Secrets of the Ne‘arin - Ulrich Seibert - E-Book

Secrets of the Ne‘arin E-Book

Ulrich Seibert

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Beschreibung

Bei einem Routinebesuch in der Cheopspyramide empfängt die Ägyptologin Irina Markovna die Vision einer bisher unbekannten Kammer. Mit deren Öffnung wird unbeabsichtigt ein uralter Friedenspakt gebrochen, der zwischen den alten Ägyptern und dem Volk der „Toten“, einer unterirdischen Zivilisation, geschlossen wurde. Dies rächt sich blutig. Um mit den „Toten“ zu verhandeln und den Frieden wiederherzustellen, betritt Irina mit einem Expeditionsteam das unterirdische Reich. Doch das amerikanische Militär hat radikale Pläne und die Zeit wird knapp.

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Totenreich
Impressum
Autorin Angela Fleischer
Autor Ulrich Seibert
Inhalt
Widmungen
Ra / Re
Sachmet / Sechmet
Kek
Thot
Seth
Pachet
Bastet
Tjenemit
Weneg
Geb
Anubis
Selket / Serqet
Menhit
Seschat
Maat
Ptah
Neith
Hathor
Amenti
Sefegiru
Isfet
Nut
Ammit
Apophis / Apep(i)
Cherti
Mafed / Behedeti
Mehen
Osiris
Upuaut
Isis
Wadj-Wer
Danksagung
Danksagung
Glossar

Angela Fleischer • Ulrich Seibert

Totenreich

Secrets of the Ne’arin

Band 1

Impressum

Ausführliche Information zu Autoren und Bücher finden Sie auf www.JustTales.de

Mystery-Abenteuer von

Angela Fleischer und Ulrich Seibert

2. Auflage Oktober 2022

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

JustTales Verlag, Bremen

Geschäftsführer Andreas Eisermann

Copyright © 2019 JustTales Verlag

An diesem Buch haben mitgewirkt:

Lektorat/Korrektorat: Astrid D. Rahlfs

Einbandgestaltung: Hannah Böving

Buchillustration: Ulrich Seibert

Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Media GmbH

Hardcover (ISBN 978-3-947221-36-3)

Taschenbuch ( ISBN 978-3-947221-32-5)

E-Book ( ISBN 978-3-947221-33-2)

Autorin Angela Fleischer

Bereits früh zog es Angela Fleischer zur Fantasy und Science Fiction. Die Österreicherin mit einem Master in Chemie, die u. a. auch ihre Kosmetika selbst herstellt, schreibt seit dem 15. Lebensjahr. Dabei ist sie ihrer Leidenschaft für das Fantastische treu geblieben. Im Jahr 2012 wurden zwei ihrer Romane verlegt, weitere Kurzgeschichten finden sich in diversen Anthologien. Entspannung findet sie in der Musik, Filmen und der Gartenarbeit, bei der sie ihre Kreativität mit ihrem Beruf wunderbar vereinen kann.

Autor Ulrich Seibert

Der weit gereiste Betriebswirt begann seine berufliche Arbeit in der Musikbranche. Über gelegentliche Lektorate und Mitwirkungen bei Hörbuch-Produktionen führte ihn sein Weg als freier Mitarbeiter zum Handelsverband Bayern und als Dozent an die Akademie Handel. Seine Tätigkeiten brachten es mit sich, dass er begann, Texte für Lehrwerke zu verfassen, seit 2010 auch eigene belletristische Werke. Wenn seine Arbeit und sein politisches Engagement es zulassen, fährt er Rad, spielt in Hard Rock und Classic Rock Bands oder reist um die Welt.

Inhalt

Bei einem Routinebesuch in der Cheopspyramide empfängt die Ägyptologin Irina Markovna die Vision einer bisher unbekannten Kammer. Mit deren Öffnung wird unbeabsichtigt ein uralter Friedenspakt gebrochen, der zwischen den alten Ägyptern und dem Volk der »Toten«, einer unterirdischen Zivilisation, geschlossen wurde. Dies rächt sich blutig. Um mit den »Toten« zu verhandeln und den Frieden wiederherzustellen, betritt Irina mit einem Expeditionsteam das unterirdische Reich. Doch das amerikanische Militär hat radikale Pläne und die Zeit wird knapp.

Widmungen

Für Margot

Lieber Leser!

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Der JustTales Verlag dankt für den Kauf dieses Printexemplars.

In Zeiten der Digitalisierung fällt es kleinen Sortimentsbuchhandlungen immer schwerer, Ihnen eine Vielfalt an Büchern zu präsentieren. Daher freuen wir uns, dass Sie mit dem Kauf eines Print-Exemplars den Deutschen Buchhandel unterstützt haben und wünschen Ihnen ebenso viel Freude beim Lesen, wie wir sie hatten bei dem Erstellen des Buches.

Ihr Team vom JustTales Verlag

Ra / Re

Sonnengott,

Vater aller Götter

Kapitel 1

Der Pharao schließt die Augen und lässt die Gedanken von dem gleichmäßigen Rhythmus der Ruderer seiner königlichen Barke forttragen. Das Rauschen des Nils dämpft seine Ruhelosigkeit und hilft ihm dabei, ein wenig Entspannung zu finden und sich für kurze Zeit von der fiebrigen Nervosität freizumachen, die ein Tag wie dieser mit sich bringt.

Ja, der heutige Tag wird ein großer Tag werden. Nie zuvor ist etwas Größeres und Großartigeres von Menschen oder Göttern geschaffen worden. Dieser Tag wird Generationen von Ägyptern bis in alle Ewigkeit in Erinnerung bleiben. An diesem Tag wird ein leibhaftiger Gott vom Himmel steigen und seine segensreiche Kraft für das Wohl Ägyptens spenden. Dieser Tag wird den Start in ein neues Zeitalter markieren, in eine Ära, die für Ägypten Reichtum und Macht bedeuten wird. Auf diesen Tag hat er beinahe sein ganzes Leben lang gewartet, seit jenem Tag, an dem sein Adoptivvater, der legendäre General Snofru, die entsprechenden Befehle erteilt hat, während er, Chnum-Chuf, damals noch ein kleiner Junge, auf dessen Schoss gesessen und sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als eines Tages auch ein so mächtiger Pharao zu werden – ein Pharao, dessen Namen die Menschen nie, nie, nie vergessen würden.

Ja, eigentlich wäre dies der große Tag Snofrus gewesen, aber dieser hatte bereits damals geahnt, dass die Wahrscheinlichkeit, die Vollendung des großen Werkes noch selbst miterleben zu können, ausgesprochen gering war.

Somit hat er selbst, Chnum-Chuf, dieses Ereignis streng genommen geerbt, zusammen mit dem Titel des Pharaos. Dennoch wird es auf ewig mit der Vielzahl seiner eigenen Namen in Verbindung gebracht werden:

- Medjed – der die Feinde zerdrückt

- Bikui-Nebu – Gold der zwei Falken – oder

- Khufu – der mich beschützt.

Er öffnet die Augen und sieht über sich den weißen Stoffbaldachin, der sich im Fahrtwind kräuselt. Die Nachtluft weht sanft und kühl durch die Papyruswände der königlichen Barke ‚Großes Haus der Rechtsprechung‘ und lässt ihn leicht frösteln. Oder ist es weniger die kühle Luft als vielmehr die Nervosität? Wird Ra das größte Opfer aller Zeiten gnädig annehmen? Oder ist es die schier unerträgliche Vorfreude darauf, das vollendete Werk zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen? Er hatte sich bewusst seit Monaten nicht mehr zur Baustelle begeben, um sich die Magie des ersten Anblicks für diesen großen Moment aufzuheben.

Draußen wird ein Befehl gebrüllt und das gleichmäßige Eintauchen der Ruder hört auf. Das Wasser gurgelt beruhigend unter dem Rumpf der vergoldeten Barke. Der Vorhang am Eingang wird von einem muskulösen Arm zur Seite geschoben und der Kopf Rasis, des Hauptmanns der königlichen Leibwache, beugt sich herein. »Oh König Medjed-er-Nebti, wir sind angekommen.«

Der Pharao nickt und erhebt sich gemächlich von seinem Diwan. Er nimmt die weiß-rote Pschent, die Doppelkrone, Zeichen der Herrschaft über Ober- und Unterägypten, vom Kopf seiner Büste, setzt sie sich auf und wartet. Die Schritte schwerer Lederstiefel auf einem hölzernen Anlegesteg hallen über das Wasser. Weitere Befehle werden gerufen und Sekunden später wird der Vorhang zur Seite gezogen. Mit einem sanften Ruck kommt die Barke zum Stehen und Khufu tritt hinaus in eine sternklare Nacht, die in Kürze dem Gott Ra wird weichen müssen.

Üblicherweise empfängt ihn gemäß Protokoll der Jubel aus hunderten von Kehlen, doch nicht heute. Heute ist alles anders. Er gestattet sich einen kurzen Blick auf seine mit Speeren bewaffnete Garde und Hunderte, die trotz der nächtlichen Kühle beinahe nackt sind und seine Ankunft erwarten. Strammen Schrittes folgt er, an dem Spalier seiner Leibwächter vorbei, der kurzen, breiten Straße zum Taltempel am Ufer des Nils. Auch diesen Bau hatte sein Adoptivvater in Auftrag gegeben und noch war er nicht vollendet - im Gegensatz zu dem Bauwerk Achet Khufu, das heute dem Schutz des Ra anempfohlen wird.

