein Ford Transit war mit anthrazitfarbener Lackierung. Im Inneren des Laderaums hatte sich nichts außer zwei provisorisch montierten Autositzen und ein Wäschekorb befunden. Nach vorne, in die Fahrerkabine, konnte man nicht sehen, ebenso wenig gab es Heck- oder Seitenfenster. Im Wäschekorb hatten zwei Kimonos und eine weitere schriftliche Anweisung gelegen: „Wagentüre zu und alles ausziehen, auch die Schuhe, Socken und Unterwäsche! Legen Sie Ihre Kleidung zusammen mit allem, was Sie bei sich tragen, in den Korb und ziehen Sie sich stattdessen die Kimonos an. Sie werden alles wiedererhalten, sofern wir keine Dinge bei Ihnen finden, die gegen unsere ausdrücklichen Anweisungen verstoßen. Wenn Sie Schamgefühle empfinden, können Sie gern das Deckenlicht ausschalten und sich in völliger Dunkelheit umziehen. Anschließend stellen Sie den Wäschekorb direkt vor der Schiebetür ab, setzen sich und schnallen sich an! Wir wünschen eine gute Reise!“

Wir wünschen eine gute Reise … also wirklich! Keine zehn Minuten, nachdem sie alle Anweisungen ausgeführt hatten, hatte der Wagen angehalten, die Seitentür war etwas geöffnet und der Wäschekorb herausgeholt worden. Dann waren sie weitergefahren. Das war bis jetzt alles, was er der Polizei erzählen konnte, nicht allzu viel Verwertbares. Der Wald, in dem sie das Fahrzeug gewechselt hatten, das war einfach nur Wald. Mischwald, wie er kurz wahrgenommen hatte, bevor er die Maske hatte überziehen müssen. Irgendwo im Nirgendwo.

Momentan bewegten sie sich in einer eher urbanen Umgebung, man hörte rundherum pausenlos Autos fahren, es wurde gehupt, häufig abgebremst. Sahen die anderen Autofahrer oder die Passanten denn nicht, dass den Passagieren im Fonds die Köpfe verhüllt worden waren? So etwas musste doch auffallen! Ach, vermutlich waren die Fenster dermaßen verdunkelt, dass man nicht ins Fahrzeuginnere blicken konnte. Der Wagen fuhr mehrere Kurven, der Verkehr rund herum nahm mit der Zeit wieder deutlich ab und verstummte schließlich ganz. Das könnte für ein stillgelegtes Industriegelände sprechen oder für eine Wohngegend in exklusiver Lage. Wo mochten sie wohl sein?

Plötzlich ging es bergab, es rumpelte, die Fahrgeräusche wurden von Betonwänden zurückgeworfen. Sie befanden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Tiefgarage. Kurz darauf kam der Wagen zum Stillstand, die Türen wurden geöffnet und man führte sie an der Hand über eiskalten Betonboden in einen Flur. Ein Summen verriet Edgar, dass sie auf einen Lift warteten. Okay, also ein stillgelegtes Industriegebiet fiel schon mal aus, denn um einen Lift in Betrieb zu halten, bräuchte es schon mehr als ein Notstromaggregat und wenn in einem stillgelegten Industriegebiet eine Menge Strom verbraucht wurde, musste das irgendjemandem auffallen. Eine exklusive Wohngegend kam wohl auch nicht in Betracht, denn nur wenige der Prachtvillen, in die er je eingeladen gewesen war, waren mit einem Lift ausgestattet gewesen. Es ging einige Sekunden lang nach oben, dann wurden sie hinausgeführt, um eine Ecke herum und in einen Raum, in dem alle Geräusche irgendwie gedämpft klangen und auf dessen Boden es sich angenehm weich lief.

„Sie können jetzt die Gesichtsverhüllung abnehmen“, sagte die Frauenstimme aus dem Auto. Edgar ließ sich das nicht zweimal sagen. Der Raum, in dem sie jetzt standen, war vollkommen schwarz verhüllt. Schwere, schwarze Stoffbahnen liefen unter der Decke entlang und die Wände herab bis zum Boden, der mit einem ebenfalls schwarzen, plüschigen Teppichboden ausgelegt war. Die Beleuchtung war schummrig und indirekt, an Mobiliar gab es ein paar Sofas an der Wand, schwarz natürlich, und einen großen Mahagoni-Schreibtisch etwa in der Mitte des wohl 25 Quadratmeter großen, quadratischen Raums. Außerdem hing in einer der gegenüber liegenden Zimmerecken ein großer Flachbildmonitor von der Decke, ein weiterer Monitor stand – ihnen abgewandt – auf dem Schreibtisch. Hinter dem Schreibtisch gewahrte er einen breiten, momentan leeren Bürostuhl, vor diesem standen zwei Sessel.