Das vergoldete Tor aus Zedernholz öffnet sich wie von Zauberhand und seine Leibgarde bleibt zurück, während er allein den großen Hof betritt, in dem die Priester bereits auf dem Boden liegen, um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen. Er winkt und einer von ihnen erhebt sich, um eine weitere Tür zu öffnen. Khufu steigt, ohne zu zögern, die von Fackeln erleuchteten Stufen im Inneren nach oben, in ehrfurchtsvollem Abstand gefolgt von dem schweigenden Priester. Nach kurzer Zeit erreichen sie das Dach und folgen seinem Verlauf bis zu einem Podest, das am westlichen Ende des Tempels für ihn errichtet worden ist. Khufu dreht sich um. Im Osten hat der Himmel bereits begonnen, sich rot zu verfärben und wie schon seit Äonen die Ankunft Ras anzukündigen. Es ist allerhöchste Zeit. Er erklimmt das Podest und zwingt sich, die Augen nicht auf das großartige Bauwerk vor ihm, sondern auf die Menschenmasse zu seinen Füßen zu richten. Zehntausende sind hier versammelt: sein Volk, seine Arbeiter, seine Schutzbefohlenen. Viele, beinahe zu viele Opfer hat er ihnen gnadenlos abverlangt, doch heute … ja, heute würden sie erkennen, dass diese nicht vergeblich waren. Er hat absolute Stille befohlen bis zu dem Zeitpunkt, an dem der erwartete Gott seine Entscheidung treffen würde. Und dem Befehl wird uneingeschränkt Folge geleistet. Oberpriester Remanastis hatte Recht behalten: Das tiefe Schweigen erzeugt eine weitaus feierlichere Stimmung als vorzeitiger, lauter Jubel dies vermocht hätte.

Er hält sich an dem Geländer vor sich fest und richtet den Blick nach vorne, auf den mächtigen Schatten von Achet Khufu, der größten und prächtigsten Pyramide, die je erbaut worden ist, unter dem Schutz des größten Sphinx-Monuments, das je errichtet worden ist. Ein Schauer durchläuft seinen Körper, als der Himmel dahinter weiter aufhellt und die Dunkelheit vor sich hertreibt wie ein Ziegenhirte seine Herde. Nur die Baustelle der noch unfertigen Königinnen-Pyramide stört den Eindruck der Perfektion.

Er dreht sich nach Osten um, lässt sich auf die Knie fallen, breitet die Arme auf dem Holzboden des Podests aus und senkt den Kopf, bis seine breite Stirn samt der Doppelkrone ebenfalls den Boden berührt. Ein Rauschen weit unter ihm signalisiert ihm, dass sein Volk es ihm gleichtut.

Er wartet geduldig. Schließlich erkennt er an der Veränderung des Lichts, dass Ra sich aus dem Schoß der Erde erhebt, mächtig, gleißend, eine unerschöpfliche Quelle des Lebens und des Todes, gnädig und erbarmungslos zugleich, ein Widerspruch, den zu leben nur ein Gott, nur der höchste Gott, imstande ist.

Er verharrt in seiner Position, bis er den milden Gruß der Wärme Ras auf seinem Rücken fühlt und erhebt sich demütig. Die Menschen unter ihm kauern im Schatten des Tempels. Er breitet die Arme aus, schließt die Augen und genießt die Wärme des neuen Tages.

Nach einigen Sekunden dreht er sich um und blickt auf die Pyramide vor sich, die noch bis spät in die Nacht von den Arbeitern vom letzten Sand der mächtigen Baurampe befreit worden ist. Sie leuchtet rosa und hat eine dunkel-glänzende Spitze, den Ben-benet. Ihre Größe und die Form, deren Perfektion kein geringeres Eigenschaftswort als ‚göttlich‘ verdient, überwältigen ihn und treiben ihm die Tränen in die Augen.

Diese Pyramide macht ihn, ihren Bauherren, zum Bruder der Götter, sie macht ihn unsterblich.

Die Sonne steigt unaufhörlich höher und die Kalksteinverkleidung ändert ihre Farbe langsam von rosa zu weiß. Seine Astronomen hatten ihm verkündet, dass es wohl beinahe bis zur Mittagszeit dauern würde, bis klar sein würde, ob Ra das Opfer annehmen und sich auf der metallenen Spitze der Pyramide niederlassen würde. So lange heißt es, geduldig auszuharren. Niemand drängt einen so mächtigen Gott, noch nicht einmal ein Pharao. Er lässt die Arme herabsinken und beobachtet das Schauspiel des Sonnenaufgangs. Eine Stunde vergeht … eine weitere … und noch eine. Die Hitze nimmt zu und wird beinahe unerträglich. Schweiß rinnt von seiner Doppelkrone herunter und droht, die Schminke auf seinem Gesicht verlaufen zu lassen. Doch heute wird er sich nicht unter seinen schattigen Baldachin zurückziehen, nicht heute. Ra soll ihn, seinen untertänigsten Diener, sehen können, ihn, der einem Gott das größte Geschenk aller Zeiten darbietet. Es fällt ihm schwer, die Pyramide anzublicken, denn die helle Kalksteinverkleidung blendet ihn. Nur die Spitze schimmert dunkelgolden. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Ra nimmt sich Zeit, sein Geschenk zu prüfen.

Doch plötzlich tut sich etwas auf der Spitze der Pyramide. Wie ein Funke von einem Feuerstein blitzt plötzlich ein heller Schein auf. Durch seine Wimpern blinzelt der Pharao hinauf. Ra nimmt sein Opfer an! Er setzt sich quasi auf die Pyramide und nimmt sie in Besitz! Zum ersten Mal in ihrer Geschichte werden die Ägypter zwei Sonnen am Himmel stehen sehen, eine hoch oben am Himmel und eine auf der Spitze der neuen Pyramide.

Khufu füllt seine Lungen mit Luft und ruft so laut er kann: »Raaaaa!«

Die Menschen unter ihm erheben sich und blicken nun ihrerseits auf das Wunder aus Stein und Gold. Ein aufgeregtes Murmeln setzt ein und Khufu ruft den Vater der Götter ein zweites Mal an.

Dieses Mal greift ein Chor von abertausenden dröhnenden Stimmen den Namen des Gottes auf. Tausende bunte Fahnen und Wimpel werden geschwenkt und vielstimmiger Jubel brandet ohrenbetäubend zu ihm hoch. Das große Werk, an dem über dreißig Sommer lang gebaut worden ist, ist vollendet. Ra hat ihm seinen Segen erteilt. Jetzt – endlich – kann Khufu sich entspannen, denn die in der Pyramide verschlossenen Geheimnisse werden für alle Zeiten sicher verwahrt bleiben …

»Zumindest dachte Khufu das, welchen die meisten heutzutage als Pharao Cheops bezeichnen würden«, beendete Irina Markovna die Erzählung von den Ereignissen, die damals im alten Ägypten in dieser oder ähnlicher Art und Weise stattgefunden haben mochten. Sie lächelte. »Er konnte sich natürlich nicht vorstellen, wie einfallsreich und auch verzweifelt die Grabräuber einmal agieren würden. Ausgerechnet die Königskammer, in der er selbst lag, wurde nämlich schon im Mittelalter geplündert. Keiner weiß, welche Schätze sich dort einst befunden haben könnten. Trotzdem verbirgt diese Pyramide, dieses Grab, noch Geheimnisse, die niemandem bekannt sind, davon bin ich fest überzeugt.« Die zehn Studenten, die zusammengezwängt auf den Stufen der sogenannten Großen Galerie der Pyramide standen, musterten die Ägyptologin voller Neugierde. Die Ereignisse von damals so plastisch zu schildern, fast wie ein Film, der sich vor ihrem inneren Auge abspielte, war eine ungewöhnliche Unterrichtsmethode. Üblicherweise mussten Ägyptologen ihre eigene Vorstellungskraft anstrengen, um sich ein Bild von den damaligen Verhältnissen zu machen.

Einer der Studenten mit kurzem, karottenrotem Haar meldete sich zu Wort.

»Ich frage mich immer, wie es den Arbeitern möglich war, den Ben-benet so präzise oben auf der Pyramide anzubringen. Man konnte ja schlecht einen Kran auf der Pyramide aufsetzen, oder?« Irina lächelte.

»Über den Ben-benet, also den Schlussstein, der die oberste Spitze der Pyramide bildete, ranken sich viele Legenden. Wie man ihn konkret dort platziert hat, ist nicht hundertprozentig geklärt. Man hat ihn entweder auf dem gleichen Weg nach oben gebracht, wie all das andere Baumaterial auch, also über gewaltige Sandrampen. Mehrheitlich wird heute aber die Ansicht vertreten, dass der Ben-benet mit einer Art Seilzug von der anderen Seite der Pyramide hinaufgezogen wurde, wobei die Arbeiter auf einem Holzgerüst gestanden haben.«

Eine blonde Studentin mit zwei Zöpfen meldete sich zu Wort. »Ich habe einmal gehört, dass die Pyramide nach den Sternen ausgerichtet wurde. Ist da etwas dran?« »Was das angeht, gibt es im Moment leider nur wilde Spekulationen. Eine der Theorien besagt, dass die sogenannten Luftschächte auf bestimmte Sterne ausgerichtet sind, nach einer anderen sind die drei großen Pyramiden von Gizeh so angeordnet, dass sie einen Teil des Sternbilds Orion nachbilden, so wie es die Ägypter einst gesehen haben. Aber die meisten dieser Theorien wurden inzwischen entkräftet. In Wahrheit wissen wir einfach noch zu wenig. Aber ich bin fest überzeugt, dass die Antwort irgendwo zu finden ist! Denn beim Bau der Pyramiden wurde nichts, absolut nichts dem Zufall überlassen. Aber wir sollten jetzt weitergehen.«

Die Gruppe näherte sich nun der Königinnenkammer, die für Touristen üblicherweise nicht zugänglich war. Es handelte sich um einen dunklen und schmucklosen Raum aus kubischen Blöcken, der eine kleine Nische enthielt. Aus dem Raum zweigten zwei schmale Schächte ab, die nach oben führten. Vor langer Zeit mochte diese Kammer mit Schätzen angefüllt gewesen sein, die dem Zweck dienen sollten, der Gemahlin des Pharaos im Jenseits nützlich zu sein. Heute jedoch war darin nichts als kahler Stein zu sehen.