„Nehmen Sie hier auf dem Sofa Platz und warten Sie! Sobald der Huángdì eintrifft, stehen Sie auf und verbeugen sich höflich. In Ihrem eigenen Interesse vermeiden Sie es unbedingt, ihn mit Äußerungen oder Gesten auch nur im Geringsten zu provozieren. Falls Sie sich nicht im Griff haben, kann ich für nichts garantieren. Sie werden das hier unterschreiben, ansonsten ist das Interview beendet, noch bevor es begonnen hat. Noch irgendwelche Fragen?“

Edgar sah die Sprecherin an. Sie trug eine Maske (schwarz, natürlich …), welche Augen und Nase verdeckte, hatte wallendes, blondes Haar und war, wie auch der mit einer Pistole bewaffnete, ebenfalls maskierte Mann hinter ihr, mit schwarzer Jeans und weißem T-Shirt bekleidet.

„Ja, durchaus“, sagte Edgar. „Als erstes tut es mir leid, das mit der Armbanduhr. Ich hatte ganz übersehen, dass Sie solche Gadgets nicht mögen, die Macht der Gewohnheit, verstehen Sie, und …“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Vergeben und vergessen. Wir haben sie gleich aus dem Autofenster geworfen.“

„Wie bitte? Sie können doch nicht …“

„Ganz ruhig, Brauner! Sie haben schließlich gegen die Anweisungen verstoßen und ich finde, Sie sind noch ziemlich glimpflich damit davongekommen. Oder finden Sie nicht? Sie können sich ja beim Boss beschweren, aber ich würde das an Ihrer Stelle nicht tun, er hasst es nämlich, mit lächerlichen Nichtigkeiten konfrontiert zu werden.“

„Und wie haben Sie sich vorgestellt, dass ich das Interview aufzeichnen soll? Ich durfte ja kein Diktiergerät mitnehmen. Bekommen wir wenigstens Papier und Stift?“

„Sie werden sich den Gesprächsinhalt schon merken müssen. Immerhin sind Sie zu zweit und können das Gespräch hinterher sicherlich zu mindestens 99 Prozent rekapitulieren. War es das?“

„Ähm, fast. Nun, ich, ähm, müsste mal. Sehen Sie, im Lieferwagen war es doch recht kalt und nur mit einem Kimono, also, meine Blase …“

„Sie wollen aufs Klo?“

„J-a!“

„Na prächtig! Sie auch, Frau Erdem?“

„Nein, danke, es geht noch.“

„Na gut, Herr Huber, hier, setzen Sie die Gesichtsverhüllung wieder auf und kommen Sie mit!“

Der Toilettenraum war einfach, wenn auch vornehm, doch gab es auch hier keinerlei Details zu erkennen, die der Polizei weiterhelfen konnten. Edgar hatte auf ein Fenster gehofft, durch das man vielleicht Details der Umgebung erkennen konnte, doch sah diese Hoffnung sich getrogen. Edgar wusch sich die Hände. Jetzt würde es dann gleich losgehen. Herrje, worauf hatte er sich da nur eingelassen? Im Spiegel überprüfte er den äußerlichen Eindruck, den er machte. Der Kimono stand ihm ausgezeichnet, fand er. Er hatte befürchtet, dass er feminin darin aussehen würde, doch das war nicht der Fall. An solch ein Kleidungsstück konnte man sich glatt gewöhnen, vor allem das Gefühl von edler Seide auf nackter Haut, das hatte schon etwas. Selbst sein Bauchansatz wurde durch dieses Kleidungsstück ziemlich gut kaschiert. Mit Fingern und etwas Wasser brachte er seine Haare in Ordnung, die im vollen „Braun“ standen und ihm über die halbe Stirn fielen. Gut, dass er sie vorgestern noch einmal nachgefärbt hatte, etwas, was er einmal pro Woche machen musste, wenn er nicht wollte, dass jemandem der graue Originalfarbton des nachwachsenden Haars auffiel. Nur an den Falten im Gesicht sah man ihm das Alter an. Das Kinn war kräftig und spitz und vermittelte (hoffentlich) Willens- und Durchsetzungsstärke, nur die etwas kleine Knubbelnase mochte diesen Eindruck etwas relativieren. Aber, nachdem der augenblickliche deutsche Bundeskanzler ziemlich dasselbe Modell spazieren trug … Er reckte sein Kinn noch einmal in alle Richtungen und beobachtete sich dabei. Dann zog er sich den Sack wieder über den Kopf und öffnete die Tür.