Irina positionierte sich vor einem der beiden Schächte, die schräg hinaufführten und auf einer Höhe von eineinhalb Metern lagen.

Sie waren viel zu schmal, als dass ein Mensch sich je hineinzwängen könnte.

»Wer von euch weiß, was das Upuaut-Projekt war?« Zuerst warfen sich die Studenten nur gegenseitig Blicke zu, dann meldete sich doch einer von ihnen zu Wort. »Man hat in den neunziger Jahren einen Roboter hineinfahren lassen, der das Innere des Schachts erkunden und filmen sollte. Das hätte vielleicht auch funktioniert, aber nach ein paar Metern ist der Roboter auf eine unüberwindbare Kalkplatte gestoßen.«

Irina nickte. »Richtig. Später hat man diese Platte durchbohrt und dahinter einen winzigen Hohlraum entdeckt, der wiederum durch einen Fallstein blockiert war. Keiner kann mit Bestimmtheit sagen, welchem Zweck dieser und der nördliche Schacht dienen sollten.«

Sie wollte ansetzen, um über einige der gängigen Theorien zum Zweck dieses Schachtes zu dozieren, als sich eine der Studentinnen zu Wort meldete.

»Komisch … irgendwie zieht es hier.«

»Zieht?«, Irina schüttelte den Kopf. »Hier kann es nicht ziehen, weil die Schächte nirgendwo hin …«

Doch schon im nächsten Moment nahm sie selbst einen Luftzug wahr, für den es eigentlich keine Erklärung gab. Immerhin war sie schon viele Male hier gewesen, öfter als sie sich erinnern konnte, und nie hatte sie in der Königinnenkammer einen Luftzug verspürt. Sie näherte ihre Hand einem der beiden Schächte und stutzte. Nun spürte sie es überdeutlich.

»Wie ist das möglich?«, fragte einer der Studenten. »Der

Schacht muss doch nach außen oder in einen anderen Raum führen, sonst könnte die Luft nicht zirkulieren.« Irina zögerte. Sie suchte nach Antworten, aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Es muss dafür irgendeine Ursache geben, eine Erklärung! – Und im Übrigen geht die Lehre davon aus, dass dies keine Lüftungsschächte waren, sondern dass sie der Seelenwanderung des oder der Verstorbenen dienten.

Dennoch …«

»Es ist doch ganz klar«, murmelte die Studentin mit den blonden Zöpfen. »Irgendetwas muss geöffnet worden sein, was vorher nicht offen war.«

Irina stemmte die Hände in die Hüften. »Vielleicht. Vielleicht ist das Ganze auch bloß ein merkwürdiger Zufall, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie und warum. Von irgendwelchen diesbezüglichen Experimenten müsste ich dann ja im Vorfeld gehört haben. Aber immerhin sind wir Archäologen, oder? Und einem Luftzug zu folgen, ist nicht allzu schwer.«

Sie verließen die Königinnenkammer und folgten dem Gang zur Großen Galerie. Die Pyramide wirkte mit einem Mal noch mysteriöser und gespenstischer als zuvor, hin und wieder rieselte Irina sogar eine Gänsehaut über den Arm, obwohl sie bereits so oft hier gewesen war. Manche von den Studenten rückten eng zusammen, als ob sie sich fürchteten.

»Keine Sorge, ich bin sicher, es gibt eine logische Erklärung für dieses Phänomen.«

»Sagen Sie, ist eigentlich schon mal eine Ihrer Mumien bei einer Untersuchung aufgestanden?«, feixte ein Student mit wippendem Gang und beiden Händen in den Hosentaschen.

Irina lächelte. »Ja, das ist bereits einmal passiert … Es war ein vorlauter Student wie du, den ich zuvor eigen- händig mumifiziert habe. Irgendetwas habe ich wohl falsch gemacht, als ich ihn getötet habe, aber eine solche Nachlässigkeit wird nicht wieder vorkommen, versprochen.«

Sie gingen bis zur Abzweigung vom ansteigenden und abfallenden Korridor, in deren unmittelbarer Nähe sich der frühere und derzeitige Haupteingang befand. Aber obwohl es unmöglich schien, floss der Luftzug eindeutig nicht zu einem der beiden Eingänge, sondern in den absteigenden Korridor, der bis tief unter die Pyramide führte, in die Gesteinsschicht, auf der sie errichtet worden war. Irina blieb stehen.

»Hmm. Ich bedaure sehr, werte Kollegen, aber dort hinunter dürfen nur Leute mit einer ausdrücklichen Genehmigung der ägyptischen Altertümerverwaltung. Ich nehme an, dass niemand von euch einen solchen Schein besitzt?«

»Doch, ich!«, meldete sich der Student, der ihr zuvor schon durch sein vorlautes Mundwerk aufgefallen war.

»Hast du ihn dabei?«

»Ähm, nee.«

»Dann tut es mir leid. Ich bitte euch, die Pyramide jetzt zu verlassen und draußen auf mich zu warten.« Die Studenten verabschiedeten sich und verschwanden durch den Hauptausgang, hinein in die frühmorgendliche Wüste. Irina öffnete das Schloss der Gittertür, die den Korridor zur Felsenkammer hinunter abriegelte. Die Luft roch feucht, was Irina ebenfalls seltsam erschien, da es hier normalerweise extrem trocken war. Nur unter solchen Bedingungen konnten Mumien die Jahrtausende überdauern und die alten Ägypter hatten darüber auch bestens Bescheid gewusst.

Doch plötzlich nahm sie keinen Luftzug mehr wahr, als hätte es nie einen gegeben. Kurz zweifelte sie an ihren vorherigen Empfindungen, doch … ihre Studenten hatten ihn ebenfalls wahrgenommen.

Sie holte ihre Taschenlampe hervor und knipste sie an. Langsam, sich dabei ständig in alle Richtungen um- sehend, folgte sie dem absteigenden Gang nach unten, tief unter die Pyramide und in den Untergrund des sogenannten Gizeh-Plateaus, in das Kalkfundament, auf dem die Cheops-Pyramide errichtet worden war. Die Luft wurde zunehmend feuchter, je weiter sie nach unten kam. Trotz der angenehmen Temperatur von 20° Celsius, die im Inneren der Pyramide ständig herrschte, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab.

Schließlich verlief der Gang waagerecht und führte in die sogenannte Felsenkammer, einen unvollendeten Raum, dessen geplante Funktion nicht bekannt war. Es zweigte davon ein Gang ab, der jedoch in einer Sackgasse endete.

Als Irina eintrat, schrak sie zusammen.

Linkerhand – dort, wo sonst immer eine roh behauene Felswand den Raum begrenzte, befand sich plötzlich eine weitere Kammer!

Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Ihre Hand zitterte heftig. Mit winzigen Schritten ging sie weiter vor, blickte sich ständig mit geweiteten Augen in alle Richtungen um. Was sie hier sah, war nicht weniger als eine Sensation.

Irgendetwas musste die gesamte Wand entfernt haben, was den Blick in eine neue, zweite Kammer freigab, eine Kammer, deren Existenz völlig unmöglich war. Der Lichtkegel ihrer Lampe fuhr über staubige Wände, in die Hieroglyphen eingemeißelt waren. Es dominierte das Motiv des Throns, über dem sich ein Auge befand, das Zeichen für Osiris, den Gott des Totenreichs. Auch das Zeichen des Seth war zu erkennen, dem Gott des Chaos, der als Beschützer des Ra galt. In der Mitte der rückwärtigen Wand befand sich ein großes Bildnis eines Pharaos, den eine Hieroglyphenkartusche als Snofru auswies, Cheops’ mutmaßlichem Vater. Das alles war in vielerlei Hinsicht sehr ungewöhnlich.

Diesen Raum und diese Inschriften durfte es überhaupt nicht geben! Irina näherte sich der Wand mit den Hieroglyphen, um zu entziffern, was darauf stand, als sie plötzlich wieder den Luftzug spürte. Aber sie ignorierte ihn für den Moment, hatte nur Augen für die Schriftzeichen, die vielleicht neues Wissen preisgeben würden. Plötzlich beschlich sie das Gefühl, als würde sich ein Schatten über sie legen, sie von hinten einhüllen. Irina wollte sich umdrehen, aber in dem Moment verspürte sie einen stechenden Schmerz am Kopf. Sie schrie auf, knickte ein, fand sich kniend am Boden wieder, als der Angreifer noch einmal zuschlug und noch einmal. Der Schmerz fühlte sich an, als würde eine Supernova in ihrem Kopf explodieren, er nahm ihr den Atem. Ein schwarzer Vorhang zog sich vor ihren Augen zu.

Sachmet / Sechmet

Göttin des Krieges, der Krankheit und der Heilung

Kapitel 2

Irinas erste Empfindung war, dass ihr Schädel brummte, wobei das noch untertrieben formuliert war. Es fühlte sich eher so an, als würde jemand in ihrem Kopf ohne Rücksicht auf Verluste regelmäßig mit einem Vorschlaghammer gegen die Schädeldecke dreschen. Am liebsten wäre sie sogleich wieder eingeschlafen, aber wegen der Schmerzen war das undenkbar. Langsam öffnete sie die Augen.