Showtime!

2 – Kommunikationsraum

Wie angewiesen, saßen Inga und Edgar auf dem schwarzen Sofa neben der Tür. Nur noch wenige Minuten und sie wären mit dem berüchtigtsten Gangster von ganz Europa allein in einem Raum, auf der einen Seite quasi nackte Reporter ohne auch nur das kleinste bisschen Handwerkszeug, auf der anderen Seite ein Mann, wahrscheinlich bewaffnet, der dafür bekannt war, mit einer Geste seiner Hand zu töten, wenn ihm die Nase seines Gegenübers nicht gefiel. Ja, es gab schon einen Grund dafür, dass Edgar seine Nervosität so intensiv fühlte, ach was, noch weitaus intensiver fühlte als vor seiner allerersten Präsentation in einer Redaktionskonferenz. Inga schien sich gefangen zu haben, sie wirkte ruhig und aufgeräumt.

„Hier, vergessen Sie nicht, das hier zu unterschreiben.“ Die Blonde reichte Inga ein Klemmbrett samt Kugelschreiber. Edgar beugte sich zu ihr, um das darauf festgeklemmte Papier lesen zu können. „Haftungsfreistellung“ stand in der Überschrift. Edgar hatte darauf verzichtet, Lesebrille oder Kontaktlinsen mitzunehmen, also kniff er die Augen zusammen, um den Text erkennen zu können. Da stand etwas von „freiwillig“, von „sich der Gefahr bewusst“, von „provokanten Fragen“ und von „Todesfolge“. Hatte der Typ ein Rad ab? Sollte er dem „Monster“ etwa einen Freibrief ausstellen, sie umzubringen, wenn er eine Frage stellte, die der Herr missbilligte? Also, das war doch die Höhe! Doch bevor er Inga seine Ansicht dazu mitteilen konnte, hatte sie schon den Stift genommen und an der vorgesehenen gepunkteten Linie unterschrieben.

Sie lächelte ihn mit einem ihrer jedermann entwaffnenden Lächeln an. „Wer A sagt, muss auch B sagen. Ist nichts Anderes als das, was du in jedem Krankenhaus vor einer Operation unterschreiben musst.“

„Na, du bist gut …“

„Jetzt mach schon, ich will das hier hinter mich bekommen.“

Edgar riss ungläubig die Augen auf, schluckte und setzte dann seine Unterschrift auf die andere Linie. Hoffentlich würde Ingas Lächeln im Notfall auch beim „Monster“ entwaffnend wirken. Die blonde Maskierte nahm das Klemmbrett mit einem hämischen Grinsen an sich, sie verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Jetzt war es richtig dunkel hier drinnen. Das wenige Licht schien von Lampen, die unten an den Zimmerwänden entlang in den Boden eingelassen waren, zu kommen und, da es im Wesentlichen schwarzen Stoff anleuchtete, nicht wirklich Helligkeit zu spenden.

„Du wirkst ziemlich ruhig“, raunte Edgar Inga zu.

„Dein Argument war ziemlich überzeugend“, entgegnete sie. „Dieser Huángdì will etwas von uns. Der ganze Aufwand, den er betrieben hat, wäre doch völlig für die Katz, wenn er uns nicht wieder unversehrt gehen lassen würde.“

„Wozu dann diese Haftungsfreistellung? Ich muss schon sagen, so etwas ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht untergekommen.“

„Er will sich halt absichern in seiner sehr speziellen Position. Stell dir vor, er bietet dir etwas zu Essen an, du verschluckst dich vor lauter Nervosität, erstickst und das in der Gegenwart eines der meistgesuchten Männer Europas. Das würde man ihm doch sofort als Mord anlasten, oder? Mach dir keine Gedanken, wir ziehen das jetzt durch und fertig.“

„Deine Nerven möchte ich haben. Und ich dachte, ich wäre der coolere von uns beiden.“

Inga grinste ein wenig. „Danke. Was willst du ihn denn alles fragen?“

Edgar stieß ein undefinierbares Geräusch aus. „Weißt du, Inga, ich habe nicht das Gefühl, dass das in unserer Hand liegt. Erst mal müssen wir wohl herausfinden, welche Art von Fragen überhaupt als zulässig erachtet werden beziehungsweise nicht als provokant aufgefasst werden. Also, ich werde ihn nicht danach fragen, wie viele Leute er in seinem Leben schon umgenietet hat – oder umnieten hat lassen –, denn ich habe durchaus Lust, mein Leben noch ein klein wenig weiterzuleben. Ich denke auch nicht, dass der ‚Boss‘ davon ausgeht, dass wir in dem Interview heute alles das, was er mitteilen möchte, erschlagen können. Aber wir werden sehen.“

„Was denkst du denn, was er von uns will?“

„Was will jemand schon von der Presse? Seine Sicht der Dinge unter die Leute bringen, natürlich. Gut in der Öffentlichkeit dastehen, eine Imageverbesserung. Werbung für ein Projekt. Das Übliche halt. Aber was es auch sein mag, es ist nichts Triviales, für eine Verlobungsanzeige hätte er sich auch an einen x-beliebigen Redakteur oder an die Anzeigenabteilung wenden können. Nein, da steckt irgendetwas Ungewöhnliches dahinter und das Ergebnis soll sicher kein 20-Zeiler werden.“

„Hm, ja, klingt nicht unplausibel, was du sagst. Schau mal, ich glaube, der Bildschirm in der Ecke wurde soeben eingeschaltet.“

Edgar folgte ihrem Zeigefinger, in der Tat hatte der Bildschirm, der an der Decke befestigt war, nun einen etwas erhellten Rand, ein Bild wurde allerdings noch nicht angezeigt. Dafür drang düstere, unheilvoll anmutende Musik nun aus den Lautsprechern des Geräts, Musik, die ihn an das Darth Vader-Thema aus Star Wars erinnerte. Nicht unpassend.

„Das ist ‚Mars‘ aus der Planeten-Suite von Gustav Holst“, flüsterte Inga ihm zu. Etwa eine Minute lang steigerte sich die Dynamik der Musik, dann wurde eine überdimensionierte Schlagzeile angezeigt, unverkennbar vom übelsten Hetzblatt, das die deutsche Presselandschaft jemals hervorgebracht hat: „Das MONSTER in Deutschland!“. Weitere Schlagzeilen wurden im Takt der martialischen Musik eingeblendet: „Organisiertes Verbrechen immer mehr ein Problem“, „Geisteskranker Massenmörder in Frankfurt vermutet“, „Ist die Polizei gegen das Monster machtlos?“, „Staatsversagen: Schaden durch organisierte Kriminalität erreicht neuen Höchststand“, „Das Monster: Es tötet allein mit Willenskraft“ und viele andere mehr, darunter diverse in vielen anderen europäischen Sprachen. Nach vier Minuten wurde die Musik langsam ausgeblendet und vor einem grünen Hintergrund erschienen die Worte „Das ‚Monster‘ – Wer ist das? Was will es? Was wissen wir über es?“

Inga zwickte Edgar in den Arm. Er blickte sie an und sie nickte in Richtung Schreibtisch. Dahinter saß nun eine Gestalt, nein, weniger als eine Gestalt, ein Schatten. Keine Ahnung, wann und wie der Typ den Raum betreten und sich hingesetzt hatte, aber der wusste aber jedenfalls, wie man theatralisch auftrat. Von hinten wurde er jetzt von Lichtern angestrahlt, die seiner Figur einen leuchtenden Halo verliehen und gleichzeitig seine komplette Vorderfront in tiefe Schatten hüllten. Völlig unbeweglich saß er am Schreibtisch, genauso gut konnte es sich um eine Statue handeln.