Ein paar Sekunden sah sie alles verschwommen, die Helligkeit blendete sie. Als sich das Bild schließlich entzerrte, wurde ihr klar, dass sie in einem Krankenhaus lag. Ein zweites Bett stand neben ihr, aber es war unbelegt. Wie um alles in der Welt war sie hierhergekommen? Was war geschehen? Was war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte? Diese Kammer …

Ein Schmerz zuckte durch ihren Kopf. Sie wagte es nach kurzem Zögern, ihren Kopf sehr langsam zu drehen. Ihre Kleidung, die verstaubte Jeans, die weiße Bluse und die Anglerweste mit den vielen Taschen, hing über einer Stuhllehne neben ihrem Bett. Erschrocken hob sie die leichte Bettdecke an und sah an ihrer schlanken Gestalt hinab: Sie trug lediglich ein Krankenhaus-Hemdchen über ihrer Unterwäsche. Schließlich entdeckte sie eine Art Fernbedienung, die an einem Kabel von der breiten Versorgungsleiste über dem Bett baumelte. Sie drückte den einzigen roten Knopf darauf. Über der Tür fing ein kleines Lichtlein an zu blinken. Minuten später kam eine zierliche, hektische Krankenschwester herein. »Ah, Sie wach. Sehr gut! Ich Bescheid sagen Arzt!«, sagte sie in gebrochenem Englisch.

»Warten Sie! Bitte, können Sie mir den kleinen Handspiegel reichen, der auf dem Tisch da vorne liegt?«, bat Irina.

Die Schwester zögerte kurz, gab ihr den Spiegel und hastete aus dem Zimmer. Irina nahm ihn hoch und erschrak. Das war nicht sie, das war ein Gespenst, das sie anstarrte. Sie sah furchtbar aus. Ihre sonst so lebendigen braunen Augen, die von ein paar kleinen Krähenfüßen umgeben waren, wirkten eingesunken und ihr Teint war blass. Das kurz gehaltene, bereits angegraute hellblonde Haar stand wirr von ihrem schmalen Kopf ab, sodass sie wie eine Vogelscheuche aussah. Ihre Gesichtshaut war durch Schrammen stark mitgenommen und mit den zwei kleinen Pflaster wirkte sie weitaus älter als sie war. Es schien fast, als wäre sie eine Rentnerin am Ende ihres Lebensweges, dabei war sie erst zweiundfünfzig. Von ihrem sonst so jugendlichen Aussehen konnte keine Rede sein. Doch zumindest hatte sie während des Ausflugs in die Pyramide kein Make-up getragen, das hätte verwischen können. Sie stöhnte.

»Ich sehe ja furchtbar aus!«

»Ganz im Gegenteil! Glauben Sie einem alten Hasen, da gibt es weitaus schlimmere Fälle als ihren, die wir hier hereinbekommen«, vernahm sie eine sonore männliche Stimme. Irina nahm den Spiegel zur Seite und erblickte einen in einen weißen Kittel gekleideten älteren Herrn mit vollem, grau meliertem Haar, der von einem jungen Mann – ebenfalls im Kittel – begleitet wurde, der kaum älter als sechzehn aussah.

»Ich bin hier der Chefarzt, Professor Ihab Ismail. Darf ich?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich neben Irina aufs Bett und leuchtete ihr mit einer Lampe in beide Augen.

»Sieht ganz gut aus, würde ich sagen. Sie haben ein

Schädel-Hirn-Trauma erlitten, ausgelöst durch einen Sturz auf den Kopf oder weil Sie sich irgendwo angestoßen haben. Haben Sie irgendeine Erinnerung, was passiert sein könnte?«

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Mit dem Krankenwagen, wie die meisten unserer Gäste. Soweit ich weiß, haben Ihre Kollegen Sie bewusstlos in der ‚Subterranean Chamber‘ unter der Cheops-Pyramide gefunden.«

Irinas Gedanken rasten. Jetzt nur nicht zu viel sagen, das konnte Ärger geben. »Nein, nicht wirklich. Ich habe nur etwas … überprüft und … dann bin ich plötzlich hier aufgewacht.«

»Machen Sie sich keine Gedanken!« Professor Ismail lächelte und klopfte ihr beruhigend auf den Bauch. »Eine leichte retrograde Amnesie ist völlig normal bei einer Gehirnerschütterung. Meist verschwindet sie mit der Zeit vollständig. Nur um sicher zu gehen, möchte ich Ihnen aber ein paar Fragen stellen.«

»Fragen?«

Er lächelte. »Ja. Könnten Sie mir bitte Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum nennen?«

Irina starrte ihn kurz an, ehe sie antwortete. »Irina Markovna, geboren wurde ich am vierten März 1967 in Sankt Petersburg.«

»Vielen Dank. Können Sie mir auch etwas von Ihrer Familie und Ihrem Werdegang erzählen?«

»Ich habe zwei Geschwister, zwei Brüder. Mein Vater ist Arzt und meine Mutter ist Hausfrau. Nach der Schule habe ich Ägyptologie in Moskau studiert. Danach habe ich einige Jahre als Kuratorin in einem Museum gearbeitet, bevor ich meine Dissertation schreiben und eine Forschungslaufbahn einschlagen konnte. Ich musste mich vor allem um die Archivierung und Katalogisierung von Fundstücken kümmern, bevor man mir endlich erlaubt hat, an einer Grabung teilzunehmen. … Nun, ich hatte Erfolg, und seitdem konnte ich neben meiner

Lehrtätigkeit immer wieder Expeditionen leiten. –

So bin ich schließlich in Ägypten gelandet und habe den Job beim ‚Institute for research and conservation in Egypt‘ angenommen. Genügt das?«

Der Doktor nickte. »Ich bin sehr zufrieden, was den Zustand Ihres Gehirns betrifft, Frau Markovna. Sie scheinen mir eine außergewöhnlich unabhängige Frau zu sein. Immerhin sind Sie hier weit weg von Ihren früheren Freunden und Ihrer Familie.«

»Hm.«

»Wir werden gleich morgen früh noch Röntgen- aufnahmen Ihres Schädels machen, nur um Frakturen ausschließen zu können. Wenn alles gut läuft, sind Sie übermorgen, am Freitag, raus hier.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«

»Keine Ursache. Draußen wartet noch ein Besucher auf

Sie. Fühlen Sie sich stark genug, ihn zu empfangen?«

»Sicher.«

»Dann schicke ich ihn herein. Gute Besserung!«

»Danke!«

Eine Minute später grinste das feiste, wie immer von einer grauen Baseball-Kappe gekrönte Gesicht von Reinhard Merz durch die Tür, einem aus Dortmund in Deutschland stammenden Kollegen, dessen Fachgebiet ebenfalls das ‚Alte Ägypten‘ war.

Das erste Mal waren sie einander bei einer Ausgrabung nördlich von Gizeh begegnet. Es war ein besonders heißer Tag und alle waren frustriert gewesen, weil sie nicht mehr gefunden hatten als ein paar Tonscherben. Als aber plötzlich einer der Mitarbeiter eine Kühlbox voll eiskalten deutschen Bieres im Sand entdeckte, war der Tag gerettet. … Reinhard hatte sie in einem unbeobachteten Moment dort versteckt.

Er kam an ihr Bett und legte einen schlampig gebundenen Blumenstrauß auf ihr Beistelltischchen. Er trug eine eckige Brille, die seine dunkelbraunen Augen deutlich kleiner erscheinen ließ, seine Oberlippe und sein Kinn zierte ein kleines Teufelsbärtchen. Sein pausbäckiges Gesicht und die feiste Statur ließen darauf schließen, dass er kein Kostverächter war. Mit Irina war er schon länger eng befreundet, trotz der fachlichen Differenzen, die sie gelegentlich hatten, und die sich vor allem auf

Irinas ‚Visionen‘ bezogen. »Na?«

»Hi! Sag mal, wer hat mich eigentlich gefunden?«

»Ich war das. Dieser Frank, einer deiner Studenten, hat mir erzählt, dass du schon seit drei Stunden in der Subterranean Chamber wärest und … da hab ich mir Sorgen gemacht. Also bin ich runter und da hast du auf dem Boden gelegen, direkt neben der Grube.« »Hast du sie gesehen?«, flüsterte Irina hektisch.

»Was gesehen?«

»Die bisher unentdeckte Kammer! Hinter der Ostwand!«

»Welche Kammer? Irina, fantasierst du etwa?«

»Ich … ich habe alles genauso klar gesehen wie ich dich vor mir sehe. Eine neue Kammer, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Mit Hieroglyphen an den Wänden! Ich schwöre dir, dass ich mir das nicht eingebildet habe.« Reinhard schüttelte den Kopf. »Mädchen, du musst dir ja ganz schön den Kopf angeschlagen haben.« »Ich habe mir den Kopf nicht angeschlagen!«, empörte sich Irina lauter als beabsichtigt und bereute es sofort. Leise fuhr sie fort. »Man hat mich niedergeschlagen, als ich soeben dabei war, die Hieroglyphen zu entziffern.« »Niedergeschlagen? Weißt du was: Der Einzige, der hier niedergeschlagen ist, bin ich, wegen deines Zustands.«

»Aber Reinhard …«

»Wahrscheinlich hast du nur wieder eine deiner berühmten Visionen gehabt, warst kurz weggetreten, hast dir den Schädel angeschlagen, Krankenhaus, Ende der Story.«

Ihre Visionen! Ständig hackte Reinhard wegen ihrer Visionen auf ihr herum. – Nicht dass sie allzu viele dieser Visionen gehabt hätte. Es wurde lediglich viel zu viel darüber gesprochen, nachdem sie vor einigen Jahren Kollegen gegenüber unvorsichtigerweise gestanden hatte, auf welche Weise sie eine besonders ergiebige Ausgrabungsstätte entdeckt hatte.

Es war in der Ruinenstadt Tschogha Zanbil im Iran gewesen. Sie hatte das Gemäuer einer Zikkurat, eines gestuften Tempelturms, berührt und vor ihrem inneren Auge war eine Szene abgelaufen, in der Priester Stiere geopfert und solche aus Ton vergraben hatten. Als sie kurz darauf von der Vision gesprochen und vorgeschlagen hatte, an besagter Stelle zu graben, hatte sie nur belustigten Spott geerntet. Aufgrund ihrer Beharrlichkeit hatte man jedoch ein Grabungsteam an dieser Stelle eingesetzt und – Volltreffer! Doch trotz dieses Erfolgs hatte keiner ihrer Kollegen an die Kraft ihrer ‚Visionen‘ geglaubt, der Fund wurde als Zufall abgetan. »Es dürfte eher schwierig sein, hier einen Flecken Erde aufzutun, an dem man keine Funde macht«.

»Reinhard! Da war ein Luftzug in der Königinnen- kammer. Diesen Luftzug hätte es dort gar nicht geben dürfen. Deshalb bin ich überhaupt erst hinab in die Subterranean Chamber, weil der Wind in diese Richtung geblasen hat. Alle Studenten, die dabei waren, können

das bestätigen. Frag sie bitte!«

Zuerst sah er sie verdutzt an, dann lächelte er.

»Ganz schön gewitzt, die Mistress Markovna! Du willst es uns also beweisen. Aber okay, ich rede mit deinen

Studenten, mach ich doch gerne.«

»Und Reinhard?«

»Ja?«

»Bitte noch heute. Weißt du, ich muss einfach hier raus! Diese Kammer lässt mir keine Ruhe!« Mit einem schiefen Grinsen stand er auf.

»Na gut! Wenn deine Studenten deine Version bestätigen, komme ich morgen früh wieder, um dich aus den Händen dieser Quacksalber zu befreien. Ansonsten wäre es wohl besser für dich, du bliebest noch ein bisschen länger.« »Ach Reinhard …!«

***

Reinhard hielt Wort. Pünktlich um neun Uhr holte er sie ab und half ihr bei der Erledigung der Entlassungsformalitäten.

Als sie schließlich zum Taxistand gingen, sagte er: »Ich habe mit deinen Studenten geredet, wie du gewünscht hast. Sie haben den merkwürdigen Luftzug bestätigt. Dadurch ist mir klar geworden, dass du dir zumindest nicht alles eingebildet haben kannst, und ich denke, wir sollten der Sache auf den Grund gehen.«

***

Irina, Reinhard, das ‚Lagerfaktotum‘ Hassan sowie die Studenten, die sich Genehmigungen für die Besichtigung der Subterranean Chamber hatten ausstellen lassen, betraten die Kammer am späten Nachmittag. »Hier. Genau hier war die Wand weg und dahinter war eine bisher unbekannte Kammer.«

Irina fühlte sich wie eine Närrin, als sie auf die östliche Wand zu ihrer Rechten deutete. Die unterirdische Kammer sah aus wie immer, nichts deutete darauf hin, dass sich hier etwas anderes befinden könnte als ein unvollständig aus dem Kalkstein des Pyramidenuntergrundes geschlagenes, annähernd kubisches Loch.

Die skeptischen Blicke, die Reinhard, seine drei studentischen Hilfskräfte und Hassan ihr zuwarfen, erleichterten die Situation nicht gerade. Aber immerhin war es das erste Mal, dass sie an dem ansonsten phlegmatischen Hassan einen interessierten Gesichtsausdruck wahrnahm und wer konnte ihm seine übliche Apathie schon verübeln? Offiziell bestand sein Job darin, darüber zu wachen, dass bei Forschungsvorhaben entdeckte Artefakte nicht einfach ‚verschwanden‘, um schließlich bei privaten Sammlern oder in ausländischen Museen wieder aufzutauchen. Aber in Wirklichkeit wurden ihm alle möglichen Arbeiten im Forschungs-Camp aufgetragen, denn … spektakuläre Funde waren in Gizeh schon lange nicht mehr an der Tagesordnung.

Irina merkte, dass ihre Finger leicht zitterten. Wenn sie Recht behielte, wäre dies zweifellos ein spektakulärer Fund. Aber hatte sie diese unbekannte Kammer tatsächlich gesehen oder … war sie ein Trugbild gewesen, welches das Gehirn ihr als Folge der Schläge auf den Kopf vorgegaukelt hatte? Wenn sie all das nicht mit ihren eigenen Augen gesehen hätte, würde sie selbst vermutlich ebenso zweifeln wie all die anderen in diesem Raum. Man hatte die Subterranean Chamber, wie sie in Fachkreisen genannt wurde, in der Geschichte ihrer Erforschung schon viele Male genauestens vermessen und jeden Zentimeter akribisch untersucht. Wie hätte eine solche geheime Kammer da unentdeckt bleiben können? Ganz zu schweigen davon, dass eine geheime Tür einen Öffnungsmechanismus benötigte und auch davon absolut jede Spur fehlte! Eigentlich war undenkbar, dass existierte, was ihre Augen gesehen hatten oder was sie geglaubt hatte zu sehen. Eigentlich …

Irina versuchte den noch immer in ihrem Kopf pulsierenden Schmerz und die aufsteigende Übelkeit zu ignorieren. Sie deutete auf die Wand vor ihnen. »Es war keine Geheimtür, die offen gestanden hat, sondern die gesamte Wand hier war weg.«

»Hier? Ähm, … warum sollten die Ägypter ausgerechnet hier eine Kammer anlegen? Die logischere Variante wäre doch, dass man eine weitere Kammer am Ende des Blindschachts anlegt, aber das hat man nachweislich nicht getan. Es macht keinen Sinn …«

»Bitte, Reinhard! Mein Kopf tut weh und mir ist schlecht. Mir ist jetzt wirklich nicht nach einem fachlichen Disput zumute. Alles, was ich will, ist, diese Kammer wiederzufinden. Wirst du mir dabei helfen oder nicht?« »Natürlich werde ich dir helfen. Es winkt immerhin eine der wichtigsten Entdeckungen aller Zeiten, wer will sich die schon entgehen lassen?« Reinhard zwinkerte verschwörerisch. Er glaubte ihr also nicht. Auch recht. »Na gut, gehen wir also systematisch vor«, fuhr er in ernsterem Ton fort. »Die Öffnung war hier, ja?«

Irina nickte.

»Okay. Und was meinst du damit, die Wand war weg? War sie zur Seite geschwenkt oder nach unten im Boden versenkt? Hast du irgendeinen Hinweis für uns, mit welcher Art Mechanismus diese Tür – pardon – Wand geöffnet worden ist?«

»Wenn ich recht nachdenke … nein, die Wand war … einfach weg. Sie war schlichtweg nicht da! Ja, ich weiß, das hört sich völlig verrückt an, aber vielleicht hat sie

sich ja in den Boden abgesenkt.«

Reinhard runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Na gut. Tun wir, was in unserer Macht steht, um das Geheimnis dieser Kammer zu lüften. Wir sind sechs Personen. Die Ostwand ist acht Meter dreißig lang und im Durchschnitt zwei Meter neunzig hoch. Wenn ein Öffnungsmechanismus vorhanden ist, sollte er sich auf einer Höhe befinden, die ein erwachsener Mensch erreichen kann. Wir brauchen also nur die unteren zwei Meter abzuchecken. Das ergibt für jeden von uns eine Fläche von in etwa zweieinhalb Quadratmetern, vorausgesetzt, Irina fühlt sich fit, um sich an dieser Arbeit zu beteiligen. Ich will, dass jeder seinen Sektor genau unter die Lupe nimmt, das volle Programm: abtasten, abklopfen, drücken. Wer etwas Ungewöhnliches wahrnimmt, möge bitte sofort Bescheid geben.«

***

»Wirklich, liebe Irina, bei aller Sympathie: Hier ist rein gar nichts«, stöhnte Reinhard eine halbe Stunde später. Seine Hände waren, wie auch die der anderen, völlig verdreckt. »Entweder deine Sinne haben dir nach dem

Schlag auf den Kopf einen Streich gespielt …«

»Aber ich habe dir doch gesagt, dass ich all das vor den Schlägen gesehen habe.«

»… was für mich bedeutet, dass du dringend Bettruhe benötigst. – Oder aber, es handelt sich wieder einmal um eine deiner berühmten Visionen. In diesem Fall …« Er legte eine kleine ironische Pause ein, bevor er fortfuhr: »… sollten wir vielleicht auf eine weitere Vision warten, die uns zeigt, wie der Weg zu deiner geheimen Kammer gefunden werden kann. Einstweilen bin ich dafür, dass wir alle, insbesondere du, uns eine kräftige Mütze Schlaf genehmigen. Einverstanden?«

»Ich hasse es, wenn du dich über mich lustig machst!«, fauchte Irina. »Tut mir ja leid, wenn es dich stört, dass ich in der Vergangenheit solche Visionen gehabt habe. Und wenn ich sie beherrschen könnte, wenn ich mir aussuchen könnte, wann sie mir was zeigen sollen, dann gäbe es zumindest in Ägypten sicher kein einziges archäologisches Geheimnis mehr. Aber leider kann ich das nicht. Sie kommen leider, wann sie wollen.«

»Ach Irina, nun sei doch nicht gleich eingeschnappt! Ich wollte dich bestimmt nicht auf den Arm nehmen. Ich meinte nur …«

»Was?«

»Ähm, ja … dass wir mit unserem Latein am Ende sind. Tut mir leid.«

Irina legte den Kopf schief und versuchte trotz der Schmerzen zu lächeln. »Wenn ihr gehen wollt, geht! Ich halte euch nicht auf.«

»Irina, komm, sei vernünftig oder ich bringe dich sofort in die Klinik zurück, damit …«

»Pst! Ich versuche mich zu konzentrieren.«

»Konzentrieren? Worauf denn?«

»Auf eine meiner berühmten Visionen. Wo wir schon mal hier sind, kann ich ja versuchen, ein Bild aus der

Vergangenheit einzufangen.«

»Oh Gott. Irina!«

»Psssst!«

Reinhard rollte mit den Augen, verstummte aber. Die drei Studenten und Hassan setzten sich auf den Boden und blickten Irina erwartungsvoll an. Sie trat um das Gitter, das eine Grube im Boden abschirmte, legte ihre Hände und ihre Stirn auf die kühle Kalksteinwand und versuchte, ihre Gedanken und den Schmerz aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.

Sie konzentrierte sich auf ihren Atem und schloss die Augen. Wie lange sie in dieser Position verharrt hatte, wusste sie nicht, aber plötzlich sah sie etwas …

Ein Licht scheint aus dem Gang, der von oben in diese Kammer führt, gelb-orange flackernd. Kurze Zeit später betritt ein gebückt gehender Mann die Kammer mit einer Fackel in der Hand. Hinter ihm kommt ein weiterer.

Insgesamt betreten sieben Mann diesen Raum. Jeder hält neben seiner Fackel einen Jutegurt mit Nahrungsmitteln und Gewürzen in der Hand. Der Letzte aber trägt stattdessen eine lange, dünne Stange aus Zedernholz, an deren Enden metallisch glänzende Aufsätze angebracht sind. Der Haartracht nach – in Wellen gekräuseltes, beinahe schulterlanges Haar – sind sie eindeutig Soldaten, aber etwas an ihnen stimmt mit dem überlieferten Bild nicht überein: Neben den traditionellen weißen Röcken tragen sie ebensolche armfreien Westen. Außerdem schmücken goldene Reife Stirn und Arme. Es scheint sich um Offiziere zu handeln.

Derjenige, der den wohl drei Meter langen Stab hält, schlägt damit auf den Boden und intoniert einen monotonen Singsang, von dem Irina kaum ein Wort versteht. Die anderen wiederholen ab und an einige der Worte wie einen Refrain.

Schließlich stellen sich vier der Männer im Raum auf: je einer neben den beiden Schächten und zwei an den Rand der unvollendeten Steinstrukturen der Westwand, die aussehen, als ob ein Bildhauer versucht hätte, Statuen aus dem Stein zu schlagen, aber abberufen worden wäre, bevor sein Werk auch nur zu einem kleinen Teil fertiggestellt war. Zusammen bilden sie ein Rechteck, in deren Mitte die restlichen drei Männer stehen.

Irina fällt auf, dass die Grube, die sich dort befinden sollte, nicht existiert, nicht in der Zeit, die sie gerade sieht.

Der Mann mit dem Stab reicht diesen einem anderen Mann, der ihn in ein Loch in der Decke einführt. Ein zweiter Soldat tritt hinzu und mit vereinten Kräften drücken sie den Stab nach oben. Ein lautes Klacken ertönt und das Geräusch von Stein, der über Stein schleift. Wie von Zauberhand wird die ganze gewaltige Wand rumpelnd nach oben gezogen, bis sie in einer Höhe von geschätzten ein Meter achtzig zum Stillstand kommt. Staub rieselt von der Decke der dahinterliegenden dunklen Kammer und scheint im tanzenden Licht der Fackeln einen magischen Vorhang zu bilden. Die Männer nehmen den Stab wieder an sich, heben ihre Gurte auf, treten ein und …

Irinas Vision verblasste. Dafür kehrten unvermittelt die Kopfschmerzen zurück, trotz der wohltuenden Kühle der Wand.

Irina öffnete die Augen und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Einerseits schien es so, als ob sie ihre Visionen langsam so weit in den Griff bekäme, dass sie sie sogar heraufbeschwören könnte, obwohl … dies das erste Mal war, dass ihr das wirklich gelungen war. Andererseits vermochte sie sich die Herkunft dieser Bilder nicht zu erklären. Waren sie einfach das Resultat einer völlig übersteigerten Fantasie, gepaart mit untrüglicher weiblicher Intuition oder steckte eine Art parapsychologisches Phänomen dahinter? Letzteres wohl eher nicht, denn dieses Loch in der Decke, das sie in der Vision gesehen hatte, existierte in der wirklichen Welt nicht – leider.

»Und? Hast du etwas gesehen?«, fragte Reinhard etwas ungeduldig.

»Pssst!«

Irina drängte sich zwischen einem Studenten und dem Gitter hindurch und stellte sich unter die Stelle, an der sie die beiden Ägypter den Stab in die Decke stecken gesehen hatte. Dort oben befand sich definitiv kein Loch. Und doch … bisher hatte es sich stets ausgezahlt, ihren Intuitionen zu vertrauen.

»Frank, Susan, Elena! Ich habe eine Aufgabe für euch«, wandte sie sich an die drei Studenten. »Könntet ihr mir bitte eine Stehleiter und einen Stab, möglichst um die drei Meter lang, stabil und keinesfalls dicker als vier Zentimeter, besorgen? Und mein Werkzeugköfferchen aus dem Camp könnte ich ebenfalls gut gebrauchen. Und wenn ihr schon unterwegs seid, könntet ihr gleich noch eine der Kameras mitbringen, ja?«

***

In ruheloser Tatenlosigkeit hatte Irina fiebrig auf die Rückkehr der drei Studenten gewartet. Schließlich konnte sie die Leiter unter einer viereckigen Aus schabung in der Decke des Raums aufstellen, die aussah, als hätte man ursprünglich vorgesehen, dort einen Schacht nach oben anzulegen.

Aus ihrem Köfferchen holte sie ein Stuckateureisen, eine Art Spatel mit einem breiten und einem spitzen Ende, und eine Bürste, klemmte beides an ihren Gürtel und kletterte nach oben. Um die Decke zu erreichen, musste sie sich auf die oberste Sprosse der Stehleiter stellen. Reinhard sprang hinzu, um die bedenklich wackelnde Leiter gegen Umstürzen zu sichern, denn der Fußboden war nicht eben … eben.

Irinas Finger tasteten den Rand der Aussparung ab, während ein gelegentliches Blitzlicht ihr signalisierte, dass sie bei ihrer Tätigkeit fotografiert wurde.

Auch das noch …

Systematisch fuhren ihre Finger Zentimeter für Zentimeter über den teilweise verrußten Kalkstein, doch nicht einmal die Andeutung eines Lochs war zu erkennen. Ihre Visionen waren wohl doch nur ein Zeichen überbordender Fantasie … Langsam näherten sich ihre Finger der Mitte der viereckigen Einkerbung, als sie plötzlich stutzte.

Der Stein an dieser Stelle war kein Stein, das fühlte sich an wie … aber das war völlig unmöglich!

Die Ägypter hatten ja alles Mögliche erfunden: Bier, Kosmetika, Streitwagen, Flaschenzug, aber … Plastilin gehörte definitiv nicht in diesen Katalog.

Sie nahm ihre Bürste vom Gürtel und versuchte, die Stelle vorsichtig von Staub und Schmutz zu befreien. Noch immer konnte sie keinen Unterschied zum restlichen Stein erkennen. Nun nahm sie ihr Stuckateureisen und kratzte mit dem spitzen Ende über den Kalkstein. Plötzlich sank das Werkzeug ein und ein weiches, ringförmiges Etwas rutschte an ihrem Werkzeug nach unten und landete auf ihrer Hand. Perplex starrte sie erst darauf, dann zur Decke. »Seht ihr?«, rief sie triumphierend. »Ein Loch. Na, was sagt ihr jetzt?«

Das Schweigen, das nun herrschte, verschaffte Irina Genugtuung. Sie atmete tief durch und – so leid ihr das auch tat – durchbrach die Stille mit ihren Befehlen. »Reinhard, Frank, ihr beiden seid die Stärksten hier im Team. Ihr klettert jetzt auf diese Leiter, steckt den Besenstiel in das Loch und drückt mit aller Kraft!

Hassan, du hältst bitte die Leiter fest!«

»Äh, meinst du nicht …«

Sie lächelte zuckersüß und legte den Kopf schief. Kaum ein Mann konnte ihr auf die Weise widerstehen. »Bitte!« »Na wenn du meinst, von mir aus. Aber zuerst sag mir, woher du gewusst hast, dass hier ein Loch in der Decke ist. Hast du allen Ernstes wieder eine Vision gehabt?« Irina lächelte standhaft weiter und erwiderte nichts. Sie hatte ihre Lektion gelernt und würde sich eher die Zunge abbeißen, als noch einmal vor Kollegen über ihre seherische ‚Gabe‘ zu sprechen.

Reinhard zuckte schließlich mit den Schultern und kletterte die Stehleiter hoch. Frank tat auf der anderen Seite dasselbe. Vorsichtig führten sie den Besenstil ein – Frank hatte in der Eile nichts Geeigneteres auftreiben können – und begannen, ihn mit vereinten Kräften nach oben zu schieben. Doch nichts geschah. Irina stutzte. »Moment, Moment, bleibt noch oben!

Irgendetwas stimmt noch nicht … wie war das gleich wieder … sieben Mann … hmm! Vielleicht … wartet mal! Elena, du stellst dich genau hierhin, neben den Schacht. Du bewegst dich keinesfalls vom Fleck, ist das klar? Susan, auf die andere Seite, neben den Blindschacht. Jungs, steht ihr sicher auf der Leiter? Könnt ihr für einen

Moment auf Hassan verzichten?«

Frank nickte, während Reinhard sie nur perplex ansah. »Gut, Hassan, du stellst dich genau hierher. Nicht bewegen! Und ich stelle mich an den Punkt genau gegenüber von Hassan. – So! Jetzt probiert es noch einmal, bitte!«

Reinhard sah sie mit einem ‚Das-arme-Mädchen-hatsich-den-Kopf-gestoßen-und-ist-verrückt-gewordenBlick‘ an, zuckte dann aber die Achseln und drückte gemeinsam mit Frank den Stab nach oben.

»Fester!«

»Whoa!«, rief Frank unvermittelt aus. Gleichzeitig ertönte ein lautes Krachen und der Boden unter Irina sank ruckartig um mehrere Zentimeter nach unten. Der Stab ließ sich nun weiter in das Loch hineinschieben und ein schabendes Geräusch ertönte. Unter lautem Rumpeln hob sich die gesamte Ostwand in die Höhe. Wie auch immer die Ägypter einen solchen Mechanismus hinbekommen hatten, ohne dass in den eigentlichen Kammern etwas davon zu sehen war, Irina und ihre Kollegen waren jedenfalls soeben Zeugen einer genialen technischen Leistung geworden. Die Wand wog gut und gerne mehrere Tonnen. »Das … das glaub ich jetzt nicht«, stammelte Reinhard, kletterte die Leiter hinab und nahm die Kamera auf, um ein Bild von der geheimen Kammer zu schießen. Doch seine Nervosität verhinderte, dass sein Zeigefinger den Auslöser fand.

Irina nahm ihm die Canon EOS 60D aus der Hand und schoss das Bild kurzerhand selbst. Lächelnd gab sie ihm die Kamera zurück. Ihr Kopfweh war wie weggeblasen. »Meine Damen, meine Herren, hat jemand Lust auf eine kleine Expedition in die Vergangenheit?«

Kek

Gott, der zusammen mit seiner Frau

Keket die Finsternis verkörpert

Kapitel 3

»Piecks mich mal jemand!«, forderte Reinhard. »Aber kräftig, wenn ich bitten darf. Das … das muss einfach ein Traum sein.«

Irina trat vorsichtig in die neue Kammer ein und leuchtete die Seitenwände an. »Seht euch das an. Es ist absolut unglaublich!«

Susan, die rundliche Studentin aus Austin, Texas, folgte der Aufforderung und näherte sich ihrer Tutorin. »Was denn? Da sind doch nur ein paar Hieroglyphen an der Wand.«

»Sieh genauer hin. Kommt dir daran nichts bekannt vor?«

Die Studentin trat vor und betastete die Schriftzeichen und Zeichnungen an den Wänden mit den Fingern.

»Ich erkenne die Zeichen für Osiris, Seth, Ra und Snofru, dem mutmaßlichen Vater des Erbauers der Pyramide. Aber ich bin noch nicht im Vertiefungsseminar für ägyptische Schrift gewesen, ich kann den Text noch nicht so flüssig lesen.«

»Mal abgesehen von der Botschaft: Die Schriftzeichen, die ihr hier seht, wurden in die Wände gemeißelt. Wo sonst in dieser Pyramide – in irgendeiner Pyramide bis zur vierten Dynastie – wurden Texte in Wände gemeißelt? Was für eine Entdeckung … Aber seht, hier zweigt ein weiterer Schacht aus der Kammer ab. Es sieht ganz so aus, als ob er weiter nach unten führen würde.

Wer sich traut, mag seine Taschenlampe nehmen und mir folgen. Aber vorsichtig, ja?«

Schritt für Schritt tasteten sie sich in den Gang hinein. Reinhard schloss zu Irina auf.

»Wieso sagst du, dass diese Entdeckung sensationell ‚wäre‘. Wieso Konjunktiv?«

»Ist das nicht offensichtlich? Weil es nicht unsere Entdeckung ist! Jemand anderes hat diese Kammer und wohl auch diesen Gang bereits vor uns entdeckt.«

»Wie bitte?«

»Reinhard, ich bitte dich! Irgendjemand hat mich niedergeschlagen, derselbe Jemand, der auch diese Kammer geöffnet haben muss. Dann dieser Mechanismus, der diese Wand wegbewegt. Er funktioniert wie geschmiert, meinst du nicht? Wenn der während der letzten viertausend Jahre nicht benutzt oder instand gesetzt worden wäre, könnte der doch gar nicht mehr richtig arbeiten, oder? So einen Apparat kann man nicht allein aus Stein bauen, da müssen zur Kraftübertragung Seilzüge oder Gestänge aus Hanf, Holz oder Bronze verwendet werden. Aber Erstere wären inzwischen zu Staub verfallen und Letztere korrodiert.«

»Vielleicht wurde es ja auch aus dem mysteriösen Oreichalkos hergestellt, das …« Irina lachte.

»Jetzt hör aber auf, du! Wer an einem solch ausgeprägten Atlantis-Komplex leidet wie du, sollte wirklich nicht über meine Visionen lästern. Die bringen nämlich Ergebnisse, während Hinweise auf das historische Atlantis noch von niemandem gefunden wurden.« »Na gut«, schaltete Frank sich in die Diskussion ein. »Mal angenommen, jemand hätte diese Kammer vor dir gefunden. Warum sollte derjenige das geheim halten? Das ergibt doch keinen Sinn!« Irina lachte.

»Jaja, unsere Studenten. Noch so voller Naivität und Unschuld. Also gut, vielleicht wollten die ersten Entdecker ihren Fund noch geheim halten, weil sie keine oder noch keine Forschungslizenz für Gizeh hatten, sich mithin also illegal in der Pyramide aufgehalten haben? Vielleicht, weil sie noch ein paar Antworten brauchten, bevor sie sich an eine Veröffentlichung wagten? Gründe könnte es genug geben. Schaut, da vorne ist eine weitere

Kammer!«

Gebückt traten sie aus dem Schacht heraus und trauten ihren Augen kaum.

Die Halle, die vor ihnen lag, war so groß, dass sie sie mit ihren Taschenlampen gar nicht vollständig ausleuchten konnten. Der Raum mochte zwanzig Meter lang, zehn breit und fünf hoch sein.

»Wow«.

Dass ausgerechnet Frank, der vorlaute Student, nur dieses eine Wort hervorbrachte, zeigte Irina, dass dieser Fund nicht nur auf sie einen umwerfenden Eindruck machte.

Direkt vor ihnen stand eine riesige Osiris-Statue – erkennbar an den typischen Insignien Krummstab und Geißel in den vor der Brust gekreuzten Armen – die zugleich als Säule die Decke abstützte. Die Farben, mit denen die Statue bemalt war, leuchteten im Schein der Taschenlampen, als wären sie erst gestern aufgetragen worden. Die Wände waren über und über mit Hieroglyphen bemalt, deren Reihen immer wieder von Abbildungen unterbrochen wurden, die Szenen aus dem ägyptischen Totenkult zeigten: Der schakalköpfige Anubis begleitete einen jüngst Verstorbenen, womöglich den Pharao Cheops, auf dessen Reise durch die Unterwelt bis zum Totengericht des Osiris. »Unglaublich!«, flüsterte Reinhard. »Das hier sind Auszüge aus dem Totenbuch. Und wir dachten, dass es zur Zeit der Vierten Dynastie lediglich ein paar magische Formeln gab, die zur Bestattung eines Toten vorgelesen wurden. Aber das hier … das ist der Beweis, dass das Totenbuch im Alten Reich schon deutlich weiter entwickelt war, als wir immer geglaubt haben.«

Irina strahlte über das ganze Gesicht.

»Wenn das alles nicht sogar noch älter ist als die Pyramide selbst.«

»Und schau dir diese Säulen überall im Raum an! Warum stehen die wohl so asymmetrisch? Das ist völlig untypisch. Aus statischen Gründen würde man so viele Säulen gar nicht benötigen.«

»Ja, seltsam, nicht? Welche Funktion mag dieser Raum gehabt haben? Irgendjemand eine Idee?«

Sie leuchtete auf den Boden. Im Gegensatz zu all den anderen Räumen der Pyramide war er mit kleinen, terrakottafarbenen, quadratischen Kacheln ausgelegt, von denen einige Sprünge aufwiesen.

Frank schmunzelte. »Vielleicht sind die Säulen Fallen. Wenn du ihnen zu nahe kommst, fallen sie auf dich drauf. Oder seht euch die Fußbodenkacheln an, die so aussehen, als würde man auf ihnen in den Untergrund durchbrechen. Vielleicht gibt es Pfeile, die aus der Wand geschossen kommen, so wie bei Indiana Jones und … äh, wie hieß dieser Film gleich wieder?«

»Wenn du noch einmal ‚Indiana Jones‘ erwähnst, mein lieber Frank, dann hast du dir jede Chance auf eine gute Zensur verspielt, mein Ehrenwort drauf! Wir sind Archäologen, keine billigen Grabräuber. Diese Indiana Jones-Filme haben mich übrigens gänzlich davon überzeugt, dass es komplette Zeitverschwendung ist, ins Kino zu gehen, denn Hollywood zeigt nicht, wie das Leben wirklich läuft. Und in keiner bekannten archäologischen Ausgrabungsstätte wurden je solche Fallen gefunden, weder in Ägypten noch in Südamerika noch sonst wo.«

»Und was ist mit dem Fluch des Pharao?«

»Das musste ja kommen! Es gibt keinen Fluch des Pharao! Und wenn wir je eine Mumie mordend durch die Lande ziehen sehen, dann zahle ich dir eine Million in bar.«

Irina berührte die Osiris-Statue und versuchte, eine Vision heraufzubeschwören, die ihr zeigte, was sich hier einst abgespielt haben könnte. Jedoch war sie zu aufgekratzt, um sich konzentrieren zu können.

Sie gab es auf und suchte mit dem Strahl ihrer Lampe das andere Ende der Halle ab.

Dort konnte sie ein Podest erkennen. In der Wand dahinter führte ein weiterer Schacht in die Dunkelheit. »Dort drüben geht es weiter«, verkündete sie und marschierte los. Die Terrakottakacheln knirschten unter ihrem Schuhwerk, sodass sie unwillkürlich vorsichtiger auftrat, um möglichst wenige davon zu beschädigen. »Seht euch diese Säulen an!«, sagte Reinhard an der ersten, an der sie vorbeikamen. »Es handelt sich zwar um klassische ägyptische Säulen in Papyrusform, aber da sind lebensgroße Soldaten eingemeißelt, auf ganz untypische Art und Weise.« »Wieso untypisch?«, fragte Susan.

»Weil diese Krieger nicht auf traditionelle Weise im Profil dargestellt sind, sondern den Betrachter frontal anblicken. Das hat man nur sehr selten getan, wenn die dargestellten Figuren nämlich eine Art Wächterfunktion innehatten, die den Betrachter, insbesondere den unbefugten, abschrecken sollten. Die ewige Angst der Orientalen vor dem Bösen Blick hat dafür gesorgt, dass die Ägypter Personen überwiegend im Profil dargestellt haben. Seht nur, diese Farben! Sogar die Randbegrenzungen zwischen den einzelnen Soldaten glänzen noch metallisch. Was für ein unglaublicher Fund!« Irina war im Begriff, sich die eingemeißelten Figuren etwas genauer anzusehen, als ein lauter Knall, verbunden mit einem unheimlichen Zischen, die Stille zerriss. Ein Schrei gellte, von dutzenden Echos verstärkt, durch die Halle.

Erst als er abklang, bemerkte Irina, dass sie selbst es war, die geschrien hatte. Entsetzt blickte sie auf eine glänzende Bronzeklinge, die beinahe auf Schulterhöhe aus der Säule ragte. Deren Spitze hatte die Galabija* von Hassan, der bereits vorangegangen war, am Rücken zerrissen. Es sah aus, als ob sie ihn aufgespießt hatte.

Irina hielt sich beide Hände vor den Mund und starrte Hassan mit schreckensgeweiteten Augen an.

Dieser bewegte sich ganz langsam. Er drehte sich um und starrte seinerseits fassungslos auf die Klinge. Nun war es an ihm, zu schreien. Er taumelte rückwärts, stolperte und fiel auf seinen Allerwertesten.

In diesem Moment schwenkte die Klinge nach unten in die Säule zurück. Erst jetzt dämmerte Irina die Bedeutung der metallenen Linien neben den Wächtergestalten: Offensichtlich stellten diese nichts anderes dar als Klingen, die wie Springmesser nach oben aus der Säule schwangen, sobald man bestimmte Kacheln betrat.

Fassungslos starrten die Ägyptologen abwechselnd auf die Säule und auf Hassan, der eine Hand auf die Brust presste und heftig atmete. Nur Frank flüsterte etwas.

»Wie bitte?«

»Äh, nichts.«

»Er hat ‚Indiana Jones‘ gesagt«, petzte Susan.

Irina öffnete den Mund, beschloss aber, die Belehrung, die ihr auf der Zunge lag, zu verschlucken. Immerhin war sie es, die soeben mehr als deutlich belehrt worden war.

In einem Bogen umrundeten sie die Säule außerhalb der Reichweite der tückischen Klingen.

»Mann, Hassan! Bist du okay?«, fragte Reinhard besorgt. Hassan stand noch immer unter Schock, nickte aber. »Elena, Susan, legt ihn hin und haltet seine Beine hoch! Ich habe mal gelesen, dass dies die adäquate Behandlung bei einem Schock sein soll.«

Er wandte sich von Hassan ab und starrte die Säulen an.

»Merkwürdig! Warum nur …«

»Warum nur lässt du uns nicht an deinen Gedanken teilhaben, Mister Merz?«, fragte Irina, während sie sich mit ihrem Arm den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich … ich frage mich gerade, warum diese Klinge ihn nicht erwischt hat. Ich meine, die Ägypter waren Meister der Mathematik. Das beweisen alleine schon die Pyramiden! Wenn die eine tödliche Falle bauen wollten, warum hat die Klinge unseren Hassan dann verfehlt?«

»Sei doch froh, dass sie ihn verfehlt hat, wenn es auch äußerst knapp war.«

»Bin ich doch auch! Aber … ich verstehe es nicht. Wenn nun …« Reinhard zog seine Augenbrauen zusammen und legte die Hand ans Kinn.

Frank deutete auf die Säule: »Wenn Hassan anstatt in Richtung rückwärtiger Wand zum Eingang der Halle gelaufen wäre – also dahin, woher wir soeben gekommen sind –, dann hätte die Klinge ihm zweifelsohne den Bauch aufgeschlitzt.«

Reinhard blickte ihn an. »Du hast recht! Das ist es. Die Falle ist nicht für diejenigen konzipiert worden, die, wie wir, von dort hierher gehen, sondern für diejenigen, welche aus diesem Schacht kommen und verbotenerweise unterwegs nach oben sind.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn!«, mischte sich Irina ein. »Diejenigen, die nach unten gehen, sind doch auch diejenigen, die anschließend wieder nach oben gehen. Warum sollte man sie auf dem Hinweg passieren lassen und auf dem Rückweg massakrieren wollen?«

»Vielleicht wollte man ja nicht die eigenen Leute in die Falle locken, sondern solche, die … eben gerade nicht nach oben kommen dürfen, wie … zum Beispiel jene Dämonen auf diesen Abbildungen an der Wand.«

»Es gibt keine Dämonen, Frank.«

»Aber die Ägypter haben zweifelsohne geglaubt, dass es welche gibt.«

»Touché! Meine Güte, meine Knie zittern immer noch. Ich sage euch, ich gehe keinen Schritt mehr weiter.«

»Was?«, protestierte Reinhard. »Erst machst du uns alle verrückt wegen dieser geheimen Kammer und kaum machen wir wider alle Erwartung eine Wahnsinns-Entdeckung, willst du beim ersten Anzeichen einer Schwierigkeit kneifen?«

»Erstes Anzeichen einer Schwierigkeit? Es ist einfach zu gefährlich!«

»Wir können jetzt hier rausgehen und auf dem Weg zum Camp von einer Anopheles-Mücke gestochen werden und die Malaria bekommen. Das ganze Leben ist gefährlich. Außerdem ist doch gar nichts passiert.«

»Mit Ausnahme, dass wir eine Falle ausgelöst haben, die beinahe einen von uns getötet hätte.«

»Du sagst es, beinahe! Aber jetzt kennen wir die Gefahr. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Jetzt ruht euch erst mal aus, damit ihr wieder zu Kräften kommt. Ich sehe mir das Ganze einstweilen etwas näher an.«

Reinhard ging mit äußerster Vorsicht ein paar Meter weiter und richtete seine Lampe abwechselnd auf die Säulen vor sich und auf den Fußboden.

»Hm, ist gar nicht so einfach. Die Säulen stehen teilweise so eng beieinander, dass es gar kein Durchkommen zu geben scheint. Und … was ist das?« Der Strahl der Lampe wanderte im Zickzack den Boden entlang.

»Was ist was?«, fragte Irina lustlos.

»Hier, diese Linie auf dem Boden. Ich glaube, du musst aufstehen, um sie sehen zu können. Hier, siehst du?« »Ah, ich glaube, ich weiß, was du meinst. Stimmt, der Boden ist an einigen Stellen dunkler als an anderen.« »Ja, und diese dunklen Stellen bilden eine Linie, die kreuz und quer durch die Halle führt.«

»Du meinst, es ist eine Spur? Eine Spur von Menschen, die dort entlanggegangen sind?«

»Jedenfalls sieht es mir ganz danach aus. Schau, sie beginnt dort an der Osiris-Statue und führt in weitem Bogen an unserer Säule vorbei, um gleich da vorne nach links an die Wand zu schwenken. Wie es danach weitergeht, kann ich von hier aus nicht erkennen. Ich bin dafür, dass wir versuchen, auf dieser Spur weiter zugehen, wenigstens ein kleines Stück.«

Irina zuckte die Achseln. Sie sollte der Gruppe eigentlich sagen, wo es langgeht, aber der Vorfall hatte ihr Selbstbewusstsein erschüttert.

Reinhard wartete ihre Entscheidung nicht ab und näherte sich der Linie. Als er sie erreichte, tastete er den Boden darum herum sorgfältig ab, bevor er sich daraufstellte. Die Studenten folgten ihm neugierig. Selbst Hassan stand auf und hastete ihnen nach. Vermutlich wollte er nur nicht in der Dunkelheit alleine gelassen werden. Irina bildete notgedrungen das Schlusslicht.

Der angenommene Pfad führte sie ein paar Meter an der linken Wand entlang, danach querte er den Raum beinahe bis zur rechten Wand. Dort lief er quer zwischen zwei Säulen hindurch, genau auf die rückwärtige Wand zu. Reinhard stockte.

Irina legte ihm einen Arm auf die Schulter. »Lass es! Wir kommen mit einem größeren Team und mit geeigneten Sicherheitsmaßnahmen zurück.«

»Ach ja? Du kennst doch unseren Chef. Wenn der Wind von dieser Sache bekommt, dann wirst du diese Räume vermutlich erst wiedersehen, nachdem er das Buch zu

diesem, seinem