Inga zwickte Edgar ein weiteres Mal; sie stand auf, Edgar beeilte sich, es ihr nachzutun. Höflich verbeugten beide sich, Edgar bemühte sich allerdings, seinen Bückling sehr moderat ausfallen zu lassen. Zu seiner Überraschung erhob sich auch der Schatten hinter dem Schreibtisch und verbeugte sich ebenfalls. Jetzt war zu erkennen, dass der Kopf völlig von einem schwarzen Stoff eingehüllt war, in den zwei große Löcher für die Augen und viele kleinere um die Mundpartie herum geschnitten worden waren. Dann wies der Mann völlig geräuschlos mit einer in der Dunkelheit kaum erkennbaren Geste auf die beiden Sessel, die vor dem Schreibtisch standen und sprach sehr leise in nahezu akzentfreiem Deutsch mit überraschend jugendlich klingender Stimme: „Kommen Sie doch bitte ein bisschen näher, dann müssen wir unsere Stimmbänder nicht ganz so stark strapazieren.“

Edgar und Inga blickten einander an, dann setzten sie sich in die ausgesprochen bequemen Sessel vor dem Schreibtisch. Edgar konnte nicht umhin, zu bemerken, dass sie beide nun deutlich tiefer saßen als das „Monster“, also zu ihm aufblicken mussten. Spätestens, seit Charlie Chaplin sich darüber in der berühmten Zwei-Stühle-Szene im Großen Diktator lustig gemacht hatte, war allgemein bekannt, dass mit dem Höhenunterschied unterbewusst ein psychologischer Effekt erzielt wurde, der das höher sitzende Gegenüber als quasi überlegen erscheinen ließ. Billige Taschenspielertricks! Mehr hatte der Kerl nicht drauf?

„Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht, dass ich Sie psychologisch beeinflussen möchte, indem ich Sie so deutlich tiefer Platz nehmen ließ als mich selbst, aber ich habe wirklich nur Ihre Bequemlichkeit im Sinn, während ich selbst mich mit Sesseln einfach nicht anfreunden kann“, bemerkte der Huángdì. „Das liegt wahrscheinlich an meinen sehr stark ausgeprägten Fluchtreflexen. Darf ich Ihnen eine kleine Erfrischung anbieten, ein paar Häppchen oder etwas zu trinken?“

Edgar musste zugeben, dass er beeindruckt war. Der Kerl war tatsächlich nicht zu unterschätzen, er spielte quasi mit ihnen wie eine Katze mit einer Maus, suggerierte ihnen auf sehr subtile Weise die Gedanken, von denen er wollte, dass sie sie denken. Das war genial, so wusste der Kerl stets, was in ihrem Kopf gerade vorging, und war ihnen somit einen Schritt voraus. „Nein, für mich nicht, bitte, ich trinke zwar gern mal einen Schluck, doch würde ich es als unhöflich ansehen, wenn Sie als unser Gastgeber nicht mittrinken würden.“

„Oh, ein Mann von Welt, sehr schön. Und Sie, Frau Erdem?“

„Auch nichts, danke vielmals.“

„Nun gut. Wie war Ihre Reise hierher? Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht zu viel Ungemach zugemutet habe?“

„Nein, nein, schon gut“, antwortete Edgar. „Wir verstehen durchaus, dass Sicherheit für jemanden wie Sie alleroberste Priorität hat und, wie Sie sehen, sind wir bereit, das zu respektieren und zu akzeptieren.“

„Jemand … wie ich? Was meinen Sie damit?“

„Nun, Sie sind doch … wohl, äh, der Mann, der allgemein als ‚das Monster‘ tituliert wird, polizeilich gesuchter Anführer einer mutmaßlich kriminellen Vereinigung. Sie selbst haben uns das mit Ihrem kleinen Film ja soeben eindringlich vorgeführt.“

„Nein, da muss ich widersprechen, das habe ich nicht, nicht meines Wissens, jedenfalls. Was ich Ihnen gezeigt habe, war nicht, wer ich bin, das war vielmehr das Bild, das die Welt sich von mir gemacht hat, ohne etwas über mich und meine Hintergründe zu wissen, ein Bild, das allein aus diesem Grund schon keine Wiedergabe der Realität sein kann.“

„Ah, ich verstehe. Das ist der Grund, warum wir hier sind.